Uri Avnery Israel – „jüdischer Staat“? „Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern ist unlösbar. […] Der Grund für den Konflikt und für seine Fortdauer ist die Weigerung der Palästinenser, Israel als jüdischen Staat, als den Nationalstaat des jüdischen Volkes anzuerkennen.“ Benyamin Netanyahu, 14.06.2011 DIESER UNSINN mit der Anerkennung Israels als “jüdischer Staat”, mir reicht´s langsam. Er gründet sich auf eine Reihe hohler Phrasen und ungenauer Definitionen, ohne irgendeinen realen Inhalt. Er dient vielen verschiedenen Zwecken; fast alle sind unheilvoll. Binyamin Netanyahu benützt ihn als Trick, um die Errichtung des palästinensischen Staates zu blockieren. In dieser Woche erklärte er, dass es für diesen Konflikt keine Lösung gäbe. Warum? Weil die Palästinenser nicht damit einverstanden sind, uns als „jüdischen Staat“ anzuerkennen. Vier rechte Mitglieder der Knesset haben gerade einen Gesetzentwurf vorgelegt, der die Regierung ermächtigt, das Registrieren neuer NGOs zu verweigern und existierende aufzulösen, wenn sie den „jüdischen Charakter des Staates leugnen“. Diese neue Gesetzesvorlage ist nur eine aus einer Reihe weiterer, die dafür bestimmt sind, die Bürgerrechte arabischer Bürger wie auch die Rechte linker Gruppen zu beschneiden. Wenn der verstorbene Dr. Samuel Johnson [englischer Gelehrter, Lexikograph, Schriftsteller, Poet, Kritiker, 1709 – 1784] im heutigen Israel lebte, würde er seinen berühmten Ausspruch über Patriotismus („Der Patriotismus ist die letzte Zuflucht eines Schurken) umformulieren: „Die Anerkennung des jüdischen Charakters des Staates ist die letzte Zuflucht eines Schurken.“ NACH ISRAELISCHEM VERSTÄNDNIS kommt das Leugnen des „jüdischen Charakters“ des Staates dem schlimmsten aller politischen Verbrechen gleich: zu behaupten, Israel sei ein „Staat aller seiner Bürger.“ Für einen Ausländer mag dies ein bisschen verrückt klingen. In einer Demokratie gehört der Staat ganz klar allen seinen Bürgern. Wenn du das in den USA sagst, dann stellst du etwas Selbstverständliches fest. Sagst du es in Israel, dann wirst du fast wie ein Hochverräter behandelt. (So viel zu unseren hochgepriesenen „gemeinsamen Werten“.) Tatsächlich ist Israel ein Staat aller seiner Bürger. Alle seine erwachsenen Bürger haben das Recht, die Knesset zu wählen. Die Knesset ernennt die Regierung und macht die Gesetze. Sie hat viele Gesetze gemacht, die erklären, Israel sei ein „jüdischer und demokratischer Staat“. In zehn oder hundert Jahren könnte die Knesset die Fahne des Katholizismus hissen oder des Buddhismus oder des Islam. In einer Demokratie sind eben die Bürger der entscheidungsbefugte Souverän, nicht eine bloße Formel. WAS FÜR eine Formel ? – mag man sich fragen. Die Gerichte lieben Formulierungen wie „jüdischer und demokratischer Staat“. Aber das ist längst nicht die einzige Definition. Die am meisten gebrauchte ist einfach „jüdischer Staat“. Aber das genügt Netanyahu und seinen Kollegen nicht, die vom „Nationalstaat des jüdischen Volkes“ reden, was so hübsch nach 19. Jahrhundert klingt. Der „Staat des jüdischen Volkes“ ist auch ziemlich populär. Was alle diese Markennamen gemeinsam haben, ist, dass sie völlig ungenau sind. Was bedeutet „jüdisch“? Eine Nationalität, eine Religion, einen Volksstamm? Wer ist das „jüdische Volk“? oder sogar noch ungenauer die „jüdische Nation“? Schließt dies die Kongressleute ein, die die Gesetze der USA machen? Oder die Heerschar