Grundlegende Probleme der Entwicklungsländer Streit um Begriffe Der Begriff "Entwicklungsländer" ist sicherlich sprachlich problematisch. Er hat die früher verwendeten Begriffe "rückständige" (backward), "unterentwickelte" (underdeveloped) und "nichtentwickelte Länder" (undeveloped countries) abgelöst, die als zu wertbehaftet und für die Repräsentanten dieser Länder als verletzend galten. Kritiker wie der schwedische Ökonom Gunnar Myrdal haben allerdings darauf hingewiesen, daß auch der Begriff "Entwicklungsländer" vorbelastet sei und zu Fehlschlüssen verleite. Er unterstelle in unangemessen optimistischer Weise, daß diese Länder sich tatsächlich entwickelten. Dabei sei doch gerade die Frage, ob und wie sie sich entwickelten, klärungsbedürftig. Dieser Hinweis ist sicherlich berechtigt, zumal die sich wirtschaftlich am stärksten entwickelnden Länder häufig die Industrie- und nicht die Entwicklungsländer sind, auch wenn letztere das Ziel Entwicklung auf ihre Fahnen geschrieben haben. Insofern ist der teilweise im angelsächsischen Sprachgebrauch verwendete Begriff "less deloped countries" (weniger entwickelte Länder) angemessener. Angemerkt werden soll in diesem Zusammenhang, daß auch die Bezeichnung "Industrieländer" der zunehmend vom Dienstleistungssektor und neuerdings von der "Informationsgesellschaft" geprägten "postindustriellen" Realität dieser Länder nicht mehr gerecht wird, gleichwohl aber weiter verwendet wird. "Dritte Welt" Der Begriff "Dritte Welt" wird meist historisch auf die Einteilung in Erste Welt (westliche Industrieländer) und Zweite Welt (östliche Industrieländer) bezogen, so daß die Entwicklungsländer dann als historisch jüngste Ländergruppierung als Dritte Welt erscheinen. Er ist nicht etwa im Sinne einer Rangordnung ("drittrangig") zu verstehen. Einige Autoren haben den Begriff Dritte Welt auch verwendet, um damit die Einheit dieser Ländergruppe zu betonen. Andere haben die ärmste Teilgruppe, die "am wenigsten entwickelten Länder", noch als "Vierte Welt" ausgegliedert. Mit dem Ende des kommunistischen Ostblocks - Zweite Welt - und der Auseinanderentwicklung der Entwicklungsländer, also der Pluralisierung der Dritten Welt, haben verschiedene Autoren auch das Ende der Dritten Welt verkündet und sich gegen eine Weiterverwendung dieses Begriffes ausgesprochen. Aber auch die mögliche Alternative, der "Süden", ist problembehaftet. Nicht nur die geographische Zuordnung ist ungenau, da sich beispielsweise die wohlhabenden Staaten Australien und Neuseeland auf der Südhalbkugel befinden. Auch hier gilt der Einwand, daß mit der Rede von "dem" Süden das Mißverständnis einer faktisch nicht oder nicht mehr vorhandenen Interessenidentität und Handlungseinheit der Entwicklungsländer nahegelegt wird. Die gleichen Vorbehalte gelten aber auch für die Begriffe Erste Welt oder "Norden". Hinzuweisen ist auch darauf, daß mit dem geographischen Sammelbegriff Süden selbstverständlich keine Ursachenzuordnung verbunden ist, demnach Entwicklungsländer also nicht schon allein deshalb weniger wohlhabend sind, weil sie sich im Süden befinden. Die drei diskutierten Begriffe werden trotz wachsender Kritik überwiegend weiter verwendet - was auch hier geschehen soll -, weil sie in den Sprachgebrauch eingegangen sind und eindeutig bessere Alternativen fehlen. Man sollte sich aber der mit ihnen vbundenen Problematik bewußt sein. Der Begriff Entwicklungsländer führt auch zu der inhaltlichen Frage, was unter Entwicklung zu verstehen ist. Die Annahme, selbstverständlich könne das Ziel nur eine "nachholende" Entwicklung nach dem Modell der Industrieländer sein, ist aus zwei Gründen höchst fragwürdig. Zum einen erscheint es irreal, daß es allen Entwicklungsländern gelingen könnte, in absehbarer Zeit eine Entwicklung zum Industrieland nachzuvollziehen, da viele Entwicklungsländer dafür sehr ungünstige Voraussetzungen mitbringen. Unabhängig von der Realisierbarkeit wird vor dem Hintergrund wachsender Probleme in Industrieländern aber auch zunehmend in Frage gestellt, ob diese als nachahmenswerte "Entwicklungsmodelle" anzusehen sind. In der Tat ist es schwer vorstellbar und sicherlich nicht wünschenswert, daß in den Industrieländern eingetretene Fehlentwicklungen - Stichwort Überentwicklung - sich weltweit durchsetzen. Andererseits ist durchaus verständlich, daß Warnungen vor allem von Kritikern in den westlichen Industriestaaten, die Entwicklungsländer sollten sich nicht am Modell der Industrieländer orientieren, bei den Adressaten auf ein tiefsitzendes Mißtrauen stoßen. Allzuleicht erscheint eine solche Warnung als ein billiger Trick der Privilegierten, ihre im Vergleich schwer bestreitbaren Vorteile möglist nicht mit den aufstrebenden Entwicklungsländern teilen zu müssen und sich den Mühen der Konkurrenz wie auch der Überprüfung des eigenen Lebensstils zu entziehen. Festzuhalten ist, daß unter Entwicklung sehr verschiedene Dinge verstanden werden können. Die 1977 unter Vorsitz des früheren deutschen Bundeskanzlers Willy Brandt eingesetzte internationale "Unabhängige Kommission für internationale Entwicklungsfragen (Nord-SüdKommission)" hat Entwicklung wie folgt umschrieben: "Entwicklung ist mehr als der Übergang von Arm zu Reich, von einer traditionellen Agrarwirtschaft zu einer komplexen Stadtgemeinschaft. Sie trägt in sich nicht nur die Idee des materiellen Wohlstands, sondern auch die von mehr menschlicher Würde, mehr Sicherheit, Gerechtigkeit und Gleichheit." Damit wird jedenfalls deutlich, daß unter Entwicklung mehr verstanden wird als wirtschaftliche Entwicklung im engeren Sinn, auch wenn diese einen zentralen Bestandteil von Entwicklung bildet. Nachhaltige Entwicklung Die wachsende Gefährdung des Ökosystems Erde hat auch ihren Niederschlag in der Entwicklungspolitik gefunden. Der Begriff Entwicklung ist Mitte der achtziger Jahre um das präzisierende Adjektiv "dauerhaft" oder "nachhaltig" (sustainable development) erweitert worden. Die "Weltkommission für Umwelt und Entwicklung" (Brundtland-Kommission) hat in ihrem 1987 vorgelegten, an Industrie- wie Entwicklungsländer gerichteten Bericht folgende Definition gewählt: "Unter dauerhafter Entwicklung verstehen wir eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen. Die Forderung, diese Entwicklung "dauerhaft" zu gestalten, gilt für alle Länder und Menschen. Die Möglichkeit kommender Generationen, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, ist durch Umweltzerstörung ebenso gefährdet wie durch Unterentwicklung in der Dritten Welt." Auf