Grundlagen der Gesprächspsychotherapie

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Grundlagen der Gesprächspsychotherapie
(in: Kriz/Slunecko: Gesprächspsychotherapie… UTB 2007)
Jürgen Kriz
0. Definitorische Vorbemerkungen
Mit Gesprächspsychotherapie (GPT) wird das heilkundliche Verfahren bezeichnet, das
sich im Rahmen des personzentrierten Ansatzes (PZA) entwickelt hat. Sowohl GPT
als auch PZA gehen historisch und konzeptionell auf den amerikanischen Psychologen
Carl R. Rogers (1902-1987) zurück, und in zentralen Werken beschrieben (Rogers …..
). PZA und besonders GPT wurden aber von ihm und zahlreichen anderen Forschern
und Praktikern weiterentwickelt und ausdifferenziert.
Eine Kurzdefinition der GPT lautet:1
„Die Gesprächspsychotherapie behandelt gestörte Selbstregulationsprozesse, die
durch Inkongruenzen ausgelöst oder aufrecht erhalten werden und zur
Ausbildung von krankheitswertigen Symptomen und inadäquaten
Verhaltensmustern führen.
Inkongruenzen als Fokus der Behandlung in der Gesprächspsychotherapie
entstehen durch einen jeweils spezifischen Mangel in der Übereinstimmung von
Prozessen der organismischen Erfahrung und der Selbstwahrnehmung sowie von
verinnerlichten Werten und dem Selbstkonzept.
Wesentlich für die Ätiologie psychischer Störungen sind dabei die für die
unterschiedlichen Krankheitsbilder ursächlichen differenziellen Formen der
Inkongruenz. Diese ergeben sich aus dysfunktionalen Wechselwirkungen
zwischen den unmittelbaren leib-seelischen Erfahrungen des Organismus, den
internen Repräsentationen biografischer Gegebenheiten, pathogenen
Symbolisierungsprozessen aktueller Lebensereignisse und spezifischen
Belastungsfaktoren.
Das allgemeine Behandlungsziel einer Gesprächspsychotherapie besteht in der
Linderung bzw. Aufhebung der Symptomatik infolge einer Reduktion bzw.
Aufhebung von Inkongruenzen.
Dazu ist die Entwicklung einer spezifischen therapeutischen Beziehung
erforderlich, die durch Empathie, Unbedingte Wertschätzung und
Selbstkongruenz gekennzeichnet ist und die nach bestimmten Indikationsregeln
mit störungs-, person- und prozess-spezifischen Interventionen und Techniken
verbunden wird.
1
So wie sie von den drei führenden Verbänden in der BRD konsentiert wurde (ÄGG, DPGG & GwG 2004).
Als spezifische Ausprägungsformen der Behandlungsmethodik kommen in den
verschiedenen Bereichen der Krankenbehandlung im ambulanten und stationären
Sektor, in der Einzel- Gruppen- und Paartherapie sowie bei Erwachsenen,
Kindern und Jugendlichen
1. Erlebenszentrierte Methoden
2. Differentielle Methoden
3. Erfahrungsaktivierende Methoden
zu Anwendung, die bestimmte Aspekte der Gesprächspsychotherapie hervorheben
und weiterentwickeln. Sie sind theoretisch und auch in ihrer praktischen Umsetzung
nicht immer streng voneinander zu trennen und werden in der klinischen Praxis
häufig miteinander verbunden zum Einsatz gebracht.“
Man merkt der Schwerfälligkeit und geringen Eingänglichkeit dieser Beschreibung an,
welche großen Anpassungsleistungen der GPT vollbringen musste und weiterhin
muss, um in einem System überleben zu können, das von juristisch-bürokratischen
Richtlinien einerseits und wissenschaftlichem Reduktionismus andererseits dominiert
wird.
1. Gesprächspsychotherapie: Geglückte Verbindung von Praxis, Forschung und
Theorie
Dem „Personzentrierten Ansatz“ (PZA) und der Gesprächspsychotherapie (GPT) mit
allen ihren Ausdifferenzierungen2 liegt eine umfassende theoretische Konzeption
zugrunde, die Rogers (1959) sehr systematisch und prägnant auf nur knapp hundert
Seiten dargelegt hat. Dieser elaborierten theoretischen Darlegung gingen allerdings
fast zwei Jahrzehnte umfassender und sorgfältiger Erprobung, Beobachtung und
Erforschung der Praxis von Psychotherapie voraus. Dass Rogers damit Mitte der 50er
Jahre auch zu einem der führenden empirischen Therapieforscher und Methodiker
wurde, wird oft von den einen verschwiegen, von den anderen missverstanden.
Einerseits wurden bereits 1950 in der Encyclopedia Britannica Rogers Bemühungen,
seinen Ansatz wissenschaftlich zu überprüfen, als „Meilenstein für die Klinische
Psychologie“ herausgestellt;3 er erhielt 1956 den ersten Wissenschaftspreis4 der
American Psychological Association (APA) für seine empirische Forschung und die
dabei entwickelte Methodik – einschließlich innovativer Diagnostik (vgl. Kap. 14); er
entwickelte weit verbreitete Tests und letztlich warb er mit weit über 1 Mio $ für
damalige Zeiten extreme hohe Drittmittel für seine Forschung ein. Andererseits steht
2
vgl. Einleitung / Vorwort
“These first efforts of Rogers to subject his methods of non-directive therapy to scientific test constituted a landmark
for clinical psychology”
4
zusammen mit Wolfgang KÖHLER und Kenneth SPENCE. In der Begründung hieß es: „ ...for developing an original
method to objectify the description and analysis of the psychotherapeutic process, for formulating a testable theory of
psychotherapy and its effects on personality and behavior, and for extensive systematic research to exhibit the value of
the method and explore and test the implications of the theory. His… adaptation of scientific method in his attack on the
formidable problems involved in the understanding and modification of the individual person have moved this area of
psychological interest within the boundaries of scientific psychology.”
3
dieser Ansatz dennoch “quer” zu einer empiristischen und positivistischen
Wissenschaftshaltung.
Rogers Forschung war nämlich nicht vorrangig auf reine Outcome-Belege
ausgerichtet, sondern gerade die differentielle theoretische Konzeption von PZA und
GPT ermöglichte es, in größerem Maße auch Prozessforschung durchzuführen. Dabei
wird die Veränderung eines Menschen nicht unbedingt in Relation zu abstrakten
„Normwerten“ einer „Population“ mit einer entsprechenden objektivierten Außensicht
eines Beobachters und Skalierers gemessen. Vielmehr kann der Entwicklungsprozess
relativ zu individuellen Befindlichkeiten (zudem: theorie-konsistent) nachgezeichnet
werden, wobei zumindest auch stärker die persönliche Lebenswelt des einzelnen
Menschen eine Rolle spielt.
