Grundlegende Probleme der Entwicklungsländer

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Grundlegende Probleme der Entwicklungsländer
Streit um Begriffe
Der Begriff "Entwicklungsländer" ist sicherlich sprachlich problematisch. Er hat die früher verwendeten Begriffe "rückständige" (backward),
"unterentwickelte" (underdeveloped) und "nichtentwickelte Länder" (undeveloped countries) abgelöst, die als zu wertbehaftet und für die
Repräsentanten dieser Länder als verletzend galten. Kritiker wie der schwedische Ökonom Gunnar Myrdal haben allerdings darauf
hingewiesen, daß auch der Begriff "Entwicklungsländer" vorbelastet sei und zu Fehlschlüssen verleite. Er unterstelle in unangemessen
optimistischer Weise, daß diese Länder sich tatsächlich entwickelten. Dabei sei doch gerade die Frage, ob und wie sie sich entwickelten,
klärungsbedürftig. Dieser Hinweis ist sicherlich berechtigt, zumal die sich wirtschaftlich am stärksten entwickelnden Länder häufig die
Industrie- und nicht die Entwicklungsländer sind, auch wenn letztere das Ziel Entwicklung auf ihre Fahnen geschrieben haben. Insofern ist
der teilweise im angelsächsischen Sprachgebrauch verwendete Begriff "less deloped countries" (weniger entwickelte Länder) angemessener.
Angemerkt werden soll in diesem Zusammenhang, daß auch die Bezeichnung "Industrieländer" der zunehmend vom Dienstleistungssektor
und neuerdings von der "Informationsgesellschaft" geprägten "postindustriellen" Realität dieser Länder nicht mehr gerecht wird, gleichwohl
aber weiter verwendet wird.
"Dritte Welt"
Der Begriff "Dritte Welt" wird meist historisch auf die Einteilung in Erste Welt (westliche Industrieländer) und Zweite Welt (östliche
Industrieländer) bezogen, so daß die Entwicklungsländer dann als historisch jüngste Ländergruppierung als Dritte Welt erscheinen. Er ist
nicht etwa im Sinne einer Rangordnung ("drittrangig") zu verstehen. Einige Autoren haben den Begriff Dritte Welt auch verwendet, um
damit die Einheit dieser Ländergruppe zu betonen. Andere haben die ärmste Teilgruppe, die "am wenigsten entwickelten Länder", noch als
"Vierte Welt" ausgegliedert. Mit dem Ende des kommunistischen Ostblocks - Zweite Welt - und der Auseinanderentwicklung der
Entwicklungsländer, also der Pluralisierung der Dritten Welt, haben verschiedene Autoren auch das Ende der Dritten Welt verkündet und
sich gegen eine Weiterverwendung dieses Begriffes ausgesprochen.
Aber auch die mögliche Alternative, der "Süden", ist problembehaftet. Nicht nur die geographische Zuordnung ist ungenau, da sich
beispielsweise die wohlhabenden Staaten Australien und Neuseeland auf der Südhalbkugel befinden. Auch hier gilt der Einwand, daß mit der
Rede von "dem" Süden das Mißverständnis einer faktisch nicht oder nicht mehr vorhandenen Interessenidentität und Handlungseinheit der
Entwicklungsländer nahegelegt wird. Die gleichen Vorbehalte gelten aber auch für die Begriffe Erste Welt oder "Norden". Hinzuweisen ist
auch darauf, daß mit dem geographischen Sammelbegriff Süden selbstverständlich keine Ursachenzuordnung verbunden ist, demnach
Entwicklungsländer also nicht schon allein deshalb weniger wohlhabend sind, weil sie sich im Süden befinden. Die drei diskutierten Begriffe
werden trotz wachsender Kritik überwiegend weiter verwendet - was auch hier geschehen soll -, weil sie in den Sprachgebrauch eingegangen
sind und eindeutig bessere Alternativen fehlen. Man sollte sich aber der mit ihnen vbundenen Problematik bewußt sein.
Der Begriff Entwicklungsländer führt auch zu der inhaltlichen Frage, was unter Entwicklung zu verstehen ist. Die Annahme,
selbstverständlich könne das Ziel nur eine "nachholende" Entwicklung nach dem Modell der Industrieländer sein, ist aus zwei Gründen
höchst fragwürdig.
Zum einen erscheint es irreal, daß es allen Entwicklungsländern gelingen könnte, in absehbarer Zeit eine Entwicklung zum Industrieland
nachzuvollziehen, da viele Entwicklungsländer dafür sehr ungünstige Voraussetzungen mitbringen. Unabhängig von der Realisierbarkeit
wird vor dem Hintergrund wachsender Probleme in Industrieländern aber auch zunehmend in Frage gestellt, ob diese als nachahmenswerte
"Entwicklungsmodelle" anzusehen sind. In der Tat ist es schwer vorstellbar und sicherlich nicht wünschenswert, daß in den Industrieländern
eingetretene Fehlentwicklungen - Stichwort Überentwicklung - sich weltweit durchsetzen. Andererseits ist durchaus verständlich, daß
Warnungen vor allem von Kritikern in den westlichen Industriestaaten, die Entwicklungsländer sollten sich nicht am Modell der
Industrieländer orientieren, bei den Adressaten auf ein tiefsitzendes Mißtrauen stoßen. Allzuleicht erscheint eine solche Warnung als ein
billiger Trick der Privilegierten, ihre im Vergleich schwer bestreitbaren Vorteile möglist nicht mit den aufstrebenden Entwicklungsländern
teilen zu müssen und sich den Mühen der Konkurrenz wie auch der Überprüfung des eigenen Lebensstils zu entziehen.
Festzuhalten ist, daß unter Entwicklung sehr verschiedene Dinge verstanden werden können. Die 1977 unter Vorsitz des früheren deutschen
Bundeskanzlers Willy Brandt eingesetzte internationale "Unabhängige Kommission für internationale Entwicklungsfragen (Nord-SüdKommission)" hat Entwicklung wie folgt umschrieben: "Entwicklung ist mehr als der Übergang von Arm zu Reich, von einer traditionellen
Agrarwirtschaft zu einer komplexen Stadtgemeinschaft. Sie trägt in sich nicht nur die Idee des materiellen Wohlstands, sondern auch die von
mehr menschlicher Würde, mehr Sicherheit, Gerechtigkeit und Gleichheit." Damit wird jedenfalls deutlich, daß unter Entwicklung mehr
verstanden wird als wirtschaftliche Entwicklung im engeren Sinn, auch wenn diese einen zentralen Bestandteil von Entwicklung bildet.
