Schulenvergleich

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„Hat sich die Gesprächspsychotherapie zu Tode gesiegt?“
Zur Eigenständigkeit des Klientenzentrierten Konzepts
Klaus Heinerth
Diese Frage stellte sich vor kurzem aus dem Munde eines Kollegen, der wie ich
klientenzentriert orientiert ist. Er meinte damit, dass die Grundlagen der
Gesprächspsychotherapie von den anderen beiden psychotherapeutischen
Schulrichtungen, nämlich den psychoanalytischen und verhaltentheoretischen,
übernommen wurden. Nachdem auch die empirische Forschung schulenunabhängig
gefunden hat, dass das wesentliche Agens jeder psychotherapeutischen Intervention die
Beziehung ist, berufen sich Vertreter aller Schulen auf diese Wirkgröße.
Dieser Sieg könnte begrüßt werden, wenn es nicht drei enttäuschende Gesichtpunkte
gäbe,:
1. Diebstahl geistigen Eigentums: Das epochale Werk von Carl R. Rogers und seiner
Schüler wird genutzt, aber nicht gewürdigt. So nennt ein namhafter
Verhaltenstherapeut (Hautzinger) die entscheidenden Beziehungsmerkmale, die sogar
vom Begrifflichen her den klientenzentrierten Hintergrund demonstrieren (Echtheit
und Aufrichtigkeit, Empathie und Verständnis, Akzeptanz und Wärme), ohne jedoch
die Quellen zu nennen.
2. Theorielosigkeit: Die Beziehungsmerkmale des Klientenzentrierten Konzepts werden
akzeptiert, ohne ihren Hintergrund, nämlich die Theorien der Persönlichkeit, der
Störungslehre und der Psychotherapie, zur Kenntnis zu nehmen.
3. Menschenbildproblematik: Die Hintergründe einer jeden Therapieschule
unterscheiden sich fundamental. Das humanistische Menschenbild ist im Detail mit
manchen Ideen und Praktiken von Psychoanalyse und Verhaltenstherapie unvereinbar.
4. Berufspolitische Machtkämpfe: Gedanken zu einer Integration sind naheliegend, aber
verfrüht, so lange die sogenannten Richtlinienverfahren die Macht der Ausgrenzung
der Gesprächspsychotherapie haben und ausnutzen.
Um das entscheidend Neue der Gesprächspsychotherapie, die sich ja innerhalb der
Humanistischen Psychologie in Abhebung zur Psychoanalyse und zur Verhaltentherapie
entwickelt hat, sichtbar zu machen, habe ich die Ideen der jeweiligen Gründer, neben
Rogers also Freud und Skinner, gegenübergestellt. Man möge mir den Vorwurf machen,
dass ich damit veralteten Theoretikern nachhänge, dass es überall Verfeinerungen gäbe.
Jedoch sehe ich keine andere Möglichkeit, die Unterschiede herauszuarbeiten, eben weil
bereits zu viel Gedankengut aus der Humanistischen Psychologie und der
Gesprächspsychotherapie adaptiert wurde, und jeder Igel sagen kann: Ich bin schon da!
Und vielleicht ist es in der Gegenwart leichter zu ertragen, wenn man zurück schauen, die
Gegebenheiten als Geschichte betrachten kann. Und es ist natürlich für mich einfacher,
jeweils homogene Theorien und ihre Hintergründe miteinander zu vergleichen, als
Konglomerate aus verschiedenen Ursprüngen.
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Freud
Rogers
Skinner
1. Theoretische Grundlagen:
Triebtheorie,
Instanzenlehre
Selbsttheorie
Wachstum
Lerntheorie individuellen
Lernens
2. Krankheitsmodell beruht auf Interaktion zwischen
Es, Ich und Überich
Selbst und Erfahrung
Lernen und Reifen
3. Praktische Grundlagen, abgeleitet aus der Analyse von
Klinischen
Beobachtungen,
Fallberichten
Therapiegesprächen,
Ratings, Inferenzstatistik
Selbsterfahrungen
Lernexperimenten in
Einzelfällen mit ABABProbe
4. Symptome sind Ausdruck von
- unbewussten
Vorgängen, Beweis von
Verdrängung,
- inadäquaten
Lösungsversuchen gegen
Bedrohungen des
Selbstkonzeptes,
- unangepassten
bedingten Reaktionen
erlernten Fehlverhaltens
- Konflikten zwischen den
Instanzen Es, Ich und
Überich
- Inkongruenz zwischen
Selbst- und Idealbild,
zwischen Selbst und
Erfahrung
- einer inadäquaten
Verstärkung zur
Konfliktvermeidung
- determinierenden
Triebwünschen
- dem Versuch, das
Selbstkonzept zu schützen
- individuellen Lernprozessen unterschiedlicher
Konditionierbarkeit und zufälliger Umweltbedingungen
5. zentrale Klientenphänomene:
Triebe (bes. Sexualität),
Verdrängung,
Unbewusstes
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Emotionen, Bedürfnisse,
Bewertungen von
Wahrnehmungen
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Verhalten, Kognitionen,
Lernen, Erleben
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Freud
Rogers
Skinner
6. zugeschriebene Attribute:
autoritativ
paternalistisch
theoriezentriert
triebtheoretisch
partnerschaftlich
liberal
personzentriert
wachstumsorientiert
autoritativ
demokratisch
methodenzentriert
umweltorientiert
7. Die Persönlichkeit wird gesehen als
abreaktiv,
triebhaft, destruktiv
aktiv,
autonom, konstruktiv
reaktiv,
manipulierbar, hedonistisch
8. Selbstverantwortung, Autonomie:
Arbeitsbündnis:
Autonomie gegeben,
Übertragungsebene:
Autonomie eingeschränkt
Klient bestimmt den
Therapieprozess,
Begrenzung durch
Arbeitsbündnis
Therapeut bestimmt den
Therapieprozess,
Autonomie nur als Ziel bei
Selbstverstärkungsprogrammen
9. Transparenz wird
vermieden
angestrebt
vernachlässigt
10. Jede Behandlung muss
lebensgeschichtlich
begründet sein
von Gefühlen hier und jetzt
ausgehen
von gegenwärtigen
Gewohnheiten ausgehen
11. Heilungen
.........
