Die Allianz Versicherung und die politische Ökonomie des Holocaust

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Zur Geschichte der Allianz in der Zeit des Nationalsozialismus
von Gerald D. Feldman
Im Frühjahr 1997 wurde ich vom Vorstand der Allianz AG beauftragt, eine Geschichte des
Unternehmens in der Zeit des Nationalsozialismus zu schreiben - und dies als völlig
unabhängiger Historiker, der bei der Erstellung seiner Studie einzig den wissenschaftlichen
Maßstäben seiner Profession verpflichtet sein sollte. Der unmittelbare Anlass für die
Entscheidung, diese Studie in Auftrag zu geben, lag damals auf der Hand. Zum einen waren
vor US-amerikanischen Gerichten Sammelklagen gegen die Allianz und eine Reihe weiterer
deutscher und europäischer Versicherungen eingereicht worden, mit der Beschuldigung, sie
hätten ihre Verpflichtungen gegenüber jüdischen Versicherungsnehmern nicht korrekt erfüllt.
Die Allianz stand somit vor dem Problem zu rekonstruieren, was mit den
Lebensversicherungspolicen ihrer jüdischen Kunden passiert war. Dazu musste sie erklären,
wie das nationalsozialistische Regime mit jüdischen Versicherungsguthaben umgegangen
war und welche Wiedergutmachungsmaßnahmen in der Nachkriegszeit unternommen
worden waren. Zum anderen war die Allianz mit Presseberichten konfrontiert, die besagten,
Dokumente aus Archiven würden die Beteiligung des Konzerns an der Versicherung SSeigener Betriebe in Konzentrationslagern, darunter auch Auschwitz, belegen.i
Die Allianz und die anderen deutschen wie auch internationalen Versicherungsunternehmen
nahmen innerhalb der Diskussion der letzten Jahre über Fragen der Wiedergutmachung und
Entschädigung für die Opfer der wirtschaftlichen Verfolgung der Juden eine besonders
prominente Stelle ein. Gerade die Vorwürfe gegen die Allianz konzentrierten sich meist
eingeengt auf die Frage angeblich nicht ausbezahlter Versicherungspolicen. Die Allianz
geriet dabei besonders intensiv ins Licht der Öffentlichkeit, weil der Konzern trotz schwerer
Schäden an seinen Archiven durch die Luftangriffe des 2. Weltkriegs, einen Bestand von
etwa 1,4 Millionen Versicherungsverträgen aus der Zeit bis 1945 aufbewahren konnte. Kein
anderes deutsches Versicherungsunternehmen verfügt auch nur annähernd über eine
Sammlung von Versicherungspolicen diesen Ausmaßes. Gerade dies machte den Konzern
besonders angreifbar. Wenn sich eine bedeutendere Anzahl unausgezahlter Policen finden
lassen sollte, dann fände man sie am ehesten in einem derart umfangreichen Bestand. Die
Allianz antwortete auf diese Lage, indem sie eine genaue Untersuchung in Auftrag gab,
einen speziellen telephonischen Informationsdienst einrichtete, der sich an diejenigen
wendete, die vermuteten, eine noch nicht ausgezahlte Versicherungspolice zu haben, und
zudem eine ganze Reihe anderer Bemühungen machte, um auf die Anwürfe zu reagieren.
Gleichzeitig sah sich das Unternehmen gezwungen, anderen Fakten aus seiner Geschichte
ins Auge zu sehen, wie etwa der Tatsache, dass es SS-Wirtschaftsbetriebe in verschiedenen
Konzentrationslagern sowie die Produktionsanlagen des Gettos von Lodz und deren
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Erzeugnisse versichert hatte. Eine der Antworten auf diese unangenehmen Enthüllungen
bestand in der Entscheidung, eine umfassende Erforschung der Geschichte des Konzerns in
der Zeit des Nationalsozialismus in Auftrag zu geben. Diese Geschichte, die ich mit der
Unterstützung einer Gruppe junger Wissenschaftler erforscht habe, ist mittlerweile
weitestgehend abgeschlossen und wird im Herbst 2001 erscheinen.
Meine Aufgabe bestand nicht darin und ist es auch zu keinem Zeitpunkt gewesen, nicht
ausgezahlte oder nicht entschädigte Policen jüdischer Versicherungsnehmer aufzuspüren.
Ich habe selbstverständlich eine große Anzahl von Versicherungspolicen aus jüdischem
Besitz durchgearbeitet, um die Vorgehensweise zu verstehen, mittels derer Juden dieser
Vermögenswerte beraubt wurden und um zu ermitteln, wie die Allianz mit ihren jüdischen
Kunden umging. Letzteres war jedoch nur möglich, wenn die Akten auch den Schriftverkehr
zwischen dem Versicherer und dem Kunden enthielten. Nach meinem Eindruck, den ich in
Anbetracht der Vorgehensweise gewonnen habe, mit Hilfe derer die Juden um die Erträge
ihrer Versicherungen gebracht wurden sowie der deutschen Wiedergutmachungs- und
Entschädigungsverfahren, dürfte es unwahrscheinlich sein, dass es noch eine größere
Anzahl solcher unausgezahlten oder nicht entschädigten Policen gibt. Dies werde ich später
noch erläutern. Was ich an diesem Punkt betonen möchte ist, dass es zu kurz greift und von
nur sehr beschränktem historischen Interesse ist, sich auf die Frage nicht ausgezahlter
Lebensversicherungspolicen zu konzentrieren, wenn man verstehen möchte, wie die
politische Ökonomie des Holocaust ein so großes und bedeutendes Unternehmen wie die
Allianz beeinflusste. In einem so komplexen Unternehmen wie der Allianz, hatte die
sogenannte „Judenfrage“ geradezu zwangsläufig viele Façetten und so ist es notwendig, die
antijüdischen Maßnahmen, in die sich der Konzern verstrickte, in ihrer ganzen Breite
darzulegen.
Bevor ich mich dem zuwende, gestatten sie mir bitte ein paar Bemerkungen über den
Konzern selbst. Die Allianz Versicherungs-Aktien-Gesellschaft war 1890 als Tochter der
Münchener Rückversicherungsgesellschaft zu dem Zweck gegründet worden, das
Erstversicherungsgeschäft aufzunehmen. Während die Allianz nach dem ersten Weltkrieg
rasch diese untergeordnete Stellung überwand, so waren und blieben die beiden
Unternehmen „Schwester“-Organisationen um den Begriff aufzugreifen, den einer der
leitenden Direktoren einst benutzte. Zu dem Zeitpunkt als die Nationalsozialisten an die
Macht kamen, bot die Allianz praktisch jede Art von Versicherung an und war unangefochten
der größte Versicherungskonzern in Deutschland. Dies hatte man durch einen Kurs
systematischer Ausdehnung erreicht, gemäß dem man andere große Versicherer erwarb.
Die bedeutendsten Schritte waren dabei die Erwerbung der Stuttgarter Verein
Versicherungs-AG im Jahr 1927 sowie die Übernahme der Bestände der Frankfurter
Allgemeinen Versicherungs-AG im Gefolge des Bankrotts dieses Unternehmens.
