Artikel für Jung-Journal 2004 Zum 100.Geburtstag von Erich Neumann: „Alte“ und „Neue“ Ethik Gegenwärtig erleben wir in den westlichen Gesellschaften einen Aufschwung in Fragen der Ethik und Moral. Hintergrund dafür sind m.E. drei strukturelle Entwiklungen :Erstens die Erfahrung des 2.Weltkrieges und des Holocaust, die uns alle einfache und naive moralische Intuitionen unbrauchbar und verdächtig gemacht haben; zweitens das Ende des Ost-West-Konflikts, der es uns im Westen leicht gemacht hatte zu bestimmen , was das Gute ist, weil das Böse in das „Reich des Bösen“ (Ronald Reagan) , i.e. die frühere Sowjet-Union , projiziert werden konnte. Die Ablösung dieser Projektion durch die „Achse des Bösen“ des George W. Bush scheint mir daher auch nur ein weiterer Aufguss derselben Feindbildprojektion zu sein, dessen bindende Kraft freilich nicht mehr bis nach Europa reicht. Zum Dritten haben die letzten 20 Jahre eine enorme technologische Entwicklung insbesondere im Bereich der sog. life-sciences (Medizin, Biologie, Neurowissenschaften etc.) gebracht, durch die viele neue grundlegende ethische Fragestellungen und Unsicherheiten, die an unserer Grundverständnis vom Menschsein heranreichen, entstanden sind. Besonders im Bereich der Medizin und Biologie erscheinen viele alte Klarheiten nicht mehr selbstverständlich: wann beginnnt menschliches Leben, wann beginnt eine Person eine Person zu sein und hat dementsprechend Anspruch auf einen moralischen Status? Wann ist das menschliche Leben zu Ende ? Gibt es – neurophysiologisch betrachtet - überhaupt einen freien Willen ? Haben nur Menschen einen moralischen Status und nicht auch Tiere, ja sogar Ökosysteme? Ebenso spielen Fragen der Verteilungsgerechtigkeit besonders im Gesundheitswesen eine immer größere Rolle und führen in manchen Ländern (England, Holland) schon zu dramatischen moralischen Dammbrüchen, etwa: dürfen jüngere Menschen älteren Menschen bei der Gesundheitsversorgung auch auf Kosten des Lebens der Älteren vorgezogen werden? Aber auch im politischen Bereich stehen wir vor schwierigen ethischen Überlegungen. Dürfen Menschen, die als feindliche Kombattanten definiert werden, außerhalb jeglicher Gesetzgebung in Lagern festgehalten werden, weil sie eben bloß als feindlich definiert worden sind ? Wird im Gefangenenlager von Guantanamo nicht wieder der rechtlose Status eines KZ-Gefangenen eingeführt (s.a. Giorgio Agamben)? Darf ein Tyrann gestürzt werden , wenn man sich gleichzeitig nicht an die verbrieften internationalen zwischenstaatliche Rechte und an die Menschenrechte hält? Dürfen unschuldige Menschen, die in einem von Terroristen entführten Flugzeug sitzen, getötet werden, um zu verhindern, daß mit diesem Flugzeug andere und u.U. mehr unschuldige Menschen getötet werden, als in dem Flugzeug sind ? Im politischen Bereich wurde jüngst eine EU-Verfassung konzipiert, in der der christliche Bezug nicht mehr vorhanden ist, stattdessen ein Begriff der Menschenwürde betont wird, der philosophisch und logisch schwer zu begründen ist, um dem ethischen Dilemma, Werte zu formulieren, aber nicht vorzuschreiben, irgendwie begegnen zu können. M.a.W. können wir keine obersten Werten mehr deduktiv ableiten, weil wir keine tragfähigen und akzeptierten Glaubenssysteme mehr haben und uns eher den Vorwurf apodiktischer Wertediktatur einhandeln, was angesichts der akzeptierten Pluralität von Werten und moralischen Anschauungen obsolet geworden ist. Aus diesem oberflächlichen Blick schon ergibt sich, daß Fragen des ethischen Verhaltens und moralischer Entscheidungen im öffentlichen Diskurs deutlich zugenommen haben, aber auch komplizierter geworden sind. Ganz wichtig erscheint mir dabei aber zu sein, daß in den demokratischen Gesellschaften Westeuropas dieser Diskurs öffentlich und in zunehmend breiteren Gesellschaftsschichten geführt wird. Dieser Diskurs ist heute in den zivilisierten Gesellschaften keine Angelegenheit mehr