Beseelungen Zur Geschichte der Wahrnehmung einer Differenz Thomas Macho 1. Vor einer roten Backsteinmauer tanzt eine weiße Tüte, umgeben von Herbstlaub. So erscheint sie in „American Beauty“, jenem Film von Sam Mendes, der 1999 mit fünf Oscars ausgezeichnet wurde. Die Tochter des glücklos-glücklichen Erzählers – gespielt von Kevin Spacey – verliebt sich in einen Außenseiter, den Sohn des Nachbarn. Dessen Vater ist ein autoritärer Berufsoffizier, der nicht nur Waffen, sondern auch NS-Devotionalien sammelt; ihr neuer Freund gilt dagegen als „Psycho“, weil er – wie einstmals der Fotograf in Michelangelo Antonionis „Blow Up“ – ständig auf ungewöhnliche Szenen und einmalige Augenblicke wartet, die er mit einer Videokamera aufnimmt. Und so hat er auch den seltsamen Tanz der Tüte gefilmt, den er nun seiner Freundin zeigt – „the most beautiful thing I ever filmed“. In gewisser Hinsicht bildet der Clip mit der Tüte und den Blättern die Schlüsselszene des Films, die auch seinen Titel erklärt; der Titel meint nicht das junge Mädchen, das den Erzähler so nachhaltig beeindruckt und verwirrt hat. „In time there is so much beauty in the world“. Nach dieser Schönheit fahndet der junge Kameravoyeur, der seinen aufwändigen Lebensstil mit Drogenhandel finanziert: nach den Momenten, in denen ein Mensch, ein Tier, ein Ding zu erwachen scheint, beseelt wird, stirbt oder ein Geheimnis offenbart. Die Rede von Beseelung klingt antiquiert. Seit René Descartes haben wir uns daran gewöhnt, die Seele als Unding zu betrachten. Der Preis, den Descartes für die Aufrechterhaltung der Lehre von einer Seelensubstanz entrichtete, bestand in der radikalen Trennung zwischen res extensa und res cogitans. Wenn die Seele eine Substanz ist, so ist sie kein Raum oder Körper; sie ist nicht ausgedehnt, sondern dimensionslos wie der Punkt in der Geometrie. Sie ist kein Hauch, kein Schatten oder Bild, nichts, was sich – medizinisch oder physikalisch – messen ließe. Noch im 20. Jahrhundert wurden Versuche angestellt, um das Gewicht der Seele zu ermitteln: Man legte Sterbende auf Betten, die als Waagen konstruiert waren, um einen möglichen Gewichtsverlust nach dem Tod feststellen zu können. Aber die Messdifferenzen waren klein und uneinheitlich: zwischen zwanzig und fünfzig Gramm; und sie ließen sich leicht anders erklären – beispielsweise durch Austrocknung oder Stress. Die cartesische Gleichung schien aufzugehen: Die Seele ist eine Substanz, sofern sie nicht ausgedehnt ist, unkörperlich, unräumlich; sie ist, sofern zugestanden wird, dass sie nicht ist wie ein Objekt. Doch die Gleichung kann auch anders aufgelöst werden. Was zwingt uns denn, die Seele überhaupt als Substanz zu denken? Erst seit dem 16. Jahrhundert hat sich die Ablösung von Substanzbegriffen durch Funktionsbegriffe langsam durchgesetzt, vielleicht zuerst in der Mathematik. Bis dahin hatten 1 die Zahlen als ontologisch bedeutsame Qualitäten, als Wesenheiten, dominiert, denen bestimmte Eigenschaften und Einflüsse zugeschrieben werden konnten. Es gab heilige Zahlen (wie die Drei, Sieben, Neun oder Zwölf) und dämonische Zahlen wie die Null, die geradezu als das verkörperte Nichts erschien. Sie wurde gelegentlich sogar verboten, wie beispielsweise 1299 in Florenz, wo dem Handel die römische Zahlenschrift verordnet wurde, angeblich um möglichen Fälschungen vorzubeugen. Erst im 16. Jahrhundert wurde die Zahl