Ethische Aspekte der Globalisierung

Werbung
Ethische Aspekte der Globalisierung
Prof. a.D. Dr. Hermann Sautter, Göttingen
November 2005
1. Einführung
Überblickt man die Literatur zum Thema „Globalisierung“, so drängt sich folgender Eindruck
auf: In der ökonomischen Fachliteratur werden ethische Aspekte kaum behandelt, in der
Populärliteratur stehen sie dagegen im Vordergrund. Die Publikationsreihe „The
Globalization of the World Economy“ eines angesehenen britischen Verlags enthält
beispielsweise zahlreiche Titel zur Entwicklung internationaler Güter- und Finanzmärkte,
zum WTO-System, zu rechtspolitischen Fragen einer fortschreitenden Marktöffnung, zur
Standortwahl Multinationaler Unternehmen usw. Ein Titel zur wirtschaftsethischen
Problematik der Globalisierung findet sich nicht darunter.1 Dies ist symptomatisch für den
nationalökonomischen Diskussionsstand.2
Umso intensiver wird außerhalb der ökonomischen Fachzirkel über die „Moral der
Globalisierung“ diskutiert. Der Grundton ist kritisch. Dem Globalisierungsprozess wird
vorgeworfen, er sei sozial ungerecht, er vernichte durch den forcierten Raubbau an
natürlichen Ressourcen die Lebenschancen künftiger Generationen, er unterwerfe ganze
Völker dem Diktat der Kapitalverwertung usw. Es ist nicht zu übersehen, dass Vorwürfe
dieser Art in der Öffentlichkeit vieler Länder ein breites Echo finden.
Diese Diskrepanz zwischen einem Desinteresse an ethischen Fragen einerseits und ihrer
Überbetonung andererseits ist in zweifacher Weise unbefriedigend. Wenn richtige
ökonomische Erkenntnisse nicht in ihrer ethischen Legitimität erkannt werden, haben sie nur
geringe Chancen, in der Öffentlichkeit gehört und politisch durchgesetzt zu werden. Wenn
umgekehrt berechtigte ethische Anfragen nicht im ökonomischen Begriffssystem artikuliert
werden können, finden sie kaum das Gehör von Fachleuten und werden deshalb allzu leicht
von ihnen zurückgewiesen. Das eine wie das andere erschwert eine vernünftige und ethisch
akzeptable Gestaltung des Globalisierungsprozesses.
Es ist deshalb nicht überflüssig, aus einer ökonomischen Perspektive über einige ethische
Fragen nachzudenken, die sich im Zusammenhang mit der Entgrenzung von Nationalstaaten,
Kulturräumen und Gütermärkten ergeben. Mit dieser Formulierung wird bereits angedeutet,
dass „Globalisierung“ als ein multidimensionaler Prozess zu verstehen ist. Die globale
Ausbreitung von Rechtsnormen und die gegenseitige Öffnung von Kulturräumen gehören
ebenso dazu wie die wachsende Verflechtung von Waren und Dienstleistungsmärkten sowie
die globale Nutzung natürlicher Ressourcen. Die ökonomische Globalisierung ist also
eingebettet in einen Gesamtprozess wachsender internationaler Interdependenzen. Dies ist im
Verlagsprospekt von „Edward Elgar Publishing Limited“: „The Globalization of the World Economy Series“,
2005/2006.
2
In der betriebswirtschaftlichen Literatur wird dagegen das Thema „business ethics in a globalized world“
relativ breit diskutiert.
1
2
Blick zu behalten, wenn im Folgenden einige ethische Aspekte der wirtschaftlichen
Globalisierung diskutiert werden.
Dabei ist zunächst auf das Beziehungsgeflecht einzugehen, das die Ergebnisse der
ökonomischen Globalisierung verursacht. Dies ist Gegenstand des 2. Abschnitts. Es wird sich
zeigen, dass formelle und informelle Institutionen auf globaler Ebene ein wichtiges Element
in diesem Geflecht darstellen. Im 3. Abschnitt werden die Interessen bzw. die ethischen
Wertvorstellungen diskutiert, die bei der Etablierung dieser Institutionen eine Rolle spielen.
Der 4. Abschnitt ist der Frage gewidmet, auf welche Interessenkonstellation bzw. auf welche
ethischen Grundentscheidungen das bestehende System globaler Institutionen schließen lässt.
Aus einer Antwort auf diese Frage ergeben sich Hinweise auf den Beitrag globaler
Institutionen zu den Ergebnissen der Globalisierung. Der 5. Abschnitt fasst die Ergebnisse
zusammen und gibt einen Ausblick auf die weitere Entwicklung internationaler Regelsysteme.
2. Einflussfaktoren der wirtschaftlichen Globalisierung und ihrer Ergebnisse.
Was der Begriff „Globalisierung“ verschleiert, ist ein komplexes Beziehungsgeflecht
nationaler wie internationaler Faktoren, die auf das Ergebnis internationaler
Wirtschaftsbeziehungen einwirken. Um dieses Geflecht einigermaßen überschaubar zu
machen, seien folgende Faktoren unterschieden: Internationale und nationale Institutionen
(verstanden als Regel- bzw. Normensysteme, die mit mehr oder weniger starken
Durchsetzungsmechanismen ausgestattet sind, und die das Handeln von Staaten und privaten
Akteuren auf ein bestimmtes Ziel hin lenken sollen)3, das wirtschaftliche Leistungspotential
eines Landes sowie der „weiche“ Faktor der in der Bevölkerung eines Landes
vorherrschenden Motivationsstruktur oder „Wirtschaftsgesinnung“ unter Einbeziehung der
maßgeblichen ethischen Wertvorstellungen. Was damit gemeint ist, soll kurz erläutert werden.
Zu den internationalen Institutionen gehören formale und informelle Regelsysteme
(„Ordnungen“), die von staatlichen oder privaten Akteuren auf internationaler Ebene etabliert
werden. Sie alle beeinflussen das staatliche und einzelwirtschaftliche Handeln, ohne es zu
determinieren, denn keine Regel ist lückenlos durchsetzbar und jede von ihnen ist
auslegungsbedürftig und erlaubt deshalb einen gewissen Ermessensspielraum. Wie stark das
Handeln einzelner Akteure von einer internationalen Norm beeinflusst wird, hängt im
Wesentlichen davon ab, welche Kontroll- und Durchsetzungsmechanismen hinter ihr
stehen. Auf internationaler Ebene sind sie typischerweise schwächer ausgestaltet als auf
nationaler Ebene. Dies ist die unvermeidliche Kehrseite des völkerrechtlichen Prinzips der
Staatensouveränität. Dass diese Mechanismen schwach sind, bedeutet aber keineswegs, dass
sie unwirksam wären. Der 4. Abschnitt geht ausführlich auf die derzeit bestehenden
Institutionen ein.
Zu den nationaler Institutionen gehören beispielsweise die Eigentumsordnung eines Landes,
die den Zustrom von Portfolio-Investitionen und von Direktinvestitionen aus dem Ausland
erleichtern oder erschweren kann; die Wettbewerbsordnung, die u. a. grenzüberschreitende
Unternehmenskooperationen regelt; das System sozialer Sicherungen, das die Flexibilität des
Arbeitsmarktes und damit die Anpassungsfähigkeit an außenwirtschaftlich bedingte
Änderungen in den Wettbewerbsvorteilen einer Branche beeinflusst usw. Zum institutionellen
„design“ eines Landes gehört auch die Gestaltung des Verhältnisses von Staat und
Gesellschaft: die Freiheitsspielräume des Einzelnen, die Sicherung seiner
3
Nach Richter, 1999, S. 20
3
Persönlichkeitsrechte, die verfassungsrechtliche Kontrolle staatlicher Machtausübung usw.
Wie sich internationale Wirtschaftsbeziehungen auf den Wohlstand eines Landes auswirken,
hängt zu einem nicht geringen Teil von diesen institutionellen Bedingungen ab.
Das wirtschaftliche Leistungspotential ist ein weiterer Faktor, der das länderspezifische
Ergebnis globaler Wirtschaftsbeziehungen beeinflusst. Dazu gehört die Ausstattung mit
Sach- und Humankapital, der Stand des technischen Wissens und die damit verbundene
Absorptionsfähigkeit für neues Wissen, die Qualität des unternehmerischen Managements
usw.
Nicht zuletzt kommt es bei der Reaktion auf außenwirtschaftliche Anreize und bei der
Auslösung eigener weltwirtschaftlicher Impulse auf die Motivations- und
Interessenstruktur („Wirtschaftsgesinnung“) an, die für die Bevölkerung eines Landes
typisch ist. Die Menschen können relativ risikofreudig oder risikoavers sein; eine relativ
große Toleranz für soziale Ungleichheiten besitzen oder vergleichsweise stark an sozialer
Gleichheit interessiert sein; ein starkes oder ein schwaches Umweltbewusstsein haben; sehr
innovationsfreudig oder eher zurückhaltend im Blick auf technische Neuerungen sein usw.
Unterschiede dieser Art spiegeln sich in den individuellen Interessen wider, wobei in der Art
dieser Interessen auch die ethischen Wertungen der Menschen ihren Niederschlag finden.
Darauf ist im 3. Abschnitt zurückzukommen.
Die genannten Einflussfaktoren verändern sich mehr oder weniger schnell und sie stehen in
einem interdependenten Verhältnis zueinander. Wie leistungsfähig die Wirtschaft eines
Landes ist, hängt beispielsweise auch von der Qualität seiner Institutionen und von der
Innovationsbereitschaft seiner Bevölkerung ab, und eine hohe Leistungsfähigkeit bietet auch
vergleichsweise gute Chancen, die nationalen Interessen bei der Gestaltung internationaler
Regelsysteme zur Geltung zu bringen. Die für die Bevölkerung eines Landes typische
Motivations- und Interessenstruktur kann die Wahrnehmung außenwirtschaftlicher Anreize
erleichtern und die Wirkung negativer Impulse, die von internationalen Institutionen
ausgehen, kompensieren. Ein Beispiel für den letzteren Fall bot Südkorea während der
asiatischen Finanzkrise Ende der 1990er Jahre. Der IWF hatte damals seine Beistandskredite
von der Verfolgung einer Austeritätspolitik der südkoreanischen Regierung abhängig
gemacht, was vielfach als eine verfehlte Konditionalität kritisiert wurde. Die Art und Weise,
wie Südkorea mit dieser Konditionalität umging, illustriert die Tatsache, dass viele
Südkoreaner der Zentralbank des Landes ihre privaten Goldbestände zum Kauf anboten, um
durch die Erhöhung der Goldbestände dieser Bank die internationale Kreditwürdigkeit des
Landes zu verbessern. Südkorea hat sich innerhalb weniger Jahre von den Auswirkungen
dieser Finanzkrise erholt.
Alle genannten Faktoren tragen zum Ergebnis der ökonomischen Globalisierung bei. Es
dürfte kaum möglich sein, spezifische Erfolge oder Misserfolge nur einem dieser Faktoren
zuzurechnen. Die folgenden Überlegungen beschränken sich auf die Rolle internationaler
Institutionen, die bei der moralischen Kritik an der Globalisierung im Vordergrund stehen.
3. Die Bildung globaler Institutionen und der Einfluss ethischer Wertungen.
Globale Institutionen werden durch staatliche und private Akteure geschaffen, denen
unterstellt werden kann, dass sie dabei ihre eigenen Interessen verfolgen, in denen sich ihre
ethischen Wertungen widerspiegeln.
4
Diese Aussage ist im Folgenden zu diskutieren, wobei eine Beschränkung auf die von Staaten
etablierten Institutionen erfolgen soll. Im Einzelnen ist zu fragen:
(a) Inwiefern kann davon gesprochen werden, dass die Schaffung und Erhaltung eines
internationalen
Regelsystems,
das
allen
Beteiligten
eine
bestimmte
Handlungsbeschränkung auferlegt, den nationalen Eigeninteressen eines Landes
entsprechen?
(b) Wird der Prozess der Regelbildung durch die Ungleichheit der internationalen
Machtverteilung und durch die Interessenpolitik besonders einflussreicher Staaten
eher erschwert oder eher gefördert?
(c) Worin bestehen die möglichen ethischen Wertungen, die in das Interessenkalkül
regelbildender Akteure einfließen und deshalb im Inhalt dieser Regeln ihren
Niederschlag finden?
zu (a) Das nationale Eigeninteresse an der Etablierung multilateraler Institutionen. –
Die innerstaatlichen Prozesse, die zur Formulierung „nationaler Interessen“ führen, sollen hier
nicht untersucht werden. Es sei unterstellt, dass jeder Staat auf der internationalen Ebene
bestimmte Eigeninteressen verfolgt. Sie können beispielsweise darin bestehen, die
Auslandsmärkte so weit wie möglich für inländische Exportprodukte zu öffnen und
gleichzeitig die inländischen Produzenten vor einer als „ruinös“ verstandenen
Importkonkurrenz zu schützen (ein typisch merkantilistisches Interesse, wie es nach wie vor
für die Handelspolitik aller Staaten kennzeichnend ist). Ein Land kann ferner daran
interessiert sein, die Rechtssicherheit für eigene Auslandsinvestitionen zu verbessern und die
Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte so weit wie möglich zu begrenzen. Stets handelt es
sich um Ziele, hinter denen partikulare Interessengruppen des Inlandes stehen oder bei denen
es – wohlwollend interpretiert – um das Gemeinwohl geht.