von Eliten oder gar sog. Großen Einzelnen, sondern die gesamte Gesellschaft kann und muß sich über diese ethischen Fragen verständigen. Das tut diese unsere Gesellschaft auch. Man braucht sich beispielsweise nur einmal die Debatten um Stammzellforschung, Gen-Diagnostik, Präimplantationsdiagnostik, aber auch die so intensive über 10jährige Debatte um das Holocaust-Denkmal in Berlin anzusehen, um festzustellen, daß diese hochzivilisierten europäischen Gesellschaften einen hohen Standard ethischer Diskurse (unabhängig von dem jeweiligen Ausgang der Debatten) erreicht haben. (Eine schreckliche Ausnahme bildet der Jugoslawien-Krieg Anfang der 90er Jahre , der eine grausame atavistische Regression zum alten Talionsgesetz beinhaltete und uns daran erinnert, wie dünn diese Zivilisationsdecke sein kann – insbesondere dann, wenn es um knappe Ressourcen geht, wodurch überhaupt erst ethische Probleme entstehen. Im Schlaraffenland gäbe es wahrscheinlich gar keine moralischen Fragestellungen). Ich halte deshalb auch nichts von dem Kulturpessimismus alter Männer, die allenthalben den Verfall der Moral beklagen und den Untergang der Menschheit vorraussagen. Diese senexFigur, die in diesem Kulturpessimismus auftaucht, führt zu einer Verknöcherung und Verblindung gegenüber der Lebendigkeit des kollektiven Bewußtseins und des kollektiven Unbewußten. Auch im fachwissenschaftlichen Diskurs der Psychoanalyse finden ethische Themen mehr Aufmerksamkeit (s. Lesmeister, Solomon, Warsitz, Bossinade u.a.) Dabei geht es vor allem um die Grundstruktur des ethischen Selbst, seine Entstehung und innerpsychische Entwicklung im Kontext der grundlegenden Intersubjektivität menschlichen Daseins und um die Bestimmung dessen, was wir bisher Gewissen genannt haben. Es scheint daher sinnvoll zu sein, sich einmal anzuschauen, was einer der Klassiker im Bereich der Verbindung von Ethik und Tiefenpsychologie dazu zu sagen hat. Erich Neumann, der vor hundert Jahren in Berlin geboren wurde und einer der wichtigsten Schüler C.G.Jungs war, hat in seiner Schrift „Tiefenpsychologie und neue Ethik“ versucht, eine Ethik auf der Grundlage des jungschen Konzepts der Individuation zu formulieren. Er nannte sie eine „neue“ und „totale“ Ethik, weil diese Ethik mit den hergebrachten Spaltungen von Gut und Böse Schluß machen will. Neumann behauptet, daß die „alte Ethik“ jüdisch-christlichen Ursprungs gescheitert sei, weil sie gut und böse trenne und spalte, zu Schattenbildung und Projektion des Schattens im Rahmen der Sündenbockpsychologie führe und das Ausagieren der Destruktivität erleichtere, weil diese Ethik und Moral nicht den ganzen Menschen inclusive seines Unbewußten im Auge habe. Dieses werde vielmehr unterdrückt, verdrängt – mit den entsprechenden projezierenden Folgen. Die geforderte „neue Ethik“ ziele dagegen auf die Berücksichtigung der Dialektik von Bewußtsein und Unbewußtem, auf die Entwicklung der Ganzheitssteuerung, auf die Berücksichtigung des grundlegenden Kompensationsmechanismus der menschlichen Seele, in dem es nie um ein entweder-oder, sondern um ein sowohl-als auch geht. Schon hier sei angemerkt, daß es im Alltag unzählig viele moralische Dilemmata gibt, in denen ein entweder-oder gefordert und auch nur einzig möglich ist. Die radikale subjektive Individuation, die auch kein allgemeines moralisches Gesetz als verbindlich mehr anerkennt, führt zu einer radikalen ethischen Autarkie. „Die ethische Wertung bezieht sich nicht mehr auf Inhalte, Qualitäten oder Taten als auf ‚Entitäten’, sondern sie ist funktionell bezogen auf die Ganheit. Was der im Selbst zentrierten Ganzheit zur Integration hilft, ist ‚gut’, welcher Art dieses Helfende auch sei. Und umgekehrt ist böse alles, was zur Desintegration führt, sei es auch ‚guter Wille’, ‚kollektiv anerkannter Wert’ oder sonst irgendein ‚an sich Gutes’.