rehabilitiert, deren Name schon das cartesische Projekt der analytischen Geometrie ankündigte: nulla figura, kein geometrisierbares Zeichen. Substanzen wurden allmählich ersetzt durch Funktionen, wie sie die Null – denn nur darin besteht ihre Bedeutung – im Stellenwertsystem ausübt. Und wenn die Seele (an deren Substantialität Descartes aus einleuchtenden Gründen ebenso festhielt wie am Gottesbegriff) gar keine Substanz wäre, sondern eine Funktion, vergleichbar der Null? Dann wäre es nahe liegender, nicht mehr von Seelen zu sprechen, sondern von Beseelungen, von Verknüpfungen, Wechselwirkungen und Räumen. 2. Zurück zur Tüte in „American Beauty“. Wie erfahren wir die Beseelung von Räumen, Dingen, Personen? Wir erfahren sie als Differenz, die nicht prinzipiell, sondern epiphanisch, situativ auftritt. Kein Ding oder Lebewesen besitzt eine Seele, doch kann es beseelt werden oder sich selbst beseelen in einer besonderen Situation, in einem bestimmten Moment. Seelen sind Funktionen als Zwischenräume, als Dazwischen, das beispielsweise einen Raum erst erfahrbar macht. Dieses Dazwischen ist häufig komplex. Wir sehen die tanzende Tüte auf dem Fernsehschirm, während das Liebespaar dem Kinopublikum den Rücken zuwendet. Die Offenbarung ist also vielfach vermittelt: Film im Film, Gegenstand einer Erfahrung, die längst schon vollzogen und aufgezeichnet ist, nachträglich erst der Geliebten und danach einem anonymen Publikum erzählt wird. Beseelungserfahrungen verführen zum Zitat, zur Narration. Durch die Narration werden sie zwar mit einem Schleier der Nachträglichkeit bedeckt; doch allein diese Nachträglichkeit bezeugt die Differenz, bevor sie in Situationen, Räumen, Zeitpunkten verschwinden kann. Wer von Beseelungen spricht, kann stets nur – wie in „American Beauty“ – den Rücken der Ereignisse, Dinge, Räume oder Personen zeigen. Von diesem „Rücken“ hat Ernst Bloch in einer Miniatur seiner „Spuren“ gesprochen. „Ganz einfach, ganz früh hingesehen: Was ‚treiben' die Dinge ohne uns? Wie sieht das Zimmer aus, das man verläßt? Das Feuer im Ofen heizt, auch wenn wir nicht dabei sind. Also, sagt man, wird es dazwischen wohl auch gebrannt haben, in der warm gewordenen Stube. Doch sicher ist das nicht und was das Feuer vorher getrieben hat, was die Möbel während unseres Ausgangs taten, ist dunkel. Keine Vermutung darüber ist zu beweisen, aber auch keine, noch so phantastische, zu widerlegen. Eben: Mäuse tanzen auf dem Tisch herum, und was tat oder war inzwischen der Tisch? [...] Es ist vielen von frühauf ein ungeheuerliches Gefühl, 2 die Dinge nur zu sehen, während wir sie sehen. Es schlägt sechs Uhr und Knaben schlagen im Kursbuch nach: jetzt fährt ein Zug von Ulm ab, vielleicht tanzt eine Sklavin im Harem von Timbuktu; aber auch wo niemand ist, gibt alles vor zu sein und es funkeln Sterne über dem Polareis – funkeln sie wirklich und als Sterne? Glaubt man der abgewendeten Seite des Monds ihre Nacht und Steine, der Venus, daß hier mögliche Wälder unter riesigem Wasserdampf liegen? – obwohl man sie nicht sieht, nur die Analogie des hiesigen Ausschnitts hat, den man sieht, während man ihn sieht?"1 Beseelungen ereignen sich zumeist nachträglich, passiv, zufällig, in unserem Rücken oder während einer Abwesenheit. Häufig entspringen sie den Bewegungen der Abkehr und des Vergessens, keiner interessierten Zuwendung; auch darum hat Freud empfohlen, die