Mit jeder Einigung auf ein internationales Regelsystem gehen die beteiligten Staaten
bestimmte Selbstverpflichtungen ein, das heißt sie verzichten teilweise auf die autonome
Verfolgung ihrer nationalen Eigeninteressen. Mit der Listenbindung eines Zollsatzes im
Rahmen von WTO-Verhandlungen verzichtet beispielsweise ein Land auf autonome
Schutzmaßnahmen für inländische Branchen, die von der Importkonkurrenz bedroht sind. Zu
solchen Selbstbeschränkungen wird ein Land
(bei gegebener merkantilistischer
Grundhaltung) nur bereit sein, wenn es davon ausgehen kann, dass auch seine Partnerländer
zu derartigen Beschränkungen bereit sind, dass also international vereinbarte Regeln von den
Partnern eingehalten werden und sich daraus ein Vorteil gegenüber einem Zustand
allgemeiner Regellosigkeit ergibt. Noch größer kann freilich der Vorteil eines Landes sein,
wenn sich alle seine Partner an vereinbarte Regeln halten, dieses Land selbst aber eine
autonome Interessenpolitik verfolgt, die im Grenzfall auch eine Regelverletzung in Kauf
nimmt. Wir haben also das typische Problem eines sozialen Dilemmas (spieltheoretisch
„Gefangenendilemma“), bei dem eine „defektive“ Strategie dominant ist, die zur Erodierung
bestehender internationaler Institutionen führt bzw. dies gar nicht erst entstehen lässt.
Dies ist das Grundproblem jeder internationalen Regelbildung. Es zeigt sich besonders
deutlich bei der Bereitstellung globaler Kollektivgüter, wie etwas dem Schutz der
Ozonschicht in der Stratosphäre durch die Verminderung des Ausstoßes von FCKWs. Mit der
Emissionsminderung sind Kosten verbunden, die sich aus der Umrüstung von
Produktionsanlangen und aus dem Verzicht auf die Nutzung bestimmter natürlicher
Ressourcen ergeben. Die jeweils für ein Land entstehenden Kosten sind typischerweise höher
als die Wohlfahrtssteigerung, die es von seinem eigenen Beitrag zur Bereitstellung des
globalen Kollektivgutes erwarten kann. Deshalb wird jedes Land versucht sein, von den
Leistungen anderer Länder zu profitieren und seine eigene Leistung zurückzuhalten. Das
5
Ergebnis ist, dass eine internationale Vereinbarung zur Emissionsminderung gar nicht erst
zustande kommt.
Ein anderes Beispiel für das soziale Dilemma bei der internationalen Institutionenbildung ist
die Handelspolitik „großer“ Länder (für „kleine“ Länder im Sinne der Außenhandelstheorie
gelten andere Bedingungen)4. En „großes“ Land profitiert von der Einrichtung eines globalen
Regelsystems, das Wettbewerbsbeschränkungen privater und staatlicher Art verhindert, aber
es kann möglicherweise seine nationale Wohlfahrt durch eine „strategische Handelspolitik“
erhöhen, das heißt dadurch, dass es seine Exporte subventioniert, seine Importe beschränkt
oder auf andere Weise direkt oder indirekt in die Außenhandelsströme eingreift. Die
Voraussetzung ist dabei, dass andere „große“ Länder diesem Beispiel nicht folgen. Weil aber
jedes „große“ Land in der Versuchung steht, eine „strategische Handelspolitik“ im nationalen
Interesse zu verfolgen, sind die Chancen für das Zustandekommen und die Einhaltung eines
internationalen Abkommens zur Verhinderung von Wettbewerbsbarrieren prima facie nicht
sehr groß.
Wenn solche Vereinbarungen trotzdem zustande kommen und eine gewisse
Funktionsfähigkeit besitzen – das GATT ist ein Beleg dafür -, dann im Wesentlichen deshalb,
weil im Sinne einer spieltheoretischen „tit for tat“-Strategie bei wiederkehrenden
Spielzügen die Möglichkeit besteht, den Bruch internationaler Vereinbarungen zu „bestrafen“.
Die WTO bietet dafür im Rahmen ihres „Dispute Settlement“-Mechanismus ein streng
geregeltes Verfahren, aber auch außerhalb dieses Verfahrens sind „große“ Länder nicht
gerade zurückhaltend, wenn es um die Sanktionierung von Partnerländern geht, die sich
tatsächlich oder auch nur vermeintlich nicht an vereinbarte Handelserleichterungen gehalten
haben. Auch die Verbindlichkeit währungspolitischer Regeln lässt sich relativ einfach durch
Sanktionen stärken. Die Konditionalitätspolitik des IWF ist dafür ein Beispiel. Schwieriger ist
die Durchsetzung internationaler Umweltabkommen, sofern hier nicht die Möglichkeit eines
„issue linking“ besteht, mit dem der Verbindlichkeitsgrad vertragsspezifischer Kontroll- und
Durchsetzungsinstrumente erhöht werden kann (s.u.).
Die erste der gestellten Fragen lässt sich also wie folgt beantworten: Nur unter der
Bedingung wirksamer Sanktionen für ein „Außenseiter“-Verhalten wird man im allgemeinen
damit rechnen können, dass die Beteiligung an einem internationalen Regelsystem im
nationalen Eigeninteresse eines Landes liegt. Anders formuliert: Das „konstitutionelle
Interesse“ am Bestehen einer Ordnung wird nur dann größer sein als das
„Handlungsinteresse“ an einer autonomen Interessenverfolgung, wenn das erstere durch
Sanktionen gestärkt werden kann.
zu b) Institutionenbildung bei ungleicher Machtverteilung.- Zwischen den einzelnen
Ländern gibt es erhebliche Unterschiede im Blick auf ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit,
ihre militärische Stärke und ihre politische Durchsetzungskraft. Auf internationaler Ebene
besteht also eine ungleiche Machtverteilung. Nun lassen die vorangegangenen Ausführungen
vermuten, dass „große“ Länder, denen auch ein großes Machtpotential zugeschrieben werden
kann, ein Risiko für das Zustandekommen und für die Stabilität internationaler Regelsystem
darstellen. Das muss nicht so sein, wenn die Machtverteilung extrem ungleich ist und darin
besteht, dass ein Hegemonialstaat einer Vielzahl relativ machtloser Staaten gegenübersteht.
In diesem Fall sind nach einer bekannten These von Charles Kindleberger sogar die Chancen
zur Schaffung internationaler Regelsysteme besonders günstig.
4
Zur Terminologie siehe: Rose/Sauernheimer, 1999, S. 581 ff., S. 620 ff.
6
Nach dieser These ist die Existenz einer internationalen Führungsmacht geradezu eine
notwendige – wenn auch keine hinreichende – Bedingung für die Bereitstellung globaler
Kollektivgüter, zu denen auch funktionsfähige internationale Regelsysteme gerechnet werden
können: „International public goods are produced, if at all, by the leading power, a so called
‚hegemon’“.5 Nach Kindleberger ist er dadurch gekennzeichnet, dass er willens ist, einen
überproportionale großen Anteil der kurzfristigen Kosten dieser öffentlicher Güter zu
übernehmen, wozu ihn entweder die Aussicht auf längerfristigen Gewinn motiviert oder die
Erwartung von „prestige, glory…or some combination of the two“6. Er handelt also nicht
uneigennützig, aber er hat einen längeren Zeithorizont und eine weiter definierte
Wohlstandsfunktion als andere Länder. Diese wiederum profitieren von der Initiative der
Führungsmacht. Sie kommen in den Genuss verlässslicher Regelsysteme; durch die
Verwendung der vom Hegemonialstaat eingeführten Standards sinken die Transaktionskosten,
und die Sanktionsgewalt des Hegemons macht Konflikte unwahrscheinlicher. So gesehen ist
eine Hegemonialstruktur für alle beteiligten Länder vorteilhaft.
Doch sie hat ihre Schattenseiten, denn das Führungspotenzial einer Nation ist kaum zu
trennen von ihrer Dominanzabsicht. Der Beherrschungswille einer Hegemonialmacht weckt
unvermeidlicherweise den Widerstand anderer Nationen und dadurch entstehen Konflikte, die
die Bedingungen zur Sicherung globaler Kollektivgüter verschlechtern. Eine
Hegemonialstruktur ist also inhärent instabil. Sie ließe sich nur stabilisieren, wäre die
Führungsrolle des Hegemons „based on persuasion and compromise“ und weniger auf die
Ausübung „harter“ Macht7. Dies allerdings „will be difficult, perhaps impossible“.8
Der unbestreitbare Hegemonialstaat der Gegenwart sind die Vereinigten Staaten von
Amerika. Sie sind seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion entschlossen, unter Einsatz
ihres politischen und militärischen Potenzials eine „Neue Weltordnung“ zu errichten.
Getragen von einer innenpolitischen Welle des „Neokonservativismus“, beansprucht das Land
eine uneingeschränkte globale Führungsrolle, und es scheint weniger denn je seit dem
Zweiten Weltkrieg dazu bereit zu sein, diese Rolle über „persuasion and compromise“
wahrzunehmen. Vielmehr deutet vieles darauf hin, dass die USA ihre Führungsaufgaben
durch eine „imperiale“ Machtentfaltung wahrnehmen wollen, die sich wenig durch
internationale Rechtsnormen einschränken lässt. Aufschlussreich ist, was dazu Ikenberry
schreibt: „The U.S. should not get entagled in the corrupting and constraining world of
multilateral rules and institutions”.9 Die gegenwärtige Politik der USA bewegt sich
weitgehend auf dieser Linie, wie sich daran ablesen lässt, dass die Zustimmung zu
internationalen Verträgen, die der Sicherung globaler Kollektivgüter dienen können,
verweigert und eine gegebene Zustimmungen zurückgezogen wird (Beispiel: die
Biodiversitätskonvention, das Kyoto-Protokoll) und dass die Arbeitsfähigkeit von Organen,
die der Festigung einer internationalen „rule of law“ dienen könnten, mit allen zur Verfügung
stehenden Mitteln behindert wird (Beispiel: Internationaler Strafgerichtshof).
Die zweite der oben gestellten Fragen lässt sich daher wie folgt beantworten: Die
gegenwärtig bestehende Ungleichheit internationaler Machtverteilung trägt nicht dazu bei, die
Chancen für stabile internationale Regelsysteme zu erhöhen. Der Hegemon, dessen Existenz
nach einer These von Charles Kindleberger günstige Voraussetzungen für die Bereitstellung
5
Kindleberger, 1986, S. 13
ebenda.
7
Zwischen „harter“ Machtausübung, die mit politischem und militärischem Druck arbeitet, und „weicher“
Macht (Kooperation, Überzeugung, vorbildliches Verhalten) unterscheidet Nye (2003).
8
Whitman (1975), S. 160.
9
Ikenberry (2002), S. 80.
6
7
globaler öffentlicher Güter bieten könnte, verfolgt eine Interessenpolitik, die eher das
„defektive“ Verhalten anderer Staaten fördert und dadurch zur Instabilität globaler
Ordnungssysteme beiträgt.10
(c) Der Einfluss ethischer Wertungen. – Bisher war von „Interessen“ der regelbildenden
Akteure die Rede, die im Inhalt von Regelsystemen ihren Niederschlag finden können.
Welche Rolle spielen dabei ethische Wertungen? Besteht die Funktion von „Ethik“ oder von
„Moral“11 darin, die wirtschaftlichen Eigeninteressen staatlicher oder privater Akteure zu
disziplinieren? Oder ist „Ethik“ nur ein anderer Begriff für weit gefasste ökonomische
Interessen, deren Realisierbarkeit am besten mit den Mitteln der ökonomischen Theorie
thematisiert werden kann? Ist eine explizite ethische Güterabwägung redundant, weil „Ethik“
durch (gute) Ökonomik ersetzt werden kann? Oder hat man sich das Verhältnis von Ethik und
Ökonomik im Sinne eines „Paralleldiskurses“ vorzustellen, bei dem dieselben
Entscheidungssituationen unabhängig voneinander und mit gleicher Wertigkeit sowohl auf
traditionell ethische wie auf ökonomische Weise reflektiert werden?
Dies sind einige Grundsatzfragen zum Verständnis von „Wirtschaftsethik“, die hier nicht in
aller Breite diskutiert werden können. Lediglich ein Gedanke sei herausgegriffen. Je weiter
der Horizont einzelstaatlicher, unternehmerischer oder individueller Interessen ist, umso
stärker konvergieren diese mit ethischen Werten. Das gilt in sachlicher, zeitlicher und
räumlicher Hinsicht. Praktisch relevant ist die Frage, was sich eher erreichen lässt: eine
Erweiterung des Interessenhorizonts oder eine Verfolgung ethischer Prinzipien. Sollte ersteres
der Fall sein, so ist aus der Sicht einer ethisch wünschenswerten Handlungspraxis nichts
gegen einen konsequent geführten Interessen-Diskurs einzuwenden, wozu die ökonomische
Theorie eine gute Grundlage bietet.
Es könnte freilich sein, dass sich dieser Diskurs nur mühsam aus dem herkömmlichen
Horizont des Interessenkalküls befreien kann und dass eine Besinnung auf ethische Werte
durchaus zu dessen Erweiterung beiträgt. So gesehen ist ein expliziter Ethik-Diskurs
unverzichtbar, zumal der der Versuch, über einen ökonomischen „Paralleldiskurs“ dieselben
Einsichten und Handlungsmotivationen zu wecken, an Grenzen stoßen dürfte. Die Motivation
zur Nächstenliebe wird sich zum Beispiel nicht durch ein (ökonomisches) Vorteilskalkül
wecken lassen, auch wenn der Vorteilsbegriff dabei sehr weit gedehnt wird (was ihn unscharf
werden lässt, so dass er kaum noch brauchbar ist).
Ist bei privaten und staatlichen Akteuren die Einsicht in ihre ethische Verantwortung erst
einmal geweckt, dann macht es allerdings Sinn, diese Einsicht rückwirkend in der Sprache
einer weit gefassten Vorteilsrechnung zu interpretieren. Mit anderen Worten: Eine ReKonstruktion der ethischen Verantwortung in der Sprache eines ökonomischen
Vorteilskalküls ist sinnvoll, denn es kann diese Verantwortung stabilisieren, aber dieses
Kalkül dürfte überfordert sein, wenn man von ihm allein die „Konstruktion“ eines weiten
Interessenhorizontes erwartet.