amerikanischer Juden, die die Politik der USA im Nahen Ostens bestimmen? Welches Land vertritt der jüdische Botschafter von Großbritannien in Tel Aviv? Die Gerichtshöfe haben sich mit der Frage herumgeschlagen: wo ist die Grenze zwischen „jüdisch“ und „demokratisch“? Was bedeutet „demokratisch“ in diesem Kontext? Kann ein „jüdischer“ Staat wirklich „demokratisch“ sein oder kann ein „demokratischer“ Staat eigentlich wirklich „jüdisch“ sein? All die von gelehrten Juristen und berühmten Professoren gegebenen Antworten sind gekünstelt oder, wie wir auf Hebräisch sagen: „sie stehen auf Hühnerbeinen“. GEHEN WIR zurück zum Anfang: zu dem Buch, das von Theodor Herzl, dem Gründungsvater des Zionismus, auf Deutsch geschrieben und 1896 veröffentlicht wurde. Er nannte es „Der Judenstaat“. Leider ist das ein typisch deutsches Wort, das man nicht übersetzen kann. Gewöhnlich wird es englisch mit „The Jewish State“ oder „The State of the Jews“ wiedergegeben. Beides ist falsch. Am nächsten käme „The Jewstate“. Nicht zufällig hat das einen leicht antisemitischen Beigeschmack. Es mag viele schockieren - aber dieser Begriff wurde nicht von Herzl erfunden. Er wurde das erste Mal von einem preußischen Adligen mit dem beeindruckenden Namen Friedrich August Ludwig von der Marwitz verwendet, der 23 Jahre bevor Herzl geboren wurde, gestorben ist. Er war ein engagierter Antisemit, lange bevor ein anderer Deutscher den Terminus „Antisemitismus“ als Äußerung des gesunden deutschen Geistes erfunden hat. Marwitz, ein ultra-konservativer General, war gegen die liberalen Reformen, die in jener Zeit vorgeschlagen wurden. 1811 warnte er, Preußen werde durch diese Reformen in einen „Judenstaat“ verwandelt. Er wollte damit nicht sagen, dass die Juden eine Mehrheit in Preußen werden würden – Gott bewahre – aber dass Geldverleiher und andere zwielichtige jüdische Händler den Charakter des Landes korrumpieren und die guten alten preußischen Tugenden zum Verschwinden bringen würden. Herzl selbst träumte nicht von einem Staat, der allen Juden der Welt gehören würde. Ganz im Gegenteil – seine Vision war, alle wirklichen Juden würden in den „Judenstaat“ gehen (ob in Argentinien oder Palästina, hatte er noch nicht entschieden). Sie – und nur sie – würden fortan „Juden“ sein. All die anderen würden sich in ihren Gastländern assimilieren und damit aufhören, Juden zu sein. Ganz schön weit weg von der Vorstellung eines „Nationalstaates des jüdischen Volkes“, wie ihn sich viele der heutigen Zionisten vorstellen, die Millionen inbegriffen, die nicht im Traum daran denken, nach Israel einzuwandern. ALS ICH noch ein Junge war, nahm ich an Dutzenden von Demonstrationen gegen die britische Regierung Palästinas teil. Bei allen schrieen wir uni solo „Freie Einwanderung! Hebräischer Staat!“ Ich kann mich nicht an eine einzige Demonstration mit dem Slogan „Jüdischer Staat“ erinnern. Das war ganz natürlich. Ohne dass es jemand angeordnet hatte, unterschieden wir klar zwischen uns, den hebräisch sprechenden Leuten in Palästina, und den Juden in der Diaspora. Einige von uns machten dies zu einer Ideologie, doch für die meisten war es ein natürlicher Ausdruck der Realität: hebräische Landwirtschaft und jüdische Tradition, hebräischer Untergrund und jüdische Religion, hebräischer Kibbuz und jüdisches Shtedl. Hebräischer Yishuv ( die neue Gemeinschaft im Lande) und jüdische Diaspora. Ein „Diasporajude“ genannt zu werden, war die schlimmste