Psychoanalyse in einer Haltung der Gleichgültigkeit, der ungerichteten, freischwebenden Aufmerksamkeit zu praktizieren. Denn die Seelenfunktionen, Beseelungsprozesse im Daund Inzwischen, können nicht intentional erzeugt werden. Beseelung widerspricht jeder Absicht, jeder Dressur, jeder Programmierung. Der kurze Kontakt, Blickwechsel vielleicht, mit einem Tier kann uns tagelang beschäftigen, gewiss nicht weniger als der rätselhafte Absturz eines Computersystems oder der gefilmte Tanz einer Tüte. Solange jedoch Tüten gefüllt und Befehle (von Tieren oder Computern) fraglos ausgeführt werden, bleibt die Differenz unsichtbar, die als Beseelung wahrgenommen wird. Beseelungen entstehen aus Unterbrechungen und Störungen einer gewohnten Routine; Funktionen der Beseelung können erfahren werden, sobald etwas nicht mehr funktioniert. Dann wirken Räume, Dinge, Personen wie verwandelt; und nachher weiß niemand zu sagen, wann und wie das geschäftliche Gespräch in ein Verlieben übergegangen ist. 3. Womöglich ist die Beschreibung der Seele als Substanz, als „Besitz" eines Eigentümers, historisch sehr viel später aufgekommen als die Erfahrung von Beseelungen. Was eine ältere Version der Kulturanthropologie oder Religionsgeschichte mit einer gewissen Überheblichkeit als „Animismus" bezeichnete – nämlich die scheinbar illusionäre, irrige Vorstellung, alle Dinge, Steine, Pflanzen oder Tiere würden genauso eine Seele „besitzen" wie der Mensch – beruhte darum vermutlich auf einem fundamentalen Missverständnis. Während den älteren, sogenannten „primitiven" Kulturen ein Weltbild nachgesagt wurde, das aus bloßen Projektionen aufgebaut sei, projizierte die Wissenschaft ihr eigenes Weltbild – etwa die Substantialisierung der Seele als Besitz – auf vergangene Lebenswelten. So konnte der eigene Irrtum plötzlich riesenhaft erscheinen, wie unter einem Vergrößerungsglas – und zwar als der Irrtum der anderen. Völlig zu Recht kritisierte Ludwig Wittgenstein die Enzyklopädie des „Golden Bough“, das monumentale Hauptwerk James George Frazers, 1 Ernst Bloch: Der Rücken der Dinge. In: Ders.: Spuren. Frankfurt a.M. 1969, S. 172-175, hier S. 172f. 3 seines Zeitgenossen und Kollegen am Trinity College von Cambridge, indem er konstatierte, Frazer sei „viel mehr savage, als die meisten seiner savages". Denn seine „Erklärungen der primitiven Gebräuche" seien „viel primitiver, als der Sinn dieser Gebräuche selbst".2 Wie wäre es, wenn der sogenannte „Animismus" die Seelen bereits als Funktionen, als Relationen, und nicht als Substanzen oder Besitztümer wahrgenommen hätte? Und wenn er sie in Kategorien der Wechselwirkung, nicht aber der Zuschreibung oder der Kausalität interpretiert hätte? Dann wäre es nicht um die Ordnung, um die Topologie und Genealogie des Seins gegangen, sondern um Prozesse der Überschreitung, der Verwandlung, wie sie Elias Canetti in „Masse und Macht“ untersucht hat. Verwandlungen sind nichts anderes als „Seelenreisen", Beseelungswahrnehmungen par excellence. So schilderte Canetti die „Springbockgefühle" der Buschleute: sie spüren in ihren Füßen das Rascheln der Springbockfüße im Gras, in ihrer Brust das schwarze Haar an den Flanken der Tiere. Und sie spüren das Blut der erlegten Springböcke: „Ich habe ein Gefühl an den Waden meiner Beine, wenn das Blut des Springbocks daran herunterrinnen wird. Ich spüre immer Blut, wenn ich den Springbock