Nachhaltige Entwicklung
Die wachsende Gefährdung des Ökosystems Erde hat auch ihren Niederschlag in der Entwicklungspolitik gefunden. Der Begriff
Entwicklung ist Mitte der achtziger Jahre um das präzisierende Adjektiv "dauerhaft" oder "nachhaltig" (sustainable development) erweitert
worden. Die "Weltkommission für Umwelt und Entwicklung" (Brundtland-Kommission) hat in ihrem 1987 vorgelegten, an Industrie- wie
Entwicklungsländer gerichteten Bericht folgende Definition gewählt: "Unter dauerhafter Entwicklung verstehen wir eine Entwicklung, die
den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse
zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen. Die Forderung, diese Entwicklung "dauerhaft" zu gestalten, gilt für alle Länder und
Menschen. Die Möglichkeit kommender Generationen, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, ist durch Umweltzerstörung ebenso
gefährdet wie durch Unterentwicklung in der Dritten Welt." Auf die Frage, ob diese sprachliche Neuerung ah praktische Auswirkungen auf
die Entwicklungspolitik gehabt hat, wird später eingegangen. In einem anderen Versuch ist Entwicklung betont als "menschliche
Entwicklung" definiert worden. Allgemein gilt, daß das Begriffspaar Entwicklung - Unterentwicklung mit Vorsicht zu verwenden ist, weil
bei deren Gebrauch leicht dem eigenen Kulturkreis entstammende und durchaus umstrittene Wertungen unreflektiert als
Beurteilungsmaßstab herangezogen werden und zu Pauschalurteilen führen können. Entwicklungsländer haben im Vergleich zu
Industrieländern in der Lebensqualität unbestreitbare Defizite und besondere Probleme. Sie sind in diesem eingegrenzten Sinn
unterentwickelt, wobei die Frage der Ursachen noch offen bleibt. Sie sind aber keineswegs auf allen Gebieten unterentwickelt oder
"rückständig" - einige Entwicklungsländer können zum Beispiel auf jahrtausendealte Hochkulturen zurückblicken. Auf der Ebene
menschlicher Begegnungen besteht ohnehin kein Anlaß zu Gefühlen allgemeiner Überlegenheit oder Herablassung bei Angehörigen von
Industriestaaten.
Ökonomische Merkmale
• Geringes Bruttosozialprodukt pro Kopf
Als Maßstab für die durchschnittliche wirtschaftliche Situation der Bevölkerung wird meist das durchschnittliche Bruttosozialprodukt (BSP)
pro Kopf herangezogen. Die Messung des BSP pro Kopf ist aber - und dies gilt für andere Merkmale teilweise in noch stärkerem Maße - mit
methodischen Problemen verbunden, die die Aussagekraft einschränken und die bei der Verwendung berücksichtigt werden sollten.
Eine Schwierigkeit ist bereits die Erfassung des BSP, die wenig zuverlässig und teilweise auf Schätzungen (relativ bedeutsamer Anteil der
Selbstversorgung in Entwicklungsländern) angewiesen ist. Der statistische Apparat in Entwicklungsländern ist häufig unzulänglich. Hinzu
kommt, daß die in nationaler Währung gemessenen BSP-Werte - zum Beispiel Indiens und Tansanias - für Vergleichszwecke auf eine
gemeinsame Basis umgerechnet werden müssen. Die dabei verwendeten Wechselkurse der Währungen unterliegen starken Schwankungen.
Sie ergeben sich vor allem durch den Außenhandel, der viele Güter und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs - zum Beispiel
Friseurleistungen - nicht erfaßt. Die Wechselkurse sind daher ein eher problematischer Maßstab für die eigentlich interessierende Größe, die
Kaufkraft der Währungen. Untersuchungen der Weltbank und der UNO, mit denen versucht wurde, die Kaufkraft für wichtige Güter und
Dienstleistungen genauer zu vergleichen, ergaben, daß die reale Kaufkraft der Entwicklungsländer durcchnittlich um das Zwei- bis Dreifache
höher ist, als sich bei der Umrechnung zu Wechselkursen ergibt und die Differenz bei einzelnen Ländern noch sehr viel stärker ist.
• Extrem ungleiche Verteilung
Die durchschnittlichen Pro-Kopf-Werte sind vor allem dann irreführend, wenn der künstlichen statistischen Gleichheit der
Durchschnittswerte in der Realität eine krasse Ungleichheit der Verteilung in den betreffenden Staaten gegenübersteht. Ein
Monatseinkommen eines Plantagenbesitzers von 5100 Geldeinheiten und von 100 Plantagenarbeitern in Höhe von jeweils 50 Geldeinheiten
ergibt zwar ein durchschnittliches Einkommen von 100 Geldeinheiten; aber diese statistische Verdoppelung durch Hinzurechnen des
Plantagenbesitzereinkommens nutzt den Plantagenarbeitern nicht das geringste. In den meisten Entwicklungsländern zeigt sich im Vergleich
zu den Industrieländern eine sehr viel krassere Ungleichheit der Verteilung sowohl regional als auch nach Personen. Auch wenn das Material
über die Einkommensentwicklung in den Entwicklungsländern dürftig ist, zeigen Studien, daß die ärmsten 40 Prozent der Haushalte
durchschnittlich nur über 13 Prozent der gesamten Privateinkommen verfügen. In einigen Entwicklungsländern, zum Bepiel Brasilien mit
sieben Prozent, liegt der Anteil noch erheblich niedriger.
Niedrige Spar- und Investitionstätigkeit
Ausdruck der für den größten Teil der Bevölkerung extrem geringen Einkommen und der daher objektiv häufig kaum vorhandenen
Sparfähigkeit ist auch eine niedrige Sparrate. Die Investitionstätigkeit wird zudem durch Kapitalflucht weiter geschwächt. Der vermögende
Teil der Bevölkerung investiert häufig nicht im eigenen Land, sondern bringt große Teile des eigenen Vermögens in das als sicherer
eingeschätzte Ausland, zum Beispiel auf vertrauliche Nummernkonten Schweizer Banken.
• Unzureichende Infrastruktur
Der Ausbau der Wirtschaft wird durch eine mangelhaft ausgebaute Infrastruktur, zum Beispiel ein unzulängliches Verkehrs- und
Kommunikationsnetz, behindert.
• Unzureichende Schul- und Ausbildung
Trotz teilweise großer Anstrengungen im Bildungs- und Schulbereich - zum Beispiel hat sich die durchschnittliche Einschulungsrate in den
Entwicklungsländern an Grundschulen innerhalb von 20 Jahren von weniger als 70 Prozent auf geschätzte 87 Prozent erhöht (in
Schwarzafrika allerdings nur auf knapp 50 Prozent) - wird die Zahl der Analphabeten in den Entwicklungsländern zur Zeit auf fast eine
Milliarde geschätzt.
Obwohl relative Bildungserfolge zu verzeichnen sind - immerhin sank der Anteil von 44 Prozent Mitte der fünfziger Jahre auf etwa 26
Prozent -, nehmen die absoluten Zahlen noch zu. In über 30 Ländern zählt mehr als die Hälfte der Bevölkerung zu den Analphabeten, was
nicht nur den wirtschaftlichen Aufbau beeinträchtigt, sondern darüber hinaus auch diesen Menschen eine Voraussetzung für eine
gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben vorenthält. Zu den quantitativen Defiziten treten qualitative Mängel,
schlechte Schul- und Ausbildung durch schlecht bezahlte und wenig qualifizierte Lehrer. Diese Tendenz wird noch verstärkt durch das
überhöhte gesellschaftliche Prestige von Bürotätigkeiten (white collar jobs), während der Beruf des Lehrers wenig gesellschaftliche Achtung
findet.
• Hohe Arbeitslosigkeit
Versteckte Erwerbslosigkeit tritt vor allem im Zusammenhang mit dem informellen Sektor auf, der in vielen Entwicklungsländern ein
Auffangbecken für Arbeitslose darstellt (zum Beispiel Straßenhandel). Auch in der Landwirtschaft spielt versteckte Arbeitslosigkeit eine
Rolle, wenn beispielsweise ein Bauer für die Bewirtschaftung seiner kleinen Ackerfläche nur einen geringen Teil seiner verfügbaren
Arbeitszeit benötigt. Von offener oder versteckter Arbeitslosigkeit ist nach Schätzungen zur Zeit etwa ein Drittel der arbeitsfähigen
Bevölkerung in den Entwicklungsländern betroffen.