die Frage, ob diese sprachliche Neuerung ah praktische Auswirkungen auf die Entwicklungspolitik gehabt hat, wird später eingegangen. In einem anderen Versuch ist Entwicklung betont als "menschliche Entwicklung" definiert worden. Allgemein gilt, daß das Begriffspaar Entwicklung - Unterentwicklung mit Vorsicht zu verwenden ist, weil bei deren Gebrauch leicht dem eigenen Kulturkreis entstammende und durchaus umstrittene Wertungen unreflektiert als Beurteilungsmaßstab herangezogen werden und zu Pauschalurteilen führen können. Entwicklungsländer haben im Vergleich zu Industrieländern in der Lebensqualität unbestreitbare Defizite und besondere Probleme. Sie sind in diesem eingegrenzten Sinn unterentwickelt, wobei die Frage der Ursachen noch offen bleibt. Sie sind aber keineswegs auf allen Gebieten unterentwickelt oder "rückständig" - einige Entwicklungsländer können zum Beispiel auf jahrtausendealte Hochkulturen zurückblicken. Auf der Ebene menschlicher Begegnungen besteht ohnehin kein Anlaß zu Gefühlen allgemeiner Überlegenheit oder Herablassung bei Angehörigen von Industriestaaten. Ökonomische Merkmale • Geringes Bruttosozialprodukt pro Kopf Als Maßstab für die durchschnittliche wirtschaftliche Situation der Bevölkerung wird meist das durchschnittliche Bruttosozialprodukt (BSP) pro Kopf herangezogen. Die Messung des BSP pro Kopf ist aber - und dies gilt für andere Merkmale teilweise in noch stärkerem Maße - mit methodischen Problemen verbunden, die die Aussagekraft einschränken und die bei der Verwendung berücksichtigt werden sollten. Eine Schwierigkeit ist bereits die Erfassung des BSP, die wenig zuverlässig und teilweise auf Schätzungen (relativ bedeutsamer Anteil der Selbstversorgung in Entwicklungsländern) angewiesen ist. Der statistische Apparat in Entwicklungsländern ist häufig unzulänglich. Hinzu kommt, daß die in nationaler Währung gemessenen BSP-Werte - zum Beispiel Indiens und Tansanias - für Vergleichszwecke auf eine gemeinsame Basis umgerechnet werden müssen. Die dabei verwendeten Wechselkurse der Währungen unterliegen starken Schwankungen. Sie ergeben sich vor allem durch den Außenhandel, der viele Güter und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs - zum Beispiel Friseurleistungen - nicht erfaßt. Die Wechselkurse sind daher ein eher problematischer Maßstab für die eigentlich interessierende Größe, die Kaufkraft der Währungen. Untersuchungen der Weltbank und der UNO, mit denen versucht wurde, die Kaufkraft für wichtige Güter und Dienstleistungen genauer zu vergleichen, ergaben, daß die reale Kaufkraft der Entwicklungsländer durcchnittlich um das Zwei- bis Dreifache höher ist, als sich bei der Umrechnung zu Wechselkursen ergibt und die Differenz bei einzelnen Ländern noch sehr viel stärker ist. • Extrem ungleiche Verteilung Die durchschnittlichen Pro-Kopf-Werte sind vor allem dann irreführend, wenn der künstlichen statistischen Gleichheit der Durchschnittswerte in der Realität eine krasse Ungleichheit der Verteilung in den betreffenden Staaten gegenübersteht. Ein Monatseinkommen eines Plantagenbesitzers von 5100 Geldeinheiten und von 100 Plantagenarbeitern in Höhe von jeweils 50 Geldeinheiten ergibt zwar ein durchschnittliches Einkommen von 100 Geldeinheiten; aber diese statistische Verdoppelung durch Hinzurechnen des Plantagenbesitzereinkommens nutzt den Plantagenarbeitern nicht das geringste. In den meisten Entwicklungsländern zeigt sich im Vergleich zu den Industrieländern eine sehr viel krassere Ungleichheit der Verteilung sowohl regional als auch nach Personen. Auch wenn das Material über die Einkommensentwicklung in den Entwicklungsländern dürftig ist, zeigen Studien, daß die ärmsten 40 Prozent der Haushalte durchschnittlich nur über 13 Prozent der gesamten Privateinkommen verfügen. In einigen Entwicklungsländern, zum Bepiel Brasilien mit sieben Prozent, liegt der Anteil noch erheblich niedriger. Niedrige Spar- und Investitionstätigkeit Ausdruck der für den größten Teil der Bevölkerung extrem geringen Einkommen und der daher objektiv häufig kaum vorhandenen Sparfähigkeit ist auch eine niedrige Sparrate. Die Investitionstätigkeit wird zudem durch Kapitalflucht weiter geschwächt. Der vermögende Teil der Bevölkerung investiert häufig nicht im eigenen Land, sondern bringt große Teile des eigenen Vermögens in das als sicherer eingeschätzte Ausland, zum Beispiel auf vertrauliche Nummernkonten Schweizer Banken. • Unzureichende Infrastruktur Der Ausbau der Wirtschaft wird durch eine mangelhaft ausgebaute Infrastruktur, zum Beispiel ein unzulängliches Verkehrs- und Kommunikationsnetz, behindert. • Unzureichende Schul- und Ausbildung Trotz teilweise großer Anstrengungen im Bildungs- und Schulbereich - zum Beispiel hat sich die durchschnittliche Einschulungsrate in den Entwicklungsländern an Grundschulen innerhalb von 20 Jahren von weniger als 70 Prozent auf geschätzte 87 Prozent erhöht (in Schwarzafrika allerdings nur auf knapp 50 Prozent) - wird die Zahl der Analphabeten in den Entwicklungsländern zur Zeit auf fast eine Milliarde geschätzt. Obwohl relative Bildungserfolge zu verzeichnen sind - immerhin sank der Anteil von 44 Prozent Mitte der fünfziger Jahre auf etwa 26 Prozent -, nehmen die absoluten Zahlen noch zu. In über 30 Ländern zählt mehr als die Hälfte der Bevölkerung zu den Analphabeten, was nicht nur den wirtschaftlichen Aufbau beeinträchtigt, sondern darüber hinaus auch diesen Menschen eine Voraussetzung für eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben vorenthält. Zu den quantitativen Defiziten treten qualitative Mängel, schlechte Schul- und Ausbildung durch schlecht bezahlte und wenig qualifizierte Lehrer. Diese Tendenz wird noch verstärkt durch das überhöhte gesellschaftliche Prestige von Bürotätigkeiten (white collar jobs), während der Beruf des Lehrers wenig gesellschaftliche Achtung findet. • Hohe Arbeitslosigkeit Versteckte Erwerbslosigkeit tritt vor allem im Zusammenhang mit dem informellen Sektor auf, der in vielen Entwicklungsländern ein Auffangbecken für Arbeitslose darstellt (zum Beispiel Straßenhandel). Auch in der Landwirtschaft spielt versteckte Arbeitslosigkeit eine Rolle, wenn beispielsweise ein Bauer für die Bewirtschaftung seiner kleinen Ackerfläche nur einen geringen Teil seiner verfügbaren Arbeitszeit benötigt. Von offener oder versteckter Arbeitslosigkeit ist nach Schätzungen zur Zeit etwa ein Drittel der arbeitsfähigen Bevölkerung in den Entwicklungsländern betroffen. • Bedeutende Rolle des primären Sektors Bei den