töten werde. Ich sitze und habe ein Gefühl im Rücken, wo das Blut herunterrinnt, wenn ich einen Springbock trage. Das Haar des Springbocks liegt auf meinem Rücken."3 Soll der Leser nun glauben, die Buschleute würden sich mit Springböcken identifizieren oder verwechseln? Oder wissen die Buschleute einfach, „daß jede Beseelung ein Medienereignis ist"?4 Die „Vorgefühle" der Buschleute, ihre spontanen Transgressionen und Verwandlungen, fügen sich keiner Logik der Identität; sie werden weder als Projektion noch als Einfühlung angemessen erfasst. Ihre Erfahrung bleibt ebenso konkret wie temporär und alltäglich; sie bedarf keiner mystischen Explikation. „Eine Frau verläßt das Haus. Sie trägt ihr Kind mit sich, an einem Gurt über die Schulter geschlungen. Der Mann, der zurückgeblieben ist, sitzt ruhig da. Die Frau ist etwas besorgen gegangen und bleibt lange aus. Plötzlich spürt der Mann ihren Gurt auf seiner Schulter. ‚Er hat das Gefühl dort.' Es ist, als ob er sein Kind selber trüge. Sobald er den Gurt spürt, weiß er: Die Frau kehrt mit dem Kind zurück." Ein anderer merkt, dass sich sein Vater nähert, weil er dessen alte, längst vernarbte Wunde spürt. "Wenn der Sohn an seinen Vater denkt, denkt er an seine Wunde. Es ist aber mehr als ein bloßes Denken. Er stellt sich nicht nur die Wunde vor, die genaue Stelle des Körpers, an der sie war, er spürt sie an der entsprechenden Stelle seines eigenen Leibes. Sobald er sie spürt, nimmt er an, daß sein Vater, den er eine Weile nicht gesehen hat, sich nähert. Er fühlt, dass er sich nähert, weil er seine Wunde fühlt."5 Wer sagt, dass Empfindungen nur dem Einzelnen gehören? Dürfen Wunden sich nur bei ihren Eigentümern "melden"? 2 3 4 5 Ludwig Wittgenstein: Bemerkungen über Frazers „Golden Bough“. In: Ders.: Vortrag über Ethik und andere kleine Schriften. Frankfurt a.M. 1989, S. 29-46, hier S. 36. Elias Canetti: Masse und Macht. München / Wien 1993, S. 399. Peter Sloterdijk: Sphären. Bd 1: Blasen. Frankfurt a.M. 1998, S. 305. Canetti 1993 (wie Anm. 3), S. 398. 4 4. Bevor jemand auf die Idee kommen konnte, eine Seele zu besitzen, wurde wohl die Erfahrung gemacht, dass wir selbst besessen und beseelt werden. Noch Aristoteles hatte behauptet, dass Sklaven wie körperliche Organe funktionieren, also wie Arme, Beine oder Zungen; ihre Seelen empfangen sie gleichsam von ihren Herren.6 Erst 1834 wurde die Sklaverei in England verboten, und 1865 – nach dem Ende des blutigen Bürgerkriegs – in den Vereinigten Staaten. Die Leibeigenschaft wurde erst im Gefolge der bürgerlichen Revolutionen in Europa – 1861 etwa in Russland – abgeschafft. Bis 1961 wurde der Selbstmordversuch in England als strafbare Handlung eingestuft: Was nur solange Sinn macht, als davon ausgegangen werden kann, dass der Suizident gleichsam „fremdes Eigentum" beschädigt. Bis zum heutigen Tag wird jeder Staatsregierung ein gewisser Anspruch auf die Seelen der männlichen Einwohnerschaft zugestanden: Bei Kriegseintritt wird auch die aufklärerische Idee des Selbstbesitzes kassiert, und auf Fahnenflucht steht nicht umsonst die Todesstrafe. Bis zum heutigen Tag müssen auch viele Männer oder Eltern darüber belehrt werden, dass sie ihre Frauen oder Kinder nicht besitzen, und dass die Gewalt in der Ehe oder die sogenannte „Kindesmisshandlung" rechtlich inkriminiert und bestraft werden kann. Das Gewicht der Überzeugung, Menschen seien exklusive