SYMPOSIUM: MOSKAUER MEMORANDUM 1955 – SIGNAL FÜR DEN FRIEDEN IN EUROPA Botschafter Dr. Ludwig Steiner Die Vorbereitungen auf die Reise der Regierungsdelegation nach Moskau im April 1955 Zuerst die Feststellung: meine Rolle während der Verhandlungen in Moskau vom 11. bis 15. 4. 1955 war eine dienende, - als Sekretär von Bundeskanzlers Julius Raab. Da ich bei allen Besprechungen, an denen der Bundeskanzler teilnahm, anwesend war, sind für mich die gerade gehörten Erklärungen von Botschafter Sergejev ein großes Erlebnis. Sie deckten sich weitgehend mit meinen Erinnerungen und ergänzten sie mit Informationen, zu denen die wir damals keinen Zugang haben konnten. Die alles entscheidende Phase der Verhandlungen am 13. April 1955 hat Herr Botschafter Sergejev sehr eindrucksvoll geschildert. Die Frage Molotows nach der zukünftigen politischen Position Österreichs war mit der Wiederholung, „Österreich wolle eine Art paktfreie Position in der Mitte Europas einnehmen“, nicht zur Zufriedenheit der sowjetischen Seite beantwortet. Für Raab war es klar, dass nur eine Verpflichtung zur immerwährenden Neutralität den sowjetischen Vorstellungen entsprach. Dazu gab es keine Übereinstimmung mit Vizekanzler Schärf und Staatssekretär Kreisky. Raab ersuchte daher um eine Sitzungsunterbrechung von 12.30 bis 13.00. Auch in dieser Verhandlungspause kam es zu keiner Einigung innerhalb der österreichischen Delegation über die Frage „Neutralität“. Um 13.05 betrat die österreichische Verhandlungsdelegation wieder den Sitzungssaal und Bundeskanzler Raab erklärte von sich heraus, Österreich stelle sich als seine zukünftige politische Position eine immerwährende Neutralität vor, wie die Schweiz sie wahrt. Vizekanzler Schärf und Staatssekretär Kreisky erhoben dagegen keinen Einspruch, stimmten aber auch nicht ausdrücklich zu. In der Folge ging es dann darum, dass die österreichische Delegation dafür besorgt sein wird, damit die Bundesregierung den Entwurf eines Verfassungsgesetzes beschließen und diesen dem Nationalrat zur Beschlussfassung vorlegen werde. Weiters werden die Mitglieder der Delegation dafür besorgt sein, damit eine verfassungsmäßige Mehrheit im Nationalrat zustande kommt. Die Delegation konnte ja in Moskau keine andere, also keine vertragliche Verpflichtung, eingehen, dazu gab es weder einen Beschluss der Bundesregierung noch eine Ermächtigung des Nationalrates. Schon vorher gab es an einem anderen Punkt keine gemeinsame Position unserer Delegation zu einer sowjetischen Forderung. Vizeministerpräsident und Außenhandelsminister Mikojan forderte für die Rückgabe der österreichischen Erdölfelder die Lieferung von 10 Millionen Tonnen Erdöl an die Sowjetunion. Raab war bereit, dem zu zustimmen. Schärf bestand darauf, dass Österreich höchstens 4 Millionen Tonen liefern könnte. Die Sitzung wurde unterbrochen, um der österreichischen Delegation Gelegenheit zu geben eine interne Übereinstimmung zu finden. Natürlich wollten alle Delegationsmitglieder die Ablöselieferung so gering wie möglich halten. Allerdings wollte Raab die Verhandlungen hier in Moskau nicht an diesem Punkt scheitern lassen und er argumentierte, die Freiheit hat nun einmal ihren Preis und wenn dies ein materieller ist, so ist er dies immer um der Freiheit Willen wert. Vizekanzler Schärf bestand weiter darauf, dass nicht mehr als 4 Millionen Tonen bezahlt werden dürften. Man habe ja keine genauen österreichischen Schätzungen über die noch in der Erde ruhenden Erdölreserven. Raab bekam in der Diskussion zunehmend den Eindruck, Schärf wolle die