• Bedeutende Rolle des primären Sektors
Bei den Produktionsbereichen dominiert meist weiterhin der primäre Sektor (Land-, Forstwirtschaft, Fischerei und Bergbau) und hier
insbesondere die Landwirtschaft. Demgegenüber ist der Industrialisierungsgrad vergleichsweise gering.
• Unzureichende Ernährung
Ungeachtet der Dominanz des primären Sektors sind verbreitete Unter- und Mangelernährung bis hin zu Hungerkatastrophen für Hunderte
von Millionen Menschen in der Dritten Welt zur Zeit und auch in absehbarer Zukunft bittere Realität. Schätzungen bewegen sich zwischen
400 und 880 Millionen. Viele Entwicklungsländer sind bisher nicht in der Lage, ihre wachsende Bevölkerung aus eigener Kraft ausreichend
zu versorgen. In der Getreideversorgung zum Beispiel sind sie immer abhängiger geworden von Importen aus dem Norden, insbesondere aus
Nordamerika.
Andere Entwicklungsländer, vor allem in Asien, haben dagegen unter anderem mit Hilfe der "Grünen Revolution" (Steigerung der
landwirtschaftlichen Produktivität durch neue Anbaumethoden, insbesondere neue Sortenzüchtungen) ihre Nahrungsmittelproduktion weit
über das Bevölkerungswachstum hinaus steigern können. Das Ernährungsproblem besteht nicht nur in einer hinreichenden Produktion und
entsprechenden Anreizen, wie einer Reform der Agrarstruktur und einer erzeugerfreundlichen Preispolitik. Es besteht darüber hinaus auch in
einer angemessenen Verteilung der Nahrungsmittel, das heißt, daß die Versorgung insbesondere auch für die ärmsten Teile der Bevölkerung
gesichert wird.
• Gesundheitsmängel und unzureichende medizinische Versorgung
Auch bei diesem für die Lebensqualität des einzelnen zentralen Merkmal handelt es sich sicherlich nicht nur und nicht einmal vorrangig um
einen ökonomischen Faktor, auch wenn mangelnde Gesundheit sich zum Beispiel auf die Qualität des Produktionsfaktors Arbeit negativ
auswirkt. Die Verbreitung von Krankheiten in der Dritten Welt wird unter anderem beeinflußt von der unzureichenden Ernährung, aber auch
von den Wohnverhältnissen, den hygienischen Verhältnissen und insbesondere dem fehlenden schnellen Zugang zu einwandfreiem
Trinkwasser in ausreichender Menge, was vor allem für große Teile der Landbevölkerung in den Entwicklungsländern gilt.
Die medizinische Versorgung ist trotz beachtlicher Erfolge vor allem bei der Seuchenbekämpfung noch mangelhaft, wobei wiederum die
Landbevölkerung am schlechtesten versorgt ist. Als grober Indikator wird häufig herangezogen, auf wieviel Einwohner ein Arzt entfällt:
Zum Beispiel kommt ein Arzt in den westlichen Industrieländern auf 380 Einwohner, in den Entwicklungsländern insgesamt auf etwa 5000
Einwohner und in Subsahara-Afrika sogar auf etwa 24000 Einwohner, wobei noch die ungleiche Verteilung im Land zu berücksichtigen ist.
Allein die Zahl der jährlich an Malaria Sterbenden wird auf 1,5 bis drei Millionen Menschen geschätzt. Auch Aids ist vorrangig ein Problem
der Entwicklungsländer (insbesondere in Afrika, aber auch Asien), auf die 90 Prozent der Neuinfektionen entfallen.
Außenwirtschaft
Als wichtige Merkmale der außenwirtschaftlichen Beziehungen der Dritten Welt werden angeführt:
• Ausrichtung auf die Industrieländer
Die Produktionsstruktur der Entwicklungsländer sei - so die Kritiker - zu stark an den Märkten der Industrieländer orientiert, und der
Außenhandel werde vor allem mit den westlichen Industrieländern abgewickelt. Dies führe nicht nur zu starker Abhängigkeit von der
westlichen Wirtschaftsentwicklung, sondern auch zu einer dualen Wirtschaftsstruktur in der Dritten Welt. Häufig existiere ein kleiner,
moderner, leistungsfähiger Exportsektor, der aber als Fremdkörper in der überwiegend traditionellen Wirtschaft wirke. Zudem sei gerade der
moderne Sektor meist von multinationalen Konzernen beherrscht und werde damit direkt von deren Zentralen in den Industrieländern
gesteuert.
• Einseitige Exportpalette
Die Exportpalette der meisten Entwicklungsländer ist einseitig zusammengesetzt mit einem hohen Anteil mineralischer und agrarischer
Rohstoffe und wenigen Halb- und Fertigwaren, insbesondere wenigen Industrieerzeugnissen.
Bei einer Reihe von Entwicklungsländern stammt der überwiegende Teil der Exporterlöse sogar nur aus dem Verkauf eines Produktes, wie
zum Beispiel im Falle Burundis von Kaffee oder Libyens von Erdöl. Daraus folgt eine extreme Empfindlichkeit gegenüber
Nachfrageschwankungen bei diesen Produkten und ihrer Preisentwicklung auf dem Weltmarkt.
• Verschlechterung der Terms of Trade
Die Terms of Trade sind das in gleichen Währungseinheiten ausgedrückte Austauschverhältnis von Exporten und Importen eines Landes.
Eine preisbezogene Verschlechterung der Terms of Trade bedeutet, daß ein Land für die gleiche Menge seiner Exportgüter (zum Beispiel
Rohstoffe) nur eine geringere Menge seiner Importgüter (zum Beispiel Fertigwaren) beziehen kann, etwa weil die Preise seiner Importgüter
stärker als die seiner Exportgüter gestiegen sind.
Verbreitet ist die These, die Terms of Trade hätten sich für die Dritte Welt langfristig verschlechtert. Zwischen Industrie- und
Entwicklungsländern fände ein ungleicher Tausch zu Lasten der letzteren statt. Auch wenn die Diskussion um die Entwicklung und
Wirkungen der Terms of Trade bis heute anhält, hat sich für die Dritte Welt eine allgemeine und anhaltende Verschlechterung nicht
nachweisen lassen. Zu beachten ist, daß man durch die Wahl des Ausgangsjahres das Ergebnis der Terms-of-Trade-Veränderungen stark
beeinflussen kann. Die Terms of Trade haben sich entsprechend der Zusammensetzung der Ex- und Importe für die einzelnen
Entwicklungsländer und der zugrundegelegten Zeiträume sehr unterschiedlich entwickelt. Sie haben sich zum Beispiel für die Ölexportländer
langfristig stark verbessert, während sie sich für die Rohstoffexporteure allgemein eher verschlechtert haben.
• Hohe Auslandsverschuldung
Auslandsverschuldung ist grundsätzlich ein Mittel, den Engpaß einer zu geringen Kapitalbildung im Inland durch Rückgriffe auf
Auslandskapital zu mildern und sich über eigene Exporterlöse hinaus Devisen, also Geld in fremden Währungen, für den Import zum
Beispiel ausländischer Investitionsgüter (Maschinen usw.) zu verschaffen. Werden die ausländischen Kredite so verwendet, daß die damit
bewirkte Produktions- und Exportsteigerung die für den Schuldendienst (Verzinsung und Rückzahlung) erforderlichen Mittel übersteigt,
erscheint die Kreditaufnahme für das Schuldnerland sinnvoll.