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Das Prämienaufkommen der Allianz und Stuttgarter, von Allianz Leben und der Münchener
Rückversicherung, die die drei größten Gesellschaften innerhalb des Verbunds darstellten,
war jeweils weitaus größer, als dasjenige der nächstgrößten Konkurrenzunternehmen. So
nahm die Allianz im Jahr 1939 in der Gruppe der 81 Immobilien-, Unfall- und
Haftpflichtversicherer Prämien in Höhe von 217,9 Millionen Reichsmark ein, gefolgt von dem
Kfz-Versicherer Kraft, einer Tochter der Allianz, mit Prämien von 50,4 Millionen Reichsmark,
Nordstern mit 48,9 Millionen Reichsmark und Gerling mit 44,9 Millionen Reichsmark. Es
folgte die Neue Frankfurter mit einem Prämienaufkommen von 39,2 Millionen Reichsmark,
sie gehörte jedoch ebenso zum Allianz Konzern wie die Bayerische Versicherungsbank, die
an achter Position rangierte mit Prämien im Wert von 23,9 Millionen Reichsmark. Im
Rückversicherungssektor stand die Münchener Rück unter den 21 Gesellschaften mit einem
Prämienaufkommen von mehr als einer Million Reichsmark, mit Prämieneinnahmen in Höhe
von 210,1 Millionen Reichsmark an erster Stelle, gefolgt von der Kölnischen Rück mit 45,5
Millionen Reichsmark. Von den 74 registrierten Lebensversicherungsgesellschaften mit
einem Prämienaufkommen von über einer Million Reichsmark standen zwei dem Pulk der
Gesellschaften weit voraus: Allianz Leben mit Prämieneinnahmen von 232 Millionen
Reichsmark und die Volksfürsorge mit 99,9 Millionen Reichsmark. Letztere war eine
Ansammlung alter gewerkschaftseigener Versicherungsgesellschaften, die von der
Deutschen Arbeitsfront übernommen und als Privatunternehmen organisiert worden war.
Wollte man jedoch das gesamte Aufkommen an Prämien aus dem
Lebensversicherungsgeschäft des Allianz Konzerns bestimmen, so müsste man dabei auch
die Bestände der Karlsruher Leben, die sich auf 41,6 Millionen Reichsmark beliefen sowie
diejenigen der Berlinischen Lebensversicherungs-Gesellschaft in Höhe von 32,9 Millionen
Reichsmark berücksichtigen.
Das Wachstum der Allianz verdankt sich in ganz entscheidendem Maße einer talentierten
Konzernleitung. Deren wichtigste Angehörige waren
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der Generaldirektor der Jahre 1921 bis 1933 Kurt Schmitt, ein Self-Made-Mann, der
obwohl weniger bekannt, zu den großen Konzernbaumeistern der Zeit der Weimarer
Republik zu zählen ist,
-
Hans Heß, der Schmitt 1933 im Amt des Generaldirektors folgte und vor allem für die
Organisationsstrukturen des Konzerns verantwortlich zeichnete, sowie
-
Eduard Hilgard, ein ehemaliger Ministerialbeamter mit vorzüglichen diplomatischen
Fähigkeiten und von ungewöhnlicher Zähigkeit, der in Belegschaftsangelegenheit eng mit
Heß und Schmitt zusammenarbeitete, und diesen zunehmend in den Verbänden des
Versicherungswesens vertrat; dies galt vor allem für den Reichsverband der
Privatversicherung und später die Reichsgruppe Versicherungen, wo die Allianz den Ton
angab.
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Schmitt spielte nicht nur eine zentrale Rolle bei der Organisation der
Versicherungswirtschaft, sondern pflegte auch die Beziehungen zur Presse und schaffte es
mit bemerkenswertem Erfolg, sich im skandalgeprüften Finanzwesen der Weimarer Republik
ein Ansehen aufgrund seiner Offenheit und Rechtschaffenheit aufzubauen. Dies war ein
Umstand von nicht geringer politischer Bedeutung. Die private Versicherungswirtschaft sah
sich mit einer starken Gegnerschaft und Konkurrenz von Seiten der öffentlich-rechtlich
organisierten Versicherungsunternehmen konfrontiert, die von den Gebietskörperschaften
und Landesregierungen unterstützt wurden und ihre Beziehungen zu den Verwaltungen
nutzten, um ihre Geschäfte zu fördern. Sie wie auch die Versicherungsanstalten der
Gewerkschaften genossen die volle Unterstützung der Sozialisten und anderer Kritiker der
Großkonzerne, die behaupteten, die private Versicherungswirtschaft erhebe zu hohe
Beiträge, reguliere Schadensfälle nach ihren eigenen Interessen und zahle ihren Direktoren
zu üppige Gehälter. Ihrer Ansicht nach sollten Versicherungen eher ein öffentlicher, nicht auf
Profit ausgerichteter Dienst an der Gemeinschaft und keine private Angelegenheit sein. Die
private Versicherungswirtschaft antwortete, indem sie gegen Tendenzen einer „kalten
Verstaatlichung“ protestierte, die sie in den öffentlich-rechtlichen Unternehmen zu erkennen
glaubte. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurden die Sozialisten
ausgeschaltet, aber sie führte zudem dazu, dass die Nazis die gewerkschaftseigenen
Versicherungsanstalten übernahmen und die öffentlich-rechtlichen Gesellschaften unter ihre
Kontrolle brachten. Dadurch erhielten die öffentlich-rechtlichen Anstalten neue Verfechter
wie Joseph Goebbels‘ Bruder Hans und den skrupellosen Gauleiter von Pommern Franz von
Schwede-Coburg sowie andere antikapitalistische Naziideologen aus Partei und SS. Ein
Großteil der politischen Arbeit der Versicherungswirtschaft in den Jahren zwischen 1933 und
1945 wurde durch den andauernden Kampf zwischen den Fürsprechern der öffentlichrechtlichen Gesellschaften und ihren Gegnern vom Privatsektor, der von Direktoren der
Allianz angeführt wurde, gebunden.
Die Bekanntesten dieser Direktoren, Kurt Schmitt und Eduard Hilgard, bemühten sich, die
Interessen der privaten Versicherungswirtschaft zu wahren, indem sie eine proaktive Politik
gegenüber den Nationalsozialisten verfolgten. Schon im Oktober 1930 begann sie Kontakte
zu Hermann Göring aufzubauen und zu pflegen. Während es keinen Beleg über finanzielle
Zuwendungen an die Partei für die Zeit vor 1933 gibt, so hielt man sich Göring einstweilen
durch Einladungen zu opulenten Geschäftsessen gewogen und griff ihm beim Begleichen
privater Schulden unter die Arme. Schmitt war bereits von Brüning und von Papen die
Übernahme eines Ministeramtes angeboten worden, was er aber abgelehnt hatte; erst auf
Betreiben Görings war er schließlich im Juni 1933 bereit, das Amt des
Reichswirtschaftsministers zu übernehmen. Es scheint, dass Schmitt vom neuen Regime
wahrhaft angetan war, weil er ihm zutraute, über den Willen und die Energie zu verfügen, um
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das Arbeitslosigkeitsproblem effektiv anzugehen. Zudem glaubte er, Hitler sei ein großer
Staatsmann und die Nazibewegung würde sich schon mäßigen und respektabel werden,
wenn sie sich etwa in wirtschaftlichen Angelegenheiten von Leuten wie ihm selbst richtig
leiten lasse. Um ihr öffentliches Ansehen zu fördern, nahm er die Ehrenmitgliedschaft in der
SS an, welche anders als die SA nicht als Schlägertruppe galt, und ihm zudem eine Uniform
verlieh, die er offensichtlich mit Freude trug und die ihn gut kleidete. Hilgard gab sich derlei
Begeisterungsschüben nicht hin und bevorzugte maßgeschneiderte Anzüge. Er trat auch der
Partei erst bei, als Schmitt ihn 1934 zum Leiter der Reichsgruppe Versicherungen machte,
hatte nicht das geringste Interesse an der nationalsozialistischen Weltanschauung, konnte
aber, wann immer es die Umstände opportun erscheinen ließen, als ein wahrhaft
Überzeugter auftreten. Hans Heß hingegen, der Schmitt im Amt des Generaldirektors
nachfolgte, verabscheute die Nationalsozialisten, trat der Partei niemals bei und war ganz
froh darüber, dass Schmitt und Hilgard die öffentlichen Beifallsbekundungen für das Regime
übernahmen, die er, soweit es die Umstände gestatteten, geschickt vermied.