erfolgen nicht aufgrund von Symptombehandlungen,
sondern aufgrund der Behandlung der dahinter
liegenden Konflikte (Symptombehandlung ist ein
Kunstfehler)
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beruhen auf der
Behandlung von
Symptomen: ihrer
Löschung und Ersetzung
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Freud
Rogers
Skinner
12. Symptombehandlung
führt zu neuen
Symptomen
(Symptomverschiebung)
als Symptombetrachtung
(Empathie) führt zu den
Inkongruenzen
ist der Königsweg
13. Deutungen
stehen im Zentrum jeder
Behandlung
sind verpönt und haben keinen Stellenwert im
Konzept, sie schaden eher, als dass sie nutzen
14. Übertragungen
sind für die Behandlung
wesentlich
im psychoanalytischen Sinn werden nicht angestrebt.
15. Eine persönliche Beziehung
wird abgelehnt: Gebot
der Abstinenz
ist wesentlich, wird gefördert
(Conditio sine qua non)
ist unwesentlich, kann
erleichtern
16. Therapieweg:
freie Assoziation,
Bewusstwerdung,
Nachreifung
.........
Selbstexploration,
Gespräch in der Beziehung,
Wachstums-Begleitung
Verhaltensanalyse,
Verstärkungsmanagement,
Erziehung
17. Therapieziel:
Einsicht, Ichstärke,
Bewusstwerden
verdrängter Impulse,
Arbeits- und
Liebesfähigkeit.
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Offenheit gegenüber
Erfahrungen:
die „Vollentfaltete
Persönlichkeit,
das „Gute Leben“.
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Beseitigung einer
Verhaltens- oder
Erlebensstörung.
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Die Gegenüberstellung der drei Schulenbegründer verdeutlicht die Unterschiede, die
jedoch überwunden werden können. Dies erscheint jedoch nur möglich, wenn man diese
Unterschiede kennt. Zu ihrer Überwindung sei vor einer integrativen Betrachtung auf
einige Beobachtungen verwiesen.
Beobachtungen, die für eine Integrationsmöglichkeit sprechen:
1. Die Brisanz der Schulenspaltung beruht weniger auf theoretischen Differenzen (von
denen Wissenschaft ja lebt), sondern auf politischen. Früher verlief der Graben
Psychoanalyse gegen akademische Psychologie. Verhaltenstherapie (VT) und
Gesprächspsychotherapie (GPT) wurden an den Psychologischen Instituten der
Universitäten gelehrt, die Psychoanalyse (PA) war eher eine medizinische Domäne und
wurde an privaten Instituten unterrichtet. Heute verläuft der Graben zwischen den
kassenzugelassenen Methoden (Richtlinienverfahren) und der GPT, die seit Jahren um
ihre Anerkennung kämpft.
2. Es setzt sich vermehrt die Erkenntnis durch, dass aus Gründen unterschiedlicher
Menschenbilder und einem grundsätzlich anderen methodischen Zugang zum Klienten
und seinen Störungen eine gleichgewichtige Theorienintegration nicht möglich ist (es
gibt auch keine integrierte Medizintheorie).
3. Purismus wird in Ausbildung und Praxis immer weniger eingefordert, Eklektizismus
wird immer mehr praktiziert.
4. Jede Therapieform hat aus der anderen gelernt. Beispiele: Entwicklungspsychologische
VT, Humanistische PA.
5. Die Überschneidungen der Schulen werden unterschiedlich wahrgenommen:
Praxis aus der Sicht der Therapeuten:
Praxis aus der Sicht eines
(jeder hat seine Identität, die er hoch hält!)
