IG-03 Gewerkschaftsbewegung und Nord-Süd

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)NTERNATIONALE
'EWERKSCHAFTSBEWEGUNG
IG
3
Oliver Prausmüller/Walter Sauer
Gewerkschaften,
Globalisierung und
der Nord/Süd-Konflikt
INHALT
Zur Einführung: Die Schere zwischen Nord und Süd
Ein Kapitel Kolonialgeschichte
Nord/Süd-Beziehungen im Wandel
Mechanismen der Abhängigkeit
Globalisierung: Nord-/Süd-Konflikt unter
neuen Vorzeichen?
Gewerkschaftsrechte unter Globalisierungsdruck
Die österreichische Gewerkschaftsbewegung
und der Nord/Süd-Konflikt
Glossar
Beantwortung der Fragen
Literatur
Fernlehrgang
3
7
10
16
Inhaltliche Koordination:
Karl-Heinz Nachtnebel
24
34
40
42
44
46
47
Stand: Jänner 2007
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Wie soll mit diesem Skriptum
gearbeitet werden?
Anmerkungen
Zeichenerklärung
Frage zum Lernstoff im vorigen Abschnitt (vergleichen Sie
Ihre eigene Antwort mit der am Ende des Skriptums angegebenen).
Anmerkungen: Die linke bzw. rechte Spalte jeder Seite dient zur Eintragung persönlicher Anmerkungen zum Lernstoff. Diese
eigenen Notizen sollen, gemeinsam mit den bereits vorgegebenen, dem Verständnis und der Wiederholung dienen.
Schreibweise:
Wenn im folgenden Text männliche Schreibweisen verwendet werden, so ist bei Entsprechung auch die weibliche Form inkludiert. Auf eine durchgehende geschlechtsneutrale Schreibweise wird zu Gunsten der Lesbarkeit des
Textes verzichtet.
Arbeitsanleitung
– Lesen Sie zunächst den Text eines Abschnitts aufmerksam durch.
– Wiederholen Sie den Inhalt des jeweiligen Abschnittes mit Hilfe der gedruckten und der eigenen Randbemerkungen.
– Beantworten Sie die am Ende des Abschnitts gestellten Fragen (möglichst
ohne nachzusehen).
– Die Antworten auf die jeweiligen Fragen finden Sie am Ende des Skriptums.
– Ist Ihnen die Beantwortung der Fragen noch nicht möglich, ohne im Text
nachzusehen, arbeiten Sie den Abschnitt nochmals durch.
– Gehen Sie erst dann zum Studium des nächsten Abschnitts über.
– Überprüfen Sie am Ende des Skriptums, ob Sie die hier angeführten
Lernziele erreicht haben.
Lernziele
Nachdem Sie dieses Skriptum durchgearbeitet haben, sollen Sie
– erklären können, inwiefern der europäische Kolonialismus eine Ursache für die heutige Unterentwicklung der Dritten Welt darstellt;
– über entwicklungspolitisch wichtige Problembereiche internationaler
Wirtschaftspolitik Bescheid wissen;
– verschiedene Lösungsstrategien für den Nord/Süd-Konflikt beurteilen
können;
– begründen können, warum internationale Solidarität aus gewerkschaftlicher Sicht notwendig ist.
Viel Erfolg beim Lernen!
2
Zur Einführung:
Die Schere zwischen Nord
und Süd
Anmerkungen
Die weltwirtschaftliche Entwicklung war in den neunziger Jahren vor
allem durch folgende drei Herausforderungen gekennzeichnet:
Weltwirtschaftliche
Entwicklung
O
Der Zusammenbruch des so genannten „Realsozialismus“ und die zentrale Bedeutung verstärkter weltwirtschaftlicher Verflechtungen: dabei
standen vor allem Politiken der Markt-Liberalisierung und zur Herstellung „globaler Wettbewerbsfähigkeit“ zugunsten multinationaler Unternehmen im Vordergrund („neoliberale Globalisierung“).
O
Das Zusammenwachsen der Europäischen Gemeinschaft zu einer Wirtschafts- und Währungsunion und ihre Erweiterung um neue Mitgliedstaaten. Das In-Kraft-Treten des nordamerikanischen Freihandelsabkommens NAFTA zwischen den USA, Kanada und Mexiko sowie anderer
regionaler Wirtschaftsabkommen (verstärkte regionale Integration).
O
Die anhaltende Benachteiligung der so genannten „Entwicklungsländer“
in der vorherrschenden Weltwirtschaftsordnung und die Verschärfung
der bereits bestehenden Ungleichheiten im Zugang zu lebensnotwendigen Ressourcen (Nord/Süd-Konflikt).
Zur Bedeutung dieser Entwicklungen aus Arbeitnehmer- und Arbeitnehmerinnensicht hat der XV. Bundeskongress des Österreichischen Gewerkschaftsbundes 2003 wie folgt Stellung genommen:
Grundsatzerklärung
des ÖGB
„Nur durch den gemeinsamen, weltweiten Einsatz für Frieden und
Stabilität, die Beseitigung der Armut, die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen der Erde und die weltweite Durchsetzung der Menschenrechte kann es gelingen, Globalisierung fair
zu gestalten. Es müssen neue globale Regeln für Politik und Wirtschaft, für Umweltschutz und Sozialstandards erkämpft werden,
die auch die Lebensinteressen der so genannten Länder des Südens
und generell der armen und lohnabhängigen Schichten der Bevölkerungen berücksichtigen.”
Definitionen:
Als „Industrieländer“ („Länder des Nordens“) bezeichnet man die meisten Mitgliedsländer der „Organisation for Economic Cooperation and
Development“/OECD (marktwirtschaftliche Industrieländer) sowie die
ehemaligen sozialistischen Staaten in Osteuropa (frühere planwirtschaftliche Industrieländer). Manche, aber nicht alle Industrieländer waren früher Kolonialmächte (etwa Großbritannien, Frankreich). Während die politische Führungsrolle der Industrieländer spätestens seit der Wende von
1989 bei den Vereinigten Staaten liegt, haben sich wirtschaftlich drei miteinander in Konkurrenz stehende Pole herausgebildet: die USA, die EU
und Japan.
Industrieländer
„Entwicklungsländer“ („Länder des Südens“) sind im Wesentlichen die
Staaten in Lateinamerika, Afrika, Asien und Polynesien; ihre Wirtschaft
ist zumeist markt- oder gemischtwirtschaftlich (mit starken informellen
Sektoren) ausgerichtet; politisch sind sie in der Regel Mitglieder der
Entwicklungsländer
3
Anmerkungen
Bewegung der nichtpaktgebundenen Staaten („Blockfreie“). Die meisten
Entwicklungsländer sind ehemalige Kolonien. Der Begriff „Dritte Welt“
wurde 1952 geprägt und bezeichnete – in Analogie zum „Dritten Stand“
der Französischen Revolution – die emanzipatorische Funktion der nach
Unabhängigkeit strebenden Kolonialterritorien Außereuropas.
Schwellenländer
Darüber hinaus werden mit „Schwellenländer“ (oder Newly Industrialized Countries/NICs) auch (ehemalige) Entwicklungsländer bezeichnet,
die eine starke wirtschaftliche Dynamik aufweisen (z. B. gemessen am
Grad der Industrialisierung). Als Kerngruppe galten hier ursprünglich die
vier „ostasiatischen Tiger“ Südkorea, Taiwan, Hongkong, Singapur und
Argentinien, Brasilien, Mexiko – letztere waren jedoch besonders von der
Schuldenkrise der 1980er-Jahre betroffen und verloren an wirtschaftlicher
Bedeutung. Mittlerweile werden – je nach Auslegung – etwa auch China,
Indien, Malaysia, Thailand, Indonesien oder Vietnam zu dieser Gruppe
gezählt.
O
Über den Inhalt des häufig gebrauchten Begriffs „Entwicklung“ besteht
kaum Übereinstimmung. Wer definiert und worin liegt eigentlich das
Ziel von Entwicklung? In der Befriedigung der Grundbedürfnisse (Essen,
Kleidung, Wohnen)? Im Erreichen eines europäisch/US-amerikanischen
Lebensstandards? Was sagen wirtschaftliche Wachstumsraten über die
gesellschaftliche Verteilung des Wohlstands, Geschlechtergerechtigkeit
oder etwa politische Beteiligung aus? Gibt es nur materielle oder auch
sozial-kulturelle Entwicklungsziele?
Wachsende Kluft zwischen Arm und Reich
Das Verhältnis zwischen den Industrieländern und den Entwicklungsländern ist durch historisch gewachsene Unterschiede in Lebensstandard und
wirtschaftlicher Leistungskraft charakterisiert, die sich vor allem in den
letzten zwei Jahrzehnten noch verstärkt haben.
Auf die ärmsten 40 Prozent der Weltbevölkerung – 2,5 Milliarden
Menschen, die von weniger als zwei US-Dollar pro Tag leben – entfallen nur fünf Prozent des gesamten globalen Einkommens. Die
50 Reichsten der Welt verfügen zusammen über ein Einkommen,
das größer als das der ärmsten 416 Millionen Menschen ist.
(Bericht über menschliche Entwicklung/HDR 2005).
Die Einkommensunterschiede zwischen armen und reichen Ländern werden immer größer: Zwischen 1960 und 1962 betrug das Durchschnittseinkommen in den 20 reichsten Ländern etwa das 53fache der 20 ärmsten
Länder der Welt. Dieser Unterschied hat sich bereits auf das 121fache zugunsten der reichsten Länder vergrößert (siehe Abb.).
Einkommensunterschiede zwischen
Arm und Reich
4
Anmerkungen
Quelle: Bericht „Eine faire Globalisierung“/ILO; Weltbank 2003
Auch innerhalb der Industrie- und Entwicklungsländer haben sich in den
letzten Jahrzehnten die Gegensätze zwischen Arm und Reich verschärft.
Quer über den Globus wird eine Zunahme sozialer Ungleichheiten verzeichnet. Die folgende Tabelle kontrastiert die Fortschritte und Kehrseiten
der menschlichen Entwicklung in den 1990er-Jahren (HDR 2005):
Gegensätze zwischen
Arm und Reich verschärfen sich überall
Menschliche Entwicklung in den 1990er-Jahren
Die Fortschritte
Die Kehrseite
130 Millionen Menschen wurden
aus extremer Armut befreit
2,5 Milliarden leben noch
immer von weniger als
zwei US-Dollar pro Tag
2 Millionen weniger Todesfälle
bei Kindern pro Jahr
Jährlich 10 Millionen Todesfälle
bei Kindern, die vermeidbar
wären
30 Millionen Kinder mehr,
die zur Schule gehen
Noch immer 115 Millionen Kinder,
die nicht zur Schule gehen
1,2 Milliarden Menschen
erhielten Zugang zu sauberem
Wasser
Noch immer haben über eine
Milliarde Menschen keinen
Zugang zu sauberem Wasser;
2,6 Milliarden haben keinen
Zugang zu Sanitärversorgung
Die Frage von Arm oder Reich bestimmt unmittelbar über die Lebenschancen. Menschen in den ärmsten Staaten des Südens sterben durchschnittlich 24 Jahre früher als Bewohner/-innen des Nordens. Von 1.000 Kindern erreichen in den ärmsten Entwicklungsländern 161 nicht ihren fünften
Geburtstag (im Vergleich zu 14 in den Industrieländern). Eine Verbesserung der medizinischen Versorgung hat auf die Verbesserung dieser (Über-)
Lebenschancen nur relativ geringen Einfluss, solange Menschen weiterhin
unter den Bedingungen der Armut leben. Sie betreffen direkt die Ausstattung mit lebenswichtigen Gütern, Ernährung und Trinkwasserversorgung,
die Wohnverhältnisse, den Zugang zu Bildung etc. – kurz: die grundlegendsten Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe.
5
Anmerkungen
Diese wachsende Schere zwischen Nord und Süd darf gerade vom
gewerkschaftlichen Standpunkt aus auf Dauer nicht unbeachtet
bleiben. Solidarität und die Sorge um Stabilität stellen die Hauptmotive dafür dar.