Nichtsdestoweniger hatten Schmitt und Hilgard bereits in der für das Regime
ausschlaggebenden Frühphase sowie auch späterhin eine positive Einstellung zu den
Machthabern angenommen um "das Schlimmste zu verhindern" und hatten für eine solche
Haltung innerhalb des Konzerns geworben.
Ganz generell war keiner der wichtigsten Führungsleute der Allianz - Schmitt eingeschlossen
- ein Anhänger der nationalsozialistischen Ausprägung des Antisemitismus. Schmitt teilte die
Vorstellung, dass Juden innerhalb der akademischen Berufe überrepräsentiert seien und
dass die Rolle, die sie in der Politik, im Rechtswesen und den Künsten spielten, erheblich
eingeschränkt, wenn nicht gar völlig gestrichen werden müsse. Er glaubte aber, das ihnen
ein Platz im deutschen Wirtschaftsleben zustehe und machte es zu einem der Maximen
seines Amtsjahres als Reichswirtschaftsminister, dass es keine "Judenfrage in der
Wirtschaft" gebe.
Er beklagte sich dauernd über das selbstherrliche Vorgehen der Gauleiter in dieser
Angelegenheit und fand seine Tätigkeit als Reichswirtschaftsminister derart frustrierend und
enttäuschend, dass er einen Herzanfall, den er im Juni 1934 erlitt, zunächst zum Anlass für
einen Erholungsurlaub nahm, im folgenden Jahr dann zurücktrat und Generaldirektor der
Münchener Rück wurde. Er befasste sich auch weiterhin sehr eng mit den Geschäften der
Allianz. Hilgard scheint Schmitts Ansichten über die Juden geteilt zu haben, während Heß
keinerlei Sympathie für die Politik der Nazis gegenüber den Juden hegte.
Was letztendlich den Umgang mit der „Judenfrage“ bei der Allianz bestimmte, waren jedoch
weniger die Anschauungen der Geschäftsleitung, sondern vielmehr die vom
nationalsozialistischen Regime geschaffenen Rahmenbedingungen. Vom rein
wirtschaftlichen Standpunkt aus betrachtet waren diese Bedingungen anfangs unpraktisch
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und sogar ärgerlich, aber es dauerte nicht lange, bis es eine Sache wirtschaftlicher Vernunft
wurde, sich den antisemitischen Maßnahmen des Staates anzupassen. Dies lässt sich gut
am Umgang der Allianz mit ihren jüdischen Mitarbeitern illustrieren. In den Führungsetagen
der Gesellschaft gab es nur sehr wenige Juden und es ist schwierig festzustellen, wie viele
jüdische Angestellte überhaupt bei der Allianz beschäftigt waren. Trotzdem befanden sich
einige von ihnen in strategisch bedeutsamen Positionen und man muss der Allianz
Geschäftsführung zugute halten, dass jüdisches Personal noch bis 1938 beschäftigt wurde,
dass man sich in besonderem Maße um die Weiterbeschäftigung von Personen bemühte,
die einen jüdischen Ehepartner hatten und dass Pensionsangelegenheiten in vielen Fällen
mit einem Sinn für Fairness gegenüber langjährigen und geschätzten Angestellten
gehandhabt wurden. Dabei spielte ein gewisses Maß an Eigeninteresse mit, denn solange
man noch jüdische Kunden an sich binden wollte, solange bestand auch ein Interesse daran,
jüdische Versicherungsvertreter zu behalten. An Maximilian Eichbaum von der Magdeburger
Versicherung, der einer der wichtigsten jüdischen Direktoren war, hielt man bis 1935 fest, bis
man ihn zur Arbeit für ein mit der Allianz verbundenes Unternehmen in Südafrika entsandte,
wo er den Krieg überlebte. Eichbaum genoss bei Schmitt und Heß hohes Ansehen; gerade
Heß legte besonderen Wert darauf, ihn öffentlich zu belobigen. James Freudenberg von der
Neuen Frankfurter, der zweite bedeutende jüdische Direktor hatte hingegen kein Glück. Er
zog sich 1934 zurück und starb im Jahr 1942 in Auschwitz. Das Unternehmen regelte seine
Pensionsangelegenheiten gewissenhaft und kümmerte sich nach dem Krieg um die
Interessen seiner Ehefrau. Es ist von grundlegender Bedeutung festzuhalten, dass die
Direktoren der Allianz Freudenbergs Ausscheiden sehr bedauerten und Wert darauf legten
zu betonen, seinen Rückzug nur angesichts der „obwaltenden Zustände“ zu akzeptieren
bereit seien und dass sie ihn persönlich wie beruflich hochschätzten. Nichtsdestoweniger
lässt sich auch so manches Aufatmen der Erleichterung bei der Neuen Frankfurter
feststellen. Die Probleme bei der Neuen Frankfurter veranschaulichen sogar geradezu
perfekt, inwieweit die vergangenen Wirtschaftsskandale geeignet gewesen waren, das
Geschäftsgebaren zu Anfang des Jahres 1933 zu beeinflussen. So schrieb einer der
Direktoren im April 1933 über das Feuerversicherungsgeschäft an einen Kollegen: „Infolge
der politischen Umwälzung haben wir uns wiederholt gegen den Einwand, jüdisch eingestellt
zu sein, wehren müssen. Der Verlust des Jugendpflege-Vertrages ist neben einer
erheblichen Prämienunterbietung des Düsseldorfer Lloyd wohl mit darauf zurückzuführen,
dass von interessierter Seite die Behauptung eines jüdischen Einflusses auf unsere
Gesellschaft aufgestellt wurde. Leider konnte ich mangels Kenntnis dieses Vorwurfes nicht
rechtzeitig hiergegen Stellung nehmen. - Beinahe hätten wir aus diesem Grunde auch die
Versicherung der höheren und der Volksschulen im Freistaat Heßen verloren, was aber
durch rechtzeitige Aufklärung vereitelt werden konnte. Es wird Sie in diesem Zusammenhang
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interessieren, dass Herr Dr. Freudenburg seinen Austritt aus dem Vorstand unserer
Gesellschaft erklärt hat. Andererseits haben wir auch Geschäfte mit der
nationalsozialistischen Partei getätigt und voraussichtlich kommt durch Herrn Busch,
Düsseldorf, ein Abschluss mit recht beachtlichen Dimensionen zustande.“ Somit wurden
Nationalsozialisten gleich von Beginn an zu etwas Wertvollem, weil sie neue Geschäfte in
großem Umfange zu bringen versprachen, während sich Juden angesichts wachsender
Diskriminierung und mithin geringeren wirtschaftlichen Möglichkeiten zu einer Belastung
entwickelten. Die Allianz wurde sogar zu einem der wichtigsten Versicherer
nationalsozialistischer Massenorganisationen wie dem NS-Lehrerbund ebenso wie, dank
ihrer Verbindungen zu Göring, zum Hauptanbieter für Jagdversicherungen.
Es steht außer Frage, dass die Allianz wegen der Diskriminierung der Juden auch Geschäft
einbüßte, an dem sie hatte festhalten wollen. Im Mai 1935 etwa wies die Allianz geringe
Verluste im Haftpflichtgeschäft aus, weil die zunehmende Verdrängung jüdischer
Rechtsanwälte dazu führte, dass diese derartige Versicherungen nicht mehr abschlossen.
Zweifellos war dies ein unbedeutender Verlust, der sich durch die „arischen“ Anwälte
ausgleichen lassen konnte, die sie ersetzten. Trotzdem gab es umfangreichere
Geschäftsbeziehungen mit jüdischen Kunden, die nun in Gefahr gerieten. Ein im Februar
1935 ausgesandtes Rundschreiben belegt, dass die Allianz bestrebt war, ihre jüdischen
Kunden auch dann noch an sich zu binden, wenn sie auswanderten: „Die Schweizerische
National-Versicherungs-Gesellschaft in Basel steht bekanntlich unserer Gesellschaft nahe.