Ob nun ethische Einsichten nachträglich in der Sprache eines erweiterten Vorteilskalküls
formuliert werden, oder ob umgekehrt ein erweiterter Interessenhorizont ex post in der
Sprache der Ethik interpretiert wird: Eine Erweiterung des Interessenbegriffs ist positiv
10
Es ist beispielsweise nicht zu übersehen, dass sich Staaten wie Indien und China durch die Außenpolitik der
USA ermutigt sehen, internationalen Abkommen ebenfalls fern zu bleiben (z.B. den Vereinbarungen zur
Verringerung der Treibhausgas-Emission nach dem Kyoto-Protokoll).
11
Im einen Fall handelt es sich um die Praxis des „guten Handelns“, im anderen Fall um deren Theorie. Für die
vorliegende Fragestellung ist dies Unterscheidung vergleichsweise unwichtig.
8
korreliert mit der Verwirklichung ethischer Werte. Davon ausgehend können die
unterschiedlichen Interessen diskutiert werden, die bei der Etablierung internationaler
Regelsysteme eine Rolle spielen.
Das jeweilige Spektrum dieser Interessen kann in sachlicher, zeitlicher und räumlicher
Hinsicht sehr eng oder auch sehr breit sein. Die jeweiligen Pole lassen sich wie folgt
skizzieren. Das sachliche Interesse bei der Regelbildung kann sich zu einen darauf
konzentrieren, die größtmögliche Effizienz in der Produktion und Distribution privater Güter
herzustellen. Dementsprechend werden Bemühungen im Vordergrund stehen, den
internationalen Austausch von Gütern und Dienstleistungen (einschließlich von
Produktionsfaktoren) so weit wie möglich zu liberalisieren, das System privater
Verfügungsrechte über Güter
und Faktoren im Interesse einer größtmöglichen
Allokationseffizienz und einer Stimulierung von Innovationen zu schärfen; beim Schutz
individueller Freiheitsrechte vorwiegend auf die Verwirklichung ökonomisch relevanter
Rechte zu drängen (Markt-, Gewerbe- und Vertragsfreiheit), und jeden staatlichen Einfluss
zurückzuweisen, der im Verdacht steht, diese Freiheiten zu beschränken.
Zum anderen können die regelbildenden Akteure vor allem daran interessiert sein, die
„Verwirklichungschancen“ der Menschen („capabilities“ im Sinne von Amartya Sen) zu
verbessern, die nicht nur von der privat verfügbaren Gütermenge abhängen, sondern auch
vom Bildungsstand der Menschen, ihrer Gesundheit und ihrem Rechtsstatus.12. Ohne die
Etablierung von Institutionen zur Förderung einer international effizienten Güterproduktion
zu vernachlässigen, werden sich diese Akteure auch damit befassen wollen, die
Verwirklichung bürgerlich-politischer und wirtschaftlich-sozialer Menschenrechte zu
verbessern, und dabei wird dem Staat eine größere Rolle zukommen als im vorangegangenen
Fall.
In zeitlicher Hinsicht kann sich der Interessenhorizont regelbildender Akteure einerseits
darauf konzentrieren, den materiellen Lebensstandard der gegenwärtigen Generation so weit
wie möglich zu erhöhen, möglicherweise in der Erwartung, dass ein steigendes
Einkommensniveau zu einem wachsenden Umweltbewusstsein beiträgt und dadurch im Laufe
der Zeit ein wirksamer Umwelt- und Ressourcenschutz zustande kommt.13 Der Versuch,
bereits in der Gegenwart internationale Umweltstandards durchzusetzen, die den Interessen
künftiger Generationen Rechnung tragen, wird demgegenüber kaum eine Rolle spielen.
Andererseits kann genau dies zu einem wichtigen Bestandteil internationaler
Regelungsbemühungen werden. Das Ziel ökologischer Nachhaltigkeit14 wird dann höher
gewichtet; bei möglichen Konflikten mit dem Ziel statischer Allokationseffizienz wird ein
Ausgleich gesucht, der nicht von vornherein der Realeinkommenssteigeruöng den Vorrang
gibt.
In räumlicher Hinsicht kann es zum einen darum gehen, das bestehende Regelwerk
unterschiedslos auf alle – also auch die einkommensschwachen - Länder anzuwenden, um
jedem Land die gleich formalen Chancen einer Wohlstandserhöhung zu geben.
Ungleichheiten in der Ressourcenausstattung und in den historisch gewachsenen Institutionen
12
Sen, 2003, S. 110 ff.
Vom „Wachstum der Weltwirtschaft als (einer) realistischen Lösung des Welt-Klima-Problems“ spricht
beispielsweise von Weizsäcker (1999, S. 151, Überschrift des 12. Kapitels), auch wenn er letztlich die Frage
offen lässt, ob sich dadurch „der ökologische Kollaps“ vermeiden lässt (a.a.O., S. 155). Die Argumentation
lautet, dass die Nachfrage nach Umweltgütern eine hohe Einkommenselastizität aufweist und deshalb mit
steigendem Pro-Kopf-Einkommen zunimmt.
14
Die Problematik einer Operationalisierung des Nachhaltigkeits-Begriffs soll hier nicht diskutiert werden. Siehe
Nutzinger, 1995.
13
9
einzelner Länder werden dabei nicht berücksichtigt. Zum anderen kann das Interesse
regelbildender Akteure darin bestehen, den wirtschaftlich unterentwickelten Ländern eine
Übernahme internationaler Verpflichtungen durch Sonderbestimmungen zu erleichtern, wo
dies im wohlverstandenen Eigeninteresse dieser Länder liegt.
Eine zusammenfassende Antwort auf die dritte Frage lautet: Es gibt ein breites Spektrum
von Interessen, die in die Bildung internationaler Institutionen einfließen können, wobei
diejenigen des „Hegemons“ eine wesentliche Rolle spielen. Je „weiter“ der Interessenhorizont
in sachlicher, zeitlicher und räumlicher Hinsicht ist, umso stärker konvergiert er mit ethischen
Werten.
Auf welche Interessen bzw. Werte die tatsächliche Institutionenbildung schließen lässt, soll
im folgenden Abschnitt diskutiert werden. Ein Überblick über die bestehenden Institutionen
soll zunächst ein Bild von der Vielfalt und Heterogenität der bestehenden Regelsysteme
vermitteln. In einem zweiten Schritt werden dann einige dieser Institutionen auf die ihnen
zugrunde liegenden Interessen (bzw. Werte) geprüft.
4. Globale Regelsysteme und ihre impliziten Wertungen
4.1. Die Regelsysteme der Globalisierung – ein Überblick
Der ökonomische Globalisierungsprozess wird von einer unübersehbaren Fülle von
Institutionen geregelt. Sie sind jeweils auf einzelne Funktionsbereiche15 dieses Prozesses
bezogen, stehen aber untereinander in einem Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeiten, und
daraus können sich zahlreiche Konflikte ergeben. Nach funktionalen Gesichtspunkten lassen
sich unterscheiden: Regelsysteme für den Bereich des internationalen Austausches von Waren
und Dienstleistungen, für die internationalen Währungs- und Finanzbeziehungen, für den
globalen Umwelt- und Ressourcenschutz und für die Verwirklichung sozialpolitischer Ziele.
Die wichtigsten dieser Institutionen seien kurz genannt.16
Im Zentrum der Regelung für den globalen Austausch von Warten und Dienstleistungen
stehen die von der WTO verwalteten Abkommen. Das älteste ist das bereits im Jahre 1947
zustande gekommene und seitdem mehrfach veränderte „Allgemeine Zoll- und
Handelsabkommen“ (GATT). Sein in der Präambel formuliertes Ziel ist es, durch einen
„wesentlichen Abbau der Zölle und anderer Handelsschranken“ zur „Erhöhung des
Lebensstandards“ sowie zur „Ausweitung der Produktion und des Handels mit Waren und
Dienstleistungen“ beizutragen.17 Man sollte dies allerdings nicht als eine Verpflichtung zum
allgemeinen Freihandel verstehen. Keiner der Vertragsstaaten war und ist bereit, seinen
Spielraum für eine autonome Handelspolitik völlig aufzugeben und seinen Binnenmarkt
völlig für ausländische Anbieter zu öffnen. Die von den Vertragsstaaten verfolgte Politik lässt
sich eher als die eines „disziplinierten Merkantilismus“ bezeichnen.18 Zölle gelten als
legitimes Mittel der Handelspolitik,19 sie sollen aber schrittweise unter strenger Beachtung
15
Es wäre geradezu dysfunktional, wollte man alle Regelsysteme in gleicher Weise auf die Ziele aller
Funktionsbereich hin verpflichten. Der „Assignment-Regel“ entspricht es vielmehr, wenn für die einzelnen
Bereiche der weltwirtschaftlichen Verflechtung spezifische Regelsysteme („Ordnungen“) errichtet werden. Siehe
Sautter, 2004, S. 57.
16
Zu einer ausführlichen Darstellung globaler Institutionen siehe Sautter, 2004.
17
Zitiert nach Benedek, 1998, S. 45.
18
Langhammer, 1999, S. 25.
19
Nicht-tarifäre Handelshindernisse sind dagegen nach Artikel XI des Abkommens grundsätzlich unzulässig.
Dass sie in der Praxis eine wichtige Rolle spielen, steht auf einem anderen Blatt.
10
des Reziprozitätsprinzips gesenkt werden (der monetäre Wert gegenseitiger ZollZugeständnisse soll möglichst ausgeglichen sein). Allein schon dieses Prinzip macht deutlich,
dass es beim GATT nicht um die Verwirklichung des Freihandels geht, denn im Blick darauf
wäre das Beharren auf „Reziprozität“ sinnlos Ginge es um eine Annäherung an den
Freihandel, dann müsste der Verzicht auf jede Reziprozität (also eine unilaterale
Handelsliberalisierung) gefordert werden.
Ein zweiter von der WTO verwalteter Vertrag ist das „Allgemeine Übereinkommen über
den Handel mit Dienstleistungen“ (GATS), über das während der Uruguay-Runde des
GATT verhandelt wurde und das erst im Jahre 1994 in Kraft trat. Es kam vor allem auf
Drängen der USA zustande, die für ihre wettbewerbsfähigen Anbieter von Dienstleistungen
einen freien Marktzugang in anderen Ländern schaffen wollten. Noch deutlicher als beim
GATT haben hier die Vertragsstaaten allerdings darauf verzichtet, eine allgemeine
Verpflichtung zur Marktöffnung einzugehen. Stattdessen haben sie vereinbart, über
„Positivlisten“ derjenigen Dienstleistungen zu verhandeln, für die ein internationaler
Wettbewerb zugelassen wird.
Der dritte große Vertrag innerhalb des WTO-Systems, der ebenfalls ein Ergebnis der
Uruguay-Runde darstellt, ist das „Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der
Rechte am geistigen Eigentum“ (TRIPS). Es waren vor allem die Vereinigten Staaten, die
ihre eigenen Wettbewerbsvorteile bei wissensintensiven Gütern gefährdet sahen und die sich
deshalb – nicht anders als im Falle des Dienstleistungshandels – mit Nachdruck für einen
stärkeren internationalen Rechtsschutz für das geistige Eigentum einsetzten. Der Wortlaut des
Vertrags trägt insofern den Interessen der Industrieländer – insbesondere der USA –
Rechnung, als er die Entwicklungsländer zu internen Regelungen verpflichtet, wie sie sich im
Verlaufe einer langen Entwicklung in den heutigen Industrieländern herausgebildet haben.
Die Durchführungskontrolle und Weiterentwicklung aller dieser Verträge liegt in der Hand
der „Welthandelsorganisation“ (WTO), in deren Entscheidungsgremien jedes Mitgliedsland
lediglich eine Stimme besitzt, so dass (formal gesehen) die Chancen einer Mitgestaltung des
Vertragswerks gleich verteilt sind, (dass die tatsächliche Chancenverteilung völlig ungleich
ist, steht auf einem anderen Blatt, s.u.). Für die Mitgliedschaft in der WTO gilt eine
„Paketlösung“: Alle drei Vertragswerke müssen vollständig übernommen und umgesetzt
werden (mit unterschiedlichen Anpassungsfristen für Industrie- und Entwicklungsländer). Es
ist grundsätzlich nicht – wie vor Abschluss der Uruguay-Runde – möglich, bestimmte
Vertragsteile davon auszunehmen. Daraus ergibt sich relativ problemlos die Möglichkeit eines
„issue-linking“: Die Verletzung eines Vertrages kann mit Sanktionen aus dem
Regelungsbereich eines anderen Vertrages beantwortet werden, um damit die Verbindlichkeit
des ganzen Vertragssystems zu festigen.
Neben dem Regelwerk der WTO, das durch völkerrechtliche Verträge souveräner Staaten
zustande gekommen ist, gibt es zahlreiche Normen für den internationalen Waren- und
Dienstleistungsverkehr, die durch internationale Organisationen und durch
Berufsverbände festgelegt worden sind oder die sich aus der privaten Rechtspraxis ergeben
haben. Damit wurden Regelungsdefizite in zwischenstaatlichen Verträgen geschlossen; häufig
handelt es sich dabei auch um die Vorstufe staatlicher Vereinbarungen. Im Rahmen der „Food
and Agrucultural Organisation“ (FAO) wurde beispielsweise im Jahre 1985 ein „Kodex für
den Gebrauch und den Handel mit Pestiziden“ beschlossen; die OECD hat im Jahre 1997 auf
der Grundlage einer entsprechenden UN-Resolution ein „Übereinkommen über die
Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr“
verabschiedet, mit dem ein „Bestechungswettlauf“ im internationalen Handel verhindert
11
werden soll; aus der „Kautelarpraxis“ von Anwaltsfirmen hat sich ein privates
Wirtschaftsrecht entwickelt- um nur einige der vielen Formen internationaler Normenbildung
zu erwähnen.20 Im Unterschied zu den „harten“ völkerrechtsverbindlichen Normen, die durch
Verträge zwischen Staaten zustande kommen, handelt es sich hier um ein „soft law“ mit
geringerer normativer Verdichtung. Das muss aber nicht bedeuten, dass es völlig
unverbindlich wäre. Ein gewisser Druck auf die Respektierung dieser Normen geht von den
Repudationsverlusten aus, die ein privater oder staatlicher Akteur im Falle einer
Regelverletzung hinnehmen muss.