In der Dritten Welt ist die Auslandsverschuldung seit den siebziger Jahren dramatisch angewachsen. Bereits zwischen 1970 und 1980 hat
sich die Gesamtverschuldung der Entwicklungsländer vervielfacht. Zu Beginn der achtziger Jahre führte der nochmalige explosive Anstieg
der Schuldenlast in Verbindung mit ungünstigen weltwirtschaftlichen Bedingungen zum offenen Ausbruch der "Schuldenkrise", die auch
westliche Gläubigerbanken mit hohen Kreditanteilen in der Dritten Welt zu ruinieren drohte. Die wichtigsten Ursachen waren:

die Ölpreissteigerung für die ölimportierenden Entwicklungsländer;

der Preisverfall für wichtige Rohstoffe der Dritten Welt und zunehmende Handelshemmnisse der Industrieländer gegenüber
Fertigwarenexporten der Entwicklungsländer im Gefolge der weltwirtschaftlichen Rezession (krisenhafter Abschwung der
Wirtschaft);

zeitweilig extremer Zinsanstieg, ausgelöst durch die Hochzinspolitik der USA;

teilweise auch die unwirtschaftliche Verwendung der Kreditmittel durch Entwicklungsländer (zum Beispiel für Prestigeobjekte
oder Waffenkäufe) und eine unverantwortliche, da zu wenig risikobewußte Kreditvergabe westlicher Banken.
Betrug die Gesamtverschuldung der Entwicklungsländer im Jahre 1980 nach Angaben der Weltbank 647 Milliarden US-Dollar, so hatte sich
1990 der Betrag mit 1510 Milliarden US-Dollar weit mehr als verdoppelt und erreichte 1995 2068 Milliarden US-Dollar.
Der Grad der Verschuldung ist in der Dritten Welt sehr unterschiedlich. Spitzenreiter sind Brasilien (1993: 133 Milliarden US-Dollar) und
Mexiko (1993: 118 Milliarden US-Dollar), wie ohnehin regionalbezogen der Hauptteil der Verschuldung auf die wirtschaftlich schon weiter
entwickelten Länder Lateinamerikas (1993: 29 Prozent) entfällt, allerdings mit sinkender Tendenz. Die absolute Höhe der Verschuldung sagt
noch wenig über die Fähigkeit aus, den Schuldendienst zu leisten und die damit verbundene Belastung zu tragen. Aussagefähiger ist in dieser
Hinsicht die Schuldendienstquote, die den Prozentsatz der Exporterlöse angibt, der für den Schuldendienst (Zinsen und Tilgung) aufgebracht
werden muß. Sie betrug nach Angaben der Weltbank 1993 für die Schuldenspitzenreiter Brasilien 24 Prozent und Mexiko 32 Prozent, wurde
aber noch von Argentinien mit extremen 46 Prozent übertroffen.
Bei der Schuldendienstquote zeigt sich aber auch, daß Länder, deren absolute Verschuldung nicht besonders hoch erscheint, unter der Last
dieser Schulden noch härter zu leiden haben. So erreichte zum Beispiel das zu den "am wenigsten entwickelten Ländern" zählende Uganda
1993 144 Prozent. Die Verschuldungskrise der Dritten Welt wirkt derzeit insgesamt etwas stabilisiert und damit weniger bedrohlich, aber sie
ist ein weiterhin ungelöstes Problem.
Ökologische Probleme
Vielfach hat die Dritte Welt mit ähnlichen Umweltproblemen zu kämpfen, wie sie aus den Industrieländern bekannt sind, insbesondere mit
den Folgeproblemen von Industrialisierung, Verstädterung und chemiegestützter Landwirtschaft. Das Tempo dieser Veränderungsprozesse
und der teilweise armutsbedingte weitgehende Verzicht auf ökologische Auflagen und Schutzmaßnahmen führen aber zu einer enormen
Verschärfung der Umweltprobleme. Hinzu kommt, daß es sich in der Dritten Welt teilweise um besonders empfindliche, störanfällige
Ökosysteme handelt. Jährlich gehen in den Entwicklungsländern etwa 20 Millionen Hektar landwirtschaftlich nutzbarer Fläche durch die
Abtragung fruchtbarer Erde (Bodenerosion) verloren, und die Wüste erobert circa sechs Millionen Hektar (Desertifikation).
Die tropischen Regenwälder, die auf nur noch etwa sechs Prozent der Erdoberfläche circa 40 Prozent der biologischen Artenvielfalt
beherbergen, gehen aufgrund von Edelholzeinschlag und Brandrodung dramatisch zurück. Die Tropenwälder binden als "globale Lungen"
unter anderem Kohlendioxid (CO2), und die Abholzung des Waldes ("Kahlschlag") trägt nach Meinung vieler Fachleute zur langsamen
Klimaerwärmung bei. Dadurch werden wiederum niedrig gelegene Länder mit Überflutungskatastrophen ganz neuen Ausmaßes bedroht. Die
starke Zunahme künstlich bewässerter landwirtschaftlicher Nutzflächen und die wachsende Verunreinigung und Vergiftung von Wasser
führen zu einer gefährlichen Verknappung nutzbaren Wassers. Die Neubewertung des kostbaren Rohstoffes Wasser, der durch
grenzüberschreitende Flüsse verteilt wird, droht bei Eingriffen in den Naturkreislauf (zum Beispiel Stauwerke) zu gewaltsamen Konflikten
zwischen Staaten zu führen. Den Hintergrund dafür bilden unter anderem Armut und Bevölkerungsdruck in der Dritten Welt,ie damit
verbundene Überlastung des Bodens, etwa durch Überweidung, forcierte Erschließung neuer landwirtschaftlich nutzbarer Flächen zum
Beispiel durch Abholzung der Wälder und die verstärkte Nutzung von Holz als Brennstoff. An den wachsenden Umweltproblemen der
Dritten Welt sind aber häufig auch die Industrieländer direkt oder indirekt beteiligt. Ein besonders abstoßendes neues Beispiel ist der
"Mülltourismus", bei dem unter Ausnutzung der Notlage und vielfach mit Hilfe von Korruption häufig gefährliche Abfallstoffe aus
Industrieländern in Entwicklungsländer exportiert und dort gelagert werden. Zu berücksichtigen ist auch, daß Umweltbelastungen, zum
Beispiel durch Energie- und Rohstoffverbrauch, pro Kopf gerechnet in den Industrieländern um ein Vielfaches höher liegen als in den
Entwicklungsländern und die Industrieländer damit ein miserables Vorbild abgeben. Wenn bestimmten Entwicklungsländern nicht nur aus
Eigeninteresse, sondern auch aus globalen Umweltüberlegungen ökonomische Nutzungsverzichte, zum Beiiel Schutz der tropischen
Regenwälder, zugemutet werden, ergibt sich zwingend die Frage nach einem ökonomischen Nutzenausgleich.
Extremes Bevölkerungswachstum
Als eines der Schlüsselprobleme der Welt, vor allem der Entwicklungschancen der Dritten Welt, erweist sich das extreme
Bevölkerungswachstum im 20. Jahrhundert. Der medizinische Fortschritt, insbesondere bei der Seuchenbekämpfung, hat auch in den
Entwicklungsländern zu einem Rückgang der Sterbeziffer (Zahl der Verstorbenen pro 1000 Einwohner) geführt. Anders als in den
Industrieländern ist die Geburtenziffer nicht im entsprechenden Maße abgesunken, auch wenn sie rückläufig ist. Die Folge ist ein jährliches
Wachstum der Weltbevölkerung von derzeit noch 1,7 Prozent, das seinen Höhepunkt von 2,2 Prozent aber überschritten hat und weiter
absinken dürfte. Selbst eine Wachstumsrate von 1,7 Prozent führt in etwa 40 Jahren zu einer Verdoppelung der Bevölkerung. Für das Jahr
2000 wird mit einer Weltbevölkerung von 6,1 Milliarden Menschen gerechnet. Davon dürften über 80 Prozent in der Dritten Welt leben.