Beleidigung. Für uns war dies ganz und gar nicht antizionistisch. Im Gegenteil: der Zionismus wollte eine alt-neue Nation in Erez Israel schaffen (wie Palästina auf Hebräisch genannt wird), und zwischen dieser Nation und den Juden woanders bestand natürlich ein großer Unterschied. Es war nur der Holocaust mit seiner gewaltigen emotionalen Wirkung, der die sprachlichen Gepflogenheiten änderte. Wie schlich sich nun die Formel „Jewish State“ ein? 1917, mitten im 1.Weltkrieg, veröffentlichte die britische Regierung die sogenannte Balfour-Erklärung, die proklamierte, dass „die Regierung seiner Majestät mit Wohlwollen die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina betrachtet…“ Jedes Wort war nach Monaten der Verhandlungen mit den Zionisten sorgfältig gewählt. Eines der britischen Hauptziele war, die amerikanischen und russischen Juden für die Sache der Alliierten zu gewinnen. Das revolutionäre Russland war im Begriff, aus dem Krieg auszuscheiden, und der Eintritt des isolationistischen Amerika war von entscheidender Bedeutung. (Übrigens wiesen die Briten die [von den Zionisten gewünschte] Formulierung: „Palästina in eine nationale Heimstätte für das jüdische Volk zu verwandeln“ zurück und bestanden auf „in Palästina“ – und ließen so die Teilung des Landes vorausahnen.) DIE UN beschlossen [historisch korrekt: empfahlen, d.Übs.] 1947 die Teilung Palästinas zwischen seiner arabischen und jüdischen Bevölkerung. Dies sagt nichts über das Wesen der beiden zukünftigen Staaten – man benützte lediglich die augenblicklichen Definitionen zweier gegensätzlicher Parteien. Über 40% der Bevölkerung in dem Gebiet, das für den „jüdischen“ Staat vorgesehen war, waren Araber [ca. 400 000]. Die Befürworter des „jüdischen Staates“ machen viel Aufhebens von dem Satz in der „Erklärung der Errichtung des Staates Israel“ (gewöhnlich die „Unabhängigkeitserklärung“ genannt), in dem tatsächlich die Formulierung „jüdischer Staat“ vorkommt. Nach der Zitierung der UN-Resolution, die sich für einen jüdischen und einen arabischen Staat ausgesprochen hatte, fährt die Erklärung fort: „Dementsprechend erklären wir… auf Grund der Resolution der UN-Vollversammlung die Errichtung eines jüdischen Staates in Erez Israel, des Staates Israel.“ Dieser Satz sagt nichts über den Charakter des neuen Staates, der Kontext ist rein formal. Einer der Paragraphen der Erklärung (in seiner ursprünglichen hebräischen Version) spricht von dem „hebräischen Volk“: „Wir reichen unsere Hände allen benachbarten Staaten und ihren Völkern und bieten Frieden und gute Nachbarschaft an und appellieren an sie, Bande der Zusammenarbeit und gegenseitigen Hilfe mit dem unabhängigen hebräischen Volk in seinem Land zu knüpfen.“ Dieser Satz ist offensichtlich in der offiziellen englischen Übersetzung gefälscht worden, die die letzten Worte veränderte: mit „dem souveränen jüdischen Volk, das in seinem eigenen Land siedelt.“ Tatsächlich wäre es damals ganz unmöglich gewesen, Einigkeit über irgendeine ideologische Formel zu erreichen, nachdem die Erklärung ja von allen Fraktionen unterschrieben werden sollte, von der anti-zionistischen ultra-orthodoxen bis zur Moskau-orientierten kommunistischen Partei. JEDES GESPRÄCH über den jüdischen Staat führt unvermeidlich zu der Frage: was sind die Juden – eine Nation oder eine Religion? Die offizielle israelische Doktrin sagt, dass „jüdisch“ beides ist: eine nationale und eine religiöse Definition. Das jüdische