Produktionsbereichen dominiert meist weiterhin der primäre Sektor (Land-, Forstwirtschaft, Fischerei und Bergbau) und hier insbesondere die Landwirtschaft. Demgegenüber ist der Industrialisierungsgrad vergleichsweise gering. • Unzureichende Ernährung Ungeachtet der Dominanz des primären Sektors sind verbreitete Unter- und Mangelernährung bis hin zu Hungerkatastrophen für Hunderte von Millionen Menschen in der Dritten Welt zur Zeit und auch in absehbarer Zukunft bittere Realität. Schätzungen bewegen sich zwischen 400 und 880 Millionen. Viele Entwicklungsländer sind bisher nicht in der Lage, ihre wachsende Bevölkerung aus eigener Kraft ausreichend zu versorgen. In der Getreideversorgung zum Beispiel sind sie immer abhängiger geworden von Importen aus dem Norden, insbesondere aus Nordamerika. Andere Entwicklungsländer, vor allem in Asien, haben dagegen unter anderem mit Hilfe der "Grünen Revolution" (Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität durch neue Anbaumethoden, insbesondere neue Sortenzüchtungen) ihre Nahrungsmittelproduktion weit über das Bevölkerungswachstum hinaus steigern können. Das Ernährungsproblem besteht nicht nur in einer hinreichenden Produktion und entsprechenden Anreizen, wie einer Reform der Agrarstruktur und einer erzeugerfreundlichen Preispolitik. Es besteht darüber hinaus auch in einer angemessenen Verteilung der Nahrungsmittel, das heißt, daß die Versorgung insbesondere auch für die ärmsten Teile der Bevölkerung gesichert wird. • Gesundheitsmängel und unzureichende medizinische Versorgung Auch bei diesem für die Lebensqualität des einzelnen zentralen Merkmal handelt es sich sicherlich nicht nur und nicht einmal vorrangig um einen ökonomischen Faktor, auch wenn mangelnde Gesundheit sich zum Beispiel auf die Qualität des Produktionsfaktors Arbeit negativ auswirkt. Die Verbreitung von Krankheiten in der Dritten Welt wird unter anderem beeinflußt von der unzureichenden Ernährung, aber auch von den Wohnverhältnissen, den hygienischen Verhältnissen und insbesondere dem fehlenden schnellen Zugang zu einwandfreiem Trinkwasser in ausreichender Menge, was vor allem für große Teile der Landbevölkerung in den Entwicklungsländern gilt. Die medizinische Versorgung ist trotz beachtlicher Erfolge vor allem bei der Seuchenbekämpfung noch mangelhaft, wobei wiederum die Landbevölkerung am schlechtesten versorgt ist. Als grober Indikator wird häufig herangezogen, auf wieviel Einwohner ein Arzt entfällt: Zum Beispiel kommt ein Arzt in den westlichen Industrieländern auf 380 Einwohner, in den Entwicklungsländern insgesamt auf etwa 5000 Einwohner und in Subsahara-Afrika sogar auf etwa 24000 Einwohner, wobei noch die ungleiche Verteilung im Land zu berücksichtigen ist. Allein die Zahl der jährlich an Malaria Sterbenden wird auf 1,5 bis drei Millionen Menschen geschätzt. Auch Aids ist vorrangig ein Problem der Entwicklungsländer (insbesondere in Afrika, aber auch Asien), auf die 90 Prozent der Neuinfektionen entfallen. Außenwirtschaft Als wichtige Merkmale der außenwirtschaftlichen Beziehungen der Dritten Welt werden angeführt: • Ausrichtung auf die Industrieländer Die Produktionsstruktur der Entwicklungsländer sei - so die Kritiker - zu stark an den Märkten der Industrieländer orientiert, und der Außenhandel werde vor allem mit den westlichen Industrieländern abgewickelt. Dies führe nicht nur zu starker Abhängigkeit von der westlichen Wirtschaftsentwicklung, sondern auch zu einer dualen Wirtschaftsstruktur in der Dritten Welt. Häufig existiere ein kleiner, moderner, leistungsfähiger Exportsektor, der aber als Fremdkörper in der überwiegend traditionellen Wirtschaft wirke. Zudem sei gerade der moderne Sektor meist von multinationalen Konzernen beherrscht und werde damit direkt von deren Zentralen in den Industrieländern gesteuert. • Einseitige Exportpalette Die Exportpalette der meisten Entwicklungsländer ist einseitig zusammengesetzt mit einem hohen Anteil mineralischer und agrarischer Rohstoffe und wenigen Halb- und Fertigwaren, insbesondere wenigen Industrieerzeugnissen. Bei einer Reihe von Entwicklungsländern stammt der überwiegende Teil der Exporterlöse sogar nur aus dem Verkauf eines Produktes, wie zum Beispiel im Falle Burundis von Kaffee oder Libyens von Erdöl. Daraus folgt eine extreme Empfindlichkeit gegenüber Nachfrageschwankungen bei diesen Produkten und ihrer Preisentwicklung auf dem Weltmarkt. • Verschlechterung der Terms of Trade Die Terms of Trade sind das in gleichen Währungseinheiten ausgedrückte Austauschverhältnis von Exporten und Importen eines Landes. Eine preisbezogene Verschlechterung der Terms of Trade bedeutet, daß ein Land für die gleiche Menge seiner Exportgüter (zum Beispiel Rohstoffe) nur eine geringere Menge seiner Importgüter (zum Beispiel Fertigwaren) beziehen kann, etwa weil die Preise seiner Importgüter stärker als die seiner Exportgüter gestiegen sind. Verbreitet ist die These, die Terms of Trade hätten sich für die Dritte Welt langfristig verschlechtert. Zwischen Industrie- und Entwicklungsländern fände ein ungleicher Tausch zu Lasten der letzteren statt. Auch wenn die Diskussion um die Entwicklung und Wirkungen der Terms of Trade bis heute anhält, hat sich für die Dritte Welt eine allgemeine und anhaltende Verschlechterung nicht nachweisen lassen. Zu beachten ist, daß man durch die Wahl des Ausgangsjahres das Ergebnis der Terms-of-Trade-Veränderungen stark beeinflussen kann. Die Terms of Trade haben sich entsprechend der Zusammensetzung der Ex- und Importe für die einzelnen Entwicklungsländer und der zugrundegelegten Zeiträume sehr unterschiedlich entwickelt. Sie haben sich zum Beispiel für die Ölexportländer langfristig stark verbessert, während sie sich für die Rohstoffexporteure allgemein eher verschlechtert haben. • Hohe Auslandsverschuldung Auslandsverschuldung ist grundsätzlich ein Mittel, den Engpaß einer zu geringen Kapitalbildung im Inland durch Rückgriffe auf Auslandskapital zu mildern und sich über eigene Exporterlöse hinaus Devisen, also Geld in fremden Währungen, für den Import zum Beispiel ausländischer Investitionsgüter (Maschinen usw.) zu verschaffen. Werden die ausländischen Kredite so verwendet, daß die damit bewirkte Produktions- und Exportsteigerung die für den Schuldendienst (Verzinsung und Rückzahlung) erforderlichen Mittel übersteigt, erscheint die Kreditaufnahme für das Schuldnerland sinnvoll. In der Dritten Welt ist die Auslandsverschuldung seit den siebziger Jahren dramatisch angewachsen. Bereits zwischen 1970 und 