Unter der optimistischen Annahme, daß die Zahl der Kinder pro Frau bis etwa Mitte des nächsten Jahrhunderts auf difür die Reproduktion
erforderliche Zahl von 2,1 abnimmt, hat die Weltbank geschätzt, daß die Weltbevölkerung sich erst etwa im Jahre 2150 bei 12,1 Milliarden
Menschen stabilisieren würde.
Seit der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts betrifft der Bevölkerungszuwachs vor allem die Dritte Welt. Seine Chancen und Risiken werden
unterschiedlich bewertet, wobei auch die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen (Bevölkerungsdichte, Verfügbarkeit von
landwirtschaftlich nutzbaren Flächen) eine Rolle spielen. Positiv wird das mit wachsender Bevölkerung größer werdende Potential an
menschlicher Kreativität hervorgehoben. Auf der Negativseite stehen die mit einer großen Kinderzahl verbundenen Belastungen (Nahrung,
Wohnungen, Schulen), die enormen Investitionen für die erforderlichen Arbeitsplätze und die Gefahr einer Überlastung der natürlichen
Ressourcen. Das bisherige, durchaus beachtliche wirtschaftliche Wachstum der Dritten Welt ist bei einer Pro-Kopf-Betrachtung aufgrund des
Bevölkerungswachstums etwa halbiert worden.
Die meisten Entwicklungsländer streben daher eine Verringerung des Bevölkerungswachstums an, weil dieses "unter dem Strich" als ein
wichtiger Hemmfaktor für Entwicklungsprozesse gilt. Mögliche Mittel dafür sind die Heraufsetzung des Heiratsalters und die Verringerung
der Geburtenzahl mit Hilfe verstärkter Familienplanung (Empfängnisverhütung). Zu berücksichtigen ist aber, daß es bei der Frage der
Familiengröße um grundlegende Entscheidungen im Intimbereich des Menschen geht. Der staatliche Einfluß in diesem Bereich ist
hinsichtlich moralischer Legitimation, zulässiger Instrumente und Wirksamkeit umstritten.
Bisherige Erfahrungen zeigen, daß es für die Verringerung der Geburtenzahl in hohem Maße auf eine Veränderung der Rahmenbedingungen
ankommt. Eine allgemeine Erhöhung der Lebensqualität, breitere Bildung, eine Verbesserung der Situation der Frauen, verringerte
Kindersterblichkeit, eine nicht mehr allein auf eine große Kinderzahl gestützte Altersversorgung, aber auch Mentalitätsveränderungen, zum
Beispiel weg von der Fixierung auf männliche Nachkommen, sind wichtige Faktoren. Die Erfolge der Bevölkerungspolitik, insbesondere der
Rückgang der Kinderzahl pro Frau, sind in den einzelnen Entwicklungsländern und Weltregionen sehr unterschiedlich und am geringsten in
den Ländern Afrikas südlich der Sahara.
Da die Geburtenrate nur sehr langsam zurückgeht, kann der Zeitfaktor gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Der Altersaufbau der
Bevölkerung in den Entwicklungsländern - etwa die Hälfte ist unter 20 Jahre - sorgt dafür, daß die Zahl der Frauen, die in das gebärfähige
Alter kommen, noch lange zunehmen wird.
• Geringere Lebenserwartung
Als direkte Folge von Ernährungsmängeln und unzureichender medizinischer Versorgung, aber auch größerer Gewaltbereitschaft (zum
Beispiel Kriminalität, ethnische Konflikte) ist die durchschnittliche Lebenserwartung in den Entwicklungsländern 1992 mit 63 Jahren um
etwa 13 Jahre niedriger gewesen als in den westlichen Industrieländern. Der wichtige Indikator Lebenserwartung belegt in allen Südregionen
beachtliche, wenn auch unterschiedliche Fortschritte. Ihr jetziges Durchschnittsniveau ist in den heutigen Industrieländern erst nach 1930
erreicht worden.
• Schnelle Verstädterung
Zu den Merkmalen der Dritten Welt gehört nicht nur das explosive Bevölkerungswachstum, sondern auch dessen ungleiche Verteilung
zwischen Stadt und Land. Obwohl die Geburtenrate in den Städten der Entwicklungsländer meist geringfügig unter der der ländlichen
Regionen liegt, ist der Bevölkerungszuwachs in den Städten sehr viel größer. Dazu trägt wesentlich die Landflucht (Migration) gerade
jüngerer Menschen in die Städte bei (nach Schätzungen der Weltbank etwa 25 bis 30 Prozent des Zuwachses).
Auch wenn die Verstädterung nicht nur Nachteile hat (als vorteilhaft erweist sich die Konzentration von Wirtschaftsfaktoren mit geringen
Transport- und Kommunikationskosten), werden vor allem die Verwaltungen der Großstädte überfordert, wenn sie die nötigen städtischen
Infrastrukturleistungen bereitstellen sollen. Es kommt zu einer verstärkten Slumbildung, zu einem Anstieg der Kriminalität und zu einer
enormen ökologischen Belastung der Städte, was auch während der Habitat-Konferenz 1996 in Istanbul thematisiert wurde. Dennoch ist der
Sog selbst derart belasteter Ballungsräume für die mobilen Teile der Landbevölkerung verständlich, da Einkommens- und
Arbeitsmöglichkeiten sowie die Versorgung mit öffentlichen Leistungen in Städten in der Regel besser sind als auf dem Lande.
• Grenzüberschreitende Migration
Neben der Binnenmigration haben auch grenzüberschreitende Wanderungsbewegungen zugenommen. Die Weltbank schätzt die Zahl der
Menschen, die außerhalb ihres Heimatlandes leben, auf mindestens 125 Millionen und beurteilt die Arbeitsmigration ökonomisch für die
Aufnahme- und Herkunftsländer wie die Betroffenen grundsätzlich positiv, auch wenn sich durch die Abwanderung qualifizierter
Arbeitskräfte für das jeweilige Land Probleme ergeben können. Zielländer für Arbeitsmigranten sind teilweise attraktive Entwicklungsländer
- zum Beispiel Südafrika für Migranten der Nachbarstaaten, die arabischen Golfstaaten für Migranten aus Ägypten -, überwiegend aber die
Industrieländer. In wachsendem Maße handelt es sich aber um Flüchtlinge, deren Zahl von drei Millionen 1970 auf 27 Millionen 1994
angestiegen ist. Dabei reichen die Gründe von politischer Verfolgung über Bürgerkriege, Umweltkatastrophen bis zu allgemeiner Armut.
Angesichts wachsender eigener Probleme - zum Beispiel Arbeitslosigkeit - versuchen die Industrieländezunehmend sich gegen diese
Flüchtlingsströme abzuschotten. Auch für die Flüchtlinge gilt, daß insbesondere bei gewaltsamen Konflikten der größte Teil von ihnen in die
benachbarten Entwicklungsländer flüchtet und für diese häufig eine kaum tragbare zusätzliche Bürde darstellt.
Soziokulturelle Merkmale
• Starke Orientierung an Primärgruppen
Im Vergleich zu Industriestaaten gibt es in den Entwicklungsländern eine sehr viel engere Bindung an "Nahgruppen", insbesondere an die
Großfamilie, aber auch an den Stamm oder das Dorf. Das hat Folgen für die Loyalität gegenüber "abstrakteren" Sozialgebilden wie dem
Staat oder führt für "Besitzer" eines Arbeitsplatzes in der Verwaltung leicht zu der Verpflichtung, auch für das "Unterbringen" von
Verwandten zu sorgen.