O
Die sozialen Folgen weltwirtschaftlicher Ungleichheit (Massenarbeitslosigkeit, unzureichende Bildungs- und Gesundheitsversorgung, Zerstörung traditioneller Versorgungskreisläufe, Hungersnöte und Epidemien)
bedeuten für Millionen von Menschen einen Zustand absoluter Verelendung. Soziale Unruhen werden nicht selten durch verstärkte Militarisierung und die Nichtbeachtung der Menschenrechte zu unterdrücken
versucht. (Solidaritätsargument)
O
Die auseinanderklaffende Schere zwischen Nord und Süd verhindert
eine langfristige Stabilisierung der Weltwirtschaft: Exportmärkte in der
Dritten Welt brechen mangels Kaufkraft zusammen, Rohstofflieferungen
werden aus politischen Gründen gefährdet, Migrationsbewegungen
vom Süden in den Norden nehmen zu. Auch auf dem Gebiet der Umwelt – etwa hinsichtlich des Treibhauseffekts – ist die gegenseitige Abhängigkeit von Nord und Süd besonders deutlich spürbar. (Stabilitätsargument)
Folgen der wachsenden Schere zwischen
Nord und Süd
Ohne einen Ausgleich der „Ungleichmäßigkeiten“ in der globalen Wirtschaftsstruktur sind weder Wohlstand für alle noch eine
Sicherung der ökologischen Lebensgrundlagen der Erde möglich.
Die Bewältigung des Nord/Süd-Konflikts zählt daher zu den dringendsten Aufgaben einer weltweiten Wirtschafts- und Sozialpolitik, soll ein Überleben der Menschheit in „Gerechtigkeit, Frieden
und Freiheit“ gewährleistet werden.
Meinungen
Jean Ziegler, UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, kommentiert seinen Kampf gegen Hunger in der Welt:
„Ich stehe jetzt dem gegenüber, was eigentlich die Essenz unserer Wirtschaftsweise ist. 100.000 Menschen sterben täglich an Hunger oder seinen unmittelbaren Folgen. Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. 856
Millionen Menschen sind schwer unterernährt – einer von sechs Menschen
auf diesem Planeten. Und das auf einem Erdball, der vor Reichtum überquillt.
Schon heute könnten ohne Probleme 12 Milliarden Menschen ernährt werden,
also das Doppelte der Weltbevölkerung. Das heißt: Ein Kind, das heute an
Hunger stirbt, wird ermordet.“
Margarita Posada ist Koordinatorin der Bürger- und Bürgerinnenbewegung gegen die Privatisierung des öffentlichen Gesundheitswesens in El
Salvador:
„Die neoliberale Globalisierung teilt die Gesellschaft durch zwei und man
kann sich dabei nicht als neutral erklären. Denn die Unterlassung einer
Parteinahme, also sich seiner Verpflichtung zu stellen, begünstigst die, die
uns ausnutzen, und stellt uns dadurch auf deren Seite. Wenn wir sagen: ,Was
kann ich tun, was tue ich, um das Leben zu schützen und zu verteidigen? Was
tue ich für den Weltfrieden?‘ Dann stellt uns das auf die Seite derer, die an
die Menschenrechte glauben und die daran glauben, dass die Menschenrechte
über den Rechten des Marktes stehen.“
6
Ein Kapitel
Kolonialgeschichte
Anmerkungen
Die Ursachen der „Unterentwicklung“ der Dritten Welt sind
nur aus der Geschichte heraus zu verstehen: Fast alle heutigen
„Entwicklungsländer“ waren früher Kolonien (oder politisch abhängige Gebiete) europäischer Staaten, wurden von diesen wirtschaftlich ausgebeutet und konnten ihre staatliche Unabhängigkeit erst nach langwierigen, vielfach kriegerisch verlaufenden
Befreiungskämpfen erringen:
O
O
O
Lateinamerika erkämpfte seine Unabhängigkeit von Spanien und Portugal in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die politische Macht verblieb allerdings den aus Europa stammenden Oberschichten, während
die einheimische (indianische) Bevölkerung diskriminiert blieb. Auch
die politische Vereinigung der Länder Lateinamerikas, wie sie beispielsweise Simon Bolivar erstrebt hatte, kam nicht zustande. Das Schicksal des Subkontinents wurde aufgrund der so genannten Monroe-Doktrin im Folgenden weitgehend von den Vereinigten Staaten von Nordamerika bestimmt.
Afrika, jahrhundertelang Lieferant von Sklaven, Gold und Elfenbein,
wurde erst im 19. Jahrhundert wirtschaftlich stärker erschlossen, vor
allem von Großbritannien und Frankreich; aber auch Belgien, Portugal, das Deutsche Kaiserreich oder Italien verfügten über afrikanische
Kolonien. Der Kampf der Afrikaner und Afrikanerinnen gegen den Kolonialismus führte ab den späten 1950er-Jahren zur politischen Selbstbestimmung.
Auf dem asiatischen Kontinent wurden vor allem die Länder Süd- und
Südostasiens sowie große Teile des Nahen Ostens von europäischen
Mächten (die USA verfügten über die Philippinen und zahlreiche pazifische Inseln als Kolonien) unterworfen. Jahrzehntelange Unabhängigkeitsbemühungen (z. B. Gandhis gewaltlose Bewegung in Indien) führten nach 1945 schrittweise zum Erfolg.
Lateinamerika
Afrika
Asien
In seiner ersten Phase war der Kolonialismus vor allem daraufhin ausgerichtet, durch ungezügelten Raubbau an den wirtschaftlichen und
menschlichen Ressourcen der Kolonien den Reichtum bzw. die Staatseinnahmen des „Mutterlandes“ zu vergrößern. Als besonders einträglich
erwies sich etwa der Abbau von Edelmetallen in Lateinamerika oder der
so genannte Dreieckshandel (Luxuswaren – Sklaven – tropische Produkte)
zwischen Europa, Afrika und Lateinamerika.
Ökonomische
Ausbeute der Kolonien
Durch die militärische, politische und religiöse Einflussnahme, die
mit der ökonomischen Ausbeutung der „neu entdeckten“ Gebiete
einherging, wurden die traditionellen Gesellschaftsstrukturen
weitgehend zerstört.
Durch Zwangsarbeit, Zivilisationskrankheiten und Hungersnöte kam etwa
in Lateinamerika im Verlauf des 16. und 17. Jahrhunderts ein großer Teil der
einheimischen Indio-Bevölkerung ums Leben. Aus Afrika wurden im selben Zeitraum Dutzende Millionen Menschen als Sklaven an amerikanische
Plantagenbesitzer verkauft. Die Gier der europäischen Kolonialherren nach
Gold, Silber, Elfenbein, Gewürzen und anderen Rohstoffen verstärkte noch
die Deformierung der traditionellen wirtschaftlichen und politischen Strukturen und wirkte sich auch in weit entlegenen Gebieten aus, in die die weißen Eroberer noch nicht vorgedrungen waren.
Sklavenhandel
7
Anmerkungen
Dieser Prozess setzte sich fort, als in einer zweiten Phase die systematische Ausbeutung der Kolonien in den Mittelpunkt des europäischen
Interesses rückte. Nun ging es verstärkt um die Beherrschung der Exportund Importmärkte, die Anlegung von Plantagen und Bergwerken in europäischem Eigentum (Entstehung multinationaler Konzerne) und – nicht
zuletzt aus strategischen Gründen – um die politische Beherrschung der
Kolonialgebiete insgesamt.
Im Sinne einer internationalen Arbeitsteilung wurde die Förderung bestimmter mineralischer oder agrarischer Rohstoffe in bestimmten Kolonien vorangetrieben, die Entwicklung anderer
wirtschaftlicher Sektoren jedoch bewusst vernachlässigt. In den
meisten Kolonialgebieten entstanden somit exportorientierte Monokulturen mit einer einseitig ausgerichteten Infrastruktur (z. B.
Reisanbau in Südostasien, Viehzucht in Argentinien oder Erdöl im
Nahen Osten).
Große Teile der Landbevölkerung wurden durch steuerliche und andere
Maßnahmen in niedrigst entlohnte Arbeitsverhältnisse in Bergwerken oder
Plantagen gezwungen. Während Fertigprodukte aus Europa einen gewissen
Absatzmarkt fanden, wurde der Aufbau einheimischer Industrien in den
Kolonien weitgehend verhindert. Allerdings: Die Exportmöglichkeiten der
Industrieländer blieben im Rahmen dieses Systems durch den Mangel an
Kaufkraft in den Kolonien begrenzt.
Wirtschaftsstruktur
der Kolonien
Mit Erlangung der staatlichen Unabhängigkeit befanden sich die
ehemaligen Kolonien somit international in einer strukturell abhängigen Position. Ihre Wirtschaftsstruktur war einseitig auf die
Bedürfnisse der früheren Kolonialmächte bzw. der Industrieländer
hin ausgerichtet. „Unterentwicklung“ ist demnach als das Resultat einer vierhundertjährigen kolonialpolitischen Einflussnahme
Europas zu verstehen.
Meinungen
Von Befürwortern des Kolonialismus wurde diese einseitige wirtschaftliche
Ausrichtung des Südens auf den Norden folgendermaßen gerechtfertigt.
Der Großhändler Adolph Woermann 1885 im Deutschen Reichstag:
„Die Bedeutung (einer Handelskolonie) besteht darin, daß für den Handel
jene Gebiete am vortheilhaftesten sind, welche in ihrer Produktion von der
Produktion des Mutterlandes am verschiedensten sind. Gerade dort, wo man
Produkte herholen kann, welche für uns von Wichtigkeit sind, und wo man
Waaren und Industrieerzeugnisse hinschaffen kann, welche dort von großem Werthe sind, gerade dort ist der Werthunterschied zwischen beiden ein
verhältnismäßig großer, und diese Thatsache bewirkt, daß für den Handel in
solchen Gebieten ein besonderer Gewinn erwächst; daß aber mit dem Gewinn
für den Handel, mit dem Gewinn für den einzelnen auch für das allgemeine
ein Vortheil geschaffen wird, das kann man wohl nicht ganz in Abrede stellen.
Denn wir sehen, wie sehr die englische Industrie durch diesen Export gehoben
ist, und wie viel Arbeiter in England dadurch beschäftigt sind, daß England
seine Kolonien gehabt hat. Ich bin fest überzeugt, daß, wenn Deutschland auf
diesem Wege, auf dem es begonnen hat, fortschreitet, daß dann in Deutschland
wesentlich mehr Arbeiter beschäftigt werden können, als jetzt beschäftigt werden, und zwar durch die Kolonialpolitik.“
8
Vertreter der antikolonialen Bewegungen, wie etwa der algerische Freiheitskämpfer Frantz Fanon, sahen die Dinge 1961 freilich anders:
Anmerkungen
„Der Kolonialismus und der Imperialismus sind mit uns nicht quitt, wenn
sie ihre Fahnen und ihre Polizeikräfte von unseren Territorien zurückgezogen
haben. Jahrhunderte lang haben sich die Kapitalisten in der unterentwickelten Welt wie wahre Kriegsverbrecher aufgeführt. Deportationen, Blutbäder,
Zwangsarbeit, Versklavung sind die Hauptmittel zur Vermehrung ihrer
Gold- und Diamantenreserven, ihrer Reichtümer und Machtpositionen gewesen. Der Reichtum der imperialistischen Länder ist auch unser Reichtum.
Europa hat sich an dem Gold und den Rohstoffen der Kolonialländer unmäßig
bereichert; aus Lateinamerika, China und Afrika, aus all diesen Kontinenten,
denen Europa heute seinen Überfluss vor die Nase setzt, werden seit Jahrhunderten Gold und Erdöl, Seide und Baumwolle, Holz und exotische Produkte
nach eben diesem Europa verfrachtet. Dieses Europa ist buchstäblich das Werk
der Dritten Welt.“
1. Beschreiben Sie kurz die wesentlichen Elemente der ersten
bzw. der zweiten Phase des Kolonialismus (Raubkolonialismus – Imperialismus).
2. Stellen Sie anhand der Karten (auf Seite 6) die internationale
Arbeitsteilung im Bereich der landwirtschaftlichen Produktion dar. Welche entwicklungspolitischen Probleme ergeben
sich durch die Anlegung exportorientierter Monokulturen?
3. Diskutieren Sie mit Ihren Kolleginnen und Kollegen die
Aussage des deutschen Kolonialhändlers Woermann und
des algerischen Freiheitskämpfers Fanon. Worin stimmen
Sie überein, worin nicht?