Verhandlungen in Moskau überhaupt nicht abschließen und später Informationen zum Symposium, den Teilnehmern und unserem Institut entnehmen Sie bitte unserer website: www.iip.at 1 SYMPOSIUM: MOSKAUER MEMORANDUM 1955 – SIGNAL FÜR DEN FRIEDEN IN EUROPA weiterverhandeln. Raab wollte dagegen diese von ihm als einmalig angesehene Möglichkeit, jetzt mit der UdSSR zu einem Übereinkommen zum Abschluss des Staatsvertrages zu kommen, auf alle Fälle nützen. Es gab daher keine Einigung in der österreichischen Delegation. Die Zusage des Bundeskanzlers, er wolle sich dazu verpflichten, später eine Reduzierung des sowjetischen Verlangens zu versuchen, änderte nichts an der Haltung von Schärf und Kreisky. Raab stimmte dann von sich aus der sowjetischen Forderung auf Lieferung von 10 Millionen Erdöl zu. Übrigens erreichte Raab Jahre später in einem intensiven Gespräch mit Chruschtschow tatsächlich eine Reduzierung dieser Lieferverpflichtungen. Wie schon Botschafter Sergejev in seinen Ausführungen sagte, waren diese beiden Unterbrechungen der Sitzungen entscheidend für einen erfolgreichen Abschluss dieser Moskauer Verhandlungen. Allerdings erwähnte Sergejev noch ein weites Element, das bei den Verhandlungen noch im letzten Moment Schwierigkeiten bereiten hätte können. Es ging dabei um folgendes: Am 13. April 1955 am späten Abend, nach einem langen Abendessen im Kreml, besprach Raab mit mir den Text einer allfälligen Botschaft an die österreichische Bevölkerung. Ich schrieb mir einige Stichworte auf und sollte einen Text formulieren. Der Generalsekretär der ÖVP, Josef Scheidl, sollte diesen Text aber erst an die Medien weitergeben, wenn wir auf der Heimreise österreichischen Boden betreten haben. Diese Vorgangsweise müsse unbedingt eingehalten werden. Schon am frühen Morgen des 14. April meldete ich vom Gästehaus aus ein Gespräch mit der ÖVP – Zentrale in Wien an. Die Verbindung kam erst zu Stande, als wir gerade das Gästehaus für die nächste Sitzung im Kreml verlassen wollten. Kreisky ging gerade am Telefonapparat vorbei und nahm den Hörer in die Hand. Da sich von Wien aus der Generalsekretär der ÖVP meldete, übergab mir Kreisky das Gespräch. Ich gab den Text dieser Botschaft Raabs Scheidl durch, mit dem strikten Auftrag des Bundeskanzlers sich an die Sperrfrist zu halten. In der Sitzung im Kreml ging es unter Vorsitz Molotow um die Formulierung der Einzelheiten des Moskauer Memorandums und eines Kommuniqués. Nach zwei bis drei Stunden bekam Molotow ein Blatt Papier von einem Mitarbeiter, las aufmerksam den Text und sagte dann, „ Herr Bundeskanzler wir brauchen uns hier nicht um Formulierungen bemühen, denn in Wien ist ohnehin schon alles bekannt“. Ich saß gerade hinter Raab und wäre am liebsten versunken. Gott sei Dank gingen die Verhandlungen mit einer kurzen Unterbrechung gleich wieder weiter. Josef Scheidl hatte in Wien diese Botschaft Raabs an Hugo Portisch weitergegeben, der gleich eine Sonderseite des Kuriers drucken und diese gleich in die Straßenkolportage bringen ließ. Dieser Vorgang hat mir in meinem Leben so manche Diskussion eingebracht, die nicht immer vergnüglich waren. Die Vorbereitungen der österreichischen und der sowjetischen Seite auf diese Moskauer Verhandlungen konnten unterschiedlicher nicht sein. Die sowjetische Delegation trat dem Eindruck nach, den man von außen her haben konnte, geschlossen auf, war bis in jede Einzelheit vorbereitet. Uns wurde gesagt, die sowjetische Führung hätte zwei Wochen vorher in einem Ferienort auf der Krim das „Dossier Österreich“ bis ins kleinste Detail