Wir haben daher ein Interesse daran, dass unsere Versicherungsnehmer, die nach der
Schweiz verziehen, Kunden der „Schweizerischen National” werden. Wenn Sie von der
Übersiedlung eines Versicherungsnehmers nach der Schweiz Kenntnis erhalten, müssen wir
deshalb schnellstens davon benachrichtigt werden, damit wir dem Versicherungsnehmer den
Abschluss einer Versicherung bei der „Schweizerischen National” empfehlen können. Wir
wiederholen, dass diese Benachrichtigung schnellstens erfolgen muss. Geschieht es erst
einige Monate nach dem Umzuge, dann wird es nicht selten vorkommen, dass der
Versicherungsnehmer bereits bei einer anderen Gesellschaft eine neue Versicherung
abgeschlossen hat. Die Allianz unterhält aber auch in anderen Ländern eigene Vertretungen
oder steht dort mit einheimischen Gesellschaften in näherer Geschäftsverbindung. Wo
andere deutsche Kunden in solche Gebiete, z.B. nach Palästina, auswandern, möchten wir
sie auch in ihrer neuen Heimat an uns binden. Es ist deshalb notwendig, dass wir auch von
solchen Fällen schnellstens Kenntnis erhalten, damit wir die Auslandsabteilung der
Gesellschaft in Berlin von dem Verzuge benachrichtigen können.” Ein solches
Rundschreiben, dessen Erfolg schwer zu bemessen ist, wäre zwei Jahre später unvorstellbar
gewesen.
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Ganz ähnlich bemüht war die Allianz auch, wenn es darum ging, jene jüdischen Kunden zu
halten, die in Deutschland verblieben. Die Allianz hatte keinerlei wirtschaftliches Interesse
daran, dass Juden ihre Lebensversicherungen aufkündigten, und das Unternehmen hat
selbst offensichtlich auch nichts an den von den Nationalsozialisten konfiszierten Geldern
verdient, die aus den rückgekauften Policen stammten. Bei der Einziehung von
Versicherungen durch das Nazi-Regime sollte man sinnvollerweise zwischen indirekter und
direkter Einziehung unterscheiden. Vor Ende 1938 waren es ursprünglich indirekte
Maßnahmen, mittels derer Juden ihrer Versicherungen, genauer gesagt, ihrer Erwartungen
bei Abschluss ihrer Versicherung, und ihrer Erträge hieraus beraubt wurden. Aufgrund von
Einkommensverlusten sowie zahlreichen Erschwernissen und Restriktionen, die ihre
wirtschaftlichen Aktivitäten einschränkten, war es zum einen der allgemeine wirtschaftliche
Druck, der die Juden zwang, entweder ihre Versicherungsverträge beitragsfrei zu stellen
oder sie zurückzukaufen. Der ersten Maßnahme, die den bestehenden Versicherungswert
noch nicht gefährdete, folgte oftmals kurze Zeit später infolge der Verschlechterung der
persönlichen Lebensumstände die zweite, die in der Tat eine Einbuße des potentiellen Werts
der Versicherung bedeutete. Es muss nicht extra erwähnt werden, dass beide Maßnahmen
einen Verlust des potentiellen vollen Versicherungswerts bedeuteten, (die erste sogar noch
stärker als die zweite). Gleichzeitig wurde durch solche Entscheidungen des
Versicherungsnehmers die Rentabilität der Versicherung für den Versicherer erheblich
geschmälert oder vernichtet, was wiederum erklärt, dass zumindest in den Fällen, die ich
untersucht habe, die Allianz in den frühen Jahren des nationalsozialistischen Regimes, d.h.
zwischen 1933 und 1937, ihre Kunden gedrängt hat, Verträge nicht zu kündigen, und
Vorschläge für die Weiterführung der Verträge machte. Dies geschah im naiven Glauben,
dass ihnen die Kunden erhalten bleiben würden. Diese Anstrengungen verloren in den
Jahren 1937-1938 ihren Sinn, als Görings vierjähriges Aufrüstungsprogramm voll in Gang
kam und jüdische Vermögenswerte als wichtiger Bestandteil der Finanzierung des
Programms angesehen wurden. Durch die wachsende Radikalisierung wuchs die Panik
unter den jüdischen Versicherungsnehmern, die alles irgendwie verfügbare Geld nun
dringend benötigen, um emigrieren oder die zusätzlichen finanziellen Belastungen tragen zu
können, die ihnen die staatlichen Stellen auferlegt hatten. Nach der „Reichskristallnacht” am
9./10. November 1938 wurde die Ausraubungsmaschinerie vollends in Gang gesetzt. Die
deutschen Juden mussten nicht nur für die Schäden aufkommen, die von Nationalsozialisten
verursacht worden waren, und auf ihre Ansprüche und Versicherungsleistungen verzichten,
sondern es wurden ihnen auch eine Abgabe in Höhe von einer Milliarde Mark und eine Reihe
von Restriktionen auferlegt, die dazu dienen sollten, die Wirtschaft zu arisieren und die
Juden aus dem wirtschaftlichen Leben zu verdrängen. Unter den meisten Juden herrschte
nun finanzielle Panik. Sie versuchten verzweifelt, ihren Steuerverpflichtungen
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nachzukommen, indem sie ihre Versicherungen kündigten, um wenigstens den
Rückkaufswert zu sichern, und versuchten alles, um das Land zu verlassen. Oftmals wiesen
sie die Versicherungsgesellschaft der Einfachheit halber an, die Versicherungsleistung an
die Steuerbehörde auszuzahlen, in anderen Fällen ordneten die Devisenstellen und
Finanzämter an, die Versicherungsgelder auf ein Sperrkonto zu überweisen oder diese aus
steuerrechtlichen Gründen zu beschlagnahmen. Aus den Unterlagen, die ich durchgesehen
habe, geht hervor, dass die Allianz AG die Zahlungen an ihre jüdischen
Versicherungsnehmer sofort und korrekt abwickelte. Dasselbe scheint auch für die anderen
großen Gesellschaften zu gelten. Das Reichsaufsichtsamt für Privatversicherung schrieb
allen Gesellschaften ungeachtet der Zahl ihrer jüdischen Versicherungsnehmer vor, die
Rückkaufswerte nach gültigem Vertragsrecht auszuzahlen.
Weniger korrekt behandelte man die jüdischen Versicherungskaufleute und Agenten in den
Jahren 1937 bis 1939. Die Frage der Weiterbeschäftigung jüdischer Mitarbeiter war eng mit
dem Bestreben verknüpft, die bestehenden Beziehungen zu jüdischen Kunden zu bewahren
und auch weiterhin Juden zu versichern. Ein wichtiges Argument, mit dem die Allianz ihr
Festhalten an jüdischen Vertretern rechtfertigte, lautete, dass man sie brauche, um die
jüdischen Versicherungskunden zu betreuen. Auf einer Tagung der Geschäftsleiter der
Neuen Frankfurter Ende Juni 1937 erklärte Generaldirektor Alfred Wiedemann: "Was die
Arierfrage bezüglich der Vertreter anlangt, so stehen wir im Einvernehmen mit den
maßgeblichen Stellen der Arbeitsfront und der Organisation der gewerblichen Wirtschaft mit
Rücksicht auf die Erhaltung des jüdischen Geschäfts auf dem Standpunkt, dass, solange
nicht alle in Deutschland arbeitenden Gesellschaften den Ariergrundsatz verwirklichen, die
Entlassung nichtarischer Vertreter nur zu erheblichen Geschäftsschädigungen führen kann,
die weder im Interesse der Gesellschaft noch im öffentlichen Interesse liegen.” Die Logik
dieser Argumentation für ein Festhalten des Unternehmens an jüdischen
Versicherungsvertretern und Agenten implizierte jedoch, dass ihre Tätigkeit auf die
Betreuung jüdischer Kunden beschränkt werden sollte. Ab 1935 setzte die Allianz diese
Praxis zunehmend durch, wobei es anscheinend überhaupt nichts auszumachen schien,
dass damit langjährigen und treuen Mitarbeitern ernsthafte wirtschaftliche Schäden zugefügt
wurden, weil die jüdischen Versicherungsbestände nach Anzahl und Wert dramatisch
zusammenschrumpften. Das stetige Schrumpfen der jüdischen Versicherungsbestände
schuf eine wachsende Spannung zwischen der wirtschaftlichen Logik einerseits und der
vertraglichen und moralischen Verpflichtungen der Allianz gegenüber ihren jüdischen
Geschäftspartnern und Agenten andererseits.