9
Nord/Süd-Beziehungen
im Wandel
Anmerkungen
Die Beziehungen zwischen den Industrieländern und den Entwicklungsländern seit 1945 können grob in folgende Etappen gegliedert werden:
a) Die Neuordnung der Weltwirtschaft
Bretton Woods
Bereits 1944 wurde mit den Planungen für die Neuordnung der Weltwirtschaft nach Kriegsende begonnen. Die in Bretton Woods (USA) geschlossenen Verträge sahen zunächst vor, den US-amerikanischen Dollar als
Leitwährung der Weltwirtschaft anzuerkennen (womit sich die Vereinigten
Staaten einen beträchtlichen handelspolitischen Vorteil gegenüber Europa
verschafften). Um dieses System der fixen Wechselkurse gegenüber dem
Dollar abzustützen, wurde der Internationale Währungsfonds (IWF) gegründet. Parallel dazu errichtete man die Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (Weltbank), die das erforderliche Kapital für die
wirtschaftliche Nachkriegsentwicklung vor allem der Industrieländer aufbringen sollte. Fragen der Dritten Welt widmete man vorerst nur geringes
Interesse.
b) Der Kalte Krieg
In dieser Phase wurden die Länder bzw. Kolonien in der Dritten Welt
zunehmend in die Systemauseinandersetzung zwischen West und Ost
einbezogen. Durch ein weltweites Paktsystem versuchten die USA, die
Sowjetunion auch außerhalb Europas „einzukreisen“ (SEATO-, CENTOPakt). Der 1. Indochinakrieg (1946–1954), zunächst ein klassischer Kolonialkrieg Frankreichs gegen die vietnamesische Unabhängigkeitsbewegung,
entwickelte sich ebenso wie der Koreakrieg (1950–1953) rasch zu einer „heißen“ Auseinandersetzung zwischen den beiden Supermächten und ihren
Verbündeten.
Sozialreformerische Bestrebungen in den Kolonien bzw. Entwicklungsländern wurden häufig als „stabilitätsgefährdend“ abgeblockt (und nahmen
damit an Radikalisierung zu). 1947 sicherten sich die USA im so genannten
Rio-Pakt ein militärisches Interventionsrecht in ganz Lateinamerika; 1954
nahmen sie dieses „Recht“ gegen Guatemala (wo eine Landreform vorbereitet wurde) und 1961 gegen die kubanische Revolution auch in Anspruch
(in letzterem Fall allerdings erfolglos). Bereits 1953 war im Iran die Regierung Mossadegh, welche die Nationalisierung der Erdölindustrie vorangetrieben hatte, durch einen Militärputsch gestürzt worden.
Stellvertreterkriege
Für die Dritte Welt wichtige wirtschaftspolitische Entscheidungen
– wie die Errichtung einer Internationalen Handelsorganisation
– kamen infolge des Ost/West-Konflikts nicht zustande. Kooperationen mit Entwicklungsländern wurden in diesen Jahren fast
ausschließlich unter sicherheitspolitischen Aspekten betrachtet
(Militärhilfe).
c) Entkolonialisierung und Entwicklungshilfe
Die zunehmende Entkolonialisierung in Asien, Nahost und Afrika, die
Entstehung der Blockfreien-Bewegung (1961) und die zunehmende Gewichtsverschiebung in den Vereinten Nationen zwangen die Industrie-
Entkolonialisierung
10
länder zu einer Neubesinnung: Die Forderung vieler Länder der Dritten
Welt nach finanzieller Kompensation für die Ausbeutung der Kolonialzeit wurde von ihnen zwar abgelehnt, zu punktuellen Unterstützungsmaßnahmen waren sie aus politischen, wirtschaftlichen und humanitären
Gründen jedoch bereit.
Anmerkungen
1961 rief die UNO die „Erste Entwicklungsdekade“ aus; aufgrund
einer internationalen Vereinbarung von 1970 sollten die Industrieländer 0,7 Prozent ihres Bruttosozialprodukts als öffentliche Entwicklungshilfe an die Dritte Welt vergeben. Neue internationale
Organisationen wie die UNIDO (für industrielle Entwicklung)
und UNCTAD (für Handel und Entwicklung) entstanden und
setzten sich vor allem die Förderung der Entwicklungsländer zum
Ziel. Ebenso entstanden zahlreiche private Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) zur Durchführung von Entwicklungshilfeprojekten.
d) Der Nord/Süd-Dialog
Schon 1969 hatte der so genannte Pearson-Bericht der Weltbank auf die
Notwendigkeit hingewiesen, Entwicklungshilfe durch weltwirtschaftliche
Strukturveränderungen zugunsten der Dritten Welt zu ergänzen. Zu ähnlichen Resultaten gelangte auch die Gruppe der 77, die politische Vereinigung der meisten Entwicklungsländer, deren politisches Selbstbewusstsein durch den Ölpreisschock des Jahres 1973, den Sieg Vietnams über die
USA im 2. Indochinakrieg und den Zusammenbruch des portugiesischen
Kolonialreichs 1974/75 gestärkt wurde.
Gruppe der 77
1974 beschloss die Generalversammlung der UNO auf Antrag des mexikanischen Staatspräsidenten Echeverria eine „Charta der wirtschaftlichen
Rechte und Pflichten der Staaten“, die die Grundlage für eine „Neue
Weltwirtschaftsordnung (NWWO)“ bilden sollte. Unter anderem standen
dabei Maßnahmen zur Kontrolle der Aktivitäten transnationaler Konzerne
besonders im Vordergrund:
Kontrolle transnationaler Konzerne
Wirtschaftliche Rechte und Pflichten der Staaten
„Artikel 1: Jeder Staat hat das souveräne und unveräußerliche Recht,
sein Wirtschaftssystem sowie sein politisches, soziales und kulturelles
System entsprechend dem Willen seines Volkes ohne Einmischung,
Zwang oder Drohung irgendwelcher Art von außen zu wählen.
Artikel 2 (1): Jeder Staat hat die volle und ständige Souveränität
einschließlich des Besitz-, des Nutzungs- und des Verfügungsrechts
über alle seine Reichtümer, Naturschätze und wirtschaftlichen Betätigungen und übt diese Souveränität ungehindert aus ...
(2b) Jeder Staat hat das Recht, die Tätigkeit transnationaler Gesellschaften in seinem nationalen Hoheitsbereich zu regeln und zu überwachen und Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass diese
Tätigkeiten seinen Rechts- und sonstigen Vorschriften entsprechen ...“
Die Verhandlungen über diese Forderungen bildeten bis in die achtziger Jahre hinein den Gegenstand des so genannten Nord/SüdDialogs. Zur Einigung kam es dabei freilich nur in einigen Teilbereichen, so beim so genannten „Integrierten Rohstoffprogramm“.
Dennoch gab der Nord/Süd-Dialog wichtige Anstöße zur Bewusstseinsbildung über die weltweiten wirtschaftlichen Strukturen und
Abhängigkeiten. Vor allem eine Kommission prominenter Politi11
ker/-innen und Experten/-innen unter Vorsitz des früheren deutschen Bundeskanzlers Willy Brandt vertrat 1980 die These eines
gegenseitigen Aufeinander-Angewiesen-Seins von Industrie- und
Entwicklungsländern (Interdependenz). Der Nord/Süd-Dialog war
wesentlich mit der Entspannungspolitik in Europa verbunden.
Anmerkungen
Aus dem Brandt-Report 1980:
„Mancherorts ist die Öffentlichkeit tatsächlich unzureichend über
die Fakten informiert. Im Norden ist beispielsweise in den Medien
oft von der ,Flut‘ billiger Importwaren aus dem Süden die Rede, die
seine ,Wachstumsindustrien‘ bedrohe; aber wer achtet darauf, welche
Geschäfte der Norden auf den Märkten des Südens macht? Wie gut
weiß man darüber Bescheid, daß ein großer Teil der Arbeitsplätze
im Norden vom Verkauf in den Süden abhängt und daß viele Waren
für den Verbraucher im Norden sehr viel teurer wären ohne diese
Importe? (...) Um zum Sieg über Hunger und Armut beizutragen und
eine gerechtere und effizientere internationale Wirtschaftsordnung
zu schaffen, müssen grundlegende Strukturveränderungen in den
Märkten vorgenommen werden, auf denen Entwicklungsländer als
Anbieter – von Rohstoffen, Industrieprodukten, Arbeitskraft – oder
als Abnehmer – von Kapital und Technologie – auftreten.
(...) Man kann von systemüberwölbenden Problemen sprechen:
von der Energie bis zur Ökologie, von Rüstungsbegrenzung bis zur
Umsetzung von Arbeitsplätzen, von der Mikroelektronik bis hin zu
neuen wissenschaftlichen Optionen, die sich heute erst in Umrissen
andeuten. Ob solche Fragen in Boston oder Moskau, in Rio oder Bombay diskutiert werden, überall gibt es Menschen, die erkennen, daß
in einem atemberaubenden Tempo der ganze Erdball betroffen ist:
Von den gleichen Problemen der Energieknappheit, der Verstädterung mit Verschmutzung der Umwelt, und einer immer moderneren
und komplizierteren Technologie, bei der die menschlichen Werte
zu kurz kommen und welche die Menschen nicht mehr richtig handhaben können.“
e) Das verlorene Jahrzehnt
Mit dem Ende der Ära Carter brachen auch für den Nord/Süd-Dialog und
Entspannungspolitik schwierigere Zeiten an. Bei vielen Forderungen der
Entwicklungsländer im Rahmen ihres Programms zur „Neuen Weltwirtschaftsordnung“ kam es trotz der Bemühungen, vor allem der skandinavischen Länder, zu keinem Kompromiss zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. Ein letzter Versuch zur Wiederbelebung des Dialogs
– das gemeinsam vom mexikanischen Präsidenten Echeverria und dem
österreichischen Bundeskanzler Kreisky organisierte Gipfeltreffen von
Cancun – blieb ebenfalls ergebnislos.
Stocken des
Nord/Süd-Dialogs
Unter dem Druck der Schuldenkrise sanken die politische Bedeutung sowie die wirtschaftliche Leistungskraft der Dritten Welt.
Zugleich verschärfte sich die soziale Krise in den Entwicklungsländern, verbreiterte sich die Schere zwischen Nord und Süd. Die
achtziger Jahre werden mittlerweile auch von der Weltbank als das
„verlorene Jahrzehnt für die Entwicklung“ bezeichnet.
12
Anmerkungen
Aus dem Weltentwicklungsbericht der Weltbank 1990:
„Für die Millionen von Menschen, die weltweit unter besonders prekären Bedingungen leben, stellen sich die vergangenen zehn Jahre
weit düsterer dar. Vielen Entwicklungsländern ist es nicht nur misslungen, mit den Industrieländern Schritt zu halten; ihre Einkommen
sind vielmehr absolut gesunken. Der Lebensstandard von Millionen
Menschen in Lateinamerika ist jetzt niedriger als zu Beginn der siebziger Jahre. In den meisten afrikanischen Ländern südlich der Sahara
ist der Lebensstandard auf ein Niveau gesunken, das zuletzt in den
sechziger Jahren erreicht worden war. (...) Für viele Arme in der Welt
waren die achtziger Jahre ein ,verlorenes Jahrzehnt‘ – in der Tat eine
Katastrophe.“
f) Der Süden in der Defensive
Das Ende des Ost/West-Konflikts weckte unter den Entwicklungsländern
Hoffnungen auf eine „Friedensdividende“: Frei werdende Mittel durch
Abrüstung sollten in den Entwicklungsländern investiert werden und das
Ende des Kalten Krieges einen „Neubeginn“ für den Nord/Süd-Dialog
ermöglichen. Im Nyerere-Bericht von 1990 griffen die Länder des Südens
nochmals die Forderungen nach einer neuen Weltwirtschaftsordnung und
selbstbestimmter Entwicklung auf:
Ende des Kalten
Krieges und
neue Hoffnungen
„Entwicklung (ist) ein Prozess, der es Menschen ermöglicht, ihre Fähigkeiten zu entfalten, Selbstvertrauen zu gewinnen und ein erfülltes und
menschenwürdiges Leben zu führen. Entwicklung ist ein Prozess, der die
Menschen von der Angst vor Armut und Ausbeutung befreit. Sie ist der
Ausweg aus politischer, wirtschaftlicher oder sozialer Abhängigkeit. (...)
Entwicklung ist (...) gleichbedeutend mit wachsender individueller und
kollektiver Eigenständigkeit.“
Doch seitens der Industrieländer blieben selbst die 1970 vereinbarten 0,7 % des Bruttosozialprodukts für öffentliche Entwicklungshilfe aus (nur Schweden, Norwegen, Dänemark und die Niederlande haben diesen Wert jemals erreicht). Die Zeichen standen
auf „weniger Geld zu härteren Bedingungen“: Finanzhilfen wurden gekürzt und verstärkt an Bedingungen wie z. B. „gutes Regierungshandeln“ („good governance“) gebunden. Mit dem Ende der
Blockkonfrontation verloren die Länder des Südens zudem an geostrategischer Bedeutung. Im Zuge der neunziger Jahre verschwanden ihre Forderungen nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung
weitestgehend von der politischen Tagesordnung.