durchdiskutiert. Für uns war damals allerdings schon etwas auffällig, dass die Verhandlungsführung in zwei Händen lag, von Molotow und von Mikojan, die sich von Zeit zu Informationen zum Symposium, den Teilnehmern und unserem Institut entnehmen Sie bitte unserer website: www.iip.at 2 SYMPOSIUM: MOSKAUER MEMORANDUM 1955 – SIGNAL FÜR DEN FRIEDEN IN EUROPA Zeit während den Sitzungen zu beraten schienen. Von inneren Spannungen, die uns Botschafter Sergejev in den letzten Tagen erläuterte, merkten wir damals sicherlich nichts. Diese Berichte vom damaligen Dolmetscher Molotows erinnerten mich allerdings an ein Erlebnis anlässlich eines Staatsbesuches von N.S. Chruschtschow 1959 in Sofia. Ich war damals Leiter unserer Gesandtschaft in Sofia und bei der bei solchen Gelegenheiten üblichen Vorstellung des diplomatischen Corps wurde Chruschtschow auf mich aufmerksam gemacht und sagte: „Der weiß, dass ich für die Österreicher den Staatsvertrag erreicht habe“. Mit meiner Feststellung, ich hätte nur gesehen, wie Molotow unterschrieben hat, kam ich da schlecht an. Chruschtschow sagte: „Sie müssen wissen, Molotow war scharf gegen den Abschluss des Staatsvertrages und gegen die Neutralität Österreichs und gegen den Abzug sowjetischer Truppen aus Österreich.“ Es habe darüber harte Auseinandersetzungen im Politbüro gegeben. Auch bei späteren Begegnungen kam Chruschtschow immer wieder darauf zu sprechen. Auf österreichischer Seite gab eine sehr intensive Vorbereitung zu allen Problemen des vorliegenden Vertragsentwurfes bis in jede Einzelheit. Zu schwierigen Punkten wurden allfällige Alternativen erarbeitet. Allerdings zum entscheidenden Punkt, wie die sowjetische Haltung zur politischen Grundsatzentscheidung gebracht werden sollte, gab es keine Einigung zwischen den Koalitionsparteien. Dass es um die Frage „Neutralität ja oder nein“ gehen werde, war sicherlich den meisten klar. Die österreichische Regierungsdelegation reiste nach Moskau, ohne dass es vorher über diese wichtigste Frage einen Regierungsbeschluss gegeben hatte. Es gab keinen Beschluss des Plenums des Nationalrates oder einer seiner Ausschüsse. Es gab keine Befassung des Bundesrates. Raab und Figl haben im ÖVP über die Reise ganz allgemein berichtet, es gab großen Beifall, aber keinen Beschluss. Das Wort Neutralität ist dabei auch gar nicht gefallen. Da in Wien schon damals fast nichts geheim gehalten werden konnte, hörten wir, dass im Vorstand der SPÖ die Rede davon war, in Moskau dürfe über Neutralität nicht gesprochen werden. Diese Situation änderte sich auch nicht nach Ankunft der Delegation in Moskau. Am 12. April 1955 hat es nach einem Abendessen für die höchsten sowjetischen Funktionäre in der österreichischen Botschaft nach Verabschiedung der Gäste ein Gespräch zwischen Bundeskanzler, Vizekanzler, Staatssekretär Kreisky, Botschafter Norbert Bischoff und Frau Holda Bischoff gegeben. Ich war beim ganzen Gespräch anwesend, Außenminister Figl war schon ins Gästehaus gegangen. Botschafter Bischoff hat dabei beide Herrn der SPÖ vehement angegriffen, weil sie, seiner Meinung nach, wegen ihrer Weigerung über Neutralität zu reden die historische Möglichkeit, doch noch zu einem Staatsvertragsabschluss zu kommen zum Schaden unserer Republik zerstören würden. Zum Teil fand diese Auseinandersetzung in der Küche statt, da in den Salons der Botschaft bereits Aufräumungsarbeiten begonnen hatten. Schließlich erklärte Schärf, Raab müsse sich bewusst sein, falls morgen das Wort Neutralität von Raab zur Sprache gebracht würde, werden Kreisky und er nach Wien zurückkehren. Dieses Gespräch fand am Ende eines überaus anstrengenden Tages statt, daher ist die Heftigkeit und die Art der Gespräche zu erklären, Die zentrale Aussage von Vizekanzler Schärf war klar und entschlossen genug. Im Gästehaus sagte mir Raab dann noch: „Du wirst sehen wir werden hier doch über Neutralität reden.