Im Regelsystem für die internationalen Währungs- und Finanzbeziehungen stellt die
Hinterlassenschaft des „Bretton Woods-Systems“ eines der wichtigsten Elemente dar. Dieses
System mit seinem „Übereinkommen über den Internationalen Währungsfonds“ (IWF),
das im Jahre 1944 vereinbart wurde, ist zwar mit der Preisgabe fester, anpassungsfähiger
Wechselkurse im Jahre 1971 zusammengebrochen. Gleichwohl sind einige seiner Teile noch
immer in Kraft: die Verpflichtung der Mitgliedsländer des IWF, ihre Wirtschaftspolitik an
bestimmten makroökonomischen Zielen auszurichten (insbesondere monetärer Stabilität) und
sich einer regelmäßigen Überprüfung durch den Fonds zu unterziehen, die Konvertibilität
ihrer Währung zu sichern, den Zahlungsverkehr für „laufende internationale Geschäfte“ von
Devisenbeschränkungen frei zu halten, das jeweils gewählte Wechselkursregime dem Fonds
anzuzeigen und einen Abwertungswettlauf zu vermeiden. Diesen Verpflichtungen stehen
bestimmte Rechte der Mitgliedsstaaten gegenüber. Sie können insbesondere vom Fonds nach
einem streng geregelten Verfahren finanzielle Mittel in Anspruch nehmen, um die
Anpassungsprozesse
an
Zahlungsbilanzschwierigkeiten
zeitlich
zu
strecken,
Wechselkursschwankungen zu glätten und Handelsbeschränkungen zu vermeiden. Mit der
Festlegung der Bedingungen, unter denen der Fonds zu einer solchen Mittelvergabe bereit ist,
besitzt er ein wirksames Druckmittel, um die Mitgliedsstaaten im Falle außenwirtschaftlicher
Ungleichgewichte zu einer Politik im Sinne seiner Statuten zu veranlassen.
Diese postulieren auch das Ziel des IWF. Es wird darin gesehen, ein „ausgewogenes
Wachstum des Welthandels“ zu erleichtern (und damit die Liberalisierungsbemühungen im
GATT zu unterstützen) und zur „Förderung und Aufrechterhaltung eines hohen
Beschäftigungsgrades und Realeinkommens sowie zur Entwicklung des Produktionspotentials
als obersten Zielen der Wirtschaftspolitik“ beizutragen.21
Vertragspartner des IWF-Übereinkommens sind Regierungen, und der traditionelle
Regelungsbereich dieses Übereinkommens sind die Währungsbeziehungen zwischen den
finanz- und währungspolitischen Organen seiner Mitgliedsstaaten. Dies war in den
Anfangsjahren des Fonds der wichtigste Bereich monetärer internationaler Verflechtungen.
Inzwischen hat sich das Bild grundlegend geändert. Private Kapitalmärkte sind heute
ungleich wichtiger als damals, und sie sind in einem hohen Maße international verflochten.22
Für diesen dominierenden Bereich globaler monetärer Beziehungen gibt es kein zentrales
Regelsystem, das dem IWF-Übereinkommen vergleichbar wäre. Vielmehr existieren
zahlreiche Systeme nebeneinander, die sich gegenseitig überlappen und die den
privatwirtschaftlichen Akteuren einen großen Gestaltungsspielraum bieten. Im Blick darauf
sprechen Padoa-Schioppa/Saccomanni davon, dass die Ordnungsaufgaben im globalen
Finanzsystem „(are) carried out in an ad hoc manner through sporadic intergovernmental
20
Siehe dazu Behrens, 1999; Kirchner, 1999.
Übereinkommen über den Internationalen Währungsfonds, zitiert nach: Bundesgesetzblatt Teil II (1978), S.
19.
22
Padoa-Schioppa/Saccomanni (1994, S. 236) sprechen deshalb von einem „Market-led International Monetary
System“ im Unterschied zum „Government-led International Monetary System“ in den Jahren 1950-1970.
21
12
action, are left to the spontaneous initiatives of market participants, or simply do not exist”.23
Daraus ergibt sich eine hohe Fragilität der internationalen Währungs- und Finanzordnung,
die isch in den großen Finanzkrisen der 1980er und 1990er Jahre manifestierte.
Die Wohlstandsentwicklung eines Landes steht nicht nur unter dem Einfluss einer
zunehmenden Verflechtung nationaler Güter- und Finanzmärkte. Sie wird auch durch
grenzüberschreitende Externalitäten ökologischer Art beeinflusst. Im Extremfall handelt es
sich um externe Effekte mit globaler Reichweite, von denen prinzipiell kein Mensch
ausgeschlossen werden kann, und die deshalb (bei negativen Externalitäten) als „globale
öffentliche Übel“ („global public bads“) bezeichnet werden können. Ihre Verhinderung, die
auf die Bewahrung einer bestimmten Umweltqualität hinausläuft, lässt sich dementsprechend
als die Bereitstellung eines „globalen öffentlichen Gutes“ („global public good“)24
interpretieren. Beispiele dafür sind: die Erhaltung der Ozonschicht in der Stratosphäre als
einem Schutzfilter für die gesundheitsschädliche Ultraviolett-B-Strahlung; der Schutz des
„Weltklimas“ vor einer wohlstandsmindernden anthropogenen Änderung;25 der Schutz der
Biodiversität und der Schutz der Weltmeere vor einer Verschmutzung, mit der die
Assimilationskapazität der Meere überschritten wird.
Seit Beginn der 1970er Jahre haben die genannten Probleme eine wachsende internationale
Aufmerksamkeit gefunden. Dies hat zum Abschluss einiger Abkommen geführt, die der
Erhaltung globaler Kollektivgüter dienen sollen. Dazu gehören: das „Übereinkommen zum
Schutz der Ozonschicht“ aus dem Jahre 1985 mit dem zwei Jahre später verabschiedeten
„Montrealer Protokoll“; die „Klima-Rahmenkonvention“ aus dem Jahre 1992 mit dem für
die Ausgestaltung dieser Konvention maßgebenden „Kyoto-Protokoll“ aus dem Jahre 1997;
die „Biodiversitäts-Konvention“ aus dem Jahre 1992, mit der das bereits 1975 in Kraft
getretene „Washingtoner Artenschuktz-Abkommen“ ergänzt wurde; sowie die im Jahre 1989
vereinbarte „Baseler Müll-Konvention“.
Dieses Bild wäre unvollständig, wollte man die zahlreichen Initiativen von NichtRegierungsorganisationen (NROs) zur Verbesserung des globalen Umweltschutzes unerwähnt
lassen. Dazu gehört insbesondere die Vergabe von Gütesiegeln für international gehandelte,
umweltfreundliche Produkte, wie z. B. das „Eco-o.K.“-Siegel der „Rainforest Alliance“für
umweltfreundlich hergestellte Erzeugnisse der tropischen Landwirtschaft. Die „International
Standards Organisation“ (ISO) ist dabei, die Ziele eines „ecological labelling“ in die ISONormen-Serie 14020 umzusetzen. Inwieweit solche Initiativen zu einer stärkeren Beachtung
des Nachhaltigkeitskriteriums in der Güterproduktion beitragen können,
hängt im
Wesentlichen davon ab, wie stark die Präferenzen und die Zahlungsbereitschaft der
Verbraucher für ökologisch zertifizierte Erzeugnisse sind.
Zum institutionellen Design globaler Wirtschaftsbeziehungen gehören auch rechts- und
sozialpolitische Normen, die auf die Verwirklichung menschlicher Grundrechte zielen. Dazu
23
a.a.O., S. 236.
Zur Terminologie siehe: Kaul/Grunberg/Stern, 1999.
25
Der Begriff „Weltklima“ ist insofern problematisch, als es immer nur lokale und regionale Klimaverhältnisse
gibt, die höchst unterschiedlich sein können. Nach allen vorliegenden Untersuchungen ist aber unbestreitbar,
dass wir uns in einer Phase globaler Klimaerwärmung befinden, die möglicherweise zum Teil auf eine
langfristige, natürliche Entwicklung zurückzuführen ist, die aber mit Sicherheit überlagert und beschleunigt wird
durch anthropogene Ursachen (Ausstoß so genannter „Treibhausgase“ bei der Produktion und beim Verbrauch
von Gütern). Verschiedene Folgeabschätzungen führen zu dem Ergebnis, dass davon die Wohlstandsentwicklung
in allen Teilen der Welt betroffen ist, und dass mit hohen Wohlstandsverlusten in den Entwicklungsländern zu
rechnen ist (zunehmende Überschwemmungen in dicht bewohnten Küstengebieten, rückläufige
Bodenproduktivität in der Landwirtschaft von Entwicklungsländern u.a.). Siehe dazu: WBGU, 1996.
24
13
gehören nach Artikel 22 der „Allgemeinen Erklärung der Menschrechte“ aus dem Jahre 1948
auch die wirtschaftlichen und sozialen Rechte des Menschen, „die für seine Würde und die
freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlich sind“. Der Appellcharakter dieser
Erklärung wurde im Jahre 1966 durch den „Sozialpakt“ der Vereinten Nationen zu einer
völkerrechtlichen Norm umgeformt („International Covenant on Economic, Social and
Cultural Rights“, ICESCR). Zahlreiche Übereinkommen, die im Rahmen der
„Internationalen Arbeitsorganisation“ (IAO) getroffen worden sind, haben durch die
Festlegung von Standards zur Konkretisierung dieser Norm beitragen. Im Blick auf die
Gesamtheit dieser Rechtsgrundsätze, völkerrechtlichen Vereinbarungen und Standards wurde
der Begriff „Kombinationsstandards“ geprägt. Er kennzeichnet eine „Kombination von
rechtlich verbindlichen, programmatischen zielorientierten Normen mit unverbindlichen
Normen appellativen Charakters, wie Beschlüssen, Deklarationen und ähnlichem“.26 Es
handelt sich gleichsam um ein „Dach“, das auf „Säulen“ mit unterschiedlicher normativer
Verdichtung ruht. Jede von ihnen erscheint „für sich genommen kaum geeignet…, die
Dachkonstruktion zu tragen“, aber „in ihrem Ensemble (erfüllen sie) diesen Zweck
durchaus“.27
Der „Sozialpakt“ als der Kern dessen, was man eine „Internationale Sozialordnung“ nennen
könnte, wurde inzwischen von 142 Staaten ratifiziert. Sie übernehmen mit diesem Vertrag die
Verpflichtung, die sozialen Verhältnisse des Inlandes schrittweise zu verbessern. Dazu
gehören die Ernährungslage, die Wohnungssituation, die Gesundheitsfürsorge und die
Sicherung gegen soziale Risiken. Wie diese Verbesserungen zu erreichen sind, wird keinem
Land vorgeschrieben. In dieser Hinsicht besteht ein hinreichend großes Maß an Flexibilität,
weil etwas anderes in Anbetracht der erheblichen Unterschiede im ökonomischen
Entwicklungsstand der Vertragsstaaten auch gar nicht sinnvoll wäre. Man würde also den
Pakt völlig falsch interpretieren, wollte man in ihm eine Festlegung gleicher individueller
Anspruchsrechte sehen, die in allen Vertragsstaaten gegen die jeweiligen Regierungen
eingeklagt werden können. Vielmehr geht es – verfassungsökonomisch gesprochen – um eine
Restriktion der Regierungstätigkeit, die ergänzend zur Restriktion durch Wahlen und durch
die Verfassung des Landes dem politischen Handeln eine bestimmte Richtung vorgibt. In
vielen Ländern haben die Regelungen des Sozialpakts Eingang gefunden in das
innerstaatliche Rechtssystem. Hielten sich die Mitgliedsstaaten des Vertrags konsequent an
ihre vertraglichen Verpflichtungen, dann würden sich ohne Zweifel die weltweiten Chancen
für positive sozialpolitische Auswirkungen des Globalisierungsprozesses erhöhen.
Auch bei der Konkretisierung und Durchsetzung sozialer Standards spielen NichtRegierungsorganisationen eine wichtige Rolle. Sie zertifizieren analog zur Vergabe von
ökologischen Gütesiegeln auch die Einhaltung von Sozialstandards und haben zu diesem
Zweck ein globales Kommunikationsnetz aufgebaut. Aus der Umsetzungskontrolle privater
wie öffentlicher Standards sind die NROs nicht mehr wegzudenken.
Es gibt also eine kaum mehr zu überblickende Vielfalt von Regelsystemen mit
unterschiedlicher normativer Verdichtung. Sie wurden geschaffen, um die globalen
Transaktionen wirtschaftlicher Akteure auf bestimmte Ziele hin zu lenken. Das Gewicht, das
einzelnen Institutionen zukommt, lässt auf die maßgeblichen Interessen schließen, die sich bei
der Ordnung des Globalisierungsprozesses Geltung verschafft haben.
26
Riedel, 1986, S. 310.
ebenda. Zur Funktion nicht-bindender Normen bei der Ausformung und Konkretisierung verbindlilcher
Normen des Völkervertragsrechts siehe Simma/Zöckler, 1996, S. 79 ff.
27
14
4.2. Implizite Wertungen
Welche Gewichte die regelschaffenden Akteure einzelnen Institutionen beimessen, lässt sich
aus der Wirksamkeit der vereinbarten Kontroll- und Durchsetzungsmechanismen, aus der
Entscheidungspraxis in Konfliktfällen und aus der faktischen Politik der wichtigsten Akteure
schließen. Die im Folgenden zu diskutierenden Fragen lauten deshalb:
1. Welche Kontroll- und Durchsetzungsmechanismen wurden vereinbart und welches
Sanktionspotential steht hinter einem vereinbarten Regelwerk? Wie wurde dieses
Potential in der Praxis genutzt?