Eigentümer ihrer Körper und Seelen, lässt sich mühelos verringern. Dass Menschen in der Regel nicht sich selbst, sondern ihrer Primärgruppe, ihrem Stamm oder Sozialsystem gehören und gehorchen, zählt zum Fundus elementarer Gewissheiten beinahe aller Kulturen. Nur so lässt sich erklären, wie und warum ein Mensch an Tabuverletzungen, an Bannflüchen oder sozialen Ausschlüssen sterben konnte – als Opfer einer kollektiv verhängten Strafe, einer Hinrichtung ohne Henker oder Mordwaffen. Die Menschen gehören nicht sich selbst. Was nach der Aufklärung dieses – konstitutiv modernen – Selbstbetrugs unser geschärftes Interesse erzwingt, trägt einen vertraut unheimlichen Namen: Besessenheit. Wer nicht sich selbst gehört, hört eben auf einen anderen, wird von ihm beseelt, ist dessen Besessener, im wörtlichen Sinne ein fremdbestimmtes, nämlich von fremden Stimmen umlagertes und okkupiertes Subjekt. Besessenheit ist stets eine Seelenfunktion, ein multipler Raum zwischen Männern und Frauen, Eltern und Kindern, Herren und Sklaven, Toten und Lebenden, und zwar auch dort, wo es dem Anschein nach um den Besitz von Körpern geht. Tatsächlich sind es Stimmen, die ohne Zustimmungsbedarf – im Guten wie im Bösen – temporäre Beseelungen ermöglichen, ja geradezu erzwingen. Besessenheit ist in den alten Kulturen – ganz im Gegensatz zu den Krankheitsregistern moderner Psychopathologie – kein dauerhafter Zustand, sondern eine zeitweilige Erfahrung, eine Verwandlung, die sich der Polarisierung von Gesundheit und Krankheit ebenso widersetzt wie dem Dualismus von Gut und Böse. Von der homerischen „Ilias“ bis zum 6 Vgl. Aristoteles: Politik. München 1973, S. 52 ff. 5 platonischen „Ion“, von den frühchristlichen Anachoreten bis zu den Kabbalisten der Renaissance, ist es noch ziemlich gleichgültig, ob die Beseelungen durch Musen oder Totengeister, durch Dämonen oder Engel, vollzogen werden. Entscheidend bleibt einzig die Bewegung, die Läuterung, die Translation der Intelligenzen. Ob die Poeten und Mönche heimgesucht oder inspiriert werden, definiert keineswegs die Richtung ihrer Verwandlung, das moralische Gewicht ihrer Beseelung. Die mania des Achill oder des Aias gehört nicht weniger zu ihrem Charakter als ihr Mut oder die Liebe zu ihren Freunden; und was wäre schon aus dem heiligen Antonius in den Wüsten Oberägyptens geworden, wenn er nicht von den Teufeln versucht worden wäre? Darum betont Pierre Klossowski zu Recht, die Seele sei stets „von irgendeiner Macht bewohnt, einer guten oder bösen. Nicht wenn sie bewohnt sind, sind die Seelen krank: krank sind die Seelen, wenn sie nicht mehr bewohnbar sind."7 5. Freilich spricht Klossowski bereits von Wohnungen, nicht mehr von Räumen, die im Da- und Inzwischen der Beseelung sich öffnen, gleichsam als räumliche Konkretionen einer Offenbarung. In ideengeschichtlicher Perspektive war es wohl diese innere Verräumlichung der Seele, die ihre Substantialisierung – und zugleich ein Vergessen der Beseelungserfahrungen – einleitete. Beseelung wurde seither als eine Art von Füllung gedacht. Der Körper – als materieller Behälter, als Container – sollte gleichsam einen zweiten, feineren Körper aufnehmen. Der sterbliche Behälter konnte leiden oder zerfallen, sein Inhalt – so wurde gehofft – war unsterblich und zum ewigen Leben bestimmt. Es ist unwichtig, ob der Platonismus oder erst die christliche Theologie dieser