Beispielsweise entwickelten ROGERS und seine Mitarbeiter eine spezielle Form eines Q-Sorts in
dem 100 Statements („Ich bin liebenswert“, „Ich bin ein harter Arbeiter“) nach dem Selbstbild, dem
Idealbild und dem Bild „eines normalen Menschen“ auf einer Skala von 1-9 sortiert wurden. Diese
Daten mit dem SIO-Q-Sort („Self“, „Ideal“, „Ordinary“) wurden zu Beginn, am Ende und während
der Therapie erhoben und erlaubten so über Kreuzkorrelationen differenzierte Analysen des
Therapieverlaufs auf Variablen, die für Theorie bedeutsamen sind. Diese Studien (ROGERS &
Dymond 1954) sind auch für heutige Psychotherapieforschung richtungsweisend, da die Entwicklung
einer theorieadäquaten Methodik immer eine Herausforderung darstellt. Selbst in seinem Lehrbuch
über „Differentielle Psychologie“ widmet Hofstätter (1971), der die Entwicklung der empirischen
Psychologie in Deutschland maßgeblich vorangetrieben hat, dieser Q-Sort-Forschung ROGERS ein
Kapitel, was belegt, wie stark der wissenschaftliche Impact von ROGERS Forschung auch über die
Klinische Psychologie hinaus war.
Noch bedeutsamer aber für die Entwicklung von PZA und GPT aber war Rogers
explizites Bekenntnis zu einer humanistischen Psychologie als Menschenbild – was
übrigens auch damit im Einklang steht, dass Rogers (mit Charlotte Bühler, Abraham
Maslow u.a.) zu den zentralen Gründern der „Gesellschaft für Humanistische
Psychologie“, 1962, gehörte.
Bei aller Unterschiedlichkeit der Positionen innerhalb der humanistischen Psychologie
steht das erfahrende Subjekt mit seinen sinnlichen Möglichkeiten, seiner
Intentionalität und seinen Verstehensprozessen Zentrum der Betrachtungen (vgl. die
19 Thesen am Ende dieses Kapitels). Schon Husserl betonte, dass alle Erfahrung von
Gegenständen damit letztlich auf Selbsterfahrung aufbaut – eine Sichtweise, die für
die Psychologie und Therapie darin Bedeutung erhält, dass die subjektive Realität
eines Patienten ernst genommen wird. Die übliche Subjekt-Objekt-Trennung wird
dabei somit zumindest soweit überwunden, als mit der „Lebenswelt“ als
Ausgangspunkt der Erfahrung für den Menschen zentrale Aspekte des Lebens nicht in
objektiviert-meßbarer sondern in sinnhaft-eigenwertiger Weise beachtet werden:
Lebenszeit und Lebensgeschichte, Sprache mit ihrer kommunikations- und
traditionsbegründenden Funktion sowie Leiblichkeit und Geschlechtlichkeit als
Voraussetzungen sinnerfüllten Lebens (Vetter & Slunecko, 2000).
Unter Bezugnahme auf Philosophen wie Kierkegaard und Buber wird zudem betont,
dass für den Menschen nicht nur der Bezug zur Welt, sondern vor allem auch die IchDu-Beziehung als ,,Begegnung” von essentieller Bedeutung ist. In einer solchen
Begegnung hat jeder die Möglichkeit, sich selbst tiefer zu finden, ohne vom anderen in
irgendeiner Weise manipuliert zu werden. Die Partner sind dann wechselseitig
Katalysatoren zum Wachsen in Freiheit – auch wenn dieses Idealmodell im Rahmen
einer professionellen, asymmetrischen Beziehung seine Grenzen hat..
Letztlich steht auch die existenzphilosophische Perspektive im Zentrum des
humanistischen Menschenbildes: Auf die Frage nach dem Charakteristischen und
Eigentümlichen der Seinsweise des Menschen wird dabei betont, dass die spezifische
menschliche Existenz von allen anderen Formen des Seins völlig verschieden ist.
Grammatikalisch bezeichnet das Wort „Mensch“ zwar eine Klasse, wie auch „Haus“
oder „Baum“: eine Ansammlung von einzelnen Entitäten, die durch diese
Klassifizierung eine Beschreibung des „Was“ erfährt. Das Wesentliche des Menschen
ist aus existenzphilosophischer Sicht aber nicht seine Zugehörigkeit zu einer Klasse,
sein „Was“ er ist, sondern die Art und Weise, wie er sich und seine Existenz selbst in
dieser Welt versteht, wie er sich zu sich selbst, zur Welt und seinen Möglichkeiten
verhält. Indem der Mensch nicht (nur) als ein Beispiel für die Spezies ”Mensch”
verstanden wird, machen ihn die unterschiedliche Weisen, er selbst sein zu können,
kategoriell frei. „Existenz“ ist somit etwas, das erst verwirklicht werden soll.
Obwohl sicherlich fraglich ist, ob alle, die sich heute zum Spektrum der GPT als
zugehörig erklären, dieses Menschenbild teilen, wurde bewusst mit diesen
„Essentials“ begonnen, die für manchen in der heutigen akademischen Psychologie
Ausgebildeten befremdlich erscheinen mögen. In der Tat ist die GPT inzwischen
derart auch in diesen derzeitigen mainstream hineingewachsen, dass diese
Grundorientierung bisweilen unkenntlich geworden ist oder gar als überflüssiges
Beiwerk erscheint. Es muss doch bedacht werden, dass die folgenden Grundkonzepte
eine zumindest veränderte Bedeutung erhalten, wenn man ihnen ein anderes
Verständnis vom Menschen zugrunde legt. Der Frage, was man eigentlich unter
„Person“ im PZA versteht (vgl. Kap. 2), kann nämlich letztlich nicht ausgewichen
werden.
Vor diesem Hintergrund lassen sich GPT und PZA durch die folgenden drei
essentiellen Kerne kennzeichnen:
a) Eine personzentriert-spezifische therapeutische Beziehung, deren definitorische
Beschreibung einen Rahmen dafür vorgibt, unter welchen Bedingungen GPTTherapeuten für Patienten hilfreiche bzw. erfolgreiche Psychotherapien durchführen
können;
b) die Aktualisierungstendenz – ein Erklärungsprinzip, das Antworten auf die Frage
gibt, warum und wie diese spezifische therapeutische Beziehung wirksam ist;
c) eine Störungs- und Entwicklungstheorie, die – eingebettet in Rogers
Persönlichkeitstheorie („Selbst-Theorie“) – eine beschreibende und erklärende
praxisorientierte Verbindung zwischen (a) und (b) herstellt, indem wesentliche
Aspekte einer gelingenden psychischen Entwicklung sowie ihrer Störungen erläutert
werden. Hieraus ergeben sich auch spezifische Hinweise zur Therapie dieser
Störungen.