Selbst dann, wenn die Allianz versuchte Rücksicht auf diese Mitarbeiter zu nehmen und ihre
Interessen zu schützen, was in einer Vielzahl von Fällen geschah, etwa indem man
Pensionsansprüche sicherte, Arbeitsmöglichkeiten im Ausland besorgte,
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Empfehlungsschreiben ausstellte oder sich auf andere Weise um diese Personen kümmerte,
so förderten doch die Umstände eine wachsende Gleichgültigkeit oder gar Herzlosigkeit, als
die antijüdische Diskriminierung in den Jahren 1937 bis 1939 radikaler wurde. Es spielten,
was immer an gutem Willen vorhanden sein mochte, auch handfeste wirtschaftliche
Interessen bei der Auflösung der Beziehung zu jüdischen Versicherungsagenturen eine
Rolle. Das wird sichtbar am Fall einer bedeutenden Versicherungsagentur, die für die Allianz
arbeitete, der Pototzky & Co. Aktiengesellschaft für Versicherungswesen in Berlin und
Breslau. Die Zusammenarbeit der Allianz mit dieser Agentur hatte 1926 begonnen, und im
Frühjahr 1933 war der Vertrag erneuert worden. Im Verlauf des Jahres 1937 verstärkte sich
der Druck auf die Allianz, die Beziehung zu dieser Partnerin zu beenden, in einem solchen
Maß, dass Pototzky in Breslau sich schließlich bereit erklärte, seine gesamte nicht-jüdische
Kundschaft an die örtliche Allianz-Generalvertretung abzutreten. Im Gegenzug verpflichtete
sich die Allianz, an die beiden Breslauer Brüder Hans und Fritz Pototzky eine jährliche
Pension in Höhe von 6000 RM zu zahlen, die die Brüder sich teilen würden. 1938 war es
dann so weit, dass die Allianz auch auf die Auflösung des Agenturvertrages mit Ludwig
Pototzky drängte, der in Berlin die Geschäfte führte. Anders als in Breslau war hier nicht
ausdrücklich davon die Rede, dass die Allianz von Pototzky den Kundenstamm übernehmen
würde. Allianz Direktor König hatte die Befürchtung geäußert, die Partei werde von einem
solchen Handel Wind bekommen und dagegen Stimmung machen. Ludwig Pototzky willigte
in eine Pension von 4950 RM pro Jahr ein, wobei es allerdings, wie sein Anwalt nach dem
Krieg darlegte, auf der Hand lag, dass ein 49jähriger Geschäftsmann, der bis dahin 18.000
bis 20.000 RM im Jahr verdient hatte, eine solche "Pension" nicht als ausreichende
Entschädigung betrachten konnte. Doch es kam für Pototzky noch schlimmer. Als er im
August 1939 nach England auswanderte und sich herausstellte, dass er seine "Pension" dort
nicht würde beziehen können, ließ er sich auf eine einmalige Abfindungszahlung von 25.000
RM ein, von der er schließlich –nach Abzug diverser Sondersteuern - jedoch nur 2500 RM
ausführen durfte. Am Ende hatte Ludwig Pototzky sowohl seine Kunden als auch seine
"Pension" eingebüßt, und der Nutznießer seines Unglücks, obwohl dies keineswegs so
geplant war, war eindeutig die Allianz. Ein anderes Beispiel eines solcherart formalrechtlich
sanktionierten Vertragsbruchs liefert der Fall des unterfränkischen Versicherungsagenten
Martin Lachmann, der über 31 Jahre für die Allianz gearbeitet hatte und sich dabei einen
Bestand aufgebaut hatte, aus dessen Erträgen ihm für die Zeit seines Ruhestands eine
Altersversorgung vertraglich zugesichert worden war. Im Oktober 1938 wurde deutlich, dass
er zum Beginn des folgenden Jahres würde auswandern müssen. Die Allianz bemühte sich,
für ihn eine neue Arbeit in der Schweiz zu finden und stellte ihm ein exzellentes
Empfehlungsschreiben aus. Trotz allem bedeutete dies für ihn eine katastrophale finanzielle
Einbuße. Darüber schrieb er an einen Familienangehörigen: “Ich lasse hier einen Bestand,
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der mir vertragsgemäß RM 36.000 Einnahmen im Jahre einbringen würde. Sollte die
Schweizer Angelegenheit nicht werden, so gehe ich am 1.1.39 in Pension. Hier liegt aber der
große Haken. Aus den Dir bekannten Gründen behauptet der General-Direktor und auch der
Chef-Jurist, den Vertrag, der vor so und so langen Jahren getätigt wurde, nicht zur
Ausführung bringen zu können, weil die Verhältnisse sich durchgreifend geändert haben,
zumal ich ja nicht Arier bin. Ich könnte aus diesem Bestand nicht diese Rente beziehen, da
aus einem Bestand, der zum größten Teil arisch genannt werden muss, ein nicht Arischer
nicht Bezüge haben dürfte. Mir ist das ja vollkommen schleierhaft, denn diese Geschäfte
waren abgeschlossen zu einer Zeit als solche Gesetze nicht bestanden und sind auch, wie
es in meinem Vertrag ausdrücklich zum Ausdruck gebracht wurde, ein gewisser Bestandteil
meiner ehrlich verdienten Provision.”
Zu dieser Zeit jedoch war Ehre für diejenigen, welche die Geschicke der Allianz bestimmen,
ja tatsächlich die gesamte Versicherungsbranche anführten, zu einer Sache von
nachgeordneter Bedeutung geworden. Als Leiter der Reichsgruppe Versicherungen
bewahrte Eduard Hilgard die Versicherer vor der Zahlung einer Versicherungssumme von
zwanzig Millionen Mark an das Reichsfinanzministerium für Schäden, die an jüdischen
Geschäften und Gebäuden während des November-Pogroms angerichtet worden waren.
Den Juden wurde das Recht auf Schadensersatz für ihr zerstörtes Eigentum verweigert. Alle
Zahlungen an sie sollten ohnehin beschlagnahmt werden, doch Göring hatte die clevere Idee
gehabt, sowohl die Versicherungsunternehmen als auch die Juden zahlen zu lassen. Hilgard
und seinen Kollegen gelang es, die Zahlung auf einen Betrag von 1,3 Millionen Reichsmark
zu reduzieren, nicht indem er argumentierte, dass der Pogrom einen Aufruhr darstelle und
die Schäden deshalb nicht durch die Versicherung gedeckt seien – was tatsächlich der Fall
war. Hilgards Erfolg lag vielmehr in der geschickten Nutzung seiner Verbindungen zum
Reichswirtschafts- und Reichsjustizministerium, was ihm ermöglichte, sich gegen
Reichsfinanzministerium und Vierjahresplanbehörde zur Wehr zu setzen.
Um sein Ziel zu erreichen, benutzte Hilgard die bereits von Goebbels und anderen NSGrößen vorgebrachten Argumente, dass die Ermordung des Legationsrats vom Rath durch
einen Juden die Schuld des gesamten „Weltjudentums“ sei. Diese Tat habe den gerechten
Zorn des deutschen Volkes entfacht und am 9. – 10. November zu Vergeltung und
Zerstörung geführt, was die Juden aller Versicherungsansprüche dafür enthebe und sie
darüber hinaus zur Zahlung von einer Milliarde Reichsmark als Schadensersatz und
Sühneleistung verpflichte. Unmittelbar daran anknüpfend habe die Verordnung vom 12.