1980 hat sich die Gesamtverschuldung der Entwicklungsländer vervielfacht. Zu Beginn der achtziger Jahre führte der nochmalige explosive Anstieg der Schuldenlast in Verbindung mit ungünstigen weltwirtschaftlichen Bedingungen zum offenen Ausbruch der "Schuldenkrise", die auch westliche Gläubigerbanken mit hohen Kreditanteilen in der Dritten Welt zu ruinieren drohte. Die wichtigsten Ursachen waren: die Ölpreissteigerung für die ölimportierenden Entwicklungsländer; der Preisverfall für wichtige Rohstoffe der Dritten Welt und zunehmende Handelshemmnisse der Industrieländer gegenüber Fertigwarenexporten der Entwicklungsländer im Gefolge der weltwirtschaftlichen Rezession (krisenhafter Abschwung der Wirtschaft); zeitweilig extremer Zinsanstieg, ausgelöst durch die Hochzinspolitik der USA; teilweise auch die unwirtschaftliche Verwendung der Kreditmittel durch Entwicklungsländer (zum Beispiel für Prestigeobjekte oder Waffenkäufe) und eine unverantwortliche, da zu wenig risikobewußte Kreditvergabe westlicher Banken. Betrug die Gesamtverschuldung der Entwicklungsländer im Jahre 1980 nach Angaben der Weltbank 647 Milliarden US-Dollar, so hatte sich 1990 der Betrag mit 1510 Milliarden US-Dollar weit mehr als verdoppelt und erreichte 1995 2068 Milliarden US-Dollar. Der Grad der Verschuldung ist in der Dritten Welt sehr unterschiedlich. Spitzenreiter sind Brasilien (1993: 133 Milliarden US-Dollar) und Mexiko (1993: 118 Milliarden US-Dollar), wie ohnehin regionalbezogen der Hauptteil der Verschuldung auf die wirtschaftlich schon weiter entwickelten Länder Lateinamerikas (1993: 29 Prozent) entfällt, allerdings mit sinkender Tendenz. Die absolute Höhe der Verschuldung sagt noch wenig über die Fähigkeit aus, den Schuldendienst zu leisten und die damit verbundene Belastung zu tragen. Aussagefähiger ist in dieser Hinsicht die Schuldendienstquote, die den Prozentsatz der Exporterlöse angibt, der für den Schuldendienst (Zinsen und Tilgung) aufgebracht werden muß. Sie betrug nach Angaben der Weltbank 1993 für die Schuldenspitzenreiter Brasilien 24 Prozent und Mexiko 32 Prozent, wurde aber noch von Argentinien mit extremen 46 Prozent übertroffen. Bei der Schuldendienstquote zeigt sich aber auch, daß Länder, deren absolute Verschuldung nicht besonders hoch erscheint, unter der Last dieser Schulden noch härter zu leiden haben. So erreichte zum Beispiel das zu den "am wenigsten entwickelten Ländern" zählende Uganda 1993 144 Prozent. Die Verschuldungskrise der Dritten Welt wirkt derzeit insgesamt etwas stabilisiert und damit weniger bedrohlich, aber sie ist ein weiterhin ungelöstes Problem. Ökologische Probleme Vielfach hat die Dritte Welt mit ähnlichen Umweltproblemen zu kämpfen, wie sie aus den Industrieländern bekannt sind, insbesondere mit den Folgeproblemen von Industrialisierung, Verstädterung und chemiegestützter Landwirtschaft. Das Tempo dieser Veränderungsprozesse und der teilweise armutsbedingte weitgehende Verzicht auf ökologische Auflagen und Schutzmaßnahmen führen aber zu einer enormen Verschärfung der Umweltprobleme. Hinzu kommt, daß es sich in der Dritten Welt teilweise um besonders empfindliche, störanfällige Ökosysteme handelt. Jährlich gehen in den Entwicklungsländern etwa 20 Millionen Hektar landwirtschaftlich nutzbarer Fläche durch die Abtragung fruchtbarer Erde (Bodenerosion) verloren, und die Wüste erobert circa sechs Millionen Hektar (Desertifikation). Die tropischen Regenwälder, die auf nur noch etwa sechs Prozent der Erdoberfläche circa 40 Prozent der biologischen Artenvielfalt beherbergen, gehen aufgrund von Edelholzeinschlag und Brandrodung dramatisch zurück. Die Tropenwälder binden als "globale Lungen" unter anderem Kohlendioxid (CO2), und die Abholzung des Waldes ("Kahlschlag") trägt nach Meinung vieler Fachleute zur langsamen Klimaerwärmung bei. Dadurch werden wiederum niedrig gelegene Länder mit Überflutungskatastrophen ganz neuen Ausmaßes bedroht. Die starke Zunahme künstlich bewässerter landwirtschaftlicher Nutzflächen und die wachsende Verunreinigung und Vergiftung von Wasser führen zu einer gefährlichen Verknappung nutzbaren Wassers. Die Neubewertung des kostbaren Rohstoffes Wasser, der durch grenzüberschreitende Flüsse verteilt wird, droht bei Eingriffen in den Naturkreislauf (zum Beispiel Stauwerke) zu gewaltsamen Konflikten zwischen Staaten zu führen. Den Hintergrund dafür bilden unter anderem Armut und Bevölkerungsdruck in der Dritten Welt,ie damit verbundene Überlastung des Bodens, etwa durch Überweidung, forcierte Erschließung neuer landwirtschaftlich nutzbarer Flächen zum Beispiel durch Abholzung der Wälder und die verstärkte Nutzung von Holz als Brennstoff. An den wachsenden Umweltproblemen der Dritten Welt sind aber häufig auch die Industrieländer direkt oder indirekt beteiligt. Ein besonders abstoßendes neues Beispiel ist der "Mülltourismus", bei dem unter Ausnutzung der Notlage und vielfach mit Hilfe von Korruption häufig gefährliche Abfallstoffe aus Industrieländern in Entwicklungsländer exportiert und dort gelagert werden. Zu berücksichtigen ist auch, daß Umweltbelastungen, zum Beispiel durch Energie- und Rohstoffverbrauch, pro Kopf gerechnet in den Industrieländern um ein Vielfaches höher liegen als in den Entwicklungsländern und die Industrieländer damit ein miserables Vorbild abgeben. Wenn bestimmten Entwicklungsländern nicht nur aus Eigeninteresse, sondern auch aus globalen Umweltüberlegungen ökonomische Nutzungsverzichte, zum Beiiel Schutz der tropischen Regenwälder, zugemutet werden, ergibt sich zwingend die Frage nach einem ökonomischen Nutzenausgleich. Extremes Bevölkerungswachstum Als eines der Schlüsselprobleme der Welt, vor allem der Entwicklungschancen der Dritten Welt, erweist sich das extreme Bevölkerungswachstum im 20. Jahrhundert. Der medizinische Fortschritt, insbesondere bei der Seuchenbekämpfung, hat auch in den Entwicklungsländern zu einem Rückgang der Sterbeziffer (Zahl der Verstorbenen pro 1000 Einwohner) geführt. Anders als in den Industrieländern ist die Geburtenziffer nicht im entsprechenden Maße abgesunken, auch wenn sie rückläufig ist. Die Folge ist ein jährliches Wachstum der Weltbevölkerung von derzeit noch 1,7 Prozent, das seinen Höhepunkt von 2,2 Prozent aber überschritten hat und weiter absinken dürfte. Selbst eine Wachstumsrate von 1,7 Prozent führt in etwa 40 Jahren zu einer Verdoppelung der Bevölkerung. Für das Jahr 2000 wird mit einer Weltbevölkerung von 6,1 Milliarden Menschen gerechnet. Davon dürften über 80 Prozent in der