2. Die therapeutische Beziehung
Rogers (1957) hat sechs Bedingungen des Therapeuten als „notwendig und
hinreichend“ für konstruktive Persönlichkeitsveränderungen im Rahmen von
Psychotherapie gekennzeichnet (Formulierung und Kommentar nach Eckert & Kriz
2004):
1. Zwei Menschen - ein Therapeut und ein Patient - befinden sich in einem
psychologischen Kontakt. Sie beginnen, eine Beziehung zueinander aufzunehmen:
Sie nehmen sich gegenseitig wahr, reagieren aufeinander, bedeuten einander etwas.
Das, was wahrgenommen, worauf reagiert wird und was der eine dem anderen
bedeutet, muss nicht voll bewusst sein bzw. klar erfassbar. Die Beziehung muss aber
da sein.5
2. Der Patient befindet sich in einem Zustand von Inkongruenz. Er ist mit sich selbst
uneins, verletzlich, ängstlich. Er erlebt, fühlt, erleidet usw. etwas, das er nicht
erleben will bzw. das er als nicht zu sich selbst gehörend erlebt.
3. Der Therapeut hingegen ist kongruent: Er erlebt und fühlt im Kontakt mit den
Patienten nichts, was er als nicht zu sich selbst gehörend ansehen kann oder seinem
Bewusstsein fernhalten müsste.
4. Der Therapeut erlebt sich als dem Patienten unbedingt zugewandt; er kann ihn
wertschätzend akzeptieren und seine Wertschätzung ist nicht an bestimmte
Bedingungen gebunden, die der Patient erfüllt.
Diese Bedingung wird heute auch bedingungsfreie Anerkennung genannt.
5. Es gelingt dem Therapeuten, sich in den Patienten und sein Erleben und die Art, wie
der Patient sich und sein Erleben bewertet, einzufühlen und der Therapeut teilt dem
Patienten mit, was er auf dem Wege der Empathie vom Erleben des Patienten
verstanden hat.
6. Den Patienten erreicht zumindest in Ansätzen die Mitteilung des Therapeuten, dass
er ihn versteht, und was er versteht, und es erreicht ihn die Mitteilung des
Therapeuten, dass er ihn unbedingt wertschätzt.
Heute wird diese Bedingung als Ansprechbarkeit des Patienten für das
therapeutische Beziehungsangebot bezeichnet.
In demselben Beitrag beschreibt er davon drei Aspekte dieser Grundhaltung (3-6)
ausführlicher, die dann von anderen häufig auf drei „Basisvariablen“ des
„Therapeutenverhaltens“ reduziert wurden. Diese Bezeichnung kann aber insofern
irreleiten, als es Rogers nicht darum ging, „Verhaltens“-“Variable“ (etwa im Sinne
Skinners „Verbal Behavior“, 19xx) als exakte Parameter einer Technik oder
„Behandlungsmethode“ einzuführen. Eine solche Sicht würde dann zu Recht Zweifel
aufwerfen, ob die (so missverstandenen) „Bedingungen“ denn nun „wirklich“
notwendig und hilfreich sind, oder Therapeuten nicht vielmehr weitere Kenntnisse,
Fertigkeiten und Vorgehensweisen berücksichtigen müssen.
5
Diese Bedingung ist z.B. dann nicht gegeben, wenn der Patient akut psychotisch ist und im Therapeuten den Agenten
einer fremden Macht sieht.
Stattdessen hat Rogers die therapeutische Beziehung insgesamt wie auch das
Beziehungsangebot das Therapeuten (3-5) auf einer hohen Abstraktionsebene
beschrieben, wie aus Abb. 1 deutlich wird. Diese Abstraktion ist theoriekonform, da
die GPT ja gerade nicht konkret-manualisierte Verhaltensvorschriften formulieren will
und kann. Vielmehr soll und muss die therapeutische Beziehung im jeweils konkreten
Fall eines Patienten entsprechend dessen komplexen und spezifischen Lebens- und
Leidensprozessen ebenso spezifisch ausgestaltet werden. Dazu gehört auch, dass das
Beziehungsangebot des Patienten in seiner Konkretisierung mit dem
„Beziehungsangebot“ des Patienten abgestimmt wird – d.h. insbesondere auch mit
seinen „Symptomen“, die ja strukturelle Gebundenheiten seiner (Er)-lebensprozesse
darstellen (vgl. Kap. 6). Eine therapeutische Beziehung entsteht in ihrer spezifischen
Form und Dynamik eben erst in der Interaktion von Therapeut und Patient (vgl. Kap.
5).
Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass dieses Beziehungsangebot nicht einfach in
andere Ansätze implantiert werden kann – und dort etwa eine „Basisbeziehung“ für
weiteres Vorgehen darstellt. So kommen beispielsweise Auckenthaler & Bischkopf
(2004) nach der Analyse einer Reihe führender Bücher zur Verhaltenstherapie nach
deren Verständnis von Empathie (5) und Akzeptanz (4) zu dem Ergebnis:
„Die Frage, ob die Verhaltenstherapie mit der Aufwertung von Empathie und
Akzeptanz möglicherweise gesprächspsychotherapeutische Konzepte und
Wirkannahmen übernommen hat, ist aus unserer Sicht klar zu verneinen. Empathie
und Akzeptanz haben in den beiden Ansätzen unterschiedliche Bedeutungen,
unterschiedliche Funktionen und einen anderen Stellenwert.
Die Frage, ob die o.a. Bedingungen „wirklich“ notwendig und hinreichend sind, ist
daher der Frage vergleichbar, ob „Auftrieb“ wirklich für ein Flugzeug notwendig und
hinreichend ist. Auch ein „ja!“ – etwa um der Behauptung zu entgegnen, nur
Raketengeschosse könnten von der Erde abheben – sagt noch nichts über die genaue
Konstruktion von Flügeln, von den verwendeten Materialen etc. aus. Und es wird auch
nicht behauptet, dass diese Aspekte irrelevant wären oder eine Vermittlung bestimmter
Kenntnisse und Fertigkeiten nutzlos wäre. Allerdings reicht es andersherum auch nicht
aus, wenn man ein noch so „flugfähiges“ Material verbaut, oder wenn das „Flugzeug“
für einen Nichtfachmann fast genau so aussieht wie ein flugfähiges: Falls wegen
scheinbar geringer Detailunterschiede eben kein oder wenig Auftrieb erzeugt werden
kann, wird es nicht oder vielleicht nur schlecht fliegen. Berechnete „Effektstärken“
über das Flugverhalten würden dann auch wenig über die Effizienz „des Auftriebs“
aussagen können.