November den Juden jegliches Recht auf Versicherungsansprüche entzogen. Deshalb sei,
argumentierte Hilgard, "[d]urch die Verordnung vom 12. November 1938 … das gesamte …
Judentum an dem Pariser Mord und damit an der Provokation des deutschen Volkes
schuldig gesprochen worden. Wenn der Provokateur das provozierte Ereignis herbeiführt,
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muss er sich gefallen lassen, ebenso behandelt zu werden wie der Täter selbst. Es geht
nicht an, den politisch verurteilten Juden versicherungsrechtlich als unschuldig zu
behandeln. Infolge dessen ist den deutschen und staatenlosen Juden gegenüber der
Einwand der vorsätzlichen, zumindest aber der grobfahrlässigen Herbeiführung des
'Versicherungsfalls' gerechtfertigt. Damit entfallen alle Versicherungsansprüche."
Selbstverständlich war dies reinster Opportunismus, aber gleichzeitig demonstrierte es, dass
Geschäftsleute wie Hilgard weder der politischen Ökonomie dessen, woraus einmal der
Holocaust entstehen sollte, noch seiner moralischen Ökonomie widerstehen konnten, oder
genauer gesagt, der moralischen Verkommenheit derer, die ihn ausführen sollten.
Die Ausgrenzung der Juden bedeutete konkret, dass sie immer stärker aus der
Gemeinschaft der Versicherten ausgeschlossen wurden. Jüdische Anwälte wurden nun
zunehmend an der Ausübung ihres Berufes gehindert, weswegen sie auch keine
Berufshaftpflichtversicherung mehr benötigten. Dieselbe Wirkung zeigte ein Verbot, das
jüdischen Ärzten mit Wirkung vom 1. Oktober 1938 untersagte, weiter zu praktizieren. Bis
zum Pogrom konnten Juden jedoch grundsätzlich versichert werden, trotz gegenläufiger
Bemühungen, gerade aus Kreisen der Krankenversicherungsunternehmen, die einwandten,
Juden seien eine Gruppe mit hohem Schadensrisiko und stellten mithin ein untragbares und
unnötiges Risiko für die Gefahrengemeinschaft arischer Versicherter dar. Nach dem Pogrom
jedoch, untersagte das Reichsaufsichtsamt den Krankenversicherern Juden zu versichern.
Die Entscheidung, Juden andere Arten von Versicherungen anzubieten, scheint weiterhin
den Unternehmen überlassen geblieben zu sein; dabei ist es schon deprimierend zu
verzeichnen, dass die Allianz bereits kurz nach dem Novemberpogrom diesbezüglich die
Initiative ergriff. Bei der Vorstandssitzung vom 29. November, die wegen der antijüdischen
Ausschreitungen anberaumt worden war, wurde die Frage der Versicherung jüdischer
Kunden aufgegriffen. Am 8. Dezember ergingen dann Richtlinien, die von Generaldirektor
Heß und Direktor Hase unterzeichnet waren, wonach untersagt wurde, irgendwelche neuen
Versicherungsverträge mit Juden abzuschließen. Während man für die Kfz-Versicherung
noch eine Ausnahmeregelung vorgesehen hatte, war auch diese Versicherung nicht länger
notwendig, als den Juden am 3. Dezember das Recht, ein Auto zu fahren, entzogen wurde.
Gleichzeitig führte der Ausschluss der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben dazu,
dass Versicherungen jüdischer Unternehmen entweder ausliefen, sobald diese geschlossen
wurden oder einfach fortbestanden, falls der Betrieb von einen neuen „arischen“ Eigentümer
fortgeführt wurde. Schließlich blieb es der Entscheidung der einzelnen Niederlassungen
überlassen, welche weiteren Maßnahmen sie bezüglich der Versicherungsverträge mit
jüdischen Kunden ergriffen: ob sie etwa im konkreten Fall mit dem Kunden ein vorzeitiges
Vertragsende seiner Schmuckversicherung vereinbarten oder die Haftungssumme seiner
Unfallversicherung verringerten. Bedauerlicherweise existieren kaum Unterlagen, die
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illustrieren, wie diese Direktive unternehmensintern umgesetzt wurde. Bei der Wiener Allianz
gab man bemerkenswerterweise erst im Dezember 1941 die Weisung aus, dass prinzipiell
alle Anfragen von Juden nach Abschluss einer Versicherung abzulehnen seien. Die einzige
Ausnahme von dieser Regel bildeten Fälle, in denen amtlicherseits ein Versicherungsschutz
für jüdisches Eigentum gefordert wurde. Solche Vorgänge mussten an die Geschäftsführung
überwiesen werden.
An diesem Punkt bedurfte es nur noch eines sehr kleinen Schrittes zum wirtschaftlich
folgerichtigen aber (moralisch) verwerflichen Übergang in einen Zustand, in dem die
Ausplünderung der Juden zum alltäglichen Geschäft wurde. Man muss darauf hinweisen,
dass das NS-Regime selbst durchaus Versicherungen auf einstmals jüdische
Vermögenswerte abschloss. So versicherte der Staat den Transport von Edelsteinen, Platin,
Gold, Silber, Perlen und anderen Wertsachen aus den örtlichen Pfandleihanstalten im
ganzen Reichsgebiet, in denen die Juden sie hatten verpfänden müssen, in die Zentrale
nach Berlin. Diese erteilte Anfang Februar 1940 in mehreren Rundschreiben sehr genaue
Anweisungen für die Bestimmung des Wertes dieser Gegenstände sowie für ihre
Verpackung und Beförderung. Die Versicherer wussten mithin in allen Fällen ganz genau
über Inhalt und Wert der zu versichernden Fracht Bescheid. Die Versicherungsprämie wurde
von der Pfandleihanstalt übernommen, die für den Transport der Wertsachen nach Berlin
eine umfassende Pauschalversicherung mit nur einem einzigen Unternehmen abschloss: der
Allianz.
Es wäre jedoch falsch, der Allianz für derlei Geschäfte eine Sonderstellung zuzuschreiben.
Die Allianz war selten der alleinige Profiteur etwa beim Erwerb von Immobilen, die einmal
Juden gehört hatten, wo sie ganz wie auch andere Versicherungsgesellschaften, Banken
oder Privatleute in den ersten Jahren des Nazi-Regimes zunächst noch angemessene
Preise für solche Objekte gezahlt hatten, aber später zunehmend der Versuchung erlegen
waren, aus der Not der zum Verkauf gezwungenen Juden Profit zu schlagen. Dieses
Verhalten war vom rein betriebswirtschaftlichen Standpunkt aus betrachtet noch
folgerichtiger, als die Regierung den Immobilienverkauf zu gerechten Preisen überhaupt
nicht erlaubt hätte. Arisierung wurde zum Geschäft wie jedes andere auch; und es verrät
schon viel, dass Hilgard einen seiner Söhne Ende 1938 mit dem Auftrag ins Sudetenland
schickte, vor Ort eng mit den Banken zusammenzuarbeiten und Versicherungsverträge für
arisierten Besitz zu akquirieren. Es war dann gar nicht mehr schwer von dieser Art
Geschäften zur Versicherung von SS-Produktionsbetrieben in Konzentrationslagern und den
Erzeugnissen der Werkstätten im Getto Lodz überzugehen. Dies alles war Teil der
politischen Ökonomie des Holocaust und wirtschaftlicher Rationalitäten und man hatte in der
Tat mit harten Bandagen zu kämpfen, um derlei Geschäft zu ergattern. So verlor die Allianz
schließlich 1942 etwa ihr besagtes Feuerversicherungsgeschäft in Lodz an eine öffentlich-
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rechtliche Gesellschaft. Selbst noch im März 1945, als die Zahl der Konzentrationslager und
der darin befindlichen Fabriken bereits deutlich zurückging, konkurrierte ein
Firmenkonsortium unter Führung der Allianz mit einem anderen Zusammenschluss von
Unternehmen, an dessen Spitze die Aggripina stand, um die Verträge für
Konzentrationslager.