2. Wie sieht die Entscheidungspraxis im Falle von Konflikten zwischen verschiedenen
Regelsystemen aus? Welche Ziele haben dabei den Vorrang?
3. Lässt sich eine Tendenz ausmachen, ein Regelwerk im Blick auf die vereinbarten
Ziele durchsetzungsfähiger zu gestalten, oder ist eher eine Abschwächung des
Verbindlichkeitsgrades durch eine Umgehung bestehender Regeln zu beobachten?
Anhand dieser Fragen sollen die im vorangegangenen Abschnitt vereinbarten Institutionen
zunächst daraufhin geprüft werden, ob sie einen „weiten“ oder eher einen „engen“
Interessenhorizont in sachlicher und zeitlicher Hinsicht repräsentieren (4.2.1.). Des weiteren
ist zu untersuchen, welcher räumliche Interessenhorizont den genannten Institutionen
zugrunde liegt (4.2.2.). Im 3. Abschnitt wurde ausgeführt, dass die „Weite“ des jeweiligen
Horizontes auf die zugrunde liegenden ethischen Werte schließen lässt.
4.2.1. Der sachliche und zeitliche Interessenhorizont – das Verständnis von „Wohlstand“
und der Stellenwert ökologischer Nachhaltigkeit
Die erste Frage gilt den Kontroll- und Durchsetzungsmechanismen sowie dem
Sanktionspotential einzelner Regelsysteme. Hier zeigen sich erhebliche Unterschiede. Die
WTO besitzt mit ihrem „Trade Policy Review Mechanism“ (TPRM) ein Instrument zur
regelmäßigen Überprüfung der Handelspolitik ihrer Mitgliedsländer. Sanktionen für den Fall
einer Regelverletzung sieht dieses Instrument nicht vor. Davon ist der Fall zu unterscheiden,
dass sich ein Vertragspartner durch die Maßnahme eines anderen Mitglieds benachteiligt sieht
und deshalb den „Dispute Settlement Board“ (DSB) der WTO anruft. Nach einem genau
festgelegten und zeitlich straffen Verfahrens wird die vorgebrachte Beschwerde geprüft, und
wenn es nicht zu einer Rücknahme der beanstandeten Regelverletzung oder einer
Kompensation der benachteiligten Partei kommt, kann diese zu einer Gegenmaßnahme in
Form einer gezielten Rücknahme von Handelserleichterungen gegenüber der
vertragsbrüchigen Partei ermächtigt werden.
Dies ist ein vergleichsweise wirksames Instrument zur Sanktionierung von Regelverstößen.
Auch das monetäre Regelsystem bietet entsprechende Möglichkeiten, die über eine
regelmäßige Überprüfung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedsstaaten des IWF („surveillance“
nach Artikel IV des IWF-Übereinkommens) hinausgehen. Gerät ein Land durch eine
„unseriöse“ Geld- und Finanzpolitik in Zahlungsbilanzprobleme und nimmt es deshalb
finanzielle Mittel des IWF in Anspruch, so hat der Fonds nach einem genau abgestuften
Verfahren die Möglichkeit, diesem Land bestimmte Bedingungen für die Mittelvergabe zu
stellen. Der Fonds besitzt also einen „finanziellen Hebel“, um die Durchsetzung einer Politik
im Sinne seiner Statuten zu erreichen.
15
Diese „Konditionalitätspolitik“ ist heftig umstritten. Das hängt vor allem damit zusammen,
dass die Erwartungen an diese Politik völlig unterschiedlich sind und dass der Fonds den
Spielraum für die Festlegung von Konditionen sehr extensiv nutzt.28 Es kann nicht ausbleiben,
dass dabei – wie generell in der Politik des IWF - nicht nur die Eigeninteressen des Fonds,
sondern auch die seiner wichtigsten Mitglieder eine entscheidende Rolle spielen. Das
wichtigste Mitgliedsland sind die USA. Wie nicht anders zu erwarten ist, beeinflussen deshalb
US-amerikanische Interessen und das US-amerikanische Verständnis von einem effizienten
marktwirtschaftlichen System auch die Politik des Fonds. Das in den USA vorherrschende
Verständnis einer Marktwirtschaft hat beispielsweise in den 1990er Jahren dazu beigetragen,
dass der Fonds auf eine Öffnung nationaler Kapitalmärkte drängte, ohne mit gleichem
Nachdruck den Aufbau nationaler Regulierungsinstanzen zu fördern. Sie wären notwendig
gewesen, um ein Land für die Risiken offener Kapitalmärkte weniger anfällig zu machen.
Dieses im „Washington Consensus“29 enthaltene Programm einer forcierten Deregulierung
dürfte mit dazu beigetragen haben, dass einige „emerging markets“ gegenüber den „boom and
bust“-Zyklen der internationalen Kapitalmärkte verletzbarer wurden.30
Der Sanktionsmechanismus des IWF ist also zweischneidig. Es ist umstritten, ob er in jedem
Einzelfall zu einer besseren Verwirklichung der Ziele des Fonds beigetragen hat. Davon
abgesehen bleibt der Fonds ohne Sanktionsmöglichkeiten gegenüber Ländern, die von ihm
keine Mittel in Anspruch nehmen, die über die Ziehungsmöglichkeiten der ersten
Kredittranchen hinausgehen.31, obwohl auch in diesen Fällen eine Einwirkungsmöglichkeit
sinnvoll sein kann (beispielsweise dann, wenn sich ein Land durch eine anhaltende
Überbewertung seiner Währung Wettbewerbsvorteile verschafft und dadurch in seinen
Partnerländern schwer finanzierbare Leistungsbilanzdefizite hervorruft).
Einen Sanktionsmechanismus, der völlig unabhängig vom IWF wirksam wird, enthalten die
privaten Kapitalmärkte. Auch dieser Mechanismus ist zweischneidig. Der Kapitalabfluss,
der bei einer inflatorischen Geld- und Finanzpolitik des Inlandes droht, zwingt zu einer
Korrektur dieser Politik. Dies liegt nicht nur im inländischen Interesse, sondern trägt auch zur
Stabilität internationaler Finanzbeziehungen bei. Insofern wirkt die Sanktion der Märkte im
positiven Sinne. Es kann aber auch sein, dass „irrationale Übertreibungen“ 32 und ein
„Herdenverhalten“ internationaler Investoren ein Land in einen finanziellen „boom“ treiben,
dem früher oder später der Absturz in eine „bust“-Phase folgt. In diesem Fall werden gerade
diejenigen Länder „bestraft“, die mit besonderem Erfolg eine inflationsneutrale
Wachstumspolitik verfolgen. Der Sanktionsmechanismus des Marktes wirkt hier
dysfunktional.
Man kann deshalb nicht davon sprechen, dass es in den monetären Regelbsystemen der
Weltwirtschaft verlässliche Anreize und Sanktionen gäbe, die die privaten und staatlichen
Akteure zu einem zielführenden Handeln veranlassen würden. Davon unberührt bleibt
allerdings die Feststellung, dass finanzielle Sanktionen zu den wirksamsten Möglichkeiten
überhaupt gehören, das Handeln wirtschaftlicher Akteure zu beeinflussen. Sie stehen damit
auf gleicher Ebene wie die handelspolitischen Sanktionen, die im Rahmen der WTO – aber
auch außerhalb davon – angewandt werden können.
Es gibt zwar „Guidelines“ für die Konditionalitätspolitik, aber der Fonds ist in seiner Praxis weit darüber
hinaus gegangen; siehe dazu Sautter, 2004, S. 165.
29
Siehe dazu: Williamson, 1990, 1993.
30
Dies ist beispielsweise die Kritik von Stiglitz (2002, S. 32) am Vorgehen des IWF. Stiglitz sieht den IWF
sowie „andere internationale Wirtschaftsinstitutionen“ von den „Sonderinteressen der Handels- und Finanzwelt“
der „reichsten Staaten beherrscht“ (ebenda, S. 33), und er hat dabei vor allem die USA vor Augen.
31
Zu den Ziehungsmöglichkeiten siehe: Jarchow/Rühmann, 2002, S. 88 ff.; Sautter, 2004, S. 154 ff.
32
Von „irrational exuberances“ sprach Alan Greenspan anlässlich der asiatischen Finanzkrise der Jahre 1997/98.
28
16
Davon sind die Umsetzungskontrollen und Sanktionsmöglichkeiten umweltpolitischer
Abkommen zu unterscheiden. Sie enthalten üblicherweise die Verpflichtung der
Mitgliedsstaaten, einen Vertragsorgan („Sekretariat“, „Rat“ usw.) über die Einhaltung des
Vertrags zu berichten. Die Publizierung schwerwiegender Vertragsverletzungen kann
Repudationsverluste auslösten, die als ideelle Sanktionen anzusehen sind. Wie wirksam sie
sind, hängt von der öffentlichen Wahrnehmung solcher Regelverstöße ab, letztlich also vom
öffentlichen Interesse an einer Vertragserfüllung.
Die darüber hinaus gehenden Sanktionen oder Anreize sind vergleichsweise schwach. Eine
Ausnahme bildet das Montrealer Protokoll. Es bietet den Mitgliedsstaaten die Möglichkeit,
gegenüber Nicht-Signatarstaaten den Handel mit bestimmten Substanzen und Technologien
einzustellen. Damit wurde nicht ohne Erfolg ein handelspolitischer Druck zum
Vertragsbeitritt ausgeübt. Es besteht aber keine Möglichkeit, durch Anwendung
handelspolitischer Maßnahmen die Mitgliedsstaaten zur Vertragserfüllung zu veranlassen.
Dagegen wird Entwicklungsländern eine finanzielle Kompensation für die Kosten angeboten,
die ihnen durch die Installation von umweltfreundlichen Produktionsanlagen entstehen.
Im Rahmen des Kyoto-Protokolls gibt es inzwischen marktmäßige Anreize und Sanktionen
aus dem Handel mit Emissionsrechten. Einen finanziellen Anreiz bedeutet es, wenn bei der
Unterschreitung der Emissionsobergrenzen solche Rechte verkauft werden können. Eine
finanzielle Sanktion ist es, wenn bei Überschreitung dieser Grenzen solche Rechte gekauft
werden müssen. Wie „hart“ diese Sanktionen und wie stark diese Anreize sind, hängt im
Wesentlichen von der Festsetzung der Emissionsverringerungs-Ziele ab. Aus politischen
Gründen wurden sie relativ niedrig angesetzt. Die USA als der weltweit wichtigste Emittent
von Treibhausgasen beteiligen sich ebenso wenig an der Umsetzung des Kyoto-Protokolls wie
China und Indien, deren Emissionsmengen in raschem Maße zunehmen. Alle diese
Beschränkungen lassen nur einen Schluss zu: Die Klimarahmen-Konvention mit ihrem
Kyoto-Protokoll hat bisher nur eine symbolische Bedeutung. Von wirksamen Sanktionen und
Anreizen zur Verhinderung einer zunehmenden Treibhausgasemission wird man nicht
sprechen können.
Ähnlich fällt das Urteil über die Biodiversitäts-Konvention aus. Ihr liegt ebenfalls die
Absicht zugrunde, durch die Festlegung von Verfügungsrechten einen Marktprozess in Gang
zu setzen. Er soll zum Ausgleich von Schutz- und Nutzungsinteressen führen. Bisher sind
aber zahlreiche Rechtsfragen ungelöst, und das bedeutet, dass von der Anwendungspraxis der
Konvention weder hinreichend starke Anreize noch ausreichend harte Sanktionen zum Schutz
der der Biodiversität ausgehen. Es sind vor allem die Industrieländer, die in dieser Situation
Fakten zu ihren Gunsten schaffen. Ihr Interesse richtet sich auf die möglichst
uneingeschränkte Nutzung der biologischen Vielfalt.
Inwieweit die Vereinbarungen der Baseler Müllkonvention eingehalten werden, hängt
ausschließlich von den Möglichkeiten und Interessen der Vertragsstaaten ab. Die
administrativen und technischen Möglichkeiten zur Kontrolle des Entsorgungsangebots sind
gerade in denjenigen Ländern gering, die das bevorzugte Ziel der Müllexporte sind, und diese
Länder sind in der Regel auch wenig an einer effektiven Kontrolle interessiert. Ökonomische
Anreize und Sanktionen, die zur besseren Vertragserfüllung beitragen könnten, sind nicht
vorgesehen.
Fasst man diese Überlegungen zusammen, so erhält man folgendes Zwischenergebnis zur
Beantwortung der ersten Frage: Steht das Interesse an der Sicherung und Erhöhung des
17
materiellen Lebensstandards auf dem Spiel, so werden vergleichsweise „harte“ Sanktionen
angewandt. Geht es dagegen um die Vermeidung „globaler öffentlicher Übel“ und um die
Sicherung der Lebenschancen künftiger Generationen, so stehen nur relativ „weiche“
Sanktionen und bescheidene Anreize zur Verfügung. Im ersten Fall sieht sich die Staatenwelt
offenbar sehr viel stärker zum Handeln herausgefordert als im zweiten Fall. Daraus lässt sich
schließen, dass Interessen der ersten Arte ein deutlich höheres Gewicht besitzen als Interessen
der zweiten Art.
Nicht weniger ausgeprägt sind die Unterschiede im Stellenwert ökonomischer und
sozialpolitischer
Interessen.