“ Mit dieser Vorgeschichte ist auch die Haltung von Schärf und Kreisky am nächsten Tag bei der Sitzungsunterbrechung zu verstehen. Informationen zum Symposium, den Teilnehmern und unserem Institut entnehmen Sie bitte unserer website: www.iip.at 3 SYMPOSIUM: MOSKAUER MEMORANDUM 1955 – SIGNAL FÜR DEN FRIEDEN IN EUROPA Es ist schon klar, über die Frage der Neutralität kann und konnte man ganz verschiedener Meinung sein. „Erfunden“ wurde die Neutralität schon fast 150 Jahre vorher. Über Neutralität als österreichisches Ziel wurde in den verschiedensten inhaltlichen Variationen schon unmittelbar nach Kriegsende von mehreren Persönlichkeiten in hohen Positionen gesprochen. Mit dem ersten Hauch des Kalten Krieges ist es dann still um die Neutralität geworden. Von Ost und West wurden nur klare Positionen für die eine oder andere Seite in dieser Ost-West-Auseinandersetzung geschätzt. Neutrale galten bald als „Schlafwandler zwischen Gut und Böse“. Entscheidend allerdings war, wer von Mitte 1953 an den Mut hatte, die Neutralität Österreichs als politisches Ziel gegen Verdächtigungen und persönliche Angriffe zu verfolgen. Bundeskanzler Raab war sich bereits im Sommer 1953 klar, dass den Sowjets eine Blockfreiheit Österreichs keine erstrebenswerte Alternative zum allfälligen Truppenabzug in der Folge eines Staatsvertragesabschlusses für Österreich sein konnte. Der Versuch von Außenminister Gruber im Sommer 1953, in einem Gespräch mit dem indischen Ministerpräsidenten Nehru am Bürgerstock in der Schweiz, einen solchen Vorschlag mit indischer Vermittlung an die Sowjets heranzutragen, brachte kein Ergebnis. Über Auftrag des indischen Ministerpräsidenten wurde der indische Botschafter in Moskau Menon von Molotow zu einem längeren Gespräch empfangen. Der Standpunkt des sowjetischen Außenministers war sehr klar, er sagte: die Absicht Österreichs, keinem Militärpakt beizutreten, keine Stationierung fremder Truppen auf seinem Territorium zuzulassen usw. - all das seien schöne Worte, aber Worte sind sehr rasch wieder geändert. Eine Art Blockfreiheit Österreichs, das war also das entscheidende Argument für die Sowjets, einem Abschluss des Staatsvertrages zuzustimmen. Aus heute einzusehenden sowjetischen Dokumenten wird auch klar, dass im Jahre 1953/54 die Sowjets überhaupt noch keinen Entschluss gefasst hatten, wann und ob überhaupt die militärische Präsenz in Österreich aufgegeben werden sollte - Staatsvertrag hin oder her. Entwicklungen innerhalb der sowjetischen Führung als Folge der Umschichtung der inneren Machtverhältnisse nach Stalins Tod brachten, - so sieht es aus heutiger Sicht aus, - schrittweise ein Umdenken. Ein Element in diesem Zusammenhang ist sicherlich auch der schrittweise Abbau des totalen Misstrauens beider Seiten, zwischen der Sowjetischen Hochkommission, also den Besatzungstruppen und der österreichischen Regierung durch das persönliche Engagement Bundeskanzlers Raab. Das ergab mit der Zeit für die sowjetische Politik eine realistische Sicht der Haltung und allfälligen Handschlagqualität der österreichischen politischen Kräfte. Klare ideologische Positionen beider Seiten zu respektieren und andererseits die machtpolitischen Gegebenheiten zur Kenntnis zu nehmen - das konnte