Abb. 1: Vier Abstraktionsebenen zur Beschreibung von Beziehung (nach Höger 2000,
Eckert & Kriz 2004)
An dieser Stelle ist angebracht, zumindest noch einem weiteren Missverständnis zu
begegnen: dem unterstellten „Homogenitätsmythos“. Unter diesem Schlag-Wort wird
der GPT oft vorgeworfen, sie behandle alle Patienten „gleich“ (sofern es sich nicht um
störungsspezifische Ausdifferenzierungen der GPT handelt). Allerdings sollte nach
den vorangegangenen Ansätzen deutlich sein, dass gerade das Umgekehrte der Fall ist:
Da die therapeutische Beziehung im PZA eben höchst spezifische, am einzelnen
Menschen und seinem Leiden zugeschnittene Realisierungsformen annimmt, teilt sie
gerade den „Homogenitätsmythos“ nicht, dass „Störungsklassen“ von homogenen
Patienten behandelt werden könnten.
Es soll damit keineswegs bestritten werden, dass es Fragestellungen und Interessen
geben kann, welche es sinnvoll machen, die hoch differenzierte Betrachtungsweise der
GPT zu clustern, und in der Vielzahl der Patienten nach ähnlichen Mustern im
Leidensverlauf, im Therapieverlauf, in den Biographien, in ihrer Ansprechbarkeit auf
bestimmte Beziehungsangebote etc. zusammenzufassen. Besonders unter dem
Gesichtspunkt einer an Gruppenstatistik interessierten Forschung, der Vermittlung von
typischen Erfahrungen im Rahmen der Ausbildung etc. kann dies angemessen sein –
wobei allerdings immer noch eine Frage wäre, woher die Sicherheit genommen wird,
dass die Clusterung nach „Störungen“ auch gleichzeitig die optimale Clusterung für
„Behandlungsweisen“ sein soll – eine naive und ungeprüfte Voraussetzung
störungsspezifischer Manualisierung. In jedem Falle wird aber durch die Clusterung
sehr vieler unterschiedlicher Menschen und ihrer Leiden in wenige Störungskategorien
logischerweise keine höhere sondern eine geringe Differenzierung erreicht.
Eine detaillierte Erörterung der therapeutischen Beziehung erfolgt in Kap. 5. Hier
kann es daher genügen, folgend die Aspekte 3-5, das Beziehungsangebot, kurz zu
umreißen. Dabei muss nochmals betont werden, dass es sich um drei Aspekten einer
Begegnungshaltung handelt – wofür auch die empirischen Befunde sprechen:
Immerhin korrelieren die drei – als „Verhaltens“-“Variable“ aufgefasst – nach Tausch
(1973, S. 121) um .70, in einer Höhe also, die sonst bei empirischen Variablen kaum
zu finden ist.
a) Bedingungsfreie positive Anerkennung
Dieser komplexe Aspekt der Begegnungshaltung, die Rogers als „unconditional
positive regard” bezeichnet hat, lässt sich noch schwerer in deutschen Begriffen
fassen. Man sprach lange von „positiver Wertschätzung und emotionale Wärme” und
umschrieb diese durch weitere Begriffe wie „Akzeptanz“, „Achtung“ oder „Respekt“.
Gerade in der heutigen Gesellschaft, mit dem antrainierten „FreundlichkeitsVerhalten” von Managern bzw Pseudo-Interessiertheit bei Türverkäufern, muss betont
werden, dass keineswegs unechte, trainierte oder kontrollierte „Positivität” gemeint ist.
Es geht vielmehr um die Fähigkeit und die Bereitschaft des Therapeuten, den
Patienten als Mitmenschen zu erleben und sich auf eine existenzielle Begegnung mit
ihm einzulassen, ohne ihn in Wert- und Nutzen-Kategorien aufgrund seiner
Handlungen, Eigenschaften und Worte einzuordnen.
Diese bedingungsfreie Anerkennung des Klienten bedeutet keineswegs, dass alle
Handlungen des Patienten gebilligt und seine Einstellungen geteilt werden müssen.
Vielmehr ist gemeint, jenseits dieser Oberflächenstrukturen eine tiefe Achtung vor
menschlichem Leben und seiner Vielfalt empfinden zu können, wie sie sich im
individuellen So-Sein des Klienten manifestiert. Rogers spricht in diesem
Zusammenhang von „Liebe im Sinne des theologischen Begriffes 'Agape' ... ein
Gefühl, das weder patriarchalisch sorgend, noch sentimental, noch oberflächlich
liebenswürdig ist“ (Rogers 1962). Es scheint mehr als zweifelhaft, dass solche
Empfindungen „gelehrt“ bzw. „gelernt“ und „trainiert“ werden können (im üblichen
Sinne dieser Worte), sondern es bedarf förderlicher Bedingungen, unter denen sich
eine solche Haltung entfalten kann und alle neurotischen Hindernisse, die dieser
Haltung entgegenstehen, überwunden werden können.
Die Wichtigkeit des Aspektes der bedingungsfreien Anerkennung hängt mit der
Störungslehre der GPT zusammen, nach der Symptome als Ausdruck von Inkongruenz
zwischen unmittelbarer Erfahrung und deren Symbolisierung im Selbst verstanden
werden und diese Inkongruenz wiederum wesentlich auf chronisch unterbliebene oder
nur bedingte erfolge Anerkennung zurückgeführt wird. Wenn in früher Entwicklung,
wo die Strukturierungsprinzipien der Lebenswelt des Kindes überhaupt erst erworben
werden, Zuwendung und Verständnis nur unter ganz bestimmten Bedingungen erfolgt,
Affekte nicht oder falsch verstanden werden etc. so konnten eben für entsprechende
Erfahrungen keine Strukturierungsprinzipien aktualisiert werden. Der Mensch versteht
sich und sein Erleben dann teilweise selbst nicht
Bedingungsfreie Anerkenntnis soll somit einen Erfahrungsraum für den Patienten
sichern, in dem dieser zu seinem eigenen Erleben und zu seinen eigenen Bewertungen
in Kontakt kommen und sich mit ihnen auseinandersetzen kann. Zusätzlich wird ein
Patient, der vom Therapeuten diese positive bedingungsfreie Wertschätzung erleben
und emotionale Wärme begegnen kann, zunehmend ähnliche Gefühle auch gegenüber
seinem eignen Selbst entwickeln und sich selbst gegenüber ebenfalls mehr Achtung
und Akzeptanz entgegenbringen.
In der Praxis werden GPT-therapeuten dahingehend angeleitet, im Verlauf einer
Therapiesitzung und bei deren Reflexion danach darauf zu achten, ob eine
Abweichung von der Bedingungsfreien Anerkennung vorliegt. Wenn das der Fall ist,
sollte der Therapeut versuchen, herauszufinden, wodurch sie ausgelöst worden sein
könnte. Da solche Erkenntnis nicht selten auch zu einem tieferen bzw. vollständigeren
Verstehen des Patienten führt, sollte der Therapeut versuchen, dieses Verständnis in
geeigneter Form dem Patienten mitzuteilen.