Unter diesen Bedingungen rückten Programme zur Armutsbekämpfung,
nachhaltigen Entwicklung (vgl. Brundtland-Bericht 1987) und Geschlechtergerechtigkeit in den Vordergrund. Unzählige „Mega-Konferenzen“ der
Vereinten Nationen widmeten sich in diesem Jahrzehnt Beratungen über
die Lage des Planeten. So verpflichteten sich bspw. die Teilnehmerstaaten
des Weltsozialgipfel 1995 (Kopenhagen), das „Ziel der weltweiten Armutsbeseitigung durch entschiedenes nationales Handeln und internationale
Zusammenarbeit zu verfolgen“. Bekenntnisse wie diese blieben jedoch unverbindlich. Andererseits erhöhten die Länder des Nordens im Rahmen
der 1995 gegründeten Welthandelsorganisation (WTO) weiter den Druck,
die Märkte der Entwicklungsländer zu liberalisieren und für transnationale
Unternehmen zu öffnen.
Programme zur
Armutsbekämpfung
13
g) Die Millenniums-Ziele
Anmerkungen
Im Jahr 2000 verabschiedeten die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen
die so genannte „Millenniumserklärung“. Die darin enthaltenen acht „Millenniums-Entwicklungsziele“ stellen seither den zentralen Bezugspunkt
für entwicklungspolitische Fragen dar. Diese Hauptziele wurden bis 2015
ausgegeben:
Millenniumserklärung
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
Extreme Armut und Hunger beseitigen
Grundschulausbildung für alle Kinder gewährleisten
Gleichstellung und größeren Einfluss der Frauen gewährleisten
Die Kindersterblichkeit senken
Die Gesundheit der Mütter verbessern
HIV/AIDS, Malaria und andere Krankheiten bekämpfen
Eine nachhaltige Umwelt gewährleisten
Eine globale Partnerschaft im Dienste der Entwicklung schaffen
Die Quantifizierung der Ziele – bspw. bis 2015 der Anteil der Menschen
an der Weltbevölkerung zu halbieren, deren Einkommen weniger als einen US-Dollar pro Tag beträgt – soll dabei eine bessere Überwachung der
Fortschritte gewährleisten. Angesichts der Ergebnisse des Berichts über die
menschliche Entwicklung 2005 wird ein entschlossenes Handeln eingefordert:
„Dieser Bericht (…) spricht eine klare Warnung aus. Wir wissen,
dass die Millenniums-Entwicklungsziele erreichbar sind, doch wenn
wir so weitermachen wie bisher, werden die Versprechen der Millenniumserklärung gebrochen (…). Vor allem für die Armen dieser Welt
wäre das eine Tragödie. Doch auch die reichen Länder wären gegen
die Konsequenzen des Versagens nicht immun. In einer von gegenseitigen Abhängigkeiten geprägten Welt hängen unser gemeinsamer
Wohlstand und unsere kollektive Sicherheit entscheidend von den
Erfolgen im Kampf gegen die Armut ab.“
UNDP-Administrator KEMAL DERVIS
4. Auf welchen Prinzipien beruhte die Neuordnung der Weltwirtschaft nach 1945?
14
Anmerkungen
5. Welche verschiedenen Interessen führten in den sechziger
Jahren zur Schaffung der so genannten Entwicklungshilfe?
Inwieweit wurden die Interessen der Dritten Welt dabei berücksichtigt, inwieweit nicht?
6. Was verstand die Brandt-Kommission unter dem Begriff
„Interdependenz“?
7. Warum wäre die Erreichung der so genannten Millenniumsziele aus Arbeitnehmersicht wichtig?
15
Mechanismen
der Abhängigkeit
Anmerkungen
a) Abhängigkeit vom Rohstoff-Export
Im Rahmen der internationalen Arbeitsteilung wurde in den Kolonien
der Abbau bestimmter mineralischer oder agrarischer Rohstoffe (Monokulturen) vorangetrieben, die Entwicklung anderer wirtschaftlicher Sektoren jedoch bewusst vernachlässigt. Als sie ihre politische Unabhängigkeit
durchgesetzt hatten, waren die meisten Entwicklungsländer deshalb weiterhin auf eine Rolle als Lieferanten eines einzigen oder einiger weniger
Rohstoffe für den Weltmarkt festgelegt, wobei unter „Weltmarkt“ in der Regel die ehemalige Kolonialmacht bzw. dort ansässige multinationale Konzerne zu verstehen war. Industrielle Produktionskapazitäten, d. h. die erforderlichen Betriebe zur Weiterverarbeitung der geförderten oder angebauten
Rohstoffe, gab es ebenso wenig wie das dazu nötige Investitionskapital.
Neben der Aufnahme von Auslandskrediten war der Rohstoffexport daher
für viele Entwicklungsländer die einzige Möglichkeit, die für Importgüter
notwendigen Devisen zu beschaffen. Bis heute konnte nur eine Minderheit
ihre wirtschaftliche Abhängigkeit von Rohstoffexporten zurückdrängen. In
mehr als fünfzig Entwicklungsländern hängt der überwiegende Teil der
Exporteinkünfte von drei oder weniger dieser Güter ab (vor allem in Afrika
südlich der Sahara, zudem im Karibischen Raum und Zentralamerika; siehe
Tabelle unten).
Rohstoffexporte
und Auslandskredite
Abhängigkeit ausgewählter Länder von einem Exportprodukt
Quelle: http://www.suedwind-institut.de/0dt_sw-start-fs.htm; IWF 2002
Die betroffenen Entwicklungsländer befinden sich damit in einer strukturellen Abhängigkeit von den weltweiten Rohstoffmärkten und ihren
Mechanismen zur Preisgestaltung. Dies hat mehrere wirtschaftliche Nachteile:
Folgen der strukturellen Abhängigkeit
x Erstens besteht eine hohe wirtschaftliche Abhängigkeit gegenüber Nachfrage- und Preisschwankungen (z. B. Konjunkturentwicklung, Börsenspekulationen) auf den Rohstoffmärkten.
x Zweitens sind die internationalen Rohstoffmärkte zum Teil stark kartelliert: Sie werden von einigen wenigen multinationalen Konzernen kontrolliert (siehe Tabelle „Marktmacht transnationaler Konzerne im Agrarbereich).
16
x Drittens wird durch diese hohe Anfälligkeit gegenüber Außenfaktoren
eine alternative Entwicklungsstrategie massiv erschwert („Handelsfalle“, siehe unten).
Anmerkungen
Während Industrieländer die im eigenen Land geförderten Rohstoffe weitestgehend selbst verarbeiten können, ist der Anteil der Entwicklungsländer am Welthandel mit Primärgütern (z. B. Mineralien) überproportional
groß. Die Abnehmer können bspw. durch Vorratshaltung, Ländersubstitution (wenn ein Entwicklungsland den Preis erhöht, wird auf ein anderes
ausgewichen) oder Produktsubstitution (z. B. Ersatz von Rohrzucker durch
Rübenzucker) ihre Marktmacht untermauern. Steigern die betroffenen Entwicklungsländer ihre Exporte angesichts von Einnahmeausfällen, führt dies
zu einer Überproduktionskrise und weiterem Preisverfall. Vor diesem Hintergrund kann folgender handels- und entwicklungspolitischer „Teufelskreis“ skizziert werden: geringer wirtschaftlicher Entwicklungsstand ª
hoher Anteil von Rohstoffen an Exporten ª Verwundbarkeit durch Nachfrage- und Preisschwankungen ª Devisenknappheit, geringe Spar- und
Investitionsfähigkeit ª geringe Produktivitätsforschritte ª Verfestigung
der einseitigen Produktions- bzw. Exportstrukturen, wirtschaftliche Diversifizierung (Auffächerung auf mehrere Wirtschaftszweige) bleibt aus (vgl.
Nuscheler 1996).
Rohstoffabhängigkeit
Marktmacht transnationaler Konzerne im Agrarbereich
Produkt
Anteil der weltweiten Exporte, die
von 3 bis 6 der größten transnationalen
Konzerne im Agrarhandelsbereich
vermarktet werden
Weizen
Mais
Zucker
Kaffee
Reis
Kakaobohnen
Tee
Bananen
Holz
Baumwolle
Tabak
Naturkautschuk
85–90 %
85–90 %
60 %
85–90 %
70 %
85 %
80 %
70–75 %
90 %
85–90 %
85–90 %
70–75 %
Jute und Juteprodukte
85–90 %
Quelle: Schlussbericht der Enquete-Kommission
Globalisierung der Weltwirtschaft; GERMANWATCH 2002
Zu der Rohstoffabhängigkeit kommt, dass sich langfristig die „terms of
trade“ – das in Preisen ausgedrückte Austauschverhältnis von Import- und
Exportgütern – für Primärprodukte verschlechtern, d. h. dass die Kaufkraft
von Rohstoffen generell sinkt; Ausnahmen von dieser Regel finden bspw.
dann statt, wenn ein Erzeuger-Kartell die Preise anzuheben imstande ist (so
in den 70er-Jahren die OPEC beim Erdöl).
Die betroffenen Entwicklungsländer sind also langfristig gezwungen, steigende Mengen von Rohstoffen zu exportieren, um eine
konstante Menge an Industriegütern importieren zu können.
In den achtziger Jahren ist es zu einem besonders dramatischen Verfall der
Rohstoffpreise gekommen. Zwischen 1984 und 1986 sanken beispielsweise
17
Anmerkungen
die durchschnittlichen Preise auf dem Weltmarkt für Mais um 31 %, für
Jute um 40 %, für Zinn um 46 %, für Tee um 45 % und für Baumwolle um
44 %. Gründe für diese für zahlreiche Länder der Dritten Welt katastrophale
Entwicklung lagen u. a. in der wirtschaftlichen Rezession im Norden und
im Gefolge der Schuldenkrise auftretenden Überangebot auf den Rohstoffmärkten.
Problem
Rohstoffpreise
Gegenwärtig verzeichnen die Preise von Rohstoffen (abgesehen von Erdöl
z. B. auch Uran oder Kupfer) einen Anstieg. Dieser beruht laut UNCTAD
auf der stark gestiegenen Nachfrage durch China, Ostasien und Indien.
Auch vor dem Hintergrund der Millenniumsziele fordert sie von der internationalen Gemeinschaft Maßnahmen, die Preisinstabilitäten für die rohstoffexportierenden Länder reduzieren.
Rohstoffprogramme
Forderungen wie diese sind jedoch alles andere als neu: Im Zuge der Diskussion über eine Neue Weltwirtschaftsordnung wurde von den Staaten
der Dritten Welt das so genannte Integrierte Rohstoffprogramm vorgelegt
und die Einrichtung eines Rohstofffonds gefordert. Ein Grundprinzip war,
dass durch gezielte An- oder Verkäufe von bestimmten Rohstoffen drastische Preisschwankungen stabilisiert werden. Eine geschmälerte Variante
trat zwar 1989 in Kraft, gilt jedoch mittlerweile als weitgehend bedeutungslos.
Eine bestimmte Gruppe von Entwicklungsländern („AKP-Staaten“) konnte
ihre Verluste aus den Weltmarktschwankungen für Rohstoffpreise über die
STABEX- und SYSMIN-Systeme der Europäischen Union mindern; unter
diesen Programmen, die im so genannten Lomé-Abkommen festgeschrieben waren, konnten besonders betroffene Entwicklungsländer z. B. Ausgleichszahlungen beantragen, die den Rohstoffpreisverfall zumindest zum
Teil kompensieren. Sie blieben jedoch unterfinanziert und sind im neuen
„Cotonou-Abkommen“ nicht mehr verankert.