eine Basis für weitergehende Diskussionen über die Positionierung Österreichs in dieser neuralgischen Lage in Mitteleuropa in der Zukunft sein. Allerdings kam es in dieser Phase auch besonders darauf an, nicht die vorhandene Vertrauensbasis mit den drei westlichen Alliierten zu verlieren. Aus diesem Grunde wurde auch bei den Verhandlungen in Moskau großer Wert darauf gelegt, die drei westlichen Botschafter ständig über Fortschritte zu informieren. Es war klar zu erkennen, auch die sowjetische Seite war daran interessiert, durch diese Moskauer Gespräche nicht neue Konflikte und Verdächtigungen entstehen zu lassen. Eine Bemerkung zur den Behauptungen, die immerwährende Neutralität sei in Moskau beschlossen worden, oder „die Neutralität ist in Moskau den Österreichern aufs Auge gedrückt worden“. Informationen zum Symposium, den Teilnehmern und unserem Institut entnehmen Sie bitte unserer website: www.iip.at 4 SYMPOSIUM: MOSKAUER MEMORANDUM 1955 – SIGNAL FÜR DEN FRIEDEN IN EUROPA Die österreichische Regierungsdelegation hatte bekanntlich keine Vollmacht, einen solchen Beschluss zu fassen. Daher konnte sie im Moskauer Memorandum nur eine Verwendungszusage abgeben, dass sie dafür bemüht sein werde, dass ein Verfassungsgesetz im österreichischen Nationalrat beschlossen wird. Es ging auch den Sowjets darum, dass es sich um einen Beschluss über die Neutralität entsprechend den österreichischen Verfassungsvorschriften handeln müsste. Molotow war sich auch bewusst, dass die sozialistischen Delegationsmitglieder keine Vollmacht ihres Parteivorstandes hatten, überhaupt eine verpflichtende Zusage über die Neutralität zu machen. Daher stimmte er in einem Gespräch mit Bundeskanzler Raab zu, keine Veröffentlichung über die Frage der Neutralität in den sowjetischen Medien vorzunehmen. Raab wies in diesem Gespräch darauf hin, dass die Parteiobleute ihren Parteivorständen berichten müssten, bevor eine definitive Erklärung über die Neutralität abgegeben werden kann. Daher ist es auch zu erklären, warum in der Prawda und Istwestja vom 16. April 1955, - also einen Tag nach Ankunft der österreichischen Delegation in Vöslau – im Kommuniqué über die Moskauer Verhandlungen im Text des Moskauer Memorandums das Wort „Neutralität“ fehlt und durch „Unabhängigkeit“ ersetzt wurde. In der Botschaft Raabs an die Österreicher scheint ebenfalls das Wort Neutralität nicht auf. In keiner österreichischen Zeitung ist in diesen Tagen von Neutralität die Rede. Die erste Mitteilung über die Neutralität Österreichs erfolgt in der sowjetischen Presse erst einen Tag nach Unterzeichnung des Staatsvertrages, also am 16. Mai 1955. Heute lässt sich klar belegen, - und Botschafter Sergejew hat beeindruckend davon gesprochen, - dass die sowjetische Führung auch einige Zeit benötigte, den eigenen Funktionären klar zu machen, warum plötzlich sowjetische Truppen aus einem Gebiet zurückgezogen werden müssen, das sie einst unter schweren Verlusten siegreich eroberten. So weit es Bundeskanzler Raab anging, so wurde in Moskau die Zusage zum Abschluss des Staatsvertrages erreicht und gleichzeitig seine Zielsetzung, für Österreich eine Neutralität wie die Schweiz sie wahrt, zu erreichen, den entscheidenden Schritt näher der Verwirklichung gebracht. Er war fest davon überzeugt, dass damit Österreich in einer bestimmten historischen und geopolitischen Lage eine wichtige Aufgabe in der europäischen Völkerfamilie habe. Eines ist sicherlich klar, die Neutralität war ein Risiko für alle Beteiligten. Hat Österreich die Kraft und den politischen