Kollektiv ist, anders als andere, beides, national und religiös. Bei uns sind Nation und Religion dasselbe. Die einzige Eintrittstür in dieses Kollektiv ist religiös. Es gibt keine nationale Tür. Hunderttausende von nichtjüdischen russischen Immigranten sind nach dem Rückkehrgesetz mit ihren jüdischen Verwandten nach Israel gekommen. Dieses Gesetz ist ziemlich weit gefasst. Um die Juden anzuziehen, erlaubt es, sogar entfernt nichtjüdische Verwandten mit zu bringen, einschließlich des Ehepartners eines Enkels eines Juden. Viele dieser Nichtjuden wollen Juden sein, um als volle Israelis angesehen zu werden, haben aber vergeblich versucht, als solche akzeptiert zu werden. Nach israelischem Gesetz ist derjenige ein Jude, der „von einer jüdischen Mutter geboren wurde oder konvertierte und der keine andere Religion hat.“ Dies ist eine rein religiöse Definition. Das jüdische religiöse Gesetz sagt, dass für diesen Zweck nur die Mutter und nicht der Vater zählt. Es ist extrem schwierig, in Israel zu konvertieren. Die Rabbiner verlangen, dass der Konvertit alle 613 Gebote der jüdischen Religion hält – was nur sehr wenige Israelis tun. Aber man kann durch keine andere Tür ein offizielles Mitglied der jüdischen „Nation“ werden. Man wird ein Teil der amerikanischen Nation, wenn man die US-Staatsangehörigkeit akzeptiert. So etwas gibt es bei uns nicht. Wir haben in Israel einen ständigen Kampf um diese Frage. Einige von uns wünschen, dass Israel ein israelischer Staat ist, der dem israelischen Volk gehört und tatsächlich ein „Staat aller seiner Bürger“ ist. Einige wollen uns das religiöse Gesetz überstülpen, das angeblich von Gott für alle Zeiten auf dem Sinai vor 3200 Jahren festgelegt wurde und alle damit nicht vereinbaren Gesetze der demokratisch gewählten Knesset aufheben. Viele wollen überhaupt keine Veränderung. Aber – in Gottes Namen (pardon) – was hat das mit den Palästinensern zu tun? oder den Isländern? DIE FORDERUNG, dass die Palästinenser Israel als „den jüdischen Staat“ anerkennen oder den „Nationalstaat des jüdischen Volkes“, ist absurd. Die Briten würden sagen, It’s none of their bloody business (Das ist verdammt nicht ihre Sache). Es liefe auf eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Landes hinaus. Aber einer meiner Freunde hat einen einfachen Weg vorgeschlagen, wie man da heraus kommt: Die Knesset kann einfach beschließen, den Namen des Staates zu ändern, wie zum Beispiel „ die jüdische Republik Israel“, sodass jedes Friedensabkommen zwischen Israel und dem arabischen Staat Palästina automatisch die verlangte Anerkennung einschließt. Dies würde Israel auch auf die gleiche Stufe mit dem Staat stellen, der ihm am meisten ähnelt: der „islamischen Republik Pakistan“, die nach der Teilung Indiens zu etwa derselben Zeit entstand (nach einem grausamen, gegenseitigen Massaker, nach Verursachung eines großen Flüchtlingsproblems und mit einem ständigen Grenzkrieg in Kaschmir. Und der Atombombe natürlich. Viele Israelis wären von dem Vergleich geschockt. Was, wir? Einem theokratischen Staat ähnlich? Nähern wir uns immer mehr dem pakistanischen Modell und entfernen uns immer mehr vom amerikanischen? Zum Teufel - lasst uns dies einfach leugnen! aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert 18.06.2011 Quelle des Netanyahu-Zitats vom Anfang: Haaretz.com/print-edition/news 15.06.2011 SALAM SHALOM Arbeitskreis Palästina-Israel e.V. www.salamshalom-ev.de [email protected]