• Geringe soziale Mobilität
Sie ist in traditionellen Wert- und Verhaltensmustern verankert und teilweise religiös untermauert, wie zum Beispiel beim indischen
Kastenwesen. Geringere soziale Mobilität wird häufig als ein Hemmschuh für den Entwicklungsprozeß angesehen, aber die Verbreitung
dieses Faktors oder die Stärke seiner kulturellen Verankerung in der Dritten Welt sind umstritten.
• Benachteiligung von Frauen
Eine geschlechtsbezogene Privilegierung gibt es auch in den Industrieländern, aber in der Regel sind Frauen in den Entwicklungsländern
wirtschaftlich, sozial, rechtlich und politisch erheblich stärker benachteiligt. So kommt der von dem Entwicklungsprogramm der Vereinten
Nationen herausgegebene "Bericht über die menschliche Entwicklung 1995", der sich schwerpunktmäßig mit der Ungleichheit der
Geschlechter befaßt, zu der Einschätzung, daß etwa 70 Prozent der Ärmsten auf der Welt Frauen sind, daß Frauen zwei Drittel der
Analphabeten stellen und die Einschulungsrate von Mädchen erheblich niedriger liegt als die von Jungen. Bei der Berechnung eines
geschlechtsbezogenen Entwicklungsindexes (GDI) mit dem Zielwert 1 (bei Gleichheit zwischen Geschlechtern) ergab sich für die
Entwicklungsländer 1992 ein Wert von 0,56, der sich gegenüber 1970 mit 0,345 zwar deutlich verbessert hat, aber sowohl gegenüber dem
Zielwert als auch den Werten der Industrieländer (1970: 0,689, 1992: 0,869) deutlich zurückbleibt. Wird die Mögchkeit der Frauen zur
aktiven Vertretung ihrer Interessen, zum Beispiel ihre Rolle in der Politik, einbezogen, ist die geschlechtsbezogene Ungleichheit noch
größer.
Dabei spielen Frauen eine Schlüsselrolle im Entwicklungsprozeß, und zwar nicht nur für Familienplanung, Kindererziehung, Gesundheit und
Hauswirtschaft, sondern auch bei der wirtschaftlichen Erwerbstätigkeit, insbesondere in der Subsistenzwirtschaft (Erzeugung von Produkten
für den unmittelbaren Eigenverbrauch). Entwicklungschancen sind daher in hohem Maße mit einer Verbesserung der Situation der Frauen,
vor allem Beseitigung der gröbsten Diskriminierungen und Investitionen in mehr Chancengleichheit, verknüpft. Dies hat auch die Vierte
Weltfrauenkonferenz vom September 1995 in Peking dokumentiert, auf der u.a. Wege zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen aufgezeigt
und gleiches Erbrecht für Mädchen und Jungen gefordert wurde.
Politische Merkmale
• Autoritärer und "schwacher Staat"
Der Staat in der Dritten Welt spielt vor dem Hintergrund unzureichender Entwicklungsimpulse aus der Gesellschaft eine wichtige, aber
umstrittene Rolle im Entwicklungsprozeß. Ein wichtiges Ziel vor allem der nicht auf eigene alte Staatstraditionen gestützten
Entwicklungsländer Afrikas ist "nation building", die Herausbildung des Bewußtseins einer eigenen politischen Zugehörigkeit und Identität
mit dem Staat als akzeptierter Handlungseinheit. Für die aus der Kolonialzeit geerbten Hindernisse sind die am Reißbrett der kolonialen
Mächte gezogenen Grenzen ein prägnantes Beispiel, die vielfach auf ethnische Zugehörigkeit wenig Rücksicht nahmen, traditionelle
Siedlungsgebiete von Stämmen getrennt und unterschiedlichen Staaten zugeschlagen haben. Diese Grenzen sind auch nach der staatlichen
Unabhängigkeit nicht geändert worden, haben aber insbesondere in Afrika zu einer Vielzahl von Grenzkonflikten geführt.
Die Formalstrukturen der Staaten der Dritten Welt sind sehr vielfältig und überwiegend entweder den Modellen westlicher Industrieländer
oder den früheren kommunistischen Regimen Osteuropas nachgebildet. Sie reichen von parlamentarischen oder präsidentiellen Demokratien
bis hin zu mehr oder minder offen deklarierten Diktaturen, meist Militär- oder Ein-Parteien-Regimen. Dort, wo der Anspruch, demokratisch
legitimiert zu sein, offen aufgegeben wird, liegt die Rechtfertigung meist in einer "Entwicklungsdiktatur". Die Erfahrung zeigt allerdings,
daß "Entwicklungsdiktaturen" die als Rechtfertigung dienende Aufgabe beschleunigter Entwicklung zugunsten der Masse der Bevölkerung
fast nie erreichen und sich eher als Diktaturen ohne, wenn nicht sogar zu Lasten von Entwicklung erwiesen haben.
Vor dem Hintergrund der Feststellung, daß es sich bei den Staaten der Dritten Welt häufig um autoritäre Regime oder Diktaturen handelt,
wirkt es auf den ersten Blick paradox, daß Gunnar Myrdal für die Entwicklungsländer den Begriff des "schwachen Staates" geprägt hat und
ihn für ein herausragendes Merkmal der Dritten Welt hält. Der Staat in der Dritten Welt ist "schwach" nicht zuletzt im Hinblick auf seine
zentrale Aufgabe, den Entwicklungsprozeß zu fördern.
Dabei wird von Myrdal Korruption als Negativfaktor herausgestellt. Bestechung ist auch in Industriestaaten nicht unbekannt und war es vor
allem in früheren Entwicklungsstadien der Verwaltung nicht. Sie ist aber heute die Ausnahme, während sie in der Dritten Welt eher zur
Regel gehört. Korruption wird von einigen Autoren unter dem Gesichtspunkt Wirksamkeit sogar positiv bewertet als ein unverzichtbares
"Schmiermittel", das allein dafür sorgen könne, daß der schwerfällige Verwaltungsapparat wenigstens leidlich funktioniere. Demgegenüber
müssen aber zwei negative Wirkungen betont werden. Korruption begünstigt diejenigen, die bestechen können, und damit in der Regel
Reiche und Privilegierte. Dazu gehören nicht zuletzt auch Akteure aus Industriestaaten, zum Beispiel deutsche Unternehmen, deren
Bestechungsgelder in der Dritten Welt von den deutschen Finanzämtern als Betriebsausgaben steuerlich anerkannt werden. Der zweite
schwerwiegende Nachteil ist der Verlust von Vertrauen in die Verwaltung und allgemeiner der Vlust von Legitimität des Staates bei den
benachteiligten Bevölkerungsteilen. Weiter gefaßt ist der Staat in der Dritten Welt häufig zum ökonomischen Beuteobjekt einer politischen
Elite geworden, die aber aus Legitimitätsgründen am Entwicklungsziel offiziell festhält.
Seit Anfang der achtziger Jahre sind in Lateinamerika und Ende der achtziger/Anfang der neunziger Jahre nach dem Systemwechsel im
Machtbereich der früheren Sowjetunion auch in anderen Weltregionen, insbesondere in Afrika, viele Militärdiktaturen und Ein-ParteienSysteme gestürzt worden. Die Demokratisierung in vielen Entwicklungsländern bleibt aber häufig an der Oberfläche und hat die Defizite des
"schwachen Staates" nicht beseitigt. Die neu entfachte Diskussion kreist weiterhin um das Interdependenzverhältnis von politischen
Freiheiten und Entwicklung sowie um die angemessene Rolle des Staates als "Entwicklungsagentur". Dabei wird zum Beispiel die Forderung
nach Reduzierung eines häufig aufgeblähten Verwaltungsapparates sowie nach verstärkter Deregulierung und nach Privatisierung erhoben.