Das Auftreten von Abweichungen von der bedingungsfreien Anerkennung wird in der
GPT zwar einerseits als die Alarm betrachtet, der das eine Störung der
therapeutischen Beziehung anzeigt. Andererseits wird dies nicht als therapeutischer
Kunstfehler aufgefasst, sondern als Schlüssel für ein besseres Verstehen des Patienten
genutzt (vgl. Eckert & Kriz 2004: 338ff).
b) Kongruenz
Auch für diese zweite Aspekt der Begegnungshaltung gibt es eine Reihe weiterer
Begriffe wie „Echtheit“, „Selbstaufrichtigkeit“, „ohne-Fassade-sein“ oder
„Selbstintegration“. Da der zentrale konzeptionelle Fokus in der Störungslehre der
GPT auf der Inkongruenz das Patienten liegt (s.u. und Kap. 3) und Psychotherapie
dementsprechend eine Verminderung der Inkongruenz zum Ziel hat, meint die
Kongruenz des Therapeuten einen Aspekt in dessen Persönlichkeit(sentwicklung). Es
geht nicht um eine antrainierbare Technik oder um ein über angelernte Selbstkontrolle
reguliertes Ausdrucksverhalten. Vielmehr geht es darum, dass Therapeuten sich nicht
hinter Fassaden, Floskeln oder Rollen verstecken und keine neurotisch-ängstlichen
Abwehrhaltungen ihren eigenen Gefühlen und Wahrnehmungen gegenüber haben,
sondern bereit und in der Lage sind, akzeptierend zu erleben, was in ihnen selbst im
Kontext der therapeutischen Beziehung vorgeht und dies in die Situation einzubringen.
Auch wenn die Unterschiede eher graduell sind und die „fully functioning person“, die
voll kongruent ist, eine Orientierungsrichtung und keine reale Person beschreibt,
sollten Therapeuten fraglos weniger neurotisch sein als ihre Patienten.
Die oben beschriebene Abweichung von der Bedingungsfreien Anerkennung, ist daher
als Inkongruenz zu verstehen. Dabei ist aber folgende Unterscheidung zu beachten:
Reaktive Inkongruenz stellt sich als Reaktion des Therapeuten in einer spezifischen
Situation mit dem Patienten ein und ist in der Regel noch in der Situation selbst
aufhebbar.
Primäre Inkongruenz wird als die in der Entwicklung des Selbstkonzepts erworbene
Grundlage von unterschiedlichen psychischen Störungen angesehen. Primäre
Inkongruenz kennzeichnet den Status eines Patienten.
c) Empathie
Ein weiterer Begriff für diesen Begegnungsaspekt ist „einfühlendes Verstehen“. Unter
einer interventions-technischen Perspektive wird hierbei von einer „TherapeutenVariable“ gesprochen. bei der es um die „Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte
(VEE)“ geht. Gemeint ist aber ein umfassenderes Verständnis des Therapeuten für
das, was der Patient von seinem eigenen Erleben wahrnimmt (einschließlich der damit
verbundenen Bewertungen).
Die Gesamtheit der Affekte, gedanklichen Repräsentationen und Bewertungen, die im
Zusammenhang mit einer unmittelbaren Erfahrung von einem Patienten erlebt werden,
wird als dessen innerer Bezugsrahmen bezeichnet. Dieser stellt auch den Rahmen für
das Verstehen des Therapeuten dar – ohne dass dieser aber das Bewusstsein dafür
verliert, dass das Erleben des Patienten und sein eigenes nicht identisch sind (sonst
wäre es eine unerwünschte Identifizierung).
Auch dieser Aspekt wird missverstanden. So weisen z.B. Davison & Neale (1979,
S. 495), von einem „völlig verschiedenen Paradigma“ ausgehend, auf das vermeintlich
„wissenschaftslogische Problem“ hin, „wie ein Therapeut auf interne Prozesse
schließen soll, die dem Klienten anscheinend nicht bewusst sind“. „Empathie“ meint
aber nicht statisch-diagnostischen Durchblick, sondern einen dynamischen Prozess
auf der Grundlage eines Beziehungsangebotes, bei dem sowohl dem Klienten als auch
dem Therapeuten anfangs fast alle „internen Prozesse“ des Klienten unbekannt sind.
Das Bemühen um einfühlendes Verstehen, das Angebot der gemeinsamen Arbeit und
die Erfahrung des (teilweisen) Verstandenwerdens geben dem Klienten den Mut, seine
„internen Prozesse“ nach und nach in einem langen Prozess unter Begleitung des
Therapeuten selbst zu erforschen.
Der Unterschied zwischen einer therapeutischen Kompetenz „richtige Schlüsse über
innere Zustände des Patienten” zu treffen und einer therapeutischen Kompetenz, den
Prozess der Selbstexploration so zu fördern, dass diese inneren Zustände mehr und
mehr erforscht werden können, scheint aber so schwer zu begreifen sein, dass Davison
& Neale auch in der aktualisierten Auflage von 1998 ihr Missverständnis weiterhin
publizieren.
Da, wie gesagt, der Aspekt „einfühlendes Verstehen“ zumindest in vordergründigen
Komponenten noch am ehesten als „Verhaltens-Variable“ beobachtbar ist, wurde VEE
am häufigsten Gegenstand empirischer Untersuchungen. Entsprechend zahlreich sind
auch die „Skalen“, mit denen dieses Verhalten kategoriell erfasst und numerisch
abgebildet wurde.
Am häufigsten findet man aber in der Literatur eine 5-stufige Skala von Carkhuff
(1969) bzw. eine 6-stufige Skala (zwar von 1-12 gehend, aber nur jede zweite
Kategorie verbal verankert) von Tausch, Eppel, Fittkau & Minsel (1969) – bzw. leicht
modifizierte Varianten davon. Sie reichen, grob gesagt, von „keine Gefühle
aufgreifen“ über „unwesentliche Gefühle verbalisieren“ bis „alle wesentlichen
persönlich-emotionalen Inhalte des Erlebens verbalisieren“.
Es sei abschließend bemerkt, dass selbst in älterer Literatur zur GPT eine Reihe „nicht
klassischer Therapeutenvariablen“ diskutiert werden (Rieger & Schmidt-Hieber 1979
geben hierzu eine Übersicht); so u.a. „spezifische Konkretheit“ (vgl. Truax &
Carkhuff 1964), „aktives Bemühen (und innere Anteilnahme) „ sowie „Konfrontation“
(vgl. Bommert 1977, S. 73 bzw. S.51), „Interpretation“ (Howe 1962, vgl. Tausch
1973, S.159), „Spezifität“ (Helm 1972, S.39), „Selbsteinbringung“ (Carkhuff 1969)
„Likability“ („Sympathie und Zuneigung“ – vgl. Tausch 1973, S.152), „sprachliche
Aktivität“ (Minsel et al. 1973), „Ansprechen des augenblicklichen Befindens“
(Mitchell & Mitchell 1968) und „persuasive Potenz“ (Erwecken von Vertrauen und
Hoffnung – Frank 1961), oder „Zielorientiertheit” und „Explizierung” (Sachse 1992).