Dritten Welt leben. Unter der optimistischen Annahme, daß die Zahl der Kinder pro Frau bis etwa Mitte des nächsten Jahrhunderts auf difür die Reproduktion erforderliche Zahl von 2,1 abnimmt, hat die Weltbank geschätzt, daß die Weltbevölkerung sich erst etwa im Jahre 2150 bei 12,1 Milliarden Menschen stabilisieren würde. Seit der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts betrifft der Bevölkerungszuwachs vor allem die Dritte Welt. Seine Chancen und Risiken werden unterschiedlich bewertet, wobei auch die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen (Bevölkerungsdichte, Verfügbarkeit von landwirtschaftlich nutzbaren Flächen) eine Rolle spielen. Positiv wird das mit wachsender Bevölkerung größer werdende Potential an menschlicher Kreativität hervorgehoben. Auf der Negativseite stehen die mit einer großen Kinderzahl verbundenen Belastungen (Nahrung, Wohnungen, Schulen), die enormen Investitionen für die erforderlichen Arbeitsplätze und die Gefahr einer Überlastung der natürlichen Ressourcen. Das bisherige, durchaus beachtliche wirtschaftliche Wachstum der Dritten Welt ist bei einer Pro-Kopf-Betrachtung aufgrund des Bevölkerungswachstums etwa halbiert worden. Die meisten Entwicklungsländer streben daher eine Verringerung des Bevölkerungswachstums an, weil dieses "unter dem Strich" als ein wichtiger Hemmfaktor für Entwicklungsprozesse gilt. Mögliche Mittel dafür sind die Heraufsetzung des Heiratsalters und die Verringerung der Geburtenzahl mit Hilfe verstärkter Familienplanung (Empfängnisverhütung). Zu berücksichtigen ist aber, daß es bei der Frage der Familiengröße um grundlegende Entscheidungen im Intimbereich des Menschen geht. Der staatliche Einfluß in diesem Bereich ist hinsichtlich moralischer Legitimation, zulässiger Instrumente und Wirksamkeit umstritten. Bisherige Erfahrungen zeigen, daß es für die Verringerung der Geburtenzahl in hohem Maße auf eine Veränderung der Rahmenbedingungen ankommt. Eine allgemeine Erhöhung der Lebensqualität, breitere Bildung, eine Verbesserung der Situation der Frauen, verringerte Kindersterblichkeit, eine nicht mehr allein auf eine große Kinderzahl gestützte Altersversorgung, aber auch Mentalitätsveränderungen, zum Beispiel weg von der Fixierung auf männliche Nachkommen, sind wichtige Faktoren. Die Erfolge der Bevölkerungspolitik, insbesondere der Rückgang der Kinderzahl pro Frau, sind in den einzelnen Entwicklungsländern und Weltregionen sehr unterschiedlich und am geringsten in den Ländern Afrikas südlich der Sahara. Da die Geburtenrate nur sehr langsam zurückgeht, kann der Zeitfaktor gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Der Altersaufbau der Bevölkerung in den Entwicklungsländern - etwa die Hälfte ist unter 20 Jahre - sorgt dafür, daß die Zahl der Frauen, die in das gebärfähige Alter kommen, noch lange zunehmen wird. • Geringere Lebenserwartung Als direkte Folge von Ernährungsmängeln und unzureichender medizinischer Versorgung, aber auch größerer Gewaltbereitschaft (zum Beispiel Kriminalität, ethnische Konflikte) ist die durchschnittliche Lebenserwartung in den Entwicklungsländern 1992 mit 63 Jahren um etwa 13 Jahre niedriger gewesen als in den westlichen Industrieländern. Der wichtige Indikator Lebenserwartung belegt in allen Südregionen beachtliche, wenn auch unterschiedliche Fortschritte. Ihr jetziges Durchschnittsniveau ist in den heutigen Industrieländern erst nach 1930 erreicht worden. • Schnelle Verstädterung Zu den Merkmalen der Dritten Welt gehört nicht nur das explosive Bevölkerungswachstum, sondern auch dessen ungleiche Verteilung zwischen Stadt und Land. Obwohl die Geburtenrate in den Städten der Entwicklungsländer meist geringfügig unter der der ländlichen Regionen liegt, ist der Bevölkerungszuwachs in den Städten sehr viel größer. Dazu trägt wesentlich die Landflucht (Migration) gerade jüngerer Menschen in die Städte bei (nach Schätzungen der Weltbank etwa 25 bis 30 Prozent des Zuwachses). Auch wenn die Verstädterung nicht nur Nachteile hat (als vorteilhaft erweist sich die Konzentration von Wirtschaftsfaktoren mit geringen Transport- und Kommunikationskosten), werden vor allem die Verwaltungen der Großstädte überfordert, wenn sie die nötigen städtischen Infrastrukturleistungen bereitstellen sollen. Es kommt zu einer verstärkten Slumbildung, zu einem Anstieg der Kriminalität und zu einer enormen ökologischen Belastung der Städte, was auch während der Habitat-Konferenz 1996 in Istanbul thematisiert wurde. Dennoch ist der Sog selbst derart belasteter Ballungsräume für die mobilen Teile der Landbevölkerung verständlich, da Einkommens- und Arbeitsmöglichkeiten sowie die Versorgung mit öffentlichen Leistungen in Städten in der Regel besser sind als auf dem Lande. • Grenzüberschreitende Migration Neben der Binnenmigration haben auch grenzüberschreitende Wanderungsbewegungen zugenommen. Die Weltbank schätzt die Zahl der Menschen, die außerhalb ihres Heimatlandes leben, auf mindestens 125 Millionen und beurteilt die Arbeitsmigration ökonomisch für die Aufnahme- und Herkunftsländer wie die Betroffenen grundsätzlich positiv, auch wenn sich durch die Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte für das jeweilige Land Probleme ergeben können. Zielländer für Arbeitsmigranten sind teilweise attraktive Entwicklungsländer - zum Beispiel Südafrika für Migranten der Nachbarstaaten, die arabischen Golfstaaten für Migranten aus Ägypten -, überwiegend aber die Industrieländer. In wachsendem Maße handelt es sich aber um Flüchtlinge, deren Zahl von drei Millionen 1970 auf 27 Millionen 1994 angestiegen ist. Dabei reichen die Gründe von politischer Verfolgung über Bürgerkriege, Umweltkatastrophen bis zu allgemeiner Armut. Angesichts wachsender eigener Probleme - zum Beispiel Arbeitslosigkeit - versuchen die Industrieländezunehmend sich gegen diese Flüchtlingsströme abzuschotten. Auch für die Flüchtlinge gilt, daß insbesondere bei gewaltsamen Konflikten der größte Teil von ihnen in die benachbarten Entwicklungsländer flüchtet und für diese häufig eine kaum tragbare zusätzliche Bürde darstellt. Soziokulturelle Merkmale • Starke Orientierung an Primärgruppen Im Vergleich zu Industriestaaten gibt es in den Entwicklungsländern eine sehr viel engere Bindung an "Nahgruppen", insbesondere an die Großfamilie, aber auch an den Stamm oder das Dorf. Das hat Folgen für die Loyalität gegenüber "abstrakteren" Sozialgebilden wie dem Staat oder führt für "Besitzer" eines Arbeitsplatzes in der Verwaltung leicht zu der Verpflichtung, auch