Ich halte es daher für eine wichtige Aufgabe des Historikers, der über die politische
Ökonomie des Holocaust nachdenkt, sich nicht allein von den eingeengten Interessen des
Anwalts leiten zu lassen, sondern die Gesamtheit der Beziehungen und Verstrickungen
großer Unternehmen wie der Allianz umfassend zu untersuchen. Der Entzug von Eigentum
aus Versicherungsverträgen, muss vor einem größeren Hintergrund betrachtet werden. Wie
ich versucht habe zu zeigen, vollzog sich der Einzug jüdischer Vermögenswerte aus
Versicherungen meist indirekt, trotzdem ist es auch wichtig zu betrachten, wie die direkte
Beschlagnahmung jüdischer Versicherungsvermögen durchgeführt wurde. Dieser direkte
Vermögenseinzug hatte jedoch eine andere Grundlage als die indirekte Beschlagnahmung
im Zusammenhang mit Steuer- und sonstigen Währungs- und Finanzbestimmungen, über
die wir bisher gesprochen haben. Die Grundlage für diese Beschlagnahmung war schon im
Gesetz zur Einziehung volks- und staatsfeindlichen Vermögens vom 14. Juli 1933
geschaffen worden, das zusammen mit dem Gesetz über die Aberkennung der deutschen
Staatsbürgerschaft dem Reich erlaubte, die Vermögen von Kommunisten und anderen
erklärten Feinden des Regimes zu beschlagnahmen. Die Beschlagnahme der Vermögen von
Juden und anderer Personen, denen man die Staatsbürgerschaft aberkannte, wurde zentral
vom Finanzamt Moabit-West gesteuert. Diese Stelle war dem Oberfinanzpräsidenten von
Berlin-Brandenburg unterstellt. In den 30er Jahren wurden diese Vorschriften angewandt, um
die Vermögen jüdischer Bürger einzuziehen, insbesondere solcher Juden, die emigriert
waren und den Unmut des Regimes durch ihre Aktivitäten im Ausland auf sich gezogen
hatten. Die Gestapo unterrichtete dann die betreffenden Banken und Versicherungen, da die
Vermögen dieser Personen beschlagnahmt und an die Finanzbehörden übergeben werden
mussten. Der Reichsverband der Privatversicherung benachrichtigte diesbezüglich seine
angeschlossenen Fachverbände und Gesellschaften am 7. Januar 1937 und verschickte
auch die vollständige “Nachweisung der ehemaligen Reichsangehörigen, denen die
deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt und deren Vermögen beschlagnahmt worden ist.”
Für die Versicherungsgesellschaften bedeutete dies, dass sie die Rückkaufswerte der
betreffenden Verträge berechnen und an die staatliche Stelle auszahlen mussten.
Die älteren Rechtsvorgaben zur Anmeldung und Beschlagnahme jüdischer Vermögen
wurden schließlich in eine neue Verordnung umgewandelt: Diese 11. Verordnung zum
Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 bestimmte, dass das Vermögen von Juden,
die ihren „gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland“ hatten, automatisch dem Reich verfalle. Zu
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diesem Zeitpunkt waren die meisten Juden, die nicht emigriert waren, schon in
Konzentrationslager in Polen deportiert worden, was bedeutete, dass sie “ihren Aufenthalt im
Ausland” hatten und somit automatisch ihre deutsche Staatsangehörigkeit verloren. Diese
Verordnung war direkt mit dem Ziel verbunden, alle im Reich verbliebenen Juden, die den
vorangegangenen Zwangsdeportationen entgangen waren, zu deportieren. Nach Absatz 7
der Verordnung waren Stellen und Personen, die Kontrolle über solche Vermögen hatten –
also zum Beispiel Versicherungsgesellschaften – verpflichtet, diese in kürzester Zeit
anzuzeigen.
Man kann nicht behaupten, dass die Versicherungsgesellschaften diese Verordnung mit
Begeisterung aufgenommen hätten, jedoch nicht, wie man hätte vermuten können, aufgrund
moralischer oder ethischer Bedenken, sondern weil sie weder über das notwendige Personal
noch die Mittel verfügten, Verträge jüdischer Kunden in ihrem Versicherungsbestand
ausfindig zu machen. Dies um so mehr noch, als viele Versicherungen beitragsfrei gestellt
waren, mithin nicht in den Büchern geführt wurden und nur schwierig als Verträge von Juden
zu identifizieren waren. Daher versuchte die Reichsgruppe Versicherungen wiederholt eine
Befreiung von der mit dieser Verordnung verknüpften Strafbestimmung zu erlangen. Dies
heißt keineswegs, dass die Versicherungsfirmen verfügbares und leicht greifbare
Informationen über jüdische Versicherungspolicen nicht bereitwillig weitergegeben hätten.
In diesem Zusammenhang taucht natürlich der Gedanke auf, die oben beschriebenen
Institutionen hätten vielleicht eine Form des heimlichen Widerstandes ausgeübt. Dafür gibt
es aber keine Beweise. Auch ist nicht bekannt, dass gegen irgendeine
Versicherungsgesellschaft Strafgebühren erhoben worden wären, weil sie nicht ihr Bestes
getan hätten, jüdisches Vermögen an die Behörden auszuliefern. Im Gegenteil, an den Akten
ließe sich aufzeigen, dass eine Vielzahl jüdischer Versicherungspolicen den Behörden
übergeben wurden, der Hauptteil davon allerdings bereits vor 1941. Sicherlich begegnete
man einer Verordnung, die zeitraubend, kostspielig und nicht gerade gewinnbringend war
kaum mit großer Begeisterung. Möglicherweise empfanden einige Bankangestellte die ganze
Sache als unerfreulich. Doch sollten weder die Sensibilität für ethische Normen im
Geschäftsleben noch die rechtlichen Bedenken allzu hochgespielt werden. Wo immer die
Gelegenheit bestand, Profite zu machen, versuchten Unternehmer, diese zu nutzen. So
boten die Versicherungsgesellschaften dem Reich die Möglichkeit an, Prämienzahlungen für
jüdische Policen, die sich ihrem Ablaufdatum näherten, fortzusetzen. Auf diese Weise konnte
die auszuzahlende Summe maximiert werden. Das wäre von Vorteil für das Deutsche Reich
– dem neuen Inhaber der Policen – aber auch für die Versicherungsgesellschaften gewesen,
die davon profitierten, wenn ihre Policen ganz vertragsgemäß abliefen und nicht rückgekauft
werden mussten. Eine in der Tat merkwürdige Vorstellung von Treu und Glauben! Die
verfügbaren Dokumente legen jedoch nahe, dass die Regierung so sehr darauf erpicht war,
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sofort Geld zu bekommen, dass sie dieses schändliche Angebot, die früheren jüdischen
Vertragsteilnehmer zu ersetzen, nicht annahm.
Die Wiedergutmachung in der Nachkriegszeit erwies sich für die Allianz wie für andere
deutsche Versicherungsgesellschaften als komplizierter, als man – in Anbetracht des bis
hierher Gesagten – auf den ersten Blick vermuten könnte. Sowohl das Gesetz der
amerikanischen Militärregierung vom 10. November 1947 als auch die späteren Gesetze der
Bundesrepublik Deutschland, die Fragen der Wiedergutmachung und Enzschädigung
regelten, betrafen die Versicherungsgesellschaften gleich auf mehrfache Weise.