Diese Fülle an Aspekten der therapeutischen Beziehung in der GPT – weitere sind in
diesem Buch aufgeführt - ist nicht zuletzt mit ein Indiz dafür, wie vielfältig die
Möglichkeiten sind, Rogers komplex-abstrakte Konstrukte auf der Ebene empirisch
beobachtbarer „Therapeuten-Variable“ zu spezifizieren.
3. Die Aktualisierungs-Tendenz
Eine noch weit größere Herausforderung als die spezifische therapeutische Beziehung
der GPT stellt das zentrale Erklärungsprinzip der GPT, die Aktualisierungstendenz, für
„klassisches Denken“ dar. Mit „klassischem Denken“ ist gemeint, dass unsere
Vorstellungen darüber, wie „die Welt funktioniert“, wie Wirkungen auf Ursachen
zuzuführen sind, welchen Prinzipien erfolgreiches Handeln unterworfen ist, wie man
Sicherheit über Prognosen von Entwicklungsverläufen erreichen kann, usw. in unserer
Kultur im Rahmen eines rund 350 Jahre währenden Wissenschaftsprogramms
entwickelt wurden. Dieses Programm, das etwa
ab Beginn des 17. Jahrhunderts im Rahmen abendländischer Kultur entstand, hat sich
nicht nur über einen ungeheure technologische Entwicklung auch anderer Kulturkreise
bemächtigt sondern auch zunehmend die Alltagswelt mit ihren Prinzipien
durchdrungen. Denn überall begegnen wir den Errungenschaften dieser Technologie.
Selbst im Umgang mit komplizierten und komplexen Gebilden können wir die so
aufbereitete Welt durch einfache mechanistische Betätigungen steuern – etwa das
Gaspedal eines Autos durchdrücken, den Licht-Schalter oder ähnlich einfache Schalter
zur Inbetriebnahme von Waschmaschinen, Herdplatten, Aufzügen oder Fernsehern
betätigen. Und obwohl erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch der Gipfel der
mechanistischen Hybris Ende des 19. Jahrhunderts, welche die gesamte Welt mit allen
ihren Phänomenen für mechanistisch, berechen- und kontrollierbar erklärte, längst
einer Ernüchterung im 20. Jahrhundert gewichen ist, hinkt das Alltagsverständnis „der
Welt“ aufgrund dieser mechanistischen Aufbereitung durch die technischen Apparate
dieser Veränderung im Weltbild hinterher.
Diese minimale kulturgeschichtliche Standortbestimmung ist notwendig, weil es sonst
geradezu unfassbar wäre, warum wir selbst in der Psychotherapie vorwiegend
mechanistische Metaphern unserem Verständnis von Veränderung und Intervention
unterlegen, wo selbst jedem Laien „eigentlich“ klar sein müsste, dass ein
fundamentaler Unterschied zwischen dem Ausbeulen einer Blechdose oder dem
Reparieren einer Maschine einerseits und den Interventionen in lebende Systeme oder
gar dem Durchführen von Psychotherapie andererseits besteht. „Eigentlich“ wissen
Psychologen, dass Entwicklungsverläufe – von den „Aha“-Erlebnissen der
Gestaltpsychologen über die kognitive Entwicklung Piagets bis hin zu klinisch
beschriebenen Krisen – typischerweise durch qualitativen Sprüngen gekennzeichnet
sind. Und ebenso wissen sie „eigentlich“ dass fast alle relevanten Phänomene – von
den Prozessen im ZNS über essentielle Prozesse von Bewusstsein und Verhalten in der
Eltern-Kind-Interaktion bis hin zu den soziale Sinnfindungsprozesse und dem, was wir
„Kultur“ nennen - auf komplex vernetzten Prozessen basiert. Dennoch wird die
„Effektivität“ von Psychotherapie aufgrund von gruppenstatistischen Modellen
linearer Zusammenhänge beurteilt und dabei z.B. die Isolierung in „abhängige“ und
„unabhängige“ Variable vorgenommen. Diese methodologische Verfehlung des
grundlegenden Charakters psychosozialer Vorgänge wäre völlig unverständlich, wenn
nicht die ideologische Verhaftung auch der Psychotherapie (und ihrer Erforschung) in
den Alltagsprinzipien von Welterklärung als stillschweigende Überbleibsel des
mechanistischen Zeitalters bemüht werden könnte.
PZA und GPT dürfen sich daher nicht wundern, dass sie bei vielen auf besonderes
Unverständnis stoßen – sind doch ihre Prinzipien „querstehend“ zu dem, was für
gesicherte Wirkprinzipien gehalten wird. Es überrascht daher auch nicht, dass sie von
jenen für „unwissenschaftlich“ gehalten werden, denen einerseits sozial- und
geisteswissenschaftliche Zugänge fremd sind, weil sie „Wissenschaft“ mit
„Naturwissenschaft“ gleichsetzen, die aber andererseits auch die grundlegende
Veränderung auch des naturwissenschaftlichen Verständnisses in den letzten 50
Jahren, besonders im Rahmen moderner interdisziplinäre Systemtheorie, nicht oder zu
wenig realisiert haben.
Rogers konnte um 1950 nicht wissen, dass sein zentrales Erklärungsprinzip, die
Aktualisierungstendenz, in Gestalt der Selbstorganisationstheorien etwa 2 Jahrzehnte
später zu einem zentralen Bestandteilteil interdisziplinärer Systemwissenschaft werden
würde. Aber er war sicher einer der ersten Psychologen, der wahrgenommen hat, dass
mit Nobelpreisen für Selbstorganisations-Phänomene (z.B. Laser, 1964) bzw. –
theorien (z.B. „dissipative Strukturen“, 1977) diese bereits zum
naturwissenschaftlichen mainstream gehörten, während die meisten Psychologen dies
noch für spekulativ und unwissenschaftlich erklärten. Und obwohl er bereits 1979 –
wohl aus Enttäuschung über die geringe Einsicht bei Psychologen – betonte, dass
Entdeckungen etwa in Physik und Chemie inzwischen seine Ansichten unterstützen,
hat er zunächst die Aktualisierungstendenz keineswegs als zentrales Prinzip seiner
Theorie gewählt, um die Verbindung zu den Naturwissenschaften herzustellen.
Vielmehr übernahm er dieses Konzept aus einer ganzheitlich orientierten
Psychologischen Richtung: der Gestaltpsychologie (besonders der sog. „Berliner
Schule“ mit ihren Begründern Max Wertheimer, Kurt Koffka und Wolfgang Köhler –
wozu aber dann auch Kurt Lewin und Kurt Goldstein gehörten).