für das "Unterbringen" von Verwandten zu sorgen. • Geringe soziale Mobilität Sie ist in traditionellen Wert- und Verhaltensmustern verankert und teilweise religiös untermauert, wie zum Beispiel beim indischen Kastenwesen. Geringere soziale Mobilität wird häufig als ein Hemmschuh für den Entwicklungsprozeß angesehen, aber die Verbreitung dieses Faktors oder die Stärke seiner kulturellen Verankerung in der Dritten Welt sind umstritten. • Benachteiligung von Frauen Eine geschlechtsbezogene Privilegierung gibt es auch in den Industrieländern, aber in der Regel sind Frauen in den Entwicklungsländern wirtschaftlich, sozial, rechtlich und politisch erheblich stärker benachteiligt. So kommt der von dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen herausgegebene "Bericht über die menschliche Entwicklung 1995", der sich schwerpunktmäßig mit der Ungleichheit der Geschlechter befaßt, zu der Einschätzung, daß etwa 70 Prozent der Ärmsten auf der Welt Frauen sind, daß Frauen zwei Drittel der Analphabeten stellen und die Einschulungsrate von Mädchen erheblich niedriger liegt als die von Jungen. Bei der Berechnung eines geschlechtsbezogenen Entwicklungsindexes (GDI) mit dem Zielwert 1 (bei Gleichheit zwischen Geschlechtern) ergab sich für die Entwicklungsländer 1992 ein Wert von 0,56, der sich gegenüber 1970 mit 0,345 zwar deutlich verbessert hat, aber sowohl gegenüber dem Zielwert als auch den Werten der Industrieländer (1970: 0,689, 1992: 0,869) deutlich zurückbleibt. Wird die Mögchkeit der Frauen zur aktiven Vertretung ihrer Interessen, zum Beispiel ihre Rolle in der Politik, einbezogen, ist die geschlechtsbezogene Ungleichheit noch größer. Dabei spielen Frauen eine Schlüsselrolle im Entwicklungsprozeß, und zwar nicht nur für Familienplanung, Kindererziehung, Gesundheit und Hauswirtschaft, sondern auch bei der wirtschaftlichen Erwerbstätigkeit, insbesondere in der Subsistenzwirtschaft (Erzeugung von Produkten für den unmittelbaren Eigenverbrauch). Entwicklungschancen sind daher in hohem Maße mit einer Verbesserung der Situation der Frauen, vor allem Beseitigung der gröbsten Diskriminierungen und Investitionen in mehr Chancengleichheit, verknüpft. Dies hat auch die Vierte Weltfrauenkonferenz vom September 1995 in Peking dokumentiert, auf der u.a. Wege zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen aufgezeigt und gleiches Erbrecht für Mädchen und Jungen gefordert wurde. Politische Merkmale • Autoritärer und "schwacher Staat" Der Staat in der Dritten Welt spielt vor dem Hintergrund unzureichender Entwicklungsimpulse aus der Gesellschaft eine wichtige, aber umstrittene Rolle im Entwicklungsprozeß. Ein wichtiges Ziel vor allem der nicht auf eigene alte Staatstraditionen gestützten Entwicklungsländer Afrikas ist "nation building", die Herausbildung des Bewußtseins einer eigenen politischen Zugehörigkeit und Identität mit dem Staat als akzeptierter Handlungseinheit. Für die aus der Kolonialzeit geerbten Hindernisse sind die am Reißbrett der kolonialen Mächte gezogenen Grenzen ein prägnantes Beispiel, die vielfach auf ethnische Zugehörigkeit wenig Rücksicht nahmen, traditionelle Siedlungsgebiete von Stämmen getrennt und unterschiedlichen Staaten zugeschlagen haben. Diese Grenzen sind auch nach der staatlichen Unabhängigkeit nicht geändert worden, haben aber insbesondere in Afrika zu einer Vielzahl von Grenzkonflikten geführt. Die Formalstrukturen der Staaten der Dritten Welt sind sehr vielfältig und überwiegend entweder den Modellen westlicher Industrieländer oder den früheren kommunistischen Regimen Osteuropas nachgebildet. Sie reichen von parlamentarischen oder präsidentiellen Demokratien bis hin zu mehr oder minder offen deklarierten Diktaturen, meist Militär- oder Ein-Parteien-Regimen. Dort, wo der Anspruch, demokratisch legitimiert zu sein, offen aufgegeben wird, liegt die Rechtfertigung meist in einer "Entwicklungsdiktatur". Die Erfahrung zeigt allerdings, daß "Entwicklungsdiktaturen" die als Rechtfertigung dienende Aufgabe beschleunigter Entwicklung zugunsten der Masse der Bevölkerung fast nie erreichen und sich eher als Diktaturen ohne, wenn nicht sogar zu Lasten von Entwicklung erwiesen haben. Vor dem Hintergrund der Feststellung, daß es sich bei den Staaten der Dritten Welt häufig um autoritäre Regime oder Diktaturen handelt, wirkt es auf den ersten Blick paradox, daß Gunnar Myrdal für die Entwicklungsländer den Begriff des "schwachen Staates" geprägt hat und ihn für ein herausragendes Merkmal der Dritten Welt hält. Der Staat in der Dritten Welt ist "schwach" nicht zuletzt im Hinblick auf seine zentrale Aufgabe, den Entwicklungsprozeß zu fördern. Dabei wird von Myrdal Korruption als Negativfaktor herausgestellt. Bestechung ist auch in Industriestaaten nicht unbekannt und war es vor allem in früheren Entwicklungsstadien der Verwaltung nicht. Sie ist aber heute die Ausnahme, während sie in der Dritten Welt eher zur Regel gehört. Korruption wird von einigen Autoren unter dem Gesichtspunkt Wirksamkeit sogar positiv bewertet als ein unverzichtbares "Schmiermittel", das allein dafür sorgen könne, daß der schwerfällige Verwaltungsapparat wenigstens leidlich funktioniere. Demgegenüber müssen aber zwei negative Wirkungen betont werden. Korruption begünstigt diejenigen, die bestechen können, und damit in der Regel Reiche und Privilegierte. Dazu gehören nicht zuletzt auch Akteure aus Industriestaaten, zum Beispiel deutsche Unternehmen, deren Bestechungsgelder in der Dritten Welt von den deutschen Finanzämtern als Betriebsausgaben steuerlich anerkannt werden. Der zweite schwerwiegende Nachteil ist der Verlust von Vertrauen in die Verwaltung und allgemeiner der Vlust von Legitimität des Staates bei den benachteiligten Bevölkerungsteilen. Weiter gefaßt ist der Staat in der Dritten Welt häufig zum ökonomischen Beuteobjekt einer politischen Elite geworden, die aber aus Legitimitätsgründen am Entwicklungsziel offiziell festhält. Seit Anfang der achtziger Jahre sind in Lateinamerika und Ende der achtziger/Anfang der neunziger Jahre nach dem Systemwechsel im Machtbereich der früheren Sowjetunion auch in anderen Weltregionen, insbesondere in Afrika, viele Militärdiktaturen und Ein-ParteienSysteme gestürzt worden. Die Demokratisierung in vielen Entwicklungsländern bleibt aber häufig an der Oberfläche und hat die Defizite des "schwachen Staates" nicht beseitigt. Die neu entfachte Diskussion kreist weiterhin um das Interdependenzverhältnis von politischen Freiheiten und Entwicklung sowie um die