“(Neumann, S.128) Nach Neumann gehe es insbesondere es um die vollständige Anerkennung des Schattens und seine Integration. Dabei habe diese Integrationarbeit, wie wir sie ja vom Individuations- und Therapiekonzept der Analytischen Psychologie her kennen, auch die immense soziale Aufgabe, durch die je individuelle „Entgiftungsarbeit“ auch ein Stück Böses des Kollektives mitzuverarbeiten. „Im Gegensatz zur Sündenbockpsychologie, in welcher der Einzelne sein Böses an die Schwachen abschiebt, kommt es hier eher zu dem umgekehrten Phänomen, nämlich dem des ‚stellvertretenden Leidens’. Der Einzelne nimmt einen Teil der Last des Kolektivs in die eigene Verantwortung mit hinein und entgiftet und integriert in seiner inneren Verwandlungsarbeit dies Böse.“(Neumann, S.132) Was Neumann im übrigen hier ansatzweise beschreibt, finden wir heute in der psychotherapeutischen Diskussion wieder in den Prozessen des Containments und der Verarbeitungen der projektiven Identifikation, die der Therapeut stellvertretend für den projezierenden Patienten leisten muß. Es darf bezweifelt werden, diesen Vorgang außerhalb des professionellen therapeutischen Rahmens möglich zu machen. Allerdings muß man auch sehen, daß Neumann, trotz seines vehementen Eintretens für seine „neue“ Ethik, doch wieder Gefahr läuft, in Strukturen der „alten“ Ethik zu landen. Dies wird besonders deutlich daran, daß Neumann wie die alten Ethiken sich von einem neuen ethischem Verhalten eine „Erlösung“ vespricht. Das ‚stellvertretende Leiden’ wird dagegen immer in einem religösen Kontext bedeutsam sein (Eine eindrückliche Darstellung des stellvertretenden Leidens gibt es in dem Film „Nostalghia“ von Andrej Tarkowski). Neumanns Ethik gerät hier in eine relgiöse bzw. metaphysische Dimension und wird am Schluß zu einer weiten Moraltheologie, in der am Ende der Schöpfergott aus den Tiefen des seelischen Urgrundes wieder neu emporsteigt und sich gestaltet. Zwar kritisiert Neumann bei der alten Ethik die Sollens-Struktur der ethischen Verpflichtungen, er lehnt jede deontologische Begründung moralischen Verhaltens als veraltet ab, aber auch bei ihm landen wir natürlich in einer Sollens-Aussage: Du sollst deine Ganzheit berücksichtigen. Andernfalls wäre es ja auch überhaupt keine Ethik, sondern allenfalls eine Empfehlung des Umgangs mit sich selbst. Im Übrigen: Kein Dekalog, sondern nur noch ein Monolog wird hier von Neumann vorgeschlagen, der den Namen „Monolog“ in der Tat vedient. Der Andere, auch der andere Mitmensch taucht nur noch in der Innenperspektive als zurückzunehmende Projektionsfläche für meinen Schatten auf, nicht mehr als Mitmensch, mit dem ich nach moralischen Regeln Konflikte auszuhandeln habe. Es hört sich manchmal bei Neumann so an, als ob er mit dem Vollständigkeitsideal des individuierten Menschen alle Konflikthaftigkeit menschlichen Lebens überwunden zu haben glaubt. Problematisch an dieser ethischen Autarkie des Einzelnen, die keineswegs der Autonomie im Sinne Kants vergleichbar ist, scheint mir zu sein, daß Neumann kein Verfahren angibt, wie ethische Wertungen universell zu begründen sind. Universalität ist aber eine unbedingter, nicht verzichtbarer Grundzug ethischen Argumentierens. Diesen Anspruch erheben zumindest die führenden Ethikkonzeptionen: die Moralphilosophie Kants, der Utilitarismus und der Kontraktualismus (s.Düwell u.a.) Es kann nicht sein, daß Werte nur für bestimmte Menschengruppen gelten, für andere aber nicht. Es kann auch nicht sein, daß die Definition des Bösen subjektivistisch relativiert , ja auf den Kopf gestellt wird. „Das Böse, das jemand mit Bewußtsein, das heißt immer auch im Wissen der Verantwortung, tut, und dem er sich nicht entzieht, ist ethisch gut.