Willen, seine Unabhängigkeit gegenüber jeden Druck von außen zu verteidigen und auch allfälliger „Brüderlichen Hilfe“ zu widerstehen? Das fragte man sich in verschiedenen Staatskanzleien und vor allem in den westlichen, besonders in den bundesdeutschen Medien. Mit Verdächtigungen gegen Österreich wurde nicht gespart. Besonders hervor tat sich der „Manchester Guardian“ vom 20. April 1955. Dort war zu lesen: „Wenn Österreich die verdiente Unabhängigkeit bekommt, wird es deswegen sein, weil Österreich für niemand als Verbündeter wesentlich oder gar als Feind gefährlich ist. Österreich kann als neutraler Staat in der Mitte Europas herumschwimmen. Österreich, wohin immer es schwimmt, kann das Gleichgewicht der Kräfte nicht ernsthaft umstoßen!“ Nach dem 15. Mai 1955 sah die Position Österreichs für viele in Europa dann doch anders aus und besonders das Verhalten der Österreicher und Österreicherinnen während der ungarischen Revolution machte der Welt sichtbar, dass Österreich wusste, wie es mit seiner neuen Rolle, mit der Aufgabe und den Verpflichtungen, die es übernommen hat, umzugehen hatte. Informationen zum Symposium, den Teilnehmern und unserem Institut entnehmen Sie bitte unserer website: www.iip.at 5 SYMPOSIUM: MOSKAUER MEMORANDUM 1955 – SIGNAL FÜR DEN FRIEDEN IN EUROPA Das Bundesverfassungsgesetz über die immerwährende Neutralität wurde ganz bewusst auf eine sehr knappe Formulierung beschränkt, um jede Selbstfesselung in politischen Entscheidungen, die über die eigentliche völkerrechtliche Substanz hinausgeht, zu vermeiden. So sehr es Bundeskanzler Raab darum ging, ein Instrumentarium zu finden, um die Unterzeichnung des Staatsvertrages herbeizuführen, so war die immerwährende Neutralität für ihn auch ein Mittel zur nationalen Selbstfindung Österreichs und vor allem die Möglichkeit der Republik - im Unterschied zur Ersten Republik - einen sinnvollen und nützlichen Platz in der Staatengemeinschaft einzunehmen. Österreich war nicht mehr ein Staat, von dem Clemenceau einst sagte, er sei nur der Rest eines großen Reiches und habe eigentlich keine „raison d’être“. Österreich hatte in den letzten Jahrzehnten sicherlich diese „raison d’être“, für sich und die Staatengemeinschaft ; und Österreich bewährte sich in dieser seiner Position. Es kommt nicht darauf an, wie wir die Neutralität benennen oder mit welchen Beifügungen wir sie „schmücken“ oder interpretieren wollen!! Es kommt nur darauf an, ob wir für die Staatenwelt als verlässliche, auch in zukünftigen Konfliktsfällen, voll voraus berechenbare Neutrale sind. Die immerwährende Neutralität ist in einer ganz bestimmten historischen und geopolitischen Situation entstanden - diese Situation besteht seit 15 Jahren nicht mehr. Die geopolitische Situation Europas hat sich grundlegend gewandelt und dieser Wandel ist noch nicht abgeschlossen. Auch die Probleme der europäischen Sicherheitspolitik und deren transatlantischen Aspekte sind voll in Bewegung geraten. Die immerwährende Neutralität beruht nach wie vor auf dem Verfassungsgesetz und sie ist nach dessen Inhalt zu interpretieren. Die Ausformung unserer Neutralitätspolitik war im Laufe der Jahrezehnte immer wieder unterschiedlich interpretiert worden. Ich glaube, diese Interpretation hat ihre Grenze darin, wenn sie sich außerhalb des klaren Gesetzestextes bewegt. Will man es anders haben, so müsste man den Weg der Gesetzesänderung, wie ihn der Rahmen unserer Verfassung vorsieht, gehen. Informationen zum Symposium, den Teilnehmern und unserem Institut entnehmen Sie bitte unserer website: www.iip.at 6