Ironischerweise spiegelten sich im Prozess der Wiedergutmachung die gleiche politische
Ökonomie und wirtschaftliche Logik wider, wie bei der vorausgegangenen
Beschlagnahmung. Wenn es um Fragen arisierten Besitzes ging, neigte die Allianz dazu, zu
behaupten,
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dass die von ihr erworbenen Immobilien nicht aus einer Zwangssituation heraus verkauft
worden seien, sondern weil der Verkäufer sich sowieso in finanziellen Schwierigkeiten
befunden habe,
-
dass der Preis angemessen gewesen sei, und man in keiner Weise Profit aus der Not der
jüdischen Eigentümer geschlagen habe
-
oder dass, wie im Falle eines Grundstückes in Berlin, jeder Anlieger zum Verkauf
gezwungen worden sei, weil Speers Pläne für die Gestaltung des sogenannten Runden
Platzes ein Gebäude von gigantischer Größe für die Zentrale des Allianz-Konzerns
vorgesehen hätten.
Außerdem argumentierte man oft damit, dass die Gebäude heruntergewirtschaftet oder in
schlechtem Zustand gewesen seien, was für die Zeit um 1945 gewiss meist zutreffend war.
Solche anrüchigen Auseinandersetzungen um Wiedergutmachung, aus denen einige
Anspruchsteller erfreulicherweise als Sieger hervorgingen, offenbarten, bis zu welchem Grad
die Beteiligten unterdrückt hatten, auf welche Art sie einst ihre Geschäfte gemacht hatten.
Auch bei der Behandlung von Allianz-Bediensteten ergaben sich nun nach dem Krieg
bemerkenswerte Parallelen zur Nazizeit. Gegenüber Direktor Eichbaum und seiner Familie
wie auch im Falle der Witwe von James Freudenberg demonstrierte man großzügiges
Entgegenkommen. Wenn es allerdings um jüdische Versicherungsagenten oder Vertreter
ging, die sich oftmals mit vollem Recht finanziell ungerecht behandelt fühlten, dann herrschte
meist eine viel geringere Großzügigkeit und Ehrlichkeit vor. So schrieb denn 1950 einer der
Pototzky-Brüder von England aus mit dem Ausdruck echter Enttäuschung an Kurt Schmitt:
„Unsere Verträge, die wir bei Übergabe unseres Geschäftes an die Allianz abschlossen,
sollten uns für Lebenszeit einigermaßen sichern, und nun wird jedes Recht bestritten, so
dass ich gezwungen bin, die Wiedergutmachungskammer in München anzurufen.“ , dabei
hatte die Allianz 1927 in einem Jubiläumsheft geschrieben: „Der Name Pototzky wird in den
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Annalen der Allianz stets an hervorragender Stelle verzeichnet stehen.“ Je höher die Position
des Mitarbeiters und je geringer der Anspruch gegenüber der Allianz war, desto geringer war
die Wahrscheinlichkeit, dass das Unternehmen bereit war, sein Eigeninteresse
hintanzustellen. Die Prinzipien, die bei der Arisierung vorgeherrscht hatten, wirkten auch bei
der Wiedergutmachung prägend.
Die Allianz war nach dem Ende des Krieges eigentlich technisch bankrott, weil sie
gezwungen worden war in Reichsanleihen zu investieren, daher musste letztendlich die
deutsche Regierung ihre Verpflichtungen absichern. Dies war freilich ein Zustand, der nicht
lange währte, und bereits um 1950 erholte sich der Konzern prächtig. Trotzdem nahm man
schon vor Erlass des Bundesentschädigungsgesetzes eine unnachgiebige/harte Position in
Fällen ein, wo Ansprüche erhoben wurden; man behauptete, die Verpflichtungen gegenüber
den jüdischen Inhabern von Lebensversicherungspolicen erfüllt zu haben, entweder durch
Auszahlung auf Sperrkonten oder durch Abtretung der Rückkaufswerte ihrer Policen an die
Finanzämter gemäß der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz. Formalrechtlich
betrachtet war dies gewiss korrekt, auch wenn der dabei angenommene Ton die
Gefühlskälte der Nachkriegsperiode wiedergibt. Glücklicherweise erkannte die deutsche
Regierung in den Entschädigungsgesetzen an, dass Juden, die aufgehört hatten die Prämien
ihrer Versicherungen zu bezahlen und ihre Policen rückgekauft hatten, dabei unter Zwang
gehandelt hatten und genauso Entschädigung verdienten wie jene, deren
Versicherungsvermögen gemäß der 11. Verordnung von Staat eingezogen worden war. Es
war mithin die Regierung, die die Aufgabe übernahm solche Versicherungsnehmer zu
entschädigen, wenn auch verschiedenen Versicherungsgesellschaften die Aufgabe
zugewiesen wurde, die bestehenden Ansprüche im Detail zu berechnen. Einerseits richtete
sich das Gesetz nach dem Prinzip, dass vom vollen Wert des Versicherungsvertrags
auszugehen sei, der bestünde, wenn das Dritte Reich niemals existiert hätte. Andererseits
zog man dann die nichtbezahlten Prämien sowie den ausgezahlten Rückkaufswert ab, wenn
Zahlungen einst direkt an den Versicherten oder auf ein Sperrkonto vorgenommen worden
waren. War der Rückkaufswert hingegen direkt an nationalsozialistische Regierungsstellen
ausgezahlt worden, dann wurde der betreffende Betrag nicht abgezogen. Alle sich dabei
ergebenden Ansprüche wurden schließlich wegen der Währungsumstellung auf D-Mark auf
10% des Reichsmarkwertes reduziert. Versicherungsnehmer der ersten Kategorie erhielten
deshalb oftmals lächerlich geringe Beträge, selbst wenn sie ein Anrecht auf Entschädigung
besaßen, wenn sie die einst ausgezahlten Versicherungserträge ausgegeben hatten, um ihre
Reichsfluchtsteuer oder andere Auflagen zu begleichen. Die Angehörigen der zweiten
Kategorie erhielten erheblich mehr. Auf jeden Fall war die Regelung besser und gerechter
als jene, die es in Österreich oder in Osteuropa gab.
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In den letzten Jahren haben die Schicksale dieser Policen die Allianz wie auch andere
Versicherungsgesellschaften wieder eingeholt. Dabei verlief dieser Vorgang nicht ohne
Aspekte von Ironie. Als man sich beispielsweise in jüngster Zeit bemühte, nicht ausbezahlte
jüdische Versicherungspolicen aufzufinden und zu identifizieren, sah man sich den gleichen
Schwierigkeiten gegenüber, denen man bei der Ausführung der Vorschriften der 11.
Verordnung zum Reichsbürgergesetz begegnet war. Nur sehr wenige Namen lassen sich als
eindeutig jüdisch identifizieren, so dass es sehr schwierig, wenn nicht unmöglich ist,
festzustellen, ob eine Police einen jüdischen Eigentümer hatte, falls ein aussagekräftiger
Schriftverkehr dazu fehlt. Gerade beitragsfrei gestellte Policen geben besonders wenig
Informationen her und sind daher weniger wert als rückgekaufte Versicherungen. Einen
informativen Schriftwechsel gibt es meist bei Policen, die zurückgekauft wurden. Meine
Forschungen lassen mich zweifeln, dass es noch eine größere Zahl unausgezahlter Policen
geben dürfte, da die meisten Juden ihre Versicherungen zu Geld machen mussten, um ihre
Verfolgung und Auswanderung finanziell zu meistern. 1941 gab es zumindest in Deutschland
wahrscheinlich nur noch sehr spärliche jüdische Vermögenswerte in Versicherungsform,
ganz besonders spärlich im Vergleich zu allem anderen, was man den Juden gestohlen
hatte. Dieser Zustand wurde von der politischen Ökonomie des Holocaust diktiert, den wir
unter anderem deshalb anfangen, zunehmend besser zu verstehen, weil die gegenwärtigen
Konzernspitzen der Allianz und einiger anderer Unternehmen bereit sind, die Aufarbeitung
ihrer Vergangenheit zu unterstützen und zu fördern.
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Vgl. u. a. „Das ‚Wagnis Auschwitz‘“, in: Der Spiegel, Heft 23 vom 2. Juni 1997, S. 50-63.
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