Darauf
lassen
die
außerordentlich
schwachen
Kontrollmechanismen und Sanktionsmöglichkeiten des „Sozialpakts“ und der IAOÜbereinkommen schließen. Der Sozialpakt kennt lediglich ein Berichtsverfahren; nur in
wenigen Ausnahmefällen wurden auch Inspektionen vor Ort durchgeführt. Die
Vertragsstaaten sind verpflichtet, in regelmäßigen zeitlichen Abständen über ihre Erfolge und
Misserfolge bei der Umsetzung der Vertragsnormen zu berichten. Die IAO hat neben einem
Berichtssystem auch ein Beschwerdeverfahren eingerichtet. Beide Normensysteme bieten den
Anreiz einer technischen Hilfe bei der Verbesserung von Sozialstandards und sie enthalten die
Sanktion eines Repudationsverlustes, der bei einer schwerwiegenden Missachtung der
Vertragspflichten entstehen kann. Selbst bei offenkundigen Fällen dieser Art muss aber ein
Land kaum einen Verlust dieser Art befürchten. Dafür finden die jeweiligen
Kontrollmechanismen (wie die Vereinbarungen überhaupt) zu wenig Aufmerksamkeit. Auch
die Möglichkeit, die Berichtssysteme in die Entwicklungszusammenarbeit einzubeziehen und
dadurch die Anreize für eine vertragskonforme Politik zu erhöhen, blieb weitgehend
ungenutzt. Dies kann dahingehend interpretiert werden, dass der Stellenwert der im
Sozialpakt und in den IAO-Übereinkommen enthaltenen Normen im Interessenkalkül der
beteiligten Staaten vergleichsweise gering ist – nicht anderes als im Fall umweltpolitischer
Interessen.
Die zweite Frage bezieht sich auf die Lösungspraxis bei Konflikten, die sich aus der
Anwendung verschiedener Regelsysteme ergeben. Dass solche Konflikte eine Rolle spielen
können, macht der bereits erwähnte Fall handelspolitischer Sanktionen zur Durchsetzung des
Montrealer Protokolls deutlich. Die Verpflichtungen, die sich aus diesem Protokoll ergeben,
sehen prima facie im Widerspruch zu den Verpflichtungen aus einer Mitgliedschaft in der
WTO. Ähnliche Widersprüche können sich aus der gleichzeitigen Mitgliedschaft in der WTO
und anderen internationalen Umweltabkommen ergeben. Es gibt kein institutionalisiertes
Entscheidungsverfahren, das die funktionsspezifischen Regelsysteme der Weltwirtschaft
„überwölbt“ und im Falle solcher Konflikte eine Entscheidung herbeiführen könnte. Wie
jeweils entschieden wird, hängt vom relativen Gewicht der einzelnen Regelsysteme und ihrer
jeweiligen Schlichtungsverfahren ab. Ganz offenkundig ist der Schlichtungsmechanismus der
WTO am weitesten entwickelt und er besitzt das größte politische Gewicht. Es ist deshalb
nicht verwunderlich, wenn Streitfälle aus der Anwendung verschiedener internationaler
Regelsysteme vorwiegend hier verhandelt werden und nicht etwa in den vergleichsweise
rudimentären Schlichtungsorganen von Umweltabkommen.
In der WTO zeichnet sich inzwischen die Tendenz ab, Handelsbeschränkungen zu tolerieren,
wenn sie aus internationalen Umweltabkommen mit „quasi-universeller Mitgliedschaft“
hergeleitet werden können.33 Das Übereinkommen zum Schutz der Ozonschicht kann als ein
Vertrag dieser Art angesehen werden, so dass im Fall einer Beschwerde gegen
33
Hauser/Schanz, 1995, S. 267.
18
vertragsgemäße Handelsbarrieren damit gerechnet werden könnte,
umweltpolitischer Ziele entschieden wird.
dass
im Sinne
Sehr viel weniger eindeutig ist die Lösung von Konflikten geregelt, die sich aus den WTORegeln und umweltpolitischen Verpflichtungen ergeben, die nicht aus Verträgen mit „quasiuniverseller Mitgliedschaft“ hergeleitet werden können. Ein Land kann beispielsweise unter
Berufung auf seine nationale Umweltgesetzgebung ein Importverbot für Waren aussprechen,
deren Produktion nicht den im Inland festgelegten Umweltstandards entsprechen. Das in den
1980er Jahren erlassene Importverbot der USA für Thunfische, bei deren Fang Delphine
getötet wurden, illustriert diesen Fall. Er wurde zweimal auf Grund einer Beschwerde
Mexikos vom „Dispute Settlement Board“ der WTO behandelt, und in beiden Fällen hat der
„Board“ das Vorgehen der USA als einen Bruch von GATT-Vereinbarungen bezeichnet
(wobei die Begründungen unterschiedlich waren).34
Es ist offenkundig, dass bei der Behandlung solcher Streitfälle die WTO vor allem an der
Erfüllung ihres eigenen Vertragswerkes interessiert ist und nicht an der Verwirklichung
umweltpolitischer Ziel. Dafür spricht auch die Zusammensetzung der DSB-Panels. Ihnen
gehören ausschließlich handelspolitische und handelsrechtliche Experten an. Auch wenn es
nicht um die extra-territoriale Anwendung nationalen Umweltrechts geht, sondern um die
Anwendung dieses Rechts auf dem eigenen Territorium eines Staates, und sich daraus
Handelsbeschränkungen ableiten lassen, ist die Tendenz der WTO eindeutig: Die Beweislast
für eine WTO-konforme Anwendung von Handelsbeschränkungen liegt bei denen, die
Umweltschutzinteressen vertreten. Es kann davon ausgegangen werden, dass diese
Interessen durchsetzungsfähiger wären, wenn umgekehrt die Beweislast
für einen
umweltfreundlichen Außenhandel bei den Vertretern handelspolitischer Interessen läge.
Davon kann nicht die Rede sein.
Auch wenn sich in den letzten Jahren eine zunehmende Offenheit des WTO-Systems für die
Ziele des Umwelt- und Ressourcenschutzes abzeichnet, so steht doch nach wie vor das
Interesse an einer Erhöhung des Lebensstandards und an einer Ausweitung von
Produktion und
Handel eindeutig im Vordergrund. Ihm wird im Konflikt mit
umweltpolitischen Interessen der Vorzug zu geben. 35
Im Blick auf mögliche Konflikte zwischen sozialpolitischen und handelspolitischen
Interessen gilt folgendes. In aller Regel schrecken die WTO-Mitglieder nicht vor tarifären
oder nicht-tarifären Handelsbeschränkungen zurück, wenn dahinter die Forderung
einflussreicher sozialpolitischer Interessengruppen des Inlandes steht, auch wenn die
Wohlfahrtsverluste aus einer solchen Maßnahme höher sind als die entsprechenden Gewinne.
Dass daraus soziale Problem in den Partnerländern entstehen, spielt im politökonomischen
Interessenkalkül des Inlandes kaum eine Rolle. Im Vordergrund stehen Partikularinteressen,
nicht das Ziel einer verbesserten Umsetzung international vereinbarter Normen. Wenn der
DSB der WTO in solchen Fällen auf die Einhaltung der WTO-Regeln drängt, dann geschieht
dies also durchaus im wohlverstandenen sozialpolitischen Interesse aller seiner Mitglieder.
34
Siehe dazu Helm, 1999, S. 81-96; Diem, 1996, S. 33-45.
Eine strenge Nutzen-Kosten-Analyse müsste alternative Maßnahmen zur Erreichung eines bestimmten
umweltpolitischen Ziels miteinander vergleichen. Dabei wären auch die ökologischen Externalitäten
intertemporaler Art einzubeziehen. Nur wenn dabei handelspolitische Maßnahmen schlechter abschneiden
würden als alternative politische Instrumente, wäre ein Verzicht auf Handelsbeschränkungen gerechtfertigt, d.h.
der Vorrang für einen Vollzug der Liberalisierungsregeln des GATT. Nichts deutet darauf hin, dass die
Entscheidungen im DSB der WTO auf dieser Grundlage erfolgen.
35
19
Fasst man diese Überlegungen zur zweiten Frage zusammen, so lässt sich folgendes sagen:
Bei Konflikten zwischen der Anwendung umweltpolitischer und handelspolitischer
Regelsysteme besteht im DSB der WTO eine deutliche Tendenz, im Interesse der letzten zu
entscheiden. Ökonomische Interessen haben den Vorrang. Der implizite Interessenhorizont,
der die Entscheidungspraxis kennzeichnet, ist vergleichsweise eng.
Die dritte Frage bezieht sich auf die Weiterentwicklung der bestehenden Regelsysteme.
Welche Prioritäten dabei im WTO-System eine Rolle spielen, zeigt sich in der gegenwärtig
laufenden Doha-Verhandlungsrunde sowie in den handelspolitischen Bestrebungen
wichtiger Welthandelsnationen außerhalb der WTO. Die Doha-Runde ist mit dem weiteren
Abbau von Handelshindernissen voll und ganz in Anspruch genommen. Andere Themen, wie
z.B. der Schutz natürlicher Ressourcen, stehen nicht vorrangig auf der Tagesordnung. Im
Verhandlungsmandat dieser Runde heißt es beispielsweise: „The negotiations carried
out…shall be compatible with the open and non-discriminatory nature of the multilateral
trading system, shall not add to or diminish the rights and obligations of members under
existing WTO agreements… nor alter the balance of these rights and obligations.”36
Angesichts dieser Beschränkung des Verhandlungsmandats ist nicht damit zu rechnen, dass
die Doha-Runde irgendwelche Änderungen im Vertragswerk der WTO beschließen wird, die
dem Ziel des Umwelt- und Ressourcenschutzes einen höheren Stellenwert zumessen.
Im übrigen ist eine deutlich Tendenz der USA und der EU zum Abschluss bilateraler
Abkommen zu beobachten, mit denen das für die WTO konstitutive
Meistbegünstigungsprinzip ausgehebelt wird. Offenbart neigen die wichtigsten
Welthandelsnationen zu der Ansicht, dass die eigenen Interessen außerhalb der WTO besser
zu verfolgen sind als im Rahmen des WTO-Systems. Symptomatisch sind in diesem
Zusammenhang die Bestrebungen der USA, durch bilaterale Verträge mit anderen Ländern
die Regelungen des TRIPS-Abkommens zu unterlaufen und günstigere Bedingungen für den
Schutz der Eigentumsrechte US-amerikanischer Unternehmen durchzusetzen. 37
Bei den Verhandlungen über die Weiterentwicklung der Internationalen Währungs- und
Finanzordnung, die auf mehreren Ebenen stattfinden, zeigen die wichtigsten Akteure wenig
Neigung, die bestehende Krisenanfälligkeit der internationalen Finanzmärkte zu verringern.
Insbesondere der Hegemonialstaat USA, auf dessen Führungsrolle es in diesem
Zusammenhang besonders ankommt, hat wenig Interesse an einer Änderung dieses
Zustandes. Er wurde wie folgt beschrieben: „The Market-Led International Monetary
System…suffers from a structural weakness arising from the asymmetry between the
globality of the financial market and the fragmentation of policy institutions, which are based
on nation-states – an asymmetry that generates an institutional gap.”38 Vermutlich hat Rogoff
recht mit seiner Behauptung, dass nennenswerte Fortschritte im Aufbau eines weniger
krisenanfälligen Ordnungssystems erst nach den nächsten großen internationalen Finanzkrisen
möglich sein werden.39
Auch im Blick auf die Umsetzung Internationaler Umweltabkommen sind die Fortschritte
gering. Die zweite große Umweltkonferenz der Vereinten Nationen im Jahre 2002 in
Johannesburg brachte keinen Durchbruch in den schleppenden Verhandlungen zur
Ausgestaltung der bestehenden Rahmenverträge. Nach wie vor unbefriedigende Kontroll-und
36
Zitiert nach ICTSD/IISD, 2003, S. 1
Siehe dazu Liebig, 2005.
38
Padoa-Schioppa/Saccomanni, 1994, S. 265.
39
Rogoff, 1999, S. 28: „Even if none of the large-scale plans is feasible in the present world political
environment, after another crisis or two, the impossible may start seeming realistic.”
37
20
Umsetzungsmechanismen lassen es fraglich erscheinen, ob die in diesen Verträgen
formulierten Ziele erreicht werden können. Als insgesamt unbefriedigend müssen auch die
Bemühungen um eine bessere Verwirklichung sozialpolitischer Normen angesehen werden.
Der seit langem vorliegende Entwurf eines Fakultativprotokolls, das die Verbindlichkeit des
„Sozialpaktes“ stärken könnte, hat beispielsweise kaum Chancen einer Verabschiedung.
Wir erhalten also folgendes Ergebnis: Die Unterschiede in den Kontroll- und
Durchsetzungsmechanismen einzelner Regelwerke, die Entscheidungspraxis bei Konflikten
und die von den wichtigsten Akteuren verfolgte Politik führen zum dem Schluss, dass
kurzfristige ökonomische Interessen bei der Regelbildung eindeutig im Vordergrund stehen.
Das Interesse an ökologischer Nachhaltigkeit und an einer besseren Verwirklichung
sozialpolitischer Normen war und ist vergleichsweise gering. Für diesen „engen“
Interessenhorizont sind in erster Linie die großen Industrieländer verantwortlich, unter denen
der Hegemonialstaat USA eine hervorgehobene Rolle einnimmt. Ethisch interpretiert bedeutet
ein enger Interessenhorizont, dass fundamentale ethische Werte nicht hinreichend beachtet
werden: die Sicherung der Lebenschancen künftiger Generationen (sowie der
außermenschlichen Natur) und die Verbesserung der „Verwirklichungschancen“
(„capabilities“) der Menschen. Die Institutionen des Globalisierungsprozesses beeinflussen in
erheblichem Maße dessen Ergebnisse. Deshalb gilt: Sofern die Ergebnisse der
wirtschaftlichen Globalisierung durch das bestehende Arrangement internationaler
Institutionen bedingt sind, bleiben sie deutlich hinter den genannten ethischen Werten zurück.