Das Beispiel Kaffee
So zeigt der Bericht beispielsweise auf, dass die Kaffee exportierenden Länder, die Ende der 1980er Jahre noch rund zwölf Milliarden
US-Dollar für ihre Exporte erlösten, im Jahr 2003 zwar mehr Kaffee
exportierten, doch mit 5,5 Milliarden US-Dollar nur noch weniger
als die Hälfte an Einnahmen dafür erzielten. Derweil blüht die
„Kaffeewirtschaft” in den reichen Ländern – seit 1990 ist der Einzelhandelsumsatz von 30 Milliarden auf 80 Milliarden US-Dollar
gestiegen. Durch die niedrigen Weltmarktpreise und den hohen Umsatz des Einzelhandels sind die Gewinnspannen der sechs größten
Kaffeeröster, die inzwischen 50 Prozent des Welthandels auf sich
vereinen, enorm gestiegen. „Von jedem US-Dollar an Arabica-Kaffee
aus Tansania, der in einem Café in den Vereinigten Staaten verkauft
wird, erhält der Erzeuger heute weniger als einen US-Cent”, berichten die Autoren. In Äthiopien ist das Exportvolumen seit Mitte
der 1990er-Jahre um zwei Drittel gestiegen, doch die Exporterlöse
sind dramatisch gesunken. Dadurch ist das Einkommen der Kaffee
erzeugenden Haushalte weggebrochen. Bei einem Verfall der Preise
von 1 US-Dollar pro Kilo im Jahr 1998 auf heute nur noch 0,30 USDollar pro Kilo schätzt der Bericht den durchschnittlichen Rückgang
des jährlichen Haushaltseinkommens in Äthiopien auf 200 US-Dollar
– ein riesiger Verlust für ein Land, in dem mehr als ein Drittel der
ländlichen Bevölkerung von weniger als einem US-Dollar am Tag
lebt. Auf die nationale Ebene übertragen bedeutet dies Einbußen in
Höhe von 400 Millionen US-Dollar – dies entspricht der Hälfte der
Entwicklungshilfe, die aus dem Ausland geleistet wurde.
Quelle: HDR 2005
18
Anmerkungen
Überwindung der Abhängigkeit? : Importsubstituierende
Industrialisierung
Als im Zuge der Weltwirtschaftskrise sowie während des Zweiten
Weltkriegs der Welthandel weitgehend zusammenbrach, verfolgten
einige Länder des Südens (insbes. in Lateinamerika, aber z. B. auch
Ägypten, Zimbabwe, Südafrika) den Weg einer „importsubstituierenden Industrialisierung“ (ISI). Sie begegneten dem Rückgang der
Exporterlöse bzw. den Importengpässen mit dem Aufbau eigener
Produktionskapazitäten und einer Verbreiterung der ökonomischen
Basis („Diversifizierung“). Die ISI baute einerseits auf einer aktiven
staatlichen Wirtschafts- und Infrastrukturpolitik und andererseits auf
einer mit protektionistischen Maßnahmen abgesicherten Industrialisierung (z. B. Schutzzölle). Infolge konnte ein relativ stetiges Wachstum des Industriesektors verzeichnet werden (z. B. betrug es in der
Phase von 1929–1949 in Argentinien jährlich 4,9 %, in Brasilien 6 %
und in Mexiko durchschnittlich 7,4 %). Der Schwerpunkt lag auf
bislang importierten Konsumgütern. Die Einfuhr von Fertigwaren
war zwar eingeschränkt worden, dafür erhöhte sich – als Folgewirkung der importsubstituierenden Maßnahmen – der Importsog für
Investitionsgüter (z. B. Maschinen), Rohstoffe und Halbfertigwaren.
So konnten sich die Erfolge des Modells nicht in einer Verbesserung
der Devisenbilanz niederschlagen. Schwächen des Modells lagen zudem in den Beschränkungen des einheimischen Marktes und der
anhaltenden ungleichen Einkommens- und Landverteilung. Ab ca.
der zweiten Hälfte der 50er-Jahren engagierten sich multinationale
Unternehmungen zunehmend in Schlüsselindustrien, was wiederum deren Einfluss steigerte. Die aufbrechenden Widersprüche des
Modells konnten zunächst mit Auslandskrediten aufgefangen werden. Spätestens mit der Schuldenkrise wird der Niedergang dieses
Modells datiert.
b) Verschuldung
In höherem Ausmaß als Industrieländer sind die meisten Entwicklungsländer auf die Zufuhr von Auslandskapital angewiesen – auch das ein Erbe der
Kolonialgeschichte. Im Entwicklungsoptimismus der 1950er- und 1960erJahre wurden ehrgeizige Industrialisierungs- und Infrastrukturprojekte in
Angriff genommen. Das Ziel war eine „nachholende Industrialisierung“
im Schnelldurchlauf. Die erwarteten „Entwicklungserfolge“ sollten wiederum die Rückzahlung der aufgenommenen Schulden gewährleisten. So
wird beispielsweise von einer Debatte zwischen dem Ökonomen Walter
Rostow und dem Agrarwissenschafter René Dumont aus dem Jahr 1963 berichtet, in der es darum ging, ob Afrika den Entwicklungsstand der Schweiz
schon in 20 oder 40 Jahren erreichen würde. Die strukturelle Benachteiligung der Entwicklungsländer im Weltwirtschaftssystem blieb seitens der
„Modernisierungsoptimisten“ als Entwicklungshemmnis weitestgehend
ausgeblendet. Gelder wurden auch beispielsweise in „gigantomanische“
Staudammprojekte oder Rüstungsausgaben fehlgeleitet. Ungelöste regionale Konflikte sowie die verschiedenen Militärdiktaturen in Lateinamerika,
Afrika und Asien heizten die Rüstungsspirale an. All das schien mit Auslandskrediten, die damals auf den internationalen Finanzmärkten günstig
zu haben waren, leicht finanzierbar.
Auslandskapital
und Verschuldung
19
Anmerkungen
Für die so genannte Schuldenkrise, also die krisenhafte Entwicklung des weltweiten Finanzsystems seit Beginn der achtziger Jahre,
war jedoch weniger die absolute Höhe der von den Entwicklungsländern aufgenommenen Kredite maßgebend. Entscheidend war
vielmehr, dass sich durch einen plötzlichen Anstieg des internationalen Zinsniveaus – eine Auswirkung der neuen US-amerikanischen Wirtschaftspolitik (Reaganismus) – der Finanzierungsspielraum der Länder der Dritten Welt verengte und sich zugleich
ihre Zahlungsverpflichtungen schlagartig erhöhten.
Mit dem Übergang der Administrationen Carter zu Reagan in den Vereinigten Staaten waren die Stärkung des US-Dollars und eine forcierte
Hochzinspolitik zu Prioritäten der US-amerikanischen Wirtschaftspolitik
geworden. Massiv steigende Rüstungskosten führten zu Budgetdefiziten,
die durch gewaltige Kreditaufnahmen des Staates gedeckt werden mussten
und dadurch Anlass zum Anstieg des Zinsniveaus gaben. Die realen Zinssätze waren 1980–1989 fast sechsmal so hoch (Durchschnitt: 5,85 %) wie in
den Jahren 1974–1979 (0,79 %).
Hochzinspolitik
der USA
Der Anstieg des Zinsniveaus traf darüber hinaus mit einem drastischen
Verfall der Terms of Trade (siehe vorheriger Abschnitt) und den Ölkrisen der 1970er-Jahren zusammen. Der Verfall der Rohstoffpreise (abseits
von Öl) traf jene Länder am härtesten, die ihre Devisen großteils über
den Export von Rohstoffen erwirtschafteten. Rezessionsbedingte protektionistische Maßnahmen vieler Industrieländer waren ein weiterer Faktor für
die Verschlechterung der Position der Entwicklungsländer. Während sich
also der Finanzierungsspielraum der Entwicklungsländer verringerte,
verteuerte sich gleichzeitig die Rückzahlung für die Kredite.
1982 wurde diese Schuldenkrise mit der Zahlungsunfähigkeit Mexikos
(übrigens auch Polens) manifest, und zahlreiche weitere Länder mussten in
den folgenden Jahren Zuflucht in Umschuldungsprogrammen und neuen
Krediten nehmen.
Schuldenkrise
Anteil der Zinszahlungen hochverschuldeter Länder
an den Staatseinnahmen 1999
Prozent der Staatseinnahmen
60
50
40
30
20
10
0
Madagaskar
(1996)
Rep.
Kongo
Pakistan Guinea
USA
Deutschland
(1998)
Quelle: Weltbank 2001
Quelle: Schlussbericht der Enquete-Kommission
Globalisierung der Weltwirtschaft; Weltbank 2001
1990 lag nach Angaben der Weltbank die Außenverschuldung aller Entwicklungsländer zusammen bei zirka 1.300 Mrd US-$, für deren Bedienung etwa
20
ein Fünftel aller Exporterlöse aufgewendet werden muss (in vielen Ländern
liegt dieser Anteil allerdings wesentlich höher als der Durchschnitt). Seit
der Mitte der achtziger Jahre sind die Entwicklungsländer von einem negativen Ressourcentransfer betroffen, das heißt, dass mehr Finanzmittel aus
den Entwicklungsländern in die Industrieländer fließen als umgekehrt.
Anmerkungen
Laut Weltbank hatten 2003 90 Länder ein Schuldenproblem (52 hoch und
38 moderat verschuldete Länder). Die Gruppe der 61 Niedrigeinkommensländer wies 2003 einen externen Schuldenstand von 523 Mrd. US-$ auf, seit
1980 ist dieser um 430 % gestiegen.
Entwicklungsländer in der Schuldenfalle
Quelle: http://www.blue21.de/PDF/Bildungsbaustein_Verschuldung.pdf;
Blue 21; ATTAC Deutschland
Durch den hohen Schuldendienst befinden sich die betroffenen Länder in
einer „Schuldenfalle“: Die Ressourcen für die Sicherung einer langfristigen
Entwicklung und den Aufbau einer sozialen Infrastruktur fehlen. Die Notwendigkeit, Devisen für den Schuldendienst aufbringen zu können, verfestigt die einseitige Exportorientierung und Krisenanfälligkeit. Unter dem
Druck der Schuldenkrise stieg die die Abhängigkeit von den Krediten des
Internationalen Währungsfonds (IWF) und Weltbank. Diese waren jedoch
an verschärfte Auflagen gebunden.
Schuldenfalle
Ein Insolvenzrecht nach US-Vorbild
Dass Insolvenzverfahren auch auf Staaten übertragbar wären, zeigt
das Beispiel USA: Dort können Schuldner mit Hoheitsgewalt (z. B.
Gemeinden) wie private Firmen Vergleich anmelden. Solche Verfahren werden seit Jahrzehnten durchgeführt. Eine Stadtverwaltung
kann bei Gericht Kapitel 9 des US-Insolvenzrechtes geltend machen,
wenn sie unfähig ist, ihre Schulden zeitgerecht zu bedienen. Nach
Einreichung bei Gericht können Gläubigerforderungen nur noch im
Rahmen des Vergleichs befriedigt werden. Die endgültige Lösung
muss im Rahmen eines fairen und offenen Verfahrens stattfinden. Bei
der Festlegung der Quote werden die Einnahmen und Ausgaben des
Schuldners betrachtet. Die vom Vergleichsverfahren betroffene Bevölkerung hat ein Anhörungsrecht. Kapitel 9 des Insolvenzrechts ist
sofort auf souveräne Schuldner übertragbar, wie das Beispiel Costa
Rica zeigt, dem im Jahre 1984 von einem Gericht in New York der in
den USA übliche Schutz eines insolventen Schuldners zuerkannt wurde. Ein internationales Insolvenzverfahren sollte vor einem unparteiischen, von den Gläubigern und dem Schuldner besetzten Schiedsgericht abgewickelt werden. Jede Seite nominiert die gleiche Anzahl
von Schiedsrichtern, diese wiederum wählen eine weitere Person
für den Vorsitz, so dass eine ungerade Anzahl von Stimmen erreicht
21
Anmerkungen
wird. Die betroffene Bevölkerung kann durch Organisationen und
Institutionen vertreten werden, wie z. B. Gewerkschaften, Kirchen,
Nichtregierungsorganisationen, Basisgruppen oder internationale
Organisationen wie das Kinderhilfswerk UNICEF. Die Schiedsrichter
müssen darauf achten, dass ein Minimum an Menschenwürde für
die Bevölkerung gewährleistet bleibt – eine Forderung, die in jedem
nationalen Insolvenzrecht selbstverständlich ist.