Gute Staatsführung (good governance) - konkretisiert insbesondere als größere Verwaltungseffizienz, Rechenschaftspflicht staatlicher
Akteure, rechtsstaatliche Rahmenbedingungen und mehr Transparenz des Staatshandels - wirdnzwischen als Ziel und wichtiger
Entwicklungsfaktor allgemein anerkannt, kontrastiert aber weiterhin mit der Realität der meisten Entwicklungsländer.
• Verletzung der Menschenrechte
In der Abschlußerklärung der Wiener Menschenrechtskonferenz von 1993 heißt es in Artikel 5: "Alle Menschenrechte sind universell,
unteilbar, bedingen einander und hängen miteinander zusammen." Gleichwohl gibt es bereits Streit über den Rang unterschiedlicher Rechte,
zum Beispiel politischer Freiheitsrechte, die in der westlichen Tradition im Verhältnis zu wirtschaftlichen und sozialen Grundrechten oder
gar zu Gruppenrechten auf Entwicklung eine herausgehobene Rolle spielen. So beruft sich zum Beispiel die chinesische Regierung auf einen
angeblich in der chinesischen Tradition verankerten Vorrang von Staat und Gesellschaft gegenüber individuellen Freiheitsrechten. Aber
selbst wenn über die Anerkennung von grundlegenden Menschenrechten theoretisch Einigkeit besteht und die Regierungen sich zu deren
Einhaltung vertraglich verpflichtet haben, bedeutet dies für die Praxis noch wenig. Wie zum Beispiel die Berichte von Amnesty International
belegen, ist selbst Folter in vielen Staaten der Erde verbreitet, wiederumit Schwerpunkt in Entwicklungsländern.
Im "Bericht über die menschliche Entwicklung 1992" ist der methodisch schwierige und umstrittene Versuch unternommen worden, die
politischen Freiheitsrechte in einem Index meßbar zu machen. Dabei sind die Elemente 1. persönliche Sicherheit, 2. Rechtsstaatlichkeit, 3.
Meinungsfreiheit, 4. politische Beteiligung und 5. Chancengleichheit berücksichtigt worden. Ungeachtet der methodischen Vorbehalte ergibt
sich in der Tendenz ein hohes Maß an Parallelität von wirtschaftlicher Entwicklung und politischer Freiheit, obwohl in Einzelfällen auch
Entwicklungsländer mit geringem wirtschaftlichen Entwicklungsstand ein hohes Maß an politischer Freiheit verwirklicht haben. Für die
Entwicklungsländer insgesamt ergab sich bei dem Zielwert von 100 ein Indexwert von 51,3 gegenüber 90,1 für die Industrieländer.
Menschenrechte sind unteilbar
Fünfundvierzig Jahre nach Verkündigung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hält die Diskussion über die Bedeutung mancher
ihrer Artikel an. Der Streit verläuft nicht allein zwischen dem Westen und der Dritten Welt. Auch im Westen interpretieren nicht alle Länder
jeden einzelnen der dreißig Artikel der Deklaration übereinstimmend.
Natürlich besteht die Gefahr, daß Diktatoren die Vielfalt als Schild mißbrauchen. Das ist unzulässig. Unser Ziel muß daher sein, Normen
menschlichen Verhaltens zu fördern, ohne gleichzeitig exklusive Wahrheiten zu beanspruchen oder besondere politische Systeme oder
gesellschaftliche Lebensformen anderen aufzuzwingen. Die Vielfalt kann grobe Verstöße gegen die Menschenrechte nicht rechtfertigen. Ein
Mord ist ein Mord - ob er nun in Amerika, in Asien oder in Europa begangen wird. Niemand beansprucht die Folter als Teil des kulturellen
Erbes. Aber alle Kulturen streben danach, die menschliche Würde auf ihre eigene Weise zu fördern. Der harte Kern der tatsächlich
universellen Rechte ist womöglich kleiner, als wir mitunter vorgeben.
Viele Rechte basieren noch immer auf heftig umstrittenen Konzepten. Die Normen und Ideale verschiedener Gesellschaften weichen
voneinander ab; sie gründen in einer unterschiedlichen Geschichte. Sogar in ein und derselben Gesellschaft verändern sie sich mit den
Jahren. Die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich brauchten 200 Jahre oder länger, um sich zu echten Demokratien zu
entwickeln. Dürfen wir da erwarten, daß die Bürger vieler erst seit kurzem unabhängigen Länder binnen weniger Jahre dieselben Rechte
genießen - zumal die wirtschaftlichen, sozialen und bildungsmäßigen Voraussetzungen dafür noch weitgehend fehlen?
Menschenrechte werden von den Völkern nicht akzeptiert, wenn sie als Hindernisse für den Fortschritt betrachtet werden. Einige Eiferer
täten gut daran, diese Tatsache zu berücksichtigen. Es gibt Belege dafür, daß in gewissen Phasen der Entwicklung eines Landes eine
Überbetonung der Individualrechte kontraproduktiv wird. In jeder Gesellschaft sind Zwänge nötig. Die Ausübung von Rechten muß
ausbalanciert sein mit der Last der Verantwortung. Völlige Freiheiten machen den einzelnen nicht so sehr zum Menschen, sondern zum Tier,
das allein dem Gesetz des Dschungels unterworfen ist.
Singapurs politische und soziale Ordnung ärgert einige ausländische Kritiker. Sie stimmt nicht mit den Theorien überein, wie sich
Gesellschaften vernünftig organisieren. Wir greifen auf eine Weise ein, um das soziale Verhalten des einzelnen zu verändern, die andere
Länder als bevormundend empfinden. Wir entschuldigen uns nicht für das, was wir für richtig halten - trotz aller Kritiker von außen. Wir
sind verantwortlich für Singapurs Zukunft. Wir rechtfertigen uns vor unserem eigenen Volk, nicht vor abstrakten Theorien oder vor
Ausländern. Entscheidend erscheint nur der praktische Erfolg.
Wong Kan Seng, ”Wir entschuldigen uns nicht”, in: Theo Sommer (Hg.), Zeitpunkte: Menschenrechte. Das uneingelöste Versprechen, Nr.
2/1993, Hamburg 1993, S. 95. - Wong Kan Seng ist Außenminister von Singapur.
Die Menschenrechte sind das gemeinsame - und kostbare - Erbe der Menschheit. Es ist keine Übertreibung zu sagen, daß sie unser wahres
Menschsein definieren. Diese Weltkonferenz beschäftigt sich also mit fundamentalen Fragen. Ich bin deshalb nicht überrascht, daß die
Vorbereitungen so schwierig waren. Nicht nur Meinungsverschiedenheiten, auch Mißverständnisse sind unvermeidbar.
Das größte Mißverständnis beruht darin, in der Universalität der Menschenrechte eine Drohung zu sehen oder eine Waffe. Sie sind weder das
eine noch das andere. Universalität ist eine Stärke, die uns in unserer kulturellen und sozialen Vielfalt und in den gänzlich unterschiedlichen
Wirtschaftsbedingungen vereint. Beweis dafür ist, daß die universellen Normen der Menschenrechte im Herzen aller großen Religionen und
Kulturen zu finden sind.