angemessene Rolle des Staates als "Entwicklungsagentur". Dabei wird zum Beispiel die Forderung nach Reduzierung eines häufig aufgeblähten Verwaltungsapparates sowie nach verstärkter Deregulierung und nach Privatisierung erhoben. Gute Staatsführung (good governance) - konkretisiert insbesondere als größere Verwaltungseffizienz, Rechenschaftspflicht staatlicher Akteure, rechtsstaatliche Rahmenbedingungen und mehr Transparenz des Staatshandels - wirdnzwischen als Ziel und wichtiger Entwicklungsfaktor allgemein anerkannt, kontrastiert aber weiterhin mit der Realität der meisten Entwicklungsländer. • Verletzung der Menschenrechte In der Abschlußerklärung der Wiener Menschenrechtskonferenz von 1993 heißt es in Artikel 5: "Alle Menschenrechte sind universell, unteilbar, bedingen einander und hängen miteinander zusammen." Gleichwohl gibt es bereits Streit über den Rang unterschiedlicher Rechte, zum Beispiel politischer Freiheitsrechte, die in der westlichen Tradition im Verhältnis zu wirtschaftlichen und sozialen Grundrechten oder gar zu Gruppenrechten auf Entwicklung eine herausgehobene Rolle spielen. So beruft sich zum Beispiel die chinesische Regierung auf einen angeblich in der chinesischen Tradition verankerten Vorrang von Staat und Gesellschaft gegenüber individuellen Freiheitsrechten. Aber selbst wenn über die Anerkennung von grundlegenden Menschenrechten theoretisch Einigkeit besteht und die Regierungen sich zu deren Einhaltung vertraglich verpflichtet haben, bedeutet dies für die Praxis noch wenig. Wie zum Beispiel die Berichte von Amnesty International belegen, ist selbst Folter in vielen Staaten der Erde verbreitet, wiederumit Schwerpunkt in Entwicklungsländern. Im "Bericht über die menschliche Entwicklung 1992" ist der methodisch schwierige und umstrittene Versuch unternommen worden, die politischen Freiheitsrechte in einem Index meßbar zu machen. Dabei sind die Elemente 1. persönliche Sicherheit, 2. Rechtsstaatlichkeit, 3. Meinungsfreiheit, 4. politische Beteiligung und 5. Chancengleichheit berücksichtigt worden. Ungeachtet der methodischen Vorbehalte ergibt sich in der Tendenz ein hohes Maß an Parallelität von wirtschaftlicher Entwicklung und politischer Freiheit, obwohl in Einzelfällen auch Entwicklungsländer mit geringem wirtschaftlichen Entwicklungsstand ein hohes Maß an politischer Freiheit verwirklicht haben. Für die Entwicklungsländer insgesamt ergab sich bei dem Zielwert von 100 ein Indexwert von 51,3 gegenüber 90,1 für die Industrieländer. Menschenrechte sind unteilbar Fünfundvierzig Jahre nach Verkündigung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hält die Diskussion über die Bedeutung mancher ihrer Artikel an. Der Streit verläuft nicht allein zwischen dem Westen und der Dritten Welt. Auch im Westen interpretieren nicht alle Länder jeden einzelnen der dreißig Artikel der Deklaration übereinstimmend. Natürlich besteht die Gefahr, daß Diktatoren die Vielfalt als Schild mißbrauchen. Das ist unzulässig. Unser Ziel muß daher sein, Normen menschlichen Verhaltens zu fördern, ohne gleichzeitig exklusive Wahrheiten zu beanspruchen oder besondere politische Systeme oder gesellschaftliche Lebensformen anderen aufzuzwingen. Die Vielfalt kann grobe Verstöße gegen die Menschenrechte nicht rechtfertigen. Ein Mord ist ein Mord - ob er nun in Amerika, in Asien oder in Europa begangen wird. Niemand beansprucht die Folter als Teil des kulturellen Erbes. Aber alle Kulturen streben danach, die menschliche Würde auf ihre eigene Weise zu fördern. Der harte Kern der tatsächlich universellen Rechte ist womöglich kleiner, als wir mitunter vorgeben. Viele Rechte basieren noch immer auf heftig umstrittenen Konzepten. Die Normen und Ideale verschiedener Gesellschaften weichen voneinander ab; sie gründen in einer unterschiedlichen Geschichte. Sogar in ein und derselben Gesellschaft verändern sie sich mit den Jahren. Die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich brauchten 200 Jahre oder länger, um sich zu echten Demokratien zu entwickeln. Dürfen wir da erwarten, daß die Bürger vieler erst seit kurzem unabhängigen Länder binnen weniger Jahre dieselben Rechte genießen - zumal die wirtschaftlichen, sozialen und bildungsmäßigen Voraussetzungen dafür noch weitgehend fehlen? Menschenrechte werden von den Völkern nicht akzeptiert, wenn sie als Hindernisse für den Fortschritt betrachtet werden. Einige Eiferer täten gut daran, diese Tatsache zu berücksichtigen. Es gibt Belege dafür, daß in gewissen Phasen der Entwicklung eines Landes eine Überbetonung der Individualrechte kontraproduktiv wird. In jeder Gesellschaft sind Zwänge nötig. Die Ausübung von Rechten muß ausbalanciert sein mit der Last der Verantwortung. Völlige Freiheiten machen den einzelnen nicht so sehr zum Menschen, sondern zum Tier, das allein dem Gesetz des Dschungels unterworfen ist. Singapurs politische und soziale Ordnung ärgert einige ausländische Kritiker. Sie stimmt nicht mit den Theorien überein, wie sich Gesellschaften vernünftig organisieren. Wir greifen auf eine Weise ein, um das soziale Verhalten des einzelnen zu verändern, die andere Länder als bevormundend empfinden. Wir entschuldigen uns nicht für das, was wir für richtig halten - trotz aller Kritiker von außen. Wir sind verantwortlich für Singapurs Zukunft. Wir rechtfertigen uns vor unserem eigenen Volk, nicht vor abstrakten Theorien oder vor Ausländern. Entscheidend erscheint nur der praktische Erfolg. Wong Kan Seng, ”Wir entschuldigen uns nicht”, in: Theo Sommer (Hg.), Zeitpunkte: Menschenrechte. Das uneingelöste Versprechen, Nr. 2/1993, Hamburg 1993, S. 95. - Wong Kan Seng ist Außenminister von Singapur. Die Menschenrechte sind das gemeinsame - und kostbare - Erbe der Menschheit. Es ist keine Übertreibung zu sagen, daß sie unser wahres Menschsein definieren. Diese Weltkonferenz beschäftigt sich also mit fundamentalen Fragen. Ich bin deshalb nicht überrascht, daß die Vorbereitungen so schwierig waren. Nicht nur Meinungsverschiedenheiten, auch Mißverständnisse sind unvermeidbar. Das größte Mißverständnis beruht darin, in der Universalität der Menschenrechte eine Drohung zu sehen oder eine Waffe. Sie sind weder das eine noch das andere. Universalität ist eine Stärke, die uns in unserer kulturellen und sozialen Vielfalt und in den gänzlich unterschiedlichen Wirtschaftsbedingungen vereint. Beweis dafür ist, daß die universellen Normen der Menschenrechte im Herzen aller großen Religionen und Kulturen zu finden sind. Begriffe wie ”regionale Besonderheiten” bei