Beobachters/Klienten:
(weite Teile eines Gesprächs
lassen sich nicht zuordnen)
6. Jede Schule hat Erfolg
7. Schulenspezifische Phänomene kommen in allen anderen Verfahren auch vor:
Beispiel
Beispiel
auf Seiten des
auf Seiten des
Therapeuten:
Klienten:
Empathie (GPT)
Selbstexploration (GPT)
Verstärkung (VT)
Verhaltensänderung (VT)
Übertragung (PA)
Einsicht (PA)
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Dass schulenspezifische Phänomene auch in den anderen Verfahren vorkommen, darf
nicht darüber hinweg täuschen, dass bestimmte Interventionen nur im spezifischen
Kontext wirken!
8. Jede Schule erklärt die Erfolge der anderen durch die eigenen Kategorien:
urteilende
beurteilte Schule:
Schule:
PA
VT
GPT
PA
VT
GPT
Einsicht
Verstärkung
klientenzentrierte Beziehungsmerkmale
Deutung
Gegenkonditionierung
-
9. Wesentlichste Faktoren in allen Schulen sind schulenunspezifisch: Beziehung und
Persönlichkeit des Therapeuten.
10. Es gibt bereits sehr viele Bemühungen um eine Integration, die vielen Autoren am
Herzen liegt. Sie alle aber sind nach meiner Einschätzung zum Scheitern verurteilt,
weil keine die unterschiedlichen Menschenbilder reflektiert und einbezieht.
Gründe für die Integration auf der Grundlage des Klientenzentrierten Konzepts
Da eine Integration der Menschenbilder schwerlich vorstellbar ist, eine Entscheidung für
ein Menschenbild jedoch unabdingbar ist, sei hier der Versuch unternommen, eine
Integration im Rahmen des klientenzentrierten Konzepts zu begründen:
1. Nur die GPT hat aus ihrer Theorie ein Konzept für eine realistische Beziehung
zwischen dem Therapeuten und seinem Klienten.
2. Die GPT ist einerseits aus der persönlichen Erfahrung Rogers mit der PA entstanden
(sein analytischer Lehrmeister war Otto Rank), und beruht andererseits auf Methoden
und Ergebnissen der empirischer Psychologie (auch der VT).
3. GPT ist integrativ konzipiert.
4. Die GPT beruht auf einer Persönlichkeitstheorie (anders als die VT), die mit der
allgemeinen psychologischen (akademischen) Theorienbildung kompatibel ist (anders
als die PA)
5. Die GPT beruht auf einer Therapie-Theorie, die in sich konsistent ist.
6. Die GPT besitzt ein Klientenmodell (anders als die VT), das auf Gesundheit fußt
(anders als die PA).
7. Die GPT besitzt ein Klientenmodell, das die Black Box erklärt (anders als die VT), und
dies widerspruchsfrei (anders als die PA)
8. Die GPT besitzt ein Modell der Persönlichkeit des Therapeuten, aus dem unmittelbar
Ableitungen für seine Haltung und jede seiner therapeutischen Interventionen ableitbar
sind.
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9. Die Modelle für den Klienten, sein Verhalten und Erleben, für den Therapeuten, seine
Haltung und Interventionen und das Modell für den gesunden Organismus bilden eine
einheitliche Theorie.
10. Die GPT ist offen für Interventionen anderer Schulen, sofern sie klientenzentriert
möglich sind.
11. Die GPT nutzt die Lerngesetze (VT) zur Erklärung der Entwicklung der
Persönlichkeit, in der Kindheit, in der Therapie, in jedem sozialen Kontakt.
12. Die GPT nutzt Ideen der PA zum Verständnis des Klienten, z.B. Abwehr, Projektion,
Übertragung.
13. Integration muss ein ganzheitlicher Prozess sein, keine Mischung oder gar ein
Wechsel aus Hilflosigkeit.
14. Das humanistische Menschenbild passt vorzüglich in den Kontext von Heilung von
Störungen.
15. Integration bedarf als Kristallisationspunkt des humanistischen Menschenbildes.
16. Die GPT beruht auf einem Weltbild, das dem Geist unserer Gesellschaft am ehesten
entspricht: es steht für Aufklärung, Autonomie und Wachstum vor Dressur und
Triebkontrolle.
Wenn mir sicher auch viele meiner Kolleginnen und Kollegen in meiner Ausführungen
nicht folgen mögen, so hoffe ich doch, anderen Klarheit und Trost gespendet zu haben!
Anschrift des Autors:
Prof. Dr. Klaus Heinerth
Universität München, Department für Psychologie
Leopoldstr. 13, 80202 München.
[email protected]
Veröffentlicht:
Hat sich die Gesprächspsychotherapie zu Tode gesiegt? – Zur
Eigenständigkeit des Klientenzentrierten Konzepts. Gesprächspsychotherapie
und Personzentrierte Beratung 1/2002, 63 – 66
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