Begriffe wie ”regionale Besonderheiten” bei den Menschenrechten bezeichnen deshalb eine Wirklichkeit. Aber sie sollten uns vereinen und
uns dadurch bereichern, daß sie die Universalität fördern. Wenn Regierungen behaupten, daß regionale Unterschiede es rechtfertigen, dem
Volk die Menschenrechte vorzuenthalten, dann wird dies von den betroffenen Menschen nicht hingenommen. Versuche, regionale
Unterschiede in diesem Sinne zu instrumentalisieren, sind für meine Regierung deshalb nicht akzeptabel.
Manche hier werden sagen, daß der Respekt vor den Menschenrechten hinter der Entwicklung zurückstehen muß. Mit Verlaub, dies ist
Unfug. Ich erkenne an, daß Menschenrechte und wirtschaftlicher Wohlstand miteinander verknüpft sind. Natürlich sind sie es. Aber das
bedeutet, daß sie sich gegenseitig unterstützen und gemeinsam wachsen. Achtung vor den Menschenrechten ist genausowenig ein beliebiger
Luxus wie die Entwicklung selber. Tatsächlich wird mangelnde Achtung der Menschenrechte den wirtschaftlichen Fortschritt schneller
zunichte machen als fast alles andere.
Douglas Hogg, ”Vereint in der Vielfalt”, in: a.a.O., S. 96. - Douglas Hogg ist Staatsminister im britischen Außenministerium.
• Gewaltsame Konflikte und hohe Rüstungsausgaben
Gewaltsam ausgetragene Konflikte sind keineswegs ein "Monopol" der Entwicklungsländer, aber die Bevölkerung in der Dritten Welt hat
unter zwischenstaatlichem und innerstaatlichem Gewalteinsatz sehr viel stärker zu leiden als die der Industrieländer. So hat die OECD (Abk.
f. engl.: Organization for Economic Cooperation and Development, Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) in
einer weiten Definition allein 1992 und 1993 160 Konfliktfälle gezählt, überwiegend innerstaatliche Konflikte, die wiederum Flucht und
Vertreibung auslösen. Eine wichtige Ursache ist sicher in der schon genannten politischen Struktur - autoritäre und zugleich schwache
Staaten mit hohem Gewalteinsatz und mangelnder Stabilität - der Entwicklungsländer zu suchen. Häufig waren an den Konflikten direkt oder
zumindest indirekt auch die Industriestaaten beteiligt. Eine indirekte Beteiligungsform ist der Rüstungsexport der Industrieländer in die
Entwicklungsländer.
In einer Reihe von Entwicklungsländern, zum Beispiel Brasilien, ist aber auch eine beachtliche eigene Rüstungsindustrie aufgebaut worden.
Diese Länder sind inzwischen selbst am Rüstungsexport in andere Staaten der Dritten Welt beteiligt. Die Rüstungsausgaben der
Entwicklungsländer wurden Anfang der neunziger Jahre auf jährlich 150 bis 200 Milliarden US-Dollar und damit auf etwa vier Prozent des
BSP geschätzt. Der Anteil der Rüstungsimporte an der gesamten Auslandsverschuldung der Dritten Welt ist auf 20 bis 30 Prozent taxiert
worden. Selbst wenn den Entwicklungsländern grundsätzlich das gleiche Recht auf militärische Sicherheit zugestanden werden muß wie den
Industrieländern, bleibt es doch höchst fragwürdig, ob mit einer derartigen Rüstungssteigerung nach außen wie nach innen wirklich mehr
Sicherheit erkauft werden kann. Jedenfalls wirkt es makaber, wenn einige Entwicklungsländer für die Rüstung einen höheren Haushaltsanteil
ausgeben als für Gesundheit und Erziehung zusammen. Dieser Aspekt wird zunehmend au international diskutiert.
"Teufelskreis der Armut"
Viele der genannten Merkmale beeinflussen sich gegenseitig so, daß sie sich ringförmig verstärken. Es sind daher unterschiedliche
Kausalketten konstruiert worden, die als circulus vitiosus oder Teufelskreis bezeichnet werden. Der Begriff Teufelskreis soll verdeutlichen,
daß es sich um negative Verstärkerkreise handelt, aus denen nur schwer auszubrechen ist. Das heißt selbstverständlich nicht, wie auch
bisherige Erfahrungen belegen, daß es unmöglich ist. Schließlich lassen sich Teufelskreise logisch auch umdrehen und als positive
Verstärkerkreise deuten, wenn es gelingt, einen der im Teufelskreis angenommenen Wirkungsfaktoren positiv zu verändern. Teufelskreise
beantworten zudem auch nicht die Frage nach den grundlegenden Ursachen von Unterentwicklung.
”Gutes Regierungshandeln”
Eine neue Diskussion begann unter dem Stichwort ”good governance” - gute Regierungsführung. Die UN-Generalversammlung, in der im
Dezember 1990 verabschiedeten Strategie für die ”Vierte Entwicklungsdekade”, forderte eine stärkere Mitwirkung aller Menschen am
politischen und wirtschaftlichen Leben und die Achtung der Menschenrechte. [...]
Die deutsche Entwicklungspolitik nahm schon frühzeitig an dieser Diskussion teil. [...]
Im Januar 1991 übernahm Carl-Dieter Spranger die Leitung des Ressorts, im Oktober verkündete er die ”neuen politischen Kriterien der
deutschen Entwicklungszusammenarbeit”: 1. Beachtung der Menschenrechte; 2. Beteiligung der Bevölkerung am politischen Prozeß; 3.
Gewährleistung von Rechtssicherheit; 4. marktfreundliche Wirtschaftsordnung; 5. Entwicklungsorientierung des staatlichen Handelns.
An diesen Kriterien orientiert sich seither die deutsche Entwicklungszusammenarbeit (EZ): Ländern, deren interne Strukturen den Kriterien
nicht entsprechen, soll künftig keine Hilfe mehr gewährt werden; Länder, die entsprechende Reformen einleiten wollen, sollen dazu gezielt
deutsche Hilfe erhalten. Auf ähnliche Kriterien haben sich auch andere Geberländer festgelegt.
Das bedeutet einen grundsätzlichen Wandel der Entwicklungshilfe. Hatte man früher versucht, den Bauern in einer Region moderne
Produktionsmethoden beizubringen, nur um dann zu erleben, daß die falsche Agrarpreispolitik der Partnerregierung die Ergebnisse zunichte
machte, so würde man heute eher auf eine Reform der Agrarpolitik setzen. Hatte man früher Handwerkern des informellen Sektors bessere
Werkzeuge verschafft, so würde man heute die restriktive Lizensierungspolitik des zuständigen Industrieministeriums zu liberalisieren
suchen und zugleich ein Banksystem aufbauen, das auch kleinen Handwerkern Kredite vermittelt und ihnen so ermöglicht, ihre Werkzeuge
selbst zu kaufen. In Ghana beispielsweise führte ein Programm der Weltbank zur Reform der Finanzverwaltung dazu, daß nicht nur die
Lohnempfänger, sondern auch die Reichen Steuern zahlen mußten, und daß sich in vier Jahren das Steueraufkommen verdoppelte.
Die Einführung von Verwaltungsgerichten, die Stärkung von Rechnungshöfen, die Reorganisation von Administrationen, aber auch die
Unterstützung von Selbstverwaltungskörperschaften und Selbsthilfeorganisationen gehören zu den Maßnahmen, die heute favorisiert werden.
Reinold E. Thiel, ”Die Hilflosigkeit der Entwicklungspolitik”, in: Internationale Politik Nr. 4/1996, S. 9 f.
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