4.2.2. Der räumliche Interessenhorizont
Hier geht es um die Frage, in welcher Weise die einkommensschwachen Länder der
Weltwirtschaft – also die Entwicklungsländer – in das internationale Regelwerk einbezogen
sind. Gibt es Sonderregelungen in ihrem wohlverstandenen Eigeninteresse oder gilt der
Grundsatz streng formaler Gleichheit, ohne dass dabei Unterschiede in der
Ressourcenausstattung und in den historisch gewachsenen Institutionen des Inlandes
berücksichtigt werden?40
Stellt man diese Frage im Blick auf das WTO-System, so kommt man zu einem etwas
verwirrenden Ergebnis. Einerseits werden den Entwicklungsländern mehrere
Sonderregelungen zugestanden, aber es ist äußerst fraglich, ob diese Ausnahmen tatsächlich
ihren wohlverstandenen Eigeninteressen dienen. Andererseits nehmen auch die
Industrieländer Ausnahmen von den WTO-Regeln für sich in Anspruch, so dass von einer
streng formalen Gleichheit nicht die Rede sein kann. Die Sonderbestimmungen zugunsten der
Industrieländer, die eigenwillige Anwendung der Vertragstexte durch diese Länder sowie
deren Handelspolitik am WTO-System vorbei wirken sich in vielfacher Hinsicht nachteilig
auf die Entwicklungsländer aus. Das bestehende Regelwerk der WTO bietet also nicht allen
Ländern dieselben Beteiligungschancen.
Zu den fragwürdigen Sonderregelung des GATT für Entwicklungsländer gehören: die
Erlaubnis zur undifferenzierten Einführung von Erziehungszöllen (wobei nicht zwischen einer
ökonomisch sinnvollen, temporären, und einer gesamtwirtschaftlich nachteiligen, dauerhaften
40
Entwicklungshilfe-Leistungen, die eine Überwindung dieser Unterschiede zum Ziel haben, sollen hier nicht
diskutiert werden (siehe dazu : Sautter, 2004, Abschnitt 7.6.). Es wird geschätzt, dass allein die
Wohlfahrtsverluste, die den Entwicklungsländern durch den Agrarprotektionismus der Industrieländer entstehen,
etwa 40% der gesamten jährlichen Entwicklungshilfe-Leistungen ausmachen. Daran wird deutlich, wie wichtig
für die Entwicklungsländer die Teilnahmebedingungen am Welthandel sind.
21
Protektion unterschieden wird); die Erlaubnis zu mengenmäßigen Importbeschränkungen bei
Zahlungsbilanzschwierigkeiten (mit der die Aufrechterhaltung einer verfehlten
makroökonomischen Politik erleichtert wird); das Allgemeine Zollpräferenzsystem (das durch
seine Intransparenz und Zeitinkonsistenz41 zu manchen Fehlentscheidungen Anlass gibt) und
die Ausnahme vom Reziprozitätsprinzip (die Entwicklungsländer zur Beibehaltung eines
ökonomisch dysfunktionalen Schutzniveaus einlädt). Die Industrieländer haben diesen
Sonderregelungen weniger aus ökonomischer Einsicht als aus politischem Opportunismus
zugestimmt. Es bestehen kaum Zweifel, dass sie damit zwar den Forderungen der
Entwicklungsländer entsprochen haben, nicht aber deren wohlverstandenen Eigeninteressen.
Die Industrieländer haben ihrerseits Ausnahmen vom WTO-Regelwerk zugunsten
partikularer Interessengruppen des Inlandes durchgesetzt. Eine der wichtigsten Ausnahmen
bildet der Agrarhandel. Seit den Anfangsjahren des GATT stand er außerhalb seines
Regelwerks. Mit dem während der „Uruguay-Runde“ ausgehandelten „Übereinkommen über
die Landwirtschaft“ wurde zum ersten Mal der Versuch unternommen, die Prinzipien des
Vertrags auch auf diesen Bereich anzuwenden. Bisher deutet aber wenig darauf hin, dass die
Industrieländer wirklich gewillt sind, die in der „Uruguay-Runde“ gemachten Zusagen
einzuhalten. Die Verhandlungen während der laufenden Doha-Runde kommen nur sehr
schleppend voran, weil der interne Widerstand in den meisten Industriestaaten gegen eine
konsequente Öffnung ihrer Agrarmärkte nur schwer zu überwinden ist. Wie weitgehend sich
die Sonderinteressen der Landwirtschaft in der Handelspolitik der Industrieländer
durchsetzen, zeigt beispielsweise die Tatsache, dass die USA mit ihrer „Farm Bill“ vom Mai
2002 beschlossen haben, die Subventionierung der Landwirtschaft im Verlaufe von 10 Jahren
um annähernd 80% zu erhöhen.42 Besonders nachteilig für einige Entwicklungsländer wirken
sich dabei die Subventionen zugunsten US-amerikanischer Baumwollfarmer aus.
Eine Benachteiligung der Entwicklungsländer geht auch von der extensiven Anwendung von
Anti-Dumping-Maßnahmen durch die Industrieländer aus. Es wird geschätzt, dass es sich in
90% der Fälle um Schutzmaßnahmen zugunsten inländischer Produzenten handelt und nur in
10% der Fälle um ein Dumping im strengen Sinne des Vertragstextes.43 Anbieter aus den
Entwicklungsländern gehören zu den am stärksten Betroffenen; etwa 2/3 der von den
Industrieländern eingeleiteten Anti-Dumping-Untersuchungen richten sich gegen
Entwicklungs- und Transformationsländer.44 Die zunehmende Häufigkeit, mit der solche
Maßnahmen angewandt werden, machen sie inzwischen zu einer „systemischen Bedrohung“
des Welthandelssystems.45
Obwohl das GATT unbestreitbare Erfolge bei der Reduzierung tarifärer Handelshindernisse
aufzuweisen hat, gibt es nach wie vor eine Zolleskalation mit zunehmendem
Verarbeitungsgrad einer Ware. Die Nominalzölle für Agrarprodukte der letzten
Verarbeitungsstufe sind in der EU im Durchschnitt doppelt so hoch wie die Nominalzölle für
Agrarprodukte der ersten Verarbeitungsstufe. In Kanada ist diese Relation mit 12:1 noch
wesentlich höher.46 Diese Staffelung der Zollsätze führt zu einer hohen effektiven
Zollbelastung und erschwert es den Entwicklungsländern, ihre Ausfuhrstrukturen zu
diversifizieren und in verstärktem Maße verarbeitete Erzeugnisse zu exportieren.
41
Darunter wird hier die Praxis vieler Industrieländer verstanden, ihre Präferenzzölle zugunsten von
Entwicklungsländern aufzuheben, sobald die Begünstigten dadurch Exporterfolge erzielen.
42
Mayrand/Dionne/Paquin, 2003, S. 8.
43
Messerlin, 2000, S. 167 f.
44
World Bank, 2000, S. 72.
45
Messerlin, 2000, S. 161.
46
World Bank 2000, S. 80.
22
Die Lücken im GATT sowie die Anwendungspraxis des Vertrages durch die Industrieländer
haben also eine Diskriminierung der Entwicklungsländer zur Folge. Nicht anders ist die
Wirkung des GATS zu beurteilen. Dieser Vertrag und dessen Anwendung sind ein typisches
Beispiel dafür, dass die Industrieländer auf eine weltweite Marktöffnung für Dienstleistungen
drängen, bei denen sie selbst komparative Wettbewerbsvorteile besitzen (z.B.
Finanzdienstleistungen, Telekommunikation, Umwelt-Dienstleistungen), dagegen alle
Dienstleistungen so weit wie möglich aus den Liberalisierungsbemühungen ausklammern, bei
denen die Entwicklungsländer komparative Vorteile besitzen. Dies ist insbesondere der Fall
bei Dienstleistungen „mittels vorübergehender Präsenz natürlicher Personen im Hoheitsgebiet
eines anderen Mitglieds“ (dem 4. Erbringungsmodus von Dienstleistungen nach dem Wortlaut
des Vertrags). Die Industrieländer wollen eine Arbeitskräfte-Migration nur in einem streng
kontrollierten, engen Rahmen zulassen. Weitgehend vor einer Konkurrenz durch Anbieter aus
Entwicklungsländern sind auch Dienstleistungen geschützt, die „mittels kommerzieller
Präsenz im Hoheitsgebiet eines anderen Mitglieds“ erbracht werden (3. Erbringungsmodus).
Unternehmen aus Entwicklungsländern müssen bei der Gründung von Niederlassungen in
einem Industrieland mit einer rigorosen Bedarfsprüfung rechen, mit einer Begrenzung der
zulässigen Produktpalette, mit hohen Mindestkapitalanforderungen und vielen anderen
Behinderungen. Ganz offensichtlich ist das GATS nicht dafür geschaffen, die komparativen
Vorteile der Entwicklungsländer zur Geltung zu bringen
Auch das TRIPS-Abkommen
enthält zahlreiche Regelungen, von denen die
Entwicklungsländer benachteiligt werden47. Durch die Angleichung des inländischen
Rechtsschutzes für geistiges Eigentum an den Standard der Industrieländer entstehen Kosten,
denen in vielen Ländern auf absehbare Zeit keine Erträge gegenüberstehen. Im Gegenteil: Für
die Nutzung moderner Technologien sind höhere Zahlungen an die Industrieländer zu
leisten;48 der Schutz traditionellen Wissens wird erschwert; durch den verschärften
Patentschutz für Medikamente wird die Produktion von „Generika“ erschwert und dadurch
kommt es zu Preissteigerungen im Gesundheitswesen; die Chance für einen „fairen und
gerechten“ Vorteilsausgleich bei der Nutzung der Biodiversität, der nach der BiodiversitätsKonvention angestrebt werden soll, wird verschlechtert. Manches spricht deshalb für die
Feststellung von Panagariya, das TRIPS-Abkommen bewirke „a substantial redistribution of
income from poor to rich countries,“49
Schließlich stellen auch die unzulänglichen Partizipationsmöglichkeiten der
Entwicklungsländer in den Entscheidungsprozessen der WTO ein Problem dar. Formal
gesehen hat zwar jedes Land dasselbe Stimmengewicht („one country, one vote“). Faktisch
kommen
aber viele Vereinbarungen ohne eine ausreichende Beteiligung der
Entwicklungsländer zustande, weil ihre personellen Kapazitäten viel zu schwach sind, um in
allen Verhandlungsgremien der WTO vertreten zu sein. Außerdem sind ihre Märkte zu
unbedeutend, um die großen Industrieländer als den Hauptakteuren im WTO-System zu
substantiellen Verhandlungsangeboten anregen zu können. Es gibt zwar Bemühungen der
WTO, die Mitsprache- und Mitbestimmungsmöglichkeiten der Entwicklungsländer durch ein
47
Siehe dazu im Einzelnen: Sautter, 2004, S. 324 ff.
Der stärkere Schutz der Rechte am geistigen Eigentum kann die Innovationstätigkeit anregen. Zu fragen ist
allerdings, wie sich die daraus ergebenen Wohlfahrtsgewinne international verteilen. Subramaniam hat gezeigt,
dass unter nicht unrealistischen Annahme, dass die Entwicklungsländer in ihrer Gesamtheit ein „kleines Land“
darstellen und der verstärkte Schutz des geistigen Eigentums hier nicht zu nennenswerten Innovationen führt, mit
Netto-Wohlfahrtsverlusten für die Entwicklungsländer gerechnet werden muss (Subramaniam, 1990, S. 514 ff.).
49
Panagariya, 2002b, S. 1225.
48
23
„capacity building“ zu verbessern. An der Ungleichheit der Verhandlungsmacht zwischen
Industrie- und Entwicklungsländern wird dies wenig ändern können.
Es zeigt sich also, dass das WTO-System weder Ausnahmeregelungen im wohlverstandenen
Eigeninteresse der Entwicklungsländer enthält noch deren formale Gleichbehandlung mit den
Industrieländern. Vielmehr benachteiligt es die Entwicklungsländer. Was in den formalen
Regelungen des WTO-Systems und in seiner Anwendung zum Ausdruck kommt, ist ein
„enger“ räumlicher Interessenhorizont der wichtigsten Akteure im internationalen
Regelbildungsprozess.
In welcher Weise die Entwicklungsländer in das Regelwerk globaler Finanzmärkte und
währungspolitischer Beziehungen einbezogen sind, ist eine außerordentlich komplexe
Frage, die kontrovers diskutiert wird. Dem Vorwurf, die Regeln des IWF-Übereinkommens
und die
Ordnung der privaten Kapitalmärkte bedeuteten ein „systemisches
Entwicklungshindernis“ steht beispielsweise der Einwand gegenüber, eine zu nachgiebige
Kreditvergabe des IWF habe zu einem „moral hazard“ geführt und gerade dadurch die
wirtschaftliche Entwicklung vieler Länder beeinträchtigt.
Hier soll darauf verzichtet werden, auf Kontroversen dieser Art einzugehen. Lediglich ein
Aspekt sei herausgegriffen: die Krisenanfälligkeit der internationalen Währungs- und
Finanzbeziehungen. Dass sie nach wie vor besteht, ist ebenso unbestritten wie die Tatsache,
dass davon vor allem einkommensschwache Länder betroffen sind. Es ist zwar richtig, dass
jedes Land selbst dafür verantwortlich ist, die Krisenanfälligkeit seiner Finanzmärkte so weit
wie möglich zu verringern. Dafür gibt es auch entsprechende Möglichkeiten (Aufbau eines
effizienten
Regulierungssystems
für
den
Finanzsektor,
eine
„kompetitive“
Wechselkurspolitik, Verhinderung einer exzessiven Auslandsverschuldung u.a.). Gleichwohl
stellen das „Herdenverhalten“ internationaler Investoren, die „irrationalen Übertreibungen“
auf Finanzmärkten und die „contagion“-Effekte dieser Märkte ein Risiko dar, dem auch
diejenigen Länder ausgesetzt sind, die „ihr Haus in Ordnung gebracht haben.“
Wie bereits erwähnt, stellt es für die wichtigsten Akteure im internationalen
Regelbildungsprozess keine vorrangige Aufgabe dar, an diesem Zustand etwas zu ändern. Sie
selbst sind von internationalen Finanzkrisen auch weniger stark betroffen als viele
Entwicklungsländer. Das bedeutet nichts anderes, als dass auch das Regelwerk internationaler
Finanz- und Währungsbeziehungen einen „engen“ Interessenhorizont aufweist.