Mit dem zentralen Begriff „Gestalt“ ist gemeint, dass ein Gebilde ganzheitlichdynamische Eigenschaften aufweist, die adaptiv auf Veränderungen der
Umgebungsbedingungen reagiert, aber die Ordnung aus inneren Kräften heraus
entfaltet (und z.B. nicht einfach fremdbestimmt geordnet wird). Ein oft verwendetes
Beispiel für eine Gestalt – nämlich eine Melodie – zeigt bereits die zentrale zirkuläre
Dynamik: Die einzelnen Töne bilden - bottom-up – die Melodie, erhalten aber aus
dieser Gestalt – top-down –erst manche spezifische Eigenschaften – etwas der
„Grundton“ oder der „Leitton“ dieser Melodie. Es geht also um dynamische
Struktureigenschaften, wodurch man eine Melodie beispielsweise ½ Ton höher
transponieren kann, und als diese Melodie erkennbar bleibt.
Da Rogers allerdings mehr an Fragen von Entwicklung und Veränderung interessiert
war, wurde die „Selbstaktualisierung“, ein Begriff von Kurt Goldstein, zentrales
Prinzip. Goldstein verstand darunter die selbstorganisierte Realisierung und Entfaltung
inhärenter Potentiale. Der Organismus braucht für seine Ordnung also keinen externen
„Organisator“, sondern in Relation zur Umwelt strebt der dynamische Prozess selbst
zu einer angemessenen Ordnung, bei der die inneren Möglichkeiten und äußeren
Gegebenheiten dynamisch zu einer ganzheitlichen Gestalt abgestimmt werden.
Veränderung dieser dynamischen Ordnung wird von Goldstein beschrieben als eine
Reorganisation einer alten Struktur („pattern„) zu einer neuen und effektiveren
Struktur. Mit dieser ,,Tendenz zu geordnetem Verhalten“ erklärte er, warum ein
Organismus auch dann oft weiter existieren kann, wenn er erhebliche
Beeinträchtigungen erfahren musste. Auf der Basis weitreichender Erfahrungen mit
hirnverletzten Soldaten aus dem 1. Weltkrieg stellte Goldstein die Tendenzen zur
Selbstregulierung und zur Selbstaktualisierung heraus.
Diese Konzepte sind deshalb besonders bemerkenswert, weil man heute, im Lichte
moderner naturwissenschaftlich fundierter Systemtheorie, die zentralen Annahmen in
gleicher Weise formuliert. Entsprechend findet man bei dem Physiker Haken, dem
Begründer der Laser-Theorie und eines großen interdisziplinären
Wissenschaftsprogramms zur Selbstorganisation, der Synergetik, in den letzten Jahren
mehr Hinweise auf die klassische Gestaltpsychologie als in etlichen psychologischen
Werken (z.B. Haken & Stadler 1990, Haken & Haken-Krell 1992).
Das Bedeutsame dieses Ansatzes für den PCA lässt sich an folgender Begebenheit
verdeutlichen (vgl. Stemberger 2001): Um 1906 erhielt Wertheimer, der an der Wiener
Neuro-Psychiatrischen Klinik forschte, den Auftrag herauszufinden, ob bestimmte
Patienten schwachsinnig waren (es handelte sich z.T. um taubstumme Kinder).
Wertheimer überprüfte das nicht mit den damals üblichen Tests mit dem Fokus darauf,
was die Kinder nicht könnten und welche Defizite sie hätten. Vielmehr stellte er ihnen
bestimmte Aufgaben und versuchte dabei, ihnen für die Lösung dieser Aufgaben
jeweils möglichst gute Rahmenbedingungen zu schaffen. Die Fähigkeiten eines
Menschen auf einem bestimmten Gebiet wurden hierbei also in einer sehr untypischen
Weise getestet: untersucht wurden die Bedingungen, unter denen sich diese
Fähigkeiten jeweils entfalten bzw. nicht entfalten können. Der Mensch wird somit
nicht als Ansammlung fester, unveränderlicher Teileigenschaften oder psychischer
Funktionseinheiten verstanden, die in weitgehend gleicher, festgelegter Weise auf
einen äußeren Reiz bzw. auf eine bestimmte Anforderung reagieren. Vielmehr kommt
in Wertheimers Vorgehen bereits die für humanistische Ansätze grundlegende
Überzeugung zum Ausdruck, dass dem Menschen die Fähigkeit zu geordnetem, der
Situation angemessenem Erleben und Verhalten innewohnt, wie gestört und
verschüttet diese Fähigkeit in bestimmten Situationen und Konstellationen auch sein
mag. Und dass es folglich darauf ankommt, sich mit den Bedingungen zu befassen, die
zu schaffen wären, um diese Fähigkeit freizulegen.
Dieses Beispiel kann auch für Rogers PCA als prototypisch gesehen werden. Da seine
theoretische Konzeption noch um 1950 stark durch eine organismische Perspektive auf
den Erfahrungsprozess zentriert war, verwendete er zunächst den Begriff der „Selbstaktualisierung“ ähnlich wie Goldstein, nämlich im Gegensatz zur Fremd-Organisation,
d.h. gegenüber von außen systematisch angeleitetem Lernen, Ratschlägen oder
operantem Konditionieren. Mit einer zunehmenden Ausdifferenzierung seiner
„Selbst“-Theorie – für die Rogers neben der klinischen Psychologie und
Psychotherapie vor allem im Bereich der Persönlichkeitspsychologie viel Beachtung
erfuhr (z.B. im Standardwerk von Hall & Lindzey 1954) – veränderte sich Rogers
Terminologie ende der 50er Jahre:
Im PZA wird seitdem „Selbstaktualisierung” als Entwicklung des „Selbst“
verstanden. Diese ist zwar Teil der Aktualisierungstendenz des Gesamtorganismus –
und zwar ein für den Menschen essentieller Teil. Dieser Teil lässt sich aber analytisch
insofern klar abgrenzen, als damit eine dynamische Struktur im Bereich psychischsozialer und nicht bio-somatischer Entitäten gemeint ist. Beim „Selbst“ handelt sich
um die Struktur der symbolisierten Erfahrungen, die für die bewusstseinsfähige,
reflexive Beschreibung aktueller Erfahrungen wesentlich ist, sowie für die sich selbst
zugeschriebenen charakteristischen Eigenschaften und Werthaltungen. Die
Aktualisierung des „Selbst“ erfolgt nun bestenfalls mehr oder weniger entsprechend
einer optimalen Repräsentation organismischer Gesamtprozesse und deren
Aktualisierung: Vielmehr sind oft weitere zentrale Umgebungsbedingungen für die
Aktualisierung des Selbst notwendige Anpassungsleistungen an soziale Erfordernisse,
die nur bedingt gewährt werden oder Interpretationen von inneren und äußeren
Prozessen, die zwar mit der eigenen organismischen Erfahrung nicht übereinstimmen,
aber zum Zwecke psychischen oder gar physischen Überlebens übernommen werden –
so genannte „Introjekte“. Organismische und „Selbst“-Aktualisierung folgen dann
unterschiedlichen Eigendynamiken und sind nicht „kongruent“ zueinander. Ohne eine
solche Inkongruenz würde es aus Sicht des PZA und der GPT gar nicht zu psychischen
Störungen im eigentlichen Sinne kommen (vgl. besonders Kap. 3).