Quelle: Raffer, Kunibert: Fairer Ausgleich. Ein Internationales Insolvenzrecht
nach amerikanischem Muster senkt die Schuldenlast. In: epd-Entwicklungspolitik 9/98; WEED 2001
Schuldenerlasskampagnen
Die HIPC-Initiative zur Entschuldung der hoch verschuldeten
armen Länder
Die „Schuldenfalle“ der Entwicklungsländer war immer wieder Anlass für Schulden-Erlass-Kampagnen. Doch erst 1996 lancierte die
Weltbank eine Initiative zur Schuldenreduktion für die hoch verschuldeten ärmsten Länder (Highly Indebted Poor Countries). Die
so genannte HIPC-Initiative ist zwischen Weltbank, IWF und öffentlichen Gläubigern koordiniert. Die Schuldenlast soll für die betroffenen Länder auf ein „erträgliches“ Niveau gesenkt werden. Für die
Aufnahme in die Initiative sind die so genannten TragfähigkeitsIndikatoren zentral: Als nicht tragfähig gelten mittlerweile ein Schuldenstand, der über 150 %, und ein Schuldendienst, der über 15 % der
jährlichen Exporterlöse liegt. Bis August 2005 haben sich 28 Länder
für eine Teilnahme qualifiziert. Dafür muss ein mehrstufiges Qualifikationsverfahren durchlaufen werden. Kritik an der Initiative richtet
sich u. a. gegen das komplizierte Aufnahmeverfahren, eine Fortsetzung der Strukturanpassungspolitik (siehe unten) und die Definition von „tragfähiger Verschuldung“. Darüber hinaus werden andere Entwicklungsländer mit gravierenden Verschuldungsproblemen
nicht berücksichtigt.
c) Strukturanpassungspolitik
Im Zuge ihrer prekären Lage verpflichteten sich viele Entwicklungsländer
zu so genannten Strukturanpassungsprogrammen (SAPs) nach den Vorgaben internationaler Finanzinstitutionen (IWF, Weltbank). Finanzhilfe war
an ein Bündel politischer Maßnahmen geknüpft, das unter dem Namen
„Washingtoner Konsens“ bekannt wurde. Dazu gehören:
Strukturanpassungsprogramme
x fiskalische Disziplin, die zu Budgetüberschüssen führt,
x Umlenkung der fiskalischen Prioritäten in Bereiche mit hohen ökonomischen Erträgen,
x Steuerreformen zur Senkung der Grenzsteuersätze,
x Liberalisierung der Finanzmärkte,
x vereinheitlichte und kompetitive Wechselkurse,
x Handelsliberalisierung, Abschaffung von Kontingenten und Senkung
von Zöllen,
x gleiche Behandlung von ausländischen Direktinvestitionen und einheimischen Investitionen,
x Privatisierung,
x Deregulierung, auch von Sektoren mit sozialen Zielsetzungen,
x Sicherung von Eigentumsrechten.
22
Die SAPs waren das zentrale Instrument zur Durchsetzung marktradikaler
Reformen in den Entwicklungsländern. Die Zahlungsfähigkeit der betroffenen Länder sollte durch so genannte Schock-Therapien wiederhergestellt
werden. U. a. das Senken von staatlichen Subventionen für Grundnahrungsmittel, Einfrieren von Löhnen, Kürzung von Sozial- und Bildungsausgaben
hatten eine Verschärfung der sozialen Krise und politische Destabilisierung zur Folge. Die von Weltbank und IWF geforderte verstärkte Exportorientierung sollte die Bedienung des Schuldendienstes gewährleisten (das
sicherte zudem die Interessen der Gläubiger des Nordens). Da sie jedoch
von vielen Ländern gleichzeitig erfolgte, führte dies in den 1980er-Jahren zu
einer weiteren Verschlechterung der Terms of Trade (siehe oben).
Anmerkungen
Neoliberale
Strukturanpassungsprogramme
„Ein Faktor hat mehr als jeder andere den Volkswirtschaften geschadet, Armut und Ungleichheit verstärkt und viele Millionen Menschen hungrig gemacht. Es ist dieses Bündel von Maßnahmen, die
man Strukturanpassung nennt. (…) Daraus ergibt sich die entschiedene Schlussfolgerung: wenn es irgendeine Hoffnung auf sinnvolle
Entwicklung in den Ländern des Südens und für eine nachhaltige
Reduzierung von Armut und Ungleichheit gibt, müssen die vom
Westen inspirierte Doktrin der Strukturanpassung und die neoliberale Wirtschaftspolitik aufhören.“
Structural Adjustment: The SAPRI Report, 2004
Das „verlorene Jahrzehnt für Entwicklung“ (Weltbank) hat die Position des
Südens nachhaltig geschwächt. Der Spielraum für einen Abbau der Außenabhängigkeit wurde wesentlich eingeschränkt. Die betroffenen Entwicklungsländer stellten ein Experimentierfeld für neoliberale Rezepte dar. Deren Auswirkungen betrafen infolge auch immer mehr Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer des Nordens. Deswegen wird die „neoliberale Wende“
nicht nur im Süden, sondern auch im Norden in den 1980er-Jahren verortet
(vgl. dazu aus dieser Reihe Bauer/Wall-Strasser). Der starke Einfluss neoliberaler Konzepte hat auch maßgeblich die Ausformung der so genannten
„Globalisierung“ in den 1990er-Jahren geprägt.
Wasserprivatisierung in Bolivien
1997 drängte die Weltbank Bolivien als Bedingung für weitere Kredite dazu, die Wasserversorgung der Stadt Cochabamba (2003: rund
800.000 Einwohner/-innen) zu privatisieren. 1999 vergab die bolivianische Regierung eine 40 Jahre dauernde Konzession an Aguas del
Tunari, eine Tochterfirma des US-Konzerns Bechtel. Der Vertrag war
für den Konzern mehr als lukrativ, denn er sicherte ihm eine Rendite von jährlich 16 Prozent zu. Innerhalb weniger Monate nach der
Privatisierung erhöhte Aguas del Tunari im Januar 2000 die Wassertarife um 100 bis 200 Prozent. Bei einem durchschnittlichen monatlichen Familieneinkommen von 60 bis 100 US-$ sollten die Bewohner/
-innen Cochabambas fortan rund ein Viertel davon für Wasser ausgeben. Dies führte schon bald zu Massenprotesten gegen Bechtel.
Höhepunkt war Anfang April 2000 ein Generalstreik, der Cochabamba eine Woche lang lahm legte. Die Regierung verhängte daraufhin den Ausnahmezustand über die Stadt. Sie sah sich schließlich
gezwungen, ihre Wasserprivatisierungspläne zurückzunehmen und
den Vertrag mit Aguas del Tunari aufzulösen. Im April verließ die
Bechtel-Tochter Bolivien. 2001 verklagte sie den bolivianischen Staat
beim „Internationalen Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten“ (ICSID) auf 25 Millionen US-$ Schadenersatz (die Klage
hat Bechtel im Jahr 2006 zurückgezogen).
Fallbeipiel
Quelle: Erklärung von Bern/EvB
23
Globalisierung:
Nord-/Südkonflikt unter
neuen Vorzeichen?
Anmerkungen
„Globalisierung“ ist auch in der Debatte der Nord/Süd-Verhältnisse ein zwiespältiger Begriff.
Geht es um „Globalisierung“, wird zumeist auf
x den Anstieg des weltweiten Handels in den letzten Jahrzehnten,
x die Liberalisierung der Finanzmärkte („mobiles Finanzkapital“),
x den Machtgewinn multinationaler Konzerne gegenüber nationalen Regierungen („Standortwettbewerb“) oder
x die verstärkte weltweite Vernetzung durch sinkende Transportkosten
sowie neue Informations- und Kommunikationstechnologien („globales
Dorf“) verwiesen.
Der Begriff „Globalisierung“ machte im letzten Jahrzehnt Karriere: So stieg
z. B. seine Verwendung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von 34 im
Jahr 1993 auf 1062 mal im Jahr 2000. Nichtsdestoweniger ist umstritten, was
darunter verstanden wird und welche Interessen damit verfolgt werden.
Begriff
Globalisierung
Auch vor dem Hintergrund der historischen Beziehungen zwischen Nord
und Süd treten die Widersprüche der „Globalisierung“ zu Tage: Einerseits
haben sich die sozialen Spaltungen nicht nur zwischen Entwicklungs- und
Industrieländern, sondern auch innerhalb der meisten Länder in den letzten
Jahrzehnten verschärft (siehe erstes Kapitel). Arbeitnehmer- und Arbeitnehmerinneninteressen werden weltweit mit dem Verweis auf den Sachzwang
„Weltmarkt“ und die „globale Wettbewerbsfähigkeit“ zurückgedrängt und
gegeneinander ausgespielt.
Quelle: http://www.welthungerhilfe.de/1072.html
24
Andererseits kann die Debatte über die „Globalisierung“ auch eine Chance
darstellen, neue Anläufe für das Lösen globaler Probleme und die Überwindung der Nord/Süd-Kluft zu unternehmen. Die Kritik von Gewerkschaften
richtete sich in den letzten Jahren vor allem gegen eine „neoliberale Globalisierung“, die dazu benutzt wird, das Senken von Sozialstandards und eine
Umverteilung von Arm zu Reich voranzutreiben.
Anmerkungen
Kritische Meinungen zur „Globalisierung“:
Kritik an der
Globalisierung
„Globalisierung ist, was wir in der Dritten Welt einige Jahrhunderte
Kolonisierung genannt haben.“
Martin Khor, Third World Network
„Nicht die Globalisierung ist das Problem, sondern die Art und Weise, wie sie umgesetzt wurde. Und ein Teil des Problems liegt bei den
internationalen Wirtschaftsinstitutionen, dem Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank und der Welthandelsorganisation
WTO, die die ,Spielregeln‘ der Globalisierung festlegen. Sie haben
dies in einer Weise getan, die allzu oft mehr den Interessen der Industriestaaten (...) als denen der Dritten Welt diente (...). Ich glaube,
dass die Globalisierung so gestaltet werden kann, dass sie ihr positives Potenzial freisetzt.“
Joseph E. Stiglitz, ehem. Chefökonom der Weltbank
„Was also ist Globalisierung? Eine bestimmte Qualität oder Phase
der Internationalisierung der Wirtschaft bzw. einzelner ihrer Sektoren und Unternehmen, wobei im Einzelnen zu prüfen ist, ob es die
behauptete Globalisierung überhaupt gibt. Zumeist wird der Begriff
aber nicht zur bloßen Beschreibung der Entwicklung der Weltwirtschaft verwendet, sondern in Zusammenhang mit der Darstellung
weitgehender Bedrohungen und mit der Forderung nach Anpassungen auf nationalstaatlicher Ebene (…). Die erforderliche Art der
Anpassung wird meist gleich mitgeliefert: Arbeitskostensenkung,
Steuersenkung, Deregulierung. Das Gewicht dieses zuletzt angesprochenen Argumentationsmusters lässt in ,Globalisierung‘ einen
Kampfbegriff neoliberaler Politik erkennen.“
Jörg Flecker, wissenschaftlicher Leiter der Forschungs- und Beratungsstelle
Arbeitswelt (FORBA)
Der Aufstieg multinationaler Konzerne
Ein zentraler Motor der „Globalisierung“ sind multi- bzw. transnationale Konzerne (Transnational Corporations/TNCs). Waren es Anfang der
1990er-Jahre noch ca. 37.000 TNCs mit 170.000 Auslandsniederlassungen,
schätzt die UNCTAD für 2004 ihre Anzahl mittlerweile auf 70.000 TNCs mit
690.000 Auslandsniederlassungen. TNCs sind etwa für zwei Drittel des
Welthandels verantwortlich – die Hälfte dieses TNC-Handels wird dabei
als konzerninterner Handel abgewickelt (zwischen Mutter- und Tochterunternehmen oder zwischen Tochter- und Tochterunternehmen). Profitsteigerung, aber auch die Sicherung von Rohstoffquellen und neuen Absatzmärkten sind zentrale Motive für ihre Direktinvestionen in Entwicklungsländern.
Deren Regierungen versuchen über das niedrige Lohnniveau hinaus durch
weitgehende Übernahme der Aufschließungskosten für Produktionsstätten
oder Steuersenkungen (bzw. -befreiungen) die Attraktivität ihrer Standorte
zu erhöhen. Vielfach wurden so genannte „Freie Exportzonen“ geschaffen,
die vom nationalen Steuer- und Sozialrecht ausgenommen waren. Mehr
als 43 Millionen Menschen, zumeist Frauen, sind dort mittlerweile zu oft
widrigsten Arbeitsbedingungen beschäftigt (siehe nächstes Kapitel). Nach
Rolle der Konzerne
Freie Exportzonen
25
Anmerkungen
Schätzungen der internationalen Arbeitsorganisation (ILO) gab es im Jahr
2004 bereits mehr als 5.000 freie Exportzonen weltweit (siehe auch Tabelle).