Nichts anderes ist schließlich im Blick auf die Internationalen Umweltabkommen
festzustellen. Es ist unbestreitbar, dass zahlreiche einkommensschwache Länder von einer
globalen Klimaerwärmung besonders negativ betroffen sein werden. Sie haben auch unter der
fortschreitenden Bodendegradation und Wüstenbildung besonders zu leiden. Das relativ
geringe Interesse der wirtschaftlich und politisch führenden Staaten an wirksamen Regeln zur
Verhinderung von „global public bads“ trifft also vor allem Entwicklungsländer.
Fasst man diese Überlegungen zusammen, so gilt: Ebenso wie der sachliche und zeitliche
Interessenhorizont, der in den Regelsystemen der wirtschaftlichen Globalisierung zum
Ausdruck kommt, ist auch der räumliche Horizont „eng“. Die einkommensschwachen Länder
der Weltwirtschaft sehen sich keinen besseren, sondern eher schlechteren
Teilnahmebedingungen gegenüber als die Industrieländer. Darin kommt eine ethische
Wertung zum Ausdruck, die im Widerspruch zum Prinzip der „Regelgerechtigkeit“ steht –
von einer „Verteilungsgerechtigkeit“ ganz zu schweigen.
24
5.Zusammenfassung und Ausblick
Die ethische Qualität wirtschaftlicher Transaktionen hängt zu einem guten Teil von den
Institutionen (Regeln) ab, die sie ordnen. Das gilt auch für die ethische Qualität globaler
Wirtschaftsbeziehungen. Die Frage nach ihrer ethischen Bewertung führt deshalb zur Frage,
wie die internationalen Regelsysteme des Globalisierungsprozesses beschaffen sind. Im
Beziehungsgeflecht, das die Resultate dieses Prozesses bestimmt, nehmen sie eine prominente
Rolle ein. Darauf wurde im 2. Abschnitt hingewiesen.
Institutionen werden von privaten und staatlichen Akteuren geschaffen. Es ist nicht
selbstverständlich, dass beispielsweise ein Staat daran interessiert ist, sich an der Etablierung
funktionsfähiger internationaler Regeln zu beteiligen. Er nimmt durch solche Regeln
bestimmte Selbstbindungen auf sich, die ihn in seinen Handlungsmöglichkeiten einschränken.
Gleichwohl kann das „konstitutionelle Interesse“ an der Entstehung und Aufrechterhaltung
einer Ordnung größer sein als das jeweilige „Handlungsinteresse“. Wieweit dies der Fall ist,
hängt nicht zuletzt von der Möglichkeit ab, die Verbindlichkeit eines Regelsystems durch
geeignete Kontroll- und Durchsetzungsmechanismen zu stärken. Spieltheoretisch gesehen
handelt es sich um eine „tit for tat“-Strategie zur Überwindung eines ordnungspolitischen
„Gefangenen-Dilemmas“. Nach einer These von Charles Kindleberger bietet die Existenz
eines Hegemonialstaates relativ günstige Möglichkeiten zur Überwindung dieses Dilemmas.
Die gegenwärtige Hegemonialstruktur trägt allerdings eher zur Schwächung als zur Stärkung
der bestehenden Regelsysteme bei. Die damit zusammenhängenden Fragen wurden im 3.
Abschnitt diskutiert.
Im 3. Abschnitt wurde ferner die Frage gestellt, inwiefern das Interessenkalkül regelbildender
Akteure auf die zugrunde liegenden ethischen Wertungen schließen lässt. Hier wurde die
These vertreten, dass ethische Werte um so eher zur Geltung kommen, je weiter der
Interessenhorizont in sachlicher, zeitlicher und räumlicher Hinsicht ist.
Der 4. Abschnitt war dann der Frage gewidmet, welcher Interessenhorizont (und welche
damit implizierten ethischen Wertungen) dem bestehenden internationalen Ordnungssystem
zugrunde liegen. Wie vielfältig dieses System ist, wurde im Abschnitt 4.1. ausgeführt. Im
Abschnitt 4.2. wurden einige der wichtigsten Regelsysteme unter drei Fragestellungen
diskutiert:
Wie
stringent
sind
die
jeweils
vereinbarten
Kontrollund
Durchsetzungsmechanismen? Wie sieht die Entscheidungspraxis bei Konflikten zwischen
verschiedenen Regelsystemen aus? Ist aus der Politik wichtiger weltwirtschaftlicher Akteure
eine Tendenz zur Schwächung oder zur Stärkung dieser Regelsysteme herauszulesen?
Dieser Diskussion lagen die Prämissen zugrunde, dass
-
stringente Kontroll- und Durchsetzungsmechanismen auf ein relativ großes Interesse
der beteiligten Akteure an einer Verwirklichung der zugrunde liegenden Ziele
schließen lassen,
-
auch die Entscheidungspraxis in Konfliktfällen auf die vorherrschenden Interessen
schließen lässt,
-
sich aus der Weiterentwicklung der einzelnen Regelsysteme durch die maßgebenden
Akteure ablesen lässt, welche Interessen den Vorrang haben.
25
Diese Diskussion führte zu dem Ergebnis, dass das internationale Regelsystem vorrangig
kurzfristigen ökonomischen Interessen („Erhöhung des Lebensstandards“) verpflichtet ist.
Umwelt- und sozialpolitische sowie menschenrechtliche Interessen spielen eine
untergeordnete Rolle. Die darauf verpflichteten Kontroll- und Durchsetzungsmechanismen
sind außerordentlich schwach, in der Entscheidungspraxis bei Konfliktfällen werden diese
Interessen tendenziell vernachlässigt, und die maßgeblichen Akteure lassen auch keine
verstärkten Bemühungen erkennen, diesen Zustand zu ändern.
Daraus wurde auf einen relativ „engen“ Interessenhorizont in sachlicher und zeitlicher
Hinsicht geschlossen. Die ethische Verpflichtung, die Lebenschancen für künftige
Generationen zu erhalten und die „Verwirklichungschancen“ für die heute lebenden
Menschen zu verbessern, ist also nur schwach durch die internationalen Regelwerke
abgestützt. Auch in räumlicher Hinsicht ist der Interessenhorizont „eng“: Die
Entwicklungsländer sehen sich bei ihrer Teilnahme an den internationalen Regelsystemen in
vielfacher Hinsicht benachteiligt. Es gibt also keine „Regelgerechtigkeit“.
Zu Beginn wurde von der moralischen Kritik am Globalisierungsprozess gesprochen, die
außerhalb der nationalökonomischen Fachdiskussion eine beherrschende Rolle spielt. Was die
internationalen Regelsysteme anbelangt, die diesen Prozess ordnen, so haben die
Ausführungen im 4. Abschnitt gezeigt, dass diese Kritik eine solide Basis besitzt. Die Vorteile
der Globalisierung werden sich auf die Dauer nur sichern lassen, wenn die moralischen
Einwände gegen ihre Ordnungsregeln ernst genommen werden. Welche Aussichten bestehen
für eine entsprechende Korrektur dieser Regeln?
Es liegt auf der Hand, dass den wohlhabenden, politisch einflussreichen Staaten hier eine
Führungsrolle zukommt. Wenn „Umweltschutz“ und der Schutz sozialer und wirtschaftlicher
Menschenrechte „einkommenselastische Güter“ sind, dann kann nicht erwartet werden, dass
einkommensschwache Länder mit Vorrang daran interessiert sind.
Das grundsätzlich voraussetzbare Interesse der reichen Nationen an diesen „Gütern“ kann
gestärkt werden, wenn die intertemporalen Konsequenzen der gegenwärtigen Produktionsund Konsumstrukturen sowie die negativen Folgen eines „engen“ räumlichen
Interessenhorizonts noch wesentlich stärker ins Bewusstsein der Menschen gerückt werden,
und wenn daraus politische Aktionen folgen. Doch vermutlich kann der Interessenhorizont bei
der Schaffung ökonomischer Transaktionsregeln auch dadurch erweitert werden, dass man die
ethischen Aspekte des Wirtschaftens explizit zur Sprache bringt.
Literatur
Behrens, P. (1999): Rechtliche Strukturen der Weltwirtschaft aus konstitutionenökonomischer Perspektive, in: Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie, Band 18, Tübingen,
S. 9-45.
Benedek, W. (Hrsg.)(1998) Die Welthandelsorganisation (WTO), alle Texte einschließlich
GATT (1994), GATS und TRIPS, München.
26
Bundesgesetzblatt (1978) (Hrsg. Bundesministerium der Justiz), Teil II, v. 12.Januar 1978, S.
13-81,
Diem, A. (1996): Freihandel und Umweltschutz in GATT und WTO, Baden-Baden.
Hauser, H.; Schanz, K.U. (1995): Das neue GATT. Die Welthandelsordnung nach Abschluss
der Uruguay-Runde, München, Wien.
Helm, C. (1995): Sind Freihandel und Umweltschutz vereinbar? Berlin.
ICTSD/IISD (International Centre for Trade and Sustainable Development, International
Institute for Sustainable Development) (2003): Trade and Environment, in: Doha Round
Briefing Series, Vol. 1/9, Geneva.
Ikenberry, G.J. (2002): America’s Imperial Ambition, in: Foreign Affairs, 81/5, S. 44-60.
Jarchow, H. J.; Rühmann, P. (2002): Monetäre Außenwirtschaft II, Internationale
Währungspolitik, 5. Aufl., Göttingen.
Kaul, I.; Grunberg, I.; Stern, M. A. (Eds.): (1999): Global Public Goods, New York usw.
Kindleberger, Ch. P. (1986): International Public Goods without International Government,
in: American Economic Review, Vol. 76/1, S. 1-13.
Kirchner, Chr. (1999): Formen interstaatlicher Interaktionsregeln für wirtschaftliche Prozesse,
in: Korff, W. et. al. (Hrsg.): Handbuch der Wirtschaftsethik, Band 2, Gütersloh, S. 390-403.
Langhammer, R. (1999): The WTO and the Millenium Round: Between Standstill and
Leapfrog. Kiel Dicussion Papers, 352, Kiel.
Liebig, Kl. (2005): Die internationale Regulierung geistiger Eigentumsrechte und ihr Einfluss
auf den Wissenserwerb in Entwicklungsländern; Dissertation, Göttingen.
Mayrand, K.; Dionne, St.; Paquin, M. (2003): The 2002 US Farm Bill: Assessing the Potential
Impacts of the Harbison Modalities, in: Bridges (ICTSD/IISD, International Centre for Trade
and Sustainable Development, International Institute for Sustainable Development), Vol. 7/4,
S. 8-9.
Messerlin, P.A. (2000): Antidumping and Safeguards, in: Schott, J.J. (Ed.): The WTO after
Seattle, Washington D.C., S. 159-186.
Nutzinger, H.G. (1995): Nachhaltige Wirtschaftsweise und Energieversorgung: Konzepte,
Bedingungen, Ansatzpunkte, Hamburg.
Nye, J. S. (2003): Das Paradox der amerikanischen Macht, Hamburg.
Padoa-Schiopa, P.; Saccomanni, F. (1994): Managing a Market-Led Global Financial System,
in: Kenen, P. B. (Ed.): Managing the World Economy: Fifty Years After Bretton Woods,
Washington C.D., S. 235-267.
27
Panagariya A. (2002): Developing Countries at Doha: A Political Economy Analysis, in: The
World Economy, 25/9, S. 1205-1233.
Richter, R. (1999): von der Aktion zur Interaktion: Der Sinn von Institutionen, in: Korff, W.
et. al. (Hrsg.) (1999): Handbuch der Wirtschaftsethik, Band 2, Gütersloh, S. 17-38.
Riedel, E. (1986): Theorie der Menschenrechtsstandards, Berlin.
Rogoff, K. (1999): International Institutions for Reducing Global Financial Instability, in:
Journal of Economic Perspectives, Vol. 13/4, S. 21-42.
Rose, Kl.; Sauernheimer, K. (1999): Theorie der Außenwirtschaft, 13. Auflage, München.
Sautter, H. (2004): Weltwirtschaftsordnung, München.
Sen, A. (2003): Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der
Marktwirtschaft, 3. Aufl., München.
Simma, B.; Zöckler, M. (1996): Social Protection by International Law: Law-Making by
Universal Organizations (especially the United Nations), in: Von Maydell, B.B.; Nussberger,
A. (Eds.): Social Protection by Way of International Law, Berlin, S. 69-86.
Stiglitz, J. (2002): Die Schatten der Globalisierung, Berlin.
Subramaniam, A. (1990): TRIPS and the Paradigm of GATT: A Tropical Temperate View,
in: World Economy, Vol. 13, S. 509-521.
Von Weizsäcker, C. Chr. (1999): Logik der Globalisierung, Göttingen.
WBGU (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen)
(1996): Welt im Wandel: Wege zur Lösung globaler Umweltprobleme, Jahresgutachten 1995,
Berlin, Heidelberg.
Whitman, M. v. N. (1975): Leadership Without Hegemony: Our Role in the World Economy,
in: Foreign Policy, Nr. 20, S. 138-160.
Williamson J. (1993): Democracy and the Washington Consensus, in: World Development,
21 (8), S. 1329-1336.
ders. (1990): What Washington Means by Policy Reform, in: Williamson, J. (Ed.): Latin
American Adjustment. How much has happened? Washington D.C., S. 5-20.
World Bank (2000): World Development Report 2000/2001: Building Institutions for
Markets, Washington D.C.
Herunterladen