In späteren Werken hat Rogers – besonders im Hinblick auf die zunehmende
Beachtung von Selbstorganisationstheorien in den Naturwissenschaften – die
Aktualisierungstendenz noch in eine andere Richtung verallgemeinert, nämlich auf die
Selbstorganisationsprozesse in größeren sozialen Einheiten, bei lebenden Organismen
allgemein und in der Materie. Er bezeichnete diese als „formative Tendenz“.
Allerdings wurde hierzu kein differenziertes Konzept vorgelegt, sondern blieb eher auf
der Ebene einer hypothetischen Generalisierung, die für den PZA und die GPT in
dieser Form auch keine wichtige Rolle spielt.
4. Zur Persönlichkeitstheorie
Neben der spezifischen Form der therapeutischen Beziehung und dem grundlegenden
Prinzip der Aktualisierungstendenz wurde oben die Störungs- und
Entwicklungstheorie als dritte zentrale Teilkonzeption von PZA und GPT
gekennzeichnet. Diese ist in Kap. 3. von Biermann-Ratjen ausführlicher dargestellt.
Da dabei allerdings die Persönlichkeitstheorie des PZA eine wesentliche Grundlage
bildet, sollen im Folgenden 19 Thesen aus Rogers 1973 (amerik. EV 1951),
kommentarlos – und ohne die ausführlichen Erläuterungen der Originalpublikationen wiedergegeben werden. Viele hier angesprochene Aspekte tauchen im Zusammenhang
der weiten Kapitel dieses Buches wieder auf:
I.
Jedes Individuum existiert in einer ständig sich ändernden Welt der Erfahrung,
deren Mittelpunkt es ist.
II.
Der Organismus reagiert auf das Feld, wie es erfahren und wahrgenommen
wird. Dieses Wahrnehmungsfeld ist für das Individuum „Realität“.
III.
Der Organismus reagiert auf das Wahrnehmungsfeld als ein organisiertes
Ganzes.
IV.
Der Organismus hat eine grundlegende Tendenz, den Erfahrungen machenden
Organismus zu aktualisieren, zu erhalten und zu erhöhen.
V.
Verhalten ist grundsätzlich der zielgerichtete Versuch des Organismus, seine
Bedürfnisse, wie sie in dem so wahrgenommenen Feld erfahren wurden, zu
befriedigen.
VI.
Dieses zielgerichtete Verhalten wird begleitet und im allgemeinen gefördert
durch Emotionen. Diese Emotionen stehen in Beziehung zu dem Suchen aller
vollziehenden Aspekte des Verhaltens, und die Intensität der Emotion steht in
Beziehung zu der wahrgenommenen Bedeutung des Verhaltens für die
Erhaltung und Erhöhung des Organismus.
VII. Der beste Ausgangspunkt zum Verständnis des Verhaltens ist das innere
Bezugssystem des Individuums selbst.
VIII. Ein Teil des gesamten Wahrnehmungsfeldes entwickelt sich nach und nach zum
Selbst.
IX.
Als Resultat der Interaktion mit der Umgebung und insbesondere als Resultat
wertbestimmender Interaktion mit anderen wird die Struktur des Selbst geformt
– eine organisierte, fließende, aber durchweg begriffliche Struktur von
Wahrnehmungen von Charakteristika und Beziehungen des „Selbst“ zusammen
mit den zu diesen Konzepten gehörenden Werten.
X.
Die den Erfahrungen zugehörigen Werte und die Werte, die ein Teil der SelbstStruktur sind, sind in manchen Fällen Werte, die vom Organismus direkt
erfahren werden, und in anderen Fällen Werte, die von anderen introjiziert oder
übernommen, aber in verzerrter Form wahrgenommen werden, so als wären sie
direkt erfahren worden.
XI.
Wenn Erfahrungen im Leben des Individuums auftreten, werden sie entweder a)
symbolisiert, wahrgenommen und in eine Beziehung zum Selbst organisiert, b)
ignoriert, weil es keine wahrgenommene Beziehung zur Selbst-Struktur gibt,
oder c) geleugnet oder verzerrt symbolisiert, weil die Erfahrung mit der Struktur
nicht übereinstimmt.
XII. Die vom Organismus angenommenen Verhaltensweisen sind meistens die, die
mit dem Konzept vom Selbst übereinstimmen.
XIII. Verhalten kann in manchen Fällen durch organische Bedürfnisse und
Erfahrungen verursacht werden, die nicht symbolisiert wurden. Solches
Verhalten kann im Widerspruch zur Struktur des Selbst stehen, aber in diesen
Fällen ist das Verhalten dem Individuum nicht „zu eigen“.
XIV. Psychische Fehlanpassung liegt vor, wenn der Organismus vor dem
Bewusstsein wichtige Körper- und Sinnes-Erfahrungen leugnet, die demzufolge
nicht symbolisiert und in die Gestalt der Selbst-Struktur organisiert werden.
Wenn diese Situation vorliegt, gibt es eine grundlegende oder potentielle
psychische Spannung.
XV. Psychische Anpassung besteht, wenn das Selbst-Konzept dergestalt ist, dass alle
Körper- und Sinnes-Erfahrungen des Organismus auf einer symbolischen Ebene
in eine übereinstimmende Beziehung mit dem Konzept vom Selbst assimiliert
werden oder assimiliert werden können.
XVI. Jede Erfahrung, die nicht mit der Organisation oder der Struktur des Selbst
übereinstimmt, kann als Bedrohung wahrgenommen werden, und je häufiger
diese Wahrnehmungen sind, desto starrer wird die Selbst-Struktur organisiert,
um sich zu erhalten.
XVII. Unter bestimmten Bedingungen, zu denen in erster Linie ein völliges Fehlen
jedweder Bedrohung für die Selbst-Struktur gehört, können Erfahrungen, die
nicht mit ihr übereinstimmen, wahrgenommen und überprüft und die Struktur
des Selbst revidiert werden, um derartige Erfahrungen zu assimilieren und
einzuschließen.
XVIII. Wenn das Individuum all seine Körper- und Sinnes-Erfahrungen wahr- und in
ein konsistentes und integriertes System aufnimmt, dann hat es
notwendigerweise mehr Verständnis für andere und verhält sich gegenüber
anderen als Individuen akzeptierender.
XIX. Wenn das Individuum mehr und mehr von seinen organischen Erfahrungen in
seiner Selbst-Struktur wahrnimmt und akzeptiert, merkt es, dass es sein
gegenwärtiges Wert-System, das weitgehend auf verzerrt symbolisierten
Introjektionen beruhte, durch einen fortlaufenden, organismischen
Wertungsprozess ersetzt.
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