Schätzungen über die Entwicklung von Freien Exportzonen (FEZ)
1975
1986
1995
1997
2002
Anzahl der Länder
mit FEZ
25
47
73
93
116
Anzahl der FEZ
79
176
500
845
3.000
Beschäftigte
(in Millionen)
k.A.
k.A.
k.A.
22,5
43
– davon China
– andere Länder,
k.A.
0,8
k.A
1,9
k.A.
k.A.
18
4,5
30
13
für die Zahlen
verfügbar sind
–
Quelle: ILO 2002; ICTFU 2004
Viele Entwicklungsländer sehen in der Steigerung der Direktinvestitionen
ein zentrales Instrument für die Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Entwicklung. Das Investitionsklima für TNCs zu verbessern war ein wichtiger
Eckpunkt der Strukturanpassungspolitik, die der Schuldenkrise folgte.
Auch bei den ausländischen Direktinvestitionen (ADI, z. B. Auslandsniederlassungen, Erwerb von Geschäftsanteilen bzw. Übernahme von ansässigen Unternehmen) zeigt sich eine sehr ungleiche Verteilung: Mehr als
zwei Drittel werden nach wie vor in den Industrieländern getätigt. Unter
den Entwicklungsländern konzentrieren sich die ADI-Zuflüsse auf eine
kleine Gruppe, wobei vor allem China hohe Wachstumsraten zu verzeichnen hat (siehe Abb.). In den 1990ern gab es in vielen Entwicklungsländern
u. a. infolge von Finanzkrisen einen Rückgang der ADI.
Quelle: Bericht „Eine faire Globalisierung“/ILO ; UNCTAD 2002
26
Transnationale Konzerne bzw. ihre Niederlassungen sind wichtige Antriebskräfte einer exportorientierten Industrialisierung in den Entwicklungsländern. TNCs verlagern vor allem arbeitsintensive Produktionsschritte
in Entwicklungsländer, und die (weiter)verarbeiteten (Vor)Produkte sind
wiederum für den Export bestimmt. Die Produktion wird in Teilprozesse
zerlegt und auf einzelne Standorte verteilt. TNCs umgehen mit dem Aufbau dieser weltumspannenden Produktionsketten Arbeitskosten und erhöhen den Druck auf die Lohnabhängigen („Standortwettbewerb“, „Sozialdumping“). Die Forschritte in Transport- und Kommunikationstechnologien begünstigten in den letzten Jahrzehnten diese Verlagerung von industriellen Fertigungsschritten in die Entwicklungsländer. Sie wird seit
den 1970er-Jahren auch als neue internationale Arbeitsteilung bezeichnet,
da die Entwicklungsländer damit nicht mehr auf die Rolle von Rohstoffexporteuren beschränkt sind (vgl. „klassische“ internationale Arbeitsteilung
im Kapitel zu Kolonialismus). TNCs lagerten insbesondere arbeitsintensive
Fertigungen wie etwa von Bekleidung und Schuhen aus. Jedoch werden
mittlerweile auch technologie-intensivere Verfahren für die Serienfertigung
z. B. in der Automobilindustrie (z. B. Mexiko, Brasilien), der Montage von
Mikroprozessoren (z. B. Malaysia, Costa Rica) oder Unterhaltungselektronik (z. B. Singapur, Philippinen) eingesetzt.
Anmerkungen
Der Grad der produktiven Rückflüsse an die jeweilige Volkswirtschaften
der Entwicklungsländer ist umstritten (siehe Bsp. „Exportboom: Für wen?“).
So werden beispielsweise kritisiert:
x Einseitige Weltmarktorientierung und starke Abhängigkeit von der Konzernpolitik (langfristig abgesichert z. B. mit Investitionsschutzabkommen). Die Hierarchie der internationalen Arbeitsteilung wird auf höherer
Stufe verfestigt („Billigproduktion im Süden“).
x Die Entwicklung der Binnenwirtschaft wird vernachlässigt und so genannte „Linkage-Effekte“ fallen gering aus (z. B. wenig weitere Investitionen und Technologietransfer in ansässige Betriebe; Herausbildung
von „Produktionsenklaven“).
x Der Abfluss der Gewinne in die Konzernzentralen („Abzug der Wertschöpfung“). Nur wenige Sektoren/Gruppen gewinnen, während sozialpolitischer Spielraum eingeschränkt bleibt (z. B. durch Steuererleichterungen an Konzerne).
Billigproduktion
im Süden
Produktionsenklaven
Abzug der
Wertschöpfung
Exportboom: Für wen?
„Selbst bei den GewinnerInnen fällt es schwer, von Chancen für die
mexikanische Wirtschaft zu sprechen. Vom Freihandel profitiert haben nämlich einerseits die Lohnfertigungsindustrien an der Grenze
zu den USA (die so genannten ,Maquiladoras‘), deren einzig relevante Beziehung zu Mexiko es ist, dass sie billige Arbeitskraft ausbeuten. Vernetzungen mit der nationalen Wirtschaft haben die Maquiladoras kaum – 77 % ihres Produktionswertes entspricht importierten Maschinen, Vorproduktion und Dienstleistungen. Nationale
Zulieferer werden, entgegen den Versprechungen, mehr und mehr
aus dem Markt gedrängt. Ähnliches gilt für den zweiten Gewinner,
der Auto-, Elektronik- und Elektroindustrie. Dass es hier durchwegs
um mexikanische Niederlassungen transnationaler Konzerne (wie
General Motors, DaimlerChrysler oder IBM) handelt, muss noch
nicht a priori zum Nachteil Mexikos sein. Das allerdings, ähnlich
wie im Fall der Lohnfertigungsindustrien, die Verknüpfungen mit
der mexikanischen Wirtschaft gering und abnehmend sind, zeigt,
dass keine endogenen Wachstumschancen für Mexikos Wirtschaft
geschaffen werden. Das steigende Gewicht des intraindustriellen
Handels (…) bestätigt, dass die mexikanischen Exporte zunehmend
innerhalb so genannter „global commodity chains“ und vielfach innerhalb einzelner Konzerne abgewickelt werden, ohne das Gros der
Fallbeispiel
27
Anmerkungen
mexikanischen Betriebe zu integrieren. Zugespitzt formuliert: Jene
Industriebranchen, die vom Freihandel profitieren, sind zwar in Mexiko angesiedelt, sind aber nicht Teil seiner Wirtschaft. Eingebunden
in transnationale Produktionsnetze haben sie in Mexiko lediglich
Enklavencharakter.“
Quelle: Aus: Parnreiter, Christof: Exportboom ohne Entwicklungspotenzial?, in:
Die geheimen Regeln des Welthandels, 2003.
Anfälligkeit für Finanzkrisen
Finanzkrisen
Eine Reihe von Finanzkrisen erschütterte Länder des Südens in den 1990erJahren (z. B. Mexiko-Krise 1994/95, Asien-Krise 1997, in Folge auch die
Argentinien-Krise 2001). Millionen von Menschen wurden als Folge dieser
wirtschaftlichen Ein- bis Zusammenbrüche in Armut und Arbeitslosigkeit
gestürzt. Eine zentrale Ursache ist in einem Kernmerkmal der neoliberalen
Globalisierung zu finden: der Liberalisierung und dem rasanten Wachstum
der Finanzmärkte.
Abschaffung
des Systems fixer
Wechselkurse
Eine wichtige Wegmarke dafür war die Abschaffung des Systems von
Bretton Woods in den 1970er-Jahren. Sein ursprüngliches Ziel: die Gewährleistung eines stabilen internationalen Währungssystems mit fixen Wechselkursen. Dabei diente der US-Dollar als Leitwährung. Er war wiederum
mit Gold gedeckt (nach dem Zweiten Weltkrieg verfügten die USA ca. über
zwei Drittel der weltweiten Goldreserven). In den 1960er-Jahren konnte der
US-Dollar diese Funktion immer weniger erfüllen und die Nixon-Regierung gab 1971 die Golddeckung ihrer Währung auf (u. a. verschlechterte
sich das Handelsbilanzdefizit der USA, und andere Staaten wollten nicht
mehr den inflationären Druck durch den Angebotsüberschuss an US-Dollar
– „Dollarschwemme“– hinnehmen). 1973 wurde der US-Dollar abgewertet
und das System fixer Wechselkurse abgeschafft. Im Rückblick kommt eine
Analyse der Weltbank zum Ergebnis, dass „Finanzkrisen und Fälle von
Überschuldung in der Bretton Woods-Ära, als feste Wechselkurse, Kapitalverkehrskontrollen und eine stringente Regulierung des Finanzsektors
praktiziert wurden, relativ selten“ waren.
Deregulierung
der Finanzmärkte
Hingegen setzte in den 1970er- und 1980er-Jahren eine Welle der Liberalisierung des Kapitalverkehrs ein. Immer mehr Regierungen schufen Kapitalverkehrskontrollen ab und trieben eine Deregulierung der Finanzmärkte
voran. Diese Maßnahmen waren Teil der so genannten neoliberalen Wende
in der Wirtschaftspolitik (vgl. Bauer/Wall-Strasser aus dieser Skriptenreihe),
die sich vermehrt an den Interessen von Kapitaleigentümern orientierte:
z. B. durch das Senken von Unternehmens- und Vermögenssteuern oder
die Hochzinspolitik der Zentralbanken. Die internationalen Finanzinstitutionen drängten die Entwicklungsländer im Zuge der Strukturanpassungspolitik zur Liberalisierung ihrer Kapitalmärkte. Die Hochzinsentwicklung
trug zuvor maßgeblich zum Ausbruch der Schuldenkrise bei und verstärkte
den Anpassungsdruck nach den Vorgaben des „Washingtoner Konsens“
(siehe vorheriges Kapitel). Ein weiterer Faktor für die erhöhte Mobilität von
Kapital war die Entwicklung neuer Kommunikationstechnologien: binnen
kürzester Zeit kann Kapital ohne wesentliche Transaktionskosten von Land
A nach Land B verlagert werden.
Rolle der institutionellen Kapitalanleger
So genannte institutionelle Kapitalanleger (etwa Versicherungsgesellschaften, Investmentfonds oder Pensionsfonds) konzentrieren möglichst große
Summen an Kapital und verfügen mit ihren Anlageentscheidungen über
hohen Einfluss auf den Finanzmärkten (zur genaueren Funktionsweise von
Finanzmärkten vgl. Jörg Huffschmid in dieser Reihe). Nur ein äußerst geringer Anteil der internationalen Kapitalströme dient der Abwicklung des
Welthandels. Der Umfang von Devisentransaktionen betrug bereits in den
28
1990er-Jahren das 70fache dessen, was für die Finanzierung von Handel
und Direktinvestitionen erforderlich wäre. Davon hatten 80 Prozent einen
Zeithorizont von weniger als sieben Tagen. Im Vordergrund stehen kurzfristige Veranlagungen und Spekulationsgeschäfte. Die hohe Krisenanfälligkeit des globalen Finanzsystems machten in den 1990er-Jahren zahlreiche
Finanz- und Währungskrisen deutlich, von denen vor allem Entwicklungsländer betroffen waren.
Anmerkungen
Liberalisierung und Finanzkrisen
„Es fällt auf, dass genau seit der fortschreitenden Finanzmarktliberalisierung auch Finanzkrisen gehäuft auftreten, mit oft desaströsen
Auswirkungen auf die dort lebende Bevölkerung. Die Finanzkrise
in Mexiko 1994 wurde als „Tequila-Krise“ bekannt und breitete sich
auf fast alle Länder Lateinamerikas aus. 1997/98 beendete die Finanzkrise in Thailand, Südkorea und Indonesien den Mythos der
nachholenden Entwicklung der „Tigerstaaten“ (…). Auffällig ist weiters, dass während der oft der Liberalisierung folgenden „Boomzeit“,
in der privatisiert wird und Börsenkurse und Zinssätze hoch sind,
private Anleger exorbitante Gewinne erzielen. Kommt es zur Finanzkrise, wird jedoch die öffentliche Hand gerufen, die Verluste werden
also sozialisiert (…). So stieg die öffentliche Verschuldung von z. B.
Thailand um fast 36 Prozent, in Indonesien sogar um 70 Prozent.
Die sozialen Auswirkungen waren katastrophal: Ingesamt haben 25
Millionen Menschen durch die Südostasienkrise ihren Arbeitsplatz
verloren. In Thailand und Südkorea hat sich die Arbeitslosigkeit verdreifacht. In Indonesien haben sich die Reallöhne halbiert, 40 Millionen Menschen sind unter die Armutsgrenze gerutscht.“
Aus: Küblböck, Karin: Re-Regulierung der Finanzmärkte, in: Geld Macht Krise, 2003.
Unterschiedliche Beteiligung am Welthandel
Eine verstärkte weltwirtschaftliche Integration zeigt sich auch angesichts
des hohen Wachstums des Welthandels: Zwischen 1948 und 2000 nahm
der Warenhandel real jährlich im Durchschnitt um 6,1 Prozent zu und
weitete sich damit schneller aus als das globale Sozialprodukt (3,9 Prozent
pro Jahr). Es besteht jedoch eine sehr unterschiedliche Beteiligung von
Ländern und Regionen an den gegenwärtigen wirtschaftlichen Internationalisierungsprozessen. Sie konzentrieren sich vor allem auf die Triade
EU–Nordamerika–Japan. Intra-regionale wirtschaftliche Verflechtungen gewannen zudem an Bedeutung: dieser Trend zur Regionalisierung spiegelt
sich in Integrationsgemeinschaften wie etwa der EU (osterweitert), NAFTA
(USA, Kanada, Mexiko), ASEAN (10 südostasiatische Staaten), MERCOSUR
(5 lateinamerikanische Staaten).*)
Welthandel
Wie viel Anteil haben die Entwicklungsländer an den weltweiten Exporten? Wird die Gruppe der Entwicklungsländer weit gefasst, beträgt er ca.
ein Drittel: Nach Daten der UNCTAD (Trade and Development Report 2005)
machte ihr Anteil im Jahr 1980 29,5 %, 1990 24,3 %, 2000 31,6 % und 32,1 %
im Jahr 2003 aus. Werden dabei die Sonderentwicklungen von Hongkong,
Singapur, Südkorea, Taiwan und China ausgeklammert, fällt der Anteil
wesentlich geringer aus: 24,8 % (1980), 14,8 % (1990) und 17,5 % (2000) und
16,8 % im Jahr 2003 (also ca. ein Sechstel). Das starke Exportwachstum der
Entwicklungsländer beschränkt sich vor allem auf den südostasiatischen
Raum (inklusive Indien). Hingegen liegen Lateinamerika und Afrika unter
dem Niveau ihrer weltweiten Exportanteile von 1980 (LA: 1980: 5,5 %, 2003:
Anteil der
Entwicklungsländer
*) Informationen zur Struktur des Welthandels und zur Problematik der statistischen Bemessung siehe Werner Raza aus dieser Reihe
29
Anmerkungen
5,0 %; A: 1980: 5,9 %, 2003: 2,4 %). Insbesonders Afrika südlich der Sahara ist
weltwirtschaftlich marginalisiert. Der Handel zwischen den Entwicklungsländern wächst schneller als der Welthandel insgesamt. Doch auch im so
genannten Süd-Süd-Handel spielt Afrika wenig Rolle, während dort die
wirtschaftlich aufstrebenden Länder Asiens dominieren.
Anm.: „Afrika südlich der Sahara“ umfasst alle afrikanischen Länder (einschließlich des relativ reichen Südafrikas) ohne die vergleichsweise wohlhabenden nordafrikanischen Länder
Marokko, Tunesien, Algerien, Libyen und Ägypten
Quelle: http://www.welthungerhilfe.de/1035.html
Auch die Zusammensetzung der Exporte ist unter den Ländern des Südens
sehr unterschiedlich: Noch 1980 waren die Exporte des Südens nur zu ca.
20 Prozent weiter verarbeitet. Heute liegt dieser Anteil bei fast 70 Prozent.
Hier entfällt der Löwenanteil auf eine verhältnismäßig kleine Gruppe (siehe
Grafik unten). Für diese wird auch die Bezeichnung „Newly Industrializing Countries“ (NICs) oder „Schwellenländer“ gebraucht (siehe Definitionen/1. Kapitel).
Die Mehrheit der Entwicklungsländer ist jedoch nach wie vor vom Export
von Rohstoffen bzw. Primärprodukten abhängig. Für 30 Entwicklungsländer macht ein einziges Exportgut mehr als die Hälfte ihrer Exporterlöse
aus. Der Entwicklungsweg einer exportorientierten Industrialisierung stößt
auch an zusätzliche Grenzen. Angesichts des Aufstiegs der NICs werden
immer mehr verarbeitete Produkte auf den Weltmarkt geworfen und der
Konkurrenzkampf unter den Ländern des Südens nimmt zu. Der Ökonom
Christoph Scherrer führt hier vier verstärkende Faktoren an:
a) einfache Produktionstechniken, die den Markteintritt neuer Konkurrenz
erleichtern,
b) ein stark wachsendes Arbeitskräftepotenzial aufgrund der Verdrängung
der Subsistenzwirtschaften (der landwirtschaftlichen Produktion, die vor
allem auf Eigenversorgung ausgerichtet ist),
c) die Verschuldungskrise, die die Notwendigkeit für die Erwirtschaftung
von Devisen erhöht und
d) die Fähigkeit transnationaler Konzerne, Produktionsstätten zu verlagern.
30
Vor diesem Hintergrund ergibt sich das Dilemma, dass sich viele Probleme
der Primärgüterexporteure auf höherem Niveau reproduzieren: z. B. Preisverfall durch Überangebot am Weltmarkt und Vernachlässigung der binnenwirtschaftlichen Entwicklung zugunsten der Weltmarktorientierung.
Anmerkungen
Quelle: Bericht „Eine faire Globalisierung“/ILO; UNCTAD 2002
Welthandelsorganisation: Aufstand des Südens?
1995 entstand mit der Welthandelsorganisation (WTO) ein neues Handelsregime. Über den Warenhandel hinaus umfasst die WTO das Regelwerk
für den internationalen Handel mit Dienstleistungen (GATS) und geistigen
Eigentumsrechten (TRIPS). „Wir schreiben die Verfassung einer vereinigten
Weltwirtschaft“, meinte ihr erster Generaldirektor Renato Ruggiero. Spätestens seit den Protesten von Globalisierungskritikern und -kritikerinnen
anlässlich des WTO-Gipfels von Seattle (1999) haben dabei die Fragen „Wer
sind wir?“ und „Für wen?“ mehr öffentliche Aufmerksamkeit erfahren.
Rolle der WTO
Die WTO zählt derzeit 149 Mitgliedstaaten. Ihr oberstes Organ ist die Ministerkonferenz. Jedes Land hat eine Stimme und Beschlüsse müssen in der
Regel einstimmig gefasst werden. Über zwei Drittel der Mitglieder sind
Entwicklungsländer. Die Industriestaaten – insbesondere die EU, USA und
Japan – verfügen jedoch über große Verhandlungsmacht und konnten vor
allem in der Vergangenheit unterschiedliche Interessenslagen unter den
Entwicklungsländern zu ihren Gunsten nutzen. Im Kontrast dazu können
sich viele Entwicklungsländer nicht einmal eine Vertretung am WTO-Sitz
in Genf leisten (für genauere Informationen zur WTO siehe Werner Raza in
dieser Reihe).
Die WTO wird vielfach als „Kind der 1990er-Jahre“ bezeichnet. Sie entstand
unter den verschärften Bedingungen „neoliberaler Globalisierung“, die
Position der Länder des Nordens war nach der „verlorenen Entwicklungsdekade“ gegenüber den Ländern des Südens gestärkt. In so genannten
„Welthandelsrunden“ soll eine fortschreitende Liberalisierung des Welt31
Anmerkungen
handels bzw. ein Abbau von Handelshemmnissen erreicht werden. In den
letzten Jahren haben sich jedoch die Interessensgegensätze innerhalb der
WTO zugespitzt. Nach der gescheiterten Ministerkonferenz von Seattle
(1999) wurde die „Entwicklungsagenda von Doha“ ausgerufen, um ein
verstärktes Augenmerk auf die Interessen der Entwicklungsländer zu signalisieren. Spätestens seit der Ministerkonferenz von Cancun (2003) ist
jedoch von einem „Aufstand des Südens“ die Rede. Die Länder des Südens
formierten eine Koalition (die so genannten G 20, darunter z. B. Brasilien,
Indien, Südafrika), die sich u. a. gegen diese Punkte wendete:
O
Während die Industriestaaten die Länder des Südens zu weit reichenden
Marktöffnungen drängen, werden diese von den Industriestaaten in für
sie wichtigen Exportsektoren benachteiligt. Diese Kritik betrifft vor allem
die Zölle und Exportsubventionen im landwirtschaftlichen Sektor (Dumping der Preise am Weltmarkt, Benachteiligung im Marktzugang).
O
Die Industrieländer versuchen vor allem die so genannten „SingapurThemen“ in der WTO voranzutreiben. Diese zielen u. a. auf Regelungen
zum Schutz ausländischer Investitionen oder zur Vergabe öffentlicher
Aufträge. Das wird als Eingriff in die innerstaatlichen Regulierungsmöglichkeiten abgelehnt. (Souveränitätsvorbehalte, Absicherung der
Interessen von TNCs).
Die vorgenommene Welthandelsrunde gilt mittlerweile als gescheitert. Die
mangelnde Bereitschaft der Industrieländer zum Abbau ihres Agrarprotektionismus war dabei der entscheidende Knackpunkt. Das bedeutet jedoch
zugleich, dass bestehende WTO-Regelungen zum Nachteil der Entwicklungsländer unverändert fortwirken und die großen Wirtschaftsmächte
verstärkt versuchen, ihre Interessen mit bilateralen Abkommen durchzusetzen (z. B. USA und die EU mit lateinamerikanischen Staaten).
Agrarprotektionismus
Die negativen Folgen der Agrarsubventionen
Heute erleiden die Entwicklungsländer jährlich Einkommenseinbußen in Höhe von rund 24 Milliarden US-Dollar aufgrund von
Agrarprotektionismus und -subventionen. Für jeden US-Dollar,
der im Handel eingebüßt wird, entstehen aufgrund des Multiplikatoreffekts weitere Einbußen von drei US-Dollar durch verminderte
Investitionen und verlorene Arbeitsplätze. Somit betragen die Gesamteinbußen etwa 72 Milliarden US-Dollar pro Jahr – eine Summe,
die der gesamten öffentlichen Entwicklungshilfe des Jahres 2003
entspricht. Der Bericht weist darauf hin, dass im Gegensatz dazu die
Agrarsubventionen in Europa auf 51 Milliarden US-Dollar gestiegen
sind, und dass dieser Sektor zwar weniger als zwei Prozent aller Arbeitsplätze ausmacht, aber mehr als 40 Prozent des gesamten Haushaltes der Europäischen Union verschluckt.
Die europäischen Zuckerproduzenten erhalten von der EU das Vierfache des Weltmarktpreises bezahlt. Dies führt wiederum dazu, dass
ein Überschuss von vier Millionen Tonnen Zucker erzeugt wird, der
dann mit Hilfe von mehr als einer Milliarde US-Dollar an EU-Fördermitteln auf den Weltmarkt geworfen wird. Das Ergebnis: Europa ist
weltweit der zweitgrößte Exporteur von Zucker. Diese Überproduktion, so der Bericht, hat den Weltmarktpreis um ein Drittel gedrückt.
Quelle: HDR 2005
32
Anmerkungen
Walden Bello: „De-Globalisierung“
Für Walden Bello, den Direktor der NGO „Focus on the Global
South“ (www.focusweb.org), muss die Kritik an der WTO und den
Verhandlungsparteien weiter gefasst werden. Eine einseitige Konzentration auf Fragen des Marktzugangs verstellt den Blick darauf,
dass die WTO Liberalisierungen in allen gesellschaftlichen Bereichen
vorantreibt und die demokratischen Spielräume der Entwicklungsländer einschränkt (vgl. z. B. „Singapur-Themen“; oder die Frage der
Wasserprivatisierung im GATS, siehe www.stoppgats.at). Er sieht
ein zentrales Problem in der Freihandelsideologie der WTO, die die
Entwicklungsländer zu einer Export geleiteten Wachstumsstrategie drängt. Davon profitieren vor allem die weltmarktorientierten
Großbetriebe, während die Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung unter die Räder kommen. Bello hat in den letzten Jahren den Begriff
der „De-Globalisierung“ geprägt: „Wir sollten uns nicht von der
Weltwirtschaft abkoppeln, aber wieder mehr für den internen Verbrauch produzieren“, fordert der Alternativ-Nobelpreisträger. Die
Abhängigkeit von ausländischen Investitionen und Finanzmärkten
gelte es abzubauen. Sowohl WTO, Weltbank als auch der IWF befinden sich in einer