den Menschenrechten bezeichnen deshalb eine Wirklichkeit. Aber sie sollten uns vereinen und uns dadurch bereichern, daß sie die Universalität fördern. Wenn Regierungen behaupten, daß regionale Unterschiede es rechtfertigen, dem Volk die Menschenrechte vorzuenthalten, dann wird dies von den betroffenen Menschen nicht hingenommen. Versuche, regionale Unterschiede in diesem Sinne zu instrumentalisieren, sind für meine Regierung deshalb nicht akzeptabel. Manche hier werden sagen, daß der Respekt vor den Menschenrechten hinter der Entwicklung zurückstehen muß. Mit Verlaub, dies ist Unfug. Ich erkenne an, daß Menschenrechte und wirtschaftlicher Wohlstand miteinander verknüpft sind. Natürlich sind sie es. Aber das bedeutet, daß sie sich gegenseitig unterstützen und gemeinsam wachsen. Achtung vor den Menschenrechten ist genausowenig ein beliebiger Luxus wie die Entwicklung selber. Tatsächlich wird mangelnde Achtung der Menschenrechte den wirtschaftlichen Fortschritt schneller zunichte machen als fast alles andere. Douglas Hogg, ”Vereint in der Vielfalt”, in: a.a.O., S. 96. - Douglas Hogg ist Staatsminister im britischen Außenministerium. • Gewaltsame Konflikte und hohe Rüstungsausgaben Gewaltsam ausgetragene Konflikte sind keineswegs ein "Monopol" der Entwicklungsländer, aber die Bevölkerung in der Dritten Welt hat unter zwischenstaatlichem und innerstaatlichem Gewalteinsatz sehr viel stärker zu leiden als die der Industrieländer. So hat die OECD (Abk. f. engl.: Organization for Economic Cooperation and Development, Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) in einer weiten Definition allein 1992 und 1993 160 Konfliktfälle gezählt, überwiegend innerstaatliche Konflikte, die wiederum Flucht und Vertreibung auslösen. Eine wichtige Ursache ist sicher in der schon genannten politischen Struktur - autoritäre und zugleich schwache Staaten mit hohem Gewalteinsatz und mangelnder Stabilität - der Entwicklungsländer zu suchen. Häufig waren an den Konflikten direkt oder zumindest indirekt auch die Industriestaaten beteiligt. Eine indirekte Beteiligungsform ist der Rüstungsexport der Industrieländer in die Entwicklungsländer. In einer Reihe von Entwicklungsländern, zum Beispiel Brasilien, ist aber auch eine beachtliche eigene Rüstungsindustrie aufgebaut worden. Diese Länder sind inzwischen selbst am Rüstungsexport in andere Staaten der Dritten Welt beteiligt. Die Rüstungsausgaben der Entwicklungsländer wurden Anfang der neunziger Jahre auf jährlich 150 bis 200 Milliarden US-Dollar und damit auf etwa vier Prozent des BSP geschätzt. Der Anteil der Rüstungsimporte an der gesamten Auslandsverschuldung der Dritten Welt ist auf 20 bis 30 Prozent taxiert worden. Selbst wenn den Entwicklungsländern grundsätzlich das gleiche Recht auf militärische Sicherheit zugestanden werden muß wie den Industrieländern, bleibt es doch höchst fragwürdig, ob mit einer derartigen Rüstungssteigerung nach außen wie nach innen wirklich mehr Sicherheit erkauft werden kann. Jedenfalls wirkt es makaber, wenn einige Entwicklungsländer für die Rüstung einen höheren Haushaltsanteil ausgeben als für Gesundheit und Erziehung zusammen. Dieser Aspekt wird zunehmend au international diskutiert. "Teufelskreis der Armut" Viele der genannten Merkmale beeinflussen sich gegenseitig so, daß sie sich ringförmig verstärken. Es sind daher unterschiedliche Kausalketten konstruiert worden, die als circulus vitiosus oder Teufelskreis bezeichnet werden. Der Begriff Teufelskreis soll verdeutlichen, daß es sich um negative Verstärkerkreise handelt, aus denen nur schwer auszubrechen ist. Das heißt selbstverständlich nicht, wie auch bisherige Erfahrungen belegen, daß es unmöglich ist. Schließlich lassen sich Teufelskreise logisch auch umdrehen und als positive Verstärkerkreise deuten, wenn es gelingt, einen der im Teufelskreis angenommenen Wirkungsfaktoren positiv zu verändern. Teufelskreise beantworten zudem auch nicht die Frage nach den grundlegenden Ursachen von Unterentwicklung. ”Gutes Regierungshandeln” Eine neue Diskussion begann unter dem Stichwort ”good governance” - gute Regierungsführung. Die UN-Generalversammlung, in der im Dezember 1990 verabschiedeten Strategie für die ”Vierte Entwicklungsdekade”, forderte eine stärkere Mitwirkung aller Menschen am politischen und wirtschaftlichen Leben und die Achtung der Menschenrechte. [...] Die deutsche Entwicklungspolitik nahm schon frühzeitig an dieser Diskussion teil. [...] Im Januar 1991 übernahm Carl-Dieter Spranger die Leitung des Ressorts, im Oktober verkündete er die ”neuen politischen Kriterien der deutschen Entwicklungszusammenarbeit”: 1. Beachtung der Menschenrechte; 2. Beteiligung der Bevölkerung am politischen Prozeß; 3. Gewährleistung von Rechtssicherheit; 4. marktfreundliche Wirtschaftsordnung; 5. Entwicklungsorientierung des staatlichen Handelns. An diesen Kriterien orientiert sich seither die deutsche Entwicklungszusammenarbeit (EZ): Ländern, deren interne Strukturen den Kriterien nicht entsprechen, soll künftig keine Hilfe mehr gewährt werden; Länder, die entsprechende Reformen einleiten wollen, sollen dazu gezielt deutsche Hilfe erhalten. Auf ähnliche Kriterien haben sich auch andere Geberländer festgelegt. Das bedeutet einen grundsätzlichen Wandel der Entwicklungshilfe. Hatte man früher versucht, den Bauern in einer Region moderne Produktionsmethoden beizubringen, nur um dann zu erleben, daß die falsche Agrarpreispolitik der Partnerregierung die Ergebnisse zunichte machte, so würde man heute eher auf eine Reform der Agrarpolitik setzen. Hatte man früher Handwerkern des informellen Sektors bessere Werkzeuge verschafft, so würde man heute die restriktive Lizensierungspolitik des zuständigen Industrieministeriums zu liberalisieren suchen und zugleich ein Banksystem aufbauen, das auch kleinen Handwerkern Kredite vermittelt und ihnen so ermöglicht, ihre Werkzeuge selbst zu kaufen. In Ghana beispielsweise führte ein Programm der Weltbank zur Reform der Finanzverwaltung dazu, daß nicht nur die Lohnempfänger, sondern auch die Reichen Steuern zahlen mußten, und daß sich in vier Jahren das Steueraufkommen verdoppelte. Die Einführung von Verwaltungsgerichten, die Stärkung von Rechnungshöfen, die Reorganisation von Administrationen, aber auch die Unterstützung von Selbstverwaltungskörperschaften und Selbsthilfeorganisationen gehören zu den Maßnahmen, die heute favorisiert werden. Reinold E. Thiel, ”Die Hilflosigkeit der Entwicklungspolitik”, in: Internationale Politik Nr. 4/1996, S. 9 f.