Vorstellung zu ihrem Siegeszug verhalfen: Seither wurden jedenfalls die Beseelungen aus den Räumen der Erfahrung verbannt. Beseelt, nämlich mit einer Seele gefüllt, wurde der Mensch nur einmal, zu Beginn seines Lebens, vor oder nach der Geburt; und erst im Augenblick des Todes konnte die Seele ihren Containerleib wieder verlassen. Beseelung war prinzipiell immer schon geschehen; lediglich der Tod, die Entseelung, wurde als Trennung zwischen dem Eigentümer und seinem lebenslangen Besitz erwartet. Die Seele wurde als Innenraum vorgestellt, abgegrenzt von den äußeren Räumen – als ein Raum der Einkehr, der Versenkung, des Gebets oder der Reflexion: draußen die Welt, innen das Selbst. Zugleich verloren die Dinge, Orte, Pflanzen oder Tiere, mitunter auch die Frauen, Kinder oder Sklaven, das Recht auf eine eigene Seele. Die Seele avancierte zum exklusiven Besitz, den man – durch Teufelspakt oder Wahnsinn – auch wieder verlieren konnte. Darum musste die Seele gepflegt und behütet werden wie kostbarer Familienschmuck. Wie oft habe ich in meiner katholischen Kindheit gehört, die Beichte sei ein innerer „Wohnungsputz", eine 7 Pierre Klossowski: Je me trouve en fait sous la dictée de l'image [1982]. Zit. nach: Walter Seitter: Psychologie, Topologie, Dämonologie. In: Dietmar Kamper, Christoph Wulf (Hg.): Die erloschene Seele: Disziplin, Geschichte, Kunst, Mythos. Berlin 1988, S. 190-194, hier S. 193. 6 systematische Reinigung der seelischen Räume, Vorbereitung für den Besuch des Erlösers, der als konsekrierte Hostie in das Körperinnere einzukehren pflegt; als Ministrant kannte ich eine wunderliche alte Frau, die vor jeder Kommunion einen Topf mit Grießbrei aß, um dem Jesuskind ein weiches Lager anbieten zu können. Welche Enttäuschung muss sich kulturell verbreitet haben, als langsam bekannt wurde, dass die Medizin, die nach Jahrhunderten chirurgischer Enthaltsamkeit endlich wieder lebende Körper sezieren und deren Inhalte kartieren durfte, nirgendwo Seelen fand! Was blieb Descartes anderes übrig, als die Seele zu retten, indem er sie zum raumlosen Punkt erklärte? Vielleicht ist jedoch die Zeit solcher Enttäuschungen und philosophischer Notlösungen längst schon vorbei. Manchmal, so kommt es mir wenigstens vor, leben wir bereits wieder im Horizont eines posthumanistischen Animismus, der die gelegentliche Beseelung von Dingen oder Tieren so wenig für unmöglich hält, wie er – umgekehrt – an den dauerhaften Besitz von Seelen glaubt. Jenseits von depressiver Kybernetik oder Genforschung, die uns nahe legt, die Menschen als bloße Effekte von Codes und Programmen zu verstehen, können dann Beseelungsprozesse – Seelen als Funktionen und Wechselwirkungen, nicht mehr als Substanzen – neu erfahren werden, beispielsweise in manchen Räumen, in der Kunst, in der Liebe, in vielen Formen der Begegnung. Aber ich will jetzt nicht von Architektur sprechen, auch nicht von Menschen, die zu ihren Tieren oder Computern innige Beziehungen – mit epiphanischen Höhepunkten – unterhalten; erst recht will ich keine Mystik des Alltags proklamieren. Zurück zur Tüte, noch einmal. Sie ist – was uns erst jetzt auffallen kann – auch so bezaubernd, weil sie ein Behälter ist. Ihr Tanz ist nur möglich, weil sie leer ist. Sie ist buchstäblich der befreite, der leere Container, der nichts mehr tragen, enthalten, besitzen, pflegen oder fortbilden muss; und jetzt kann sie tanzen. 7