“(Neumann, S.114) Es ist schwer verständlich, was Neumann hier wirklich meint, insbesondere wenn man bedenkt, daß Neumann diesen Text kurz nach dem 2.Weltkrieg und dem Schrecken des Holocaust geschrieben hat. Die Relativierung des ethischen Wertens scheint mir daher eher auch Ausdruck der Tatsache zu sein, daß Neumann diesen Text in Zeiten größten kulturellen Umbruchs schrieb und noch nicht erkennen konnte, in welche Richtung sich die Auflösung der „alten“ , d.h. deduktiv abgeleiteten christlichen Ethik entwickelte: in Richtung der Pluralität und Gleichzeitigkeit verschiedenster normativer Werte, in der eine Dezentrierung des Ichs, des Subjektes insgesamt stattfindet. Neumann, der die Integration des Schattens für weitgehend möglich hält, ist Freud viel näher, als es auf den ersten Blick scheint: die Integration des Schattens kann ja nur eine Arbeit des Bewußtseins sein – parallel zu Freuds Vorstellung „Wo Es war, soll Ich werden.“ Auch wenn diese Integrationsarbeit durch die „Stimme“ des Selbst, nicht mehr durch ein wie auch immer geartetes Über-Ich- gesteuert wird, bleibt doch immer ungewiss, woher diese Stimme kommt (siehe Kasten). In der Analytischen Psychologie gab es m.E. besonders zu Beginn ihrer Begründung durch C.G.Jung und seine ersten Schüler einen Rigorismus der Argumentation, der übersieht, daß die Theorien der Analytischen Psychologie, ihr Menschenbild und ihre Einschätzung der historischen und archetypischen Entwicklungen in Konkurrenz oder in Anlehnung zu anderen Theorien stehen. Die Verurteilung der „alten“ Ethik durch Neumann ist von diesem Kaliber. Gleichzeitig finden sich bei Neumann Spuren nonkognitivistischer Theorien wie denen des Emotivismus oder des Präskriptivismus, die die Subjektivität moralischer Urteile betonen bzw. abstreiten, daß es überhaupt „Urteile“ seien. Alles, was Neumann unter „alter“ Ethik kritisiert und ablehnt, beruht dagegen auf kognitivistischen Grundauffassungen: moralische Urteile und ethische Wertungen können gültig, richtig, wahr oder eben auch das Gegenteil sein, aber auf jeen fall kognitiv und rational begründbar. Eine zusammenfassende Kritik an Neumann beinhaltet dann vor allem eine Kritik des radikalen Subjektivismus und die erkenntnistheoretische Unhaltbarkeit der Neumanschen Position. In Neumanns Konzeptualisierung ethischen Verhaltens fehlt die Perspektive der grundlegenden Intersubjektivität menschlichen Daseins, es fehlt die Konzeptualisierung des Anderen als Grundlage ethischen Handelns (Warsitz,2004) überhaupt. Wäre ich allein auf der Welt, bräuchte ich keine Moral und keine Ethik (und mancher narzißtisch beeinträchtigte Mensch erlebt und lebt sich ja durchaus so). Es sei am Schluß daher noch einmal auf den alten Meister Kant verwiesen. In einer Formulierung des Kategorischen Imperativs begründet Kant das Verbot der Instrumentalisierung des Anderen. Dieser Gedanke beinhaltet die unhintergehbare Respektierung der Freiheit des Anderen, und zwar in einer sehr umfassenden Weise: „Das Gefühl der Freiheit, noch nie von einem Anderen für den Gebrauch in seiner intimen inneren Welt vereinnahmt worden zu sein, könnte die Bedingung dafür sein, mit einem Anderen eine ethische Verbindung einzugehen.“ (McFarland Solomon,S.27,2002) Moral ist eine Erfahrung von Angesicht zu Angesicht. Zum Thema vox die / Stimme des Selbst : „Nach diesen Geschichten versuchte Gott Abraham und sprach zu ihm: Abraham! Und er antwortete: Hier bin ich. Und er sprach: Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du liebhast, und geh hin in das Land Morija und opfere ihn dort zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir sagen werde. Da stand Abraham früh am Morgen auf und gürtete seinen Esel und nahm mit sich zwei Knechte und seinen Sohn Isaak und spaltete Holz zum Brandopfer, machte sich auf und ging hin an den Ort, von dem ihm Gott gesagt hatte. Am dritten Tage hob Abraham seine Augen auf und sah die Stätte von ferne und sprach zu seinen Knechten: Bleibt ihr hier mit dem Esel. Ich und der Knabe wollen dorthin gehen, und wenn wir angebetet haben, wollen wir wieder zu euch kommen. Und Abraham nahm das Holz zum Brandopfer und legte es auf seinen Sohn Isaak. Er aber nahm das Feuer und das Messer in seine Hand; und gingen die beiden miteinander. Da sprach Isaak zu seinem Vater Abraham: Mein Vater! Abraham antwortete: Hier bin ich, mein Sohn. Und er sprach: Siehe, hier ist Feuer und Holz; wo ist aber das Schaf zum Brandopfer? Abraham antwortete: Mein Sohn, Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer. Und gingen die beiden miteinander. Und als sie an die Stätte kamen, die ihm Gott gesagt hatte, baute Abraham dort einen Altar und legte das Holz darauf und band seinen Sohn Isaak, legte ihn auf den Altar oben auf das Holz und reckte seine Hand aus und faßte das Messer, daß er seinen Sohn schlachtete. Da rief ihn der Engel des HERRN vom Himmel und sprach: Abraham! Abraham! Er antwortete: Hier bin ich. Er sprach: Lege deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts; denn nun weiß ich, daß du Gott fürchtest und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont um meinetwillen.Da hob Abraham seine Augen auf und sah einen Widder hinter sich in der Hecke mit seinen Hörnern hängen und ging hin und nahm den Widder und opferte ihn zum Brandopfer an seines Sohnes Statt. Und Abraham nannte die Stätte «Der HERR sieht». Daher man noch heute sagt: Auf dem Berge, da der HERR sieht. Und der Engel des HERRN rief Abraham abermals vom Himmel her und sprach: aIch habe bei mir selbst geschworen, spricht der HERR: Weil du solches getan hast und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont, will ich dein Geschlecht segnen und mehren wie die Sterne am Himmel und wie den Sand am Ufer des Meeres, und deine Nachkommen sollen die Tore ihrer Feinde besitzen; und durch dein Geschlecht sollen alle Völker auf Erden gesegnet werden, weil du meiner Stimme gehorcht hast. So kehrte Abraham zurück zu seinen Knechten. Und sie machten sich auf und zogen miteinander nach Beerscheba, und Abraham blieb daselbst.“ (Genesis 22,1-12) Kommentar von Kant : „Daß es aber nicht Gott sein könne, dessen Stimme er zu hören glaubt, davon kann er sich wohl in einigen Fällen überzeugen; denn wenn das, was ihm durch sie geboten wird, dem moralischen Gesetz zuwider ist, so mag die Erscheinung ihm noch so majestätisch und die ganze Natur überschreitend dünken: er muß sie doch für Täuschung halten . Abraham hätte auf diese vermeinte göttliche Stimme antworten müssen: "Daß ich meinen guten Sohn nicht tödten solle, ist ganz gewiß; daß aber du, der du mir erscheinst, Gott sei, davon bin ichnicht gewiß und kann es auch nicht werden", wenn sie auch vom (sichtbaren) Himmel herabschallte.“ (Immanuel Kant: Der Streit der Fakultäten, AA VII, S.63) Talmudischer Kommentar: Fairerweise muß hier freilich auch die talmudische Deutung hinzugezogen werden, nach der die Stimme, die Abraham hörte „in Wahrheit dämonischen Ursprungs, Zeugnis eines Todestriebes des Patriarchen (war). .... Die Stimme sei nur scheinbar göttlich gewesen. (Stéphane Mosès: Der Familienroman der biblischen Patriarchen, in: Trajekte, Zeitschrift des Zentrums für Literaturforschung Berlin, Nr.8, 2004) Lit.: Agamben, Giorgio: Homo sacer, Frankfurt 2002 Bossinade, Johanna: Vom Ethos in der Psychoanalyse, Psyche 2004, 58, S.583-607 Düwell, Marcus u.a.: Handbuch Ethik, Stuttgart 2002 Lesmeister, Roman: Über-Ich, Stimme des Selbst und depressive Position, Analytische Psychologie, 26, S.1-18 Lesmeister, Roman: Zum Problem des Bösen in der postmodernen Realität, Analytische Psychologie 1999, 30, S.273-290 McFarland Solomon, Hester: Das ethische Selbst, Analytische Psychologie 2002, 33, S.1-30 Neumann, Erich: Tiefenpsychologie und neue Ethik, München 1964 Warsitz, Rolf-Peter: Der Andere im Ich. Antlitz-Antwort-Verantwortung, Psyche 58, Sonderheft 2004, S.783-810 Warsitz, Rolf-Pete: Die Bioethik als Herausforderung für eine Ethik der Psychoanalyse, Psyche, 56, 2002, S.1093-1121 Dipl.Psych.Thomas Schwind Jungscher Psychoanalytiker in eigene Praxis in Münster Vorstandsmitglied der C.G.Jung-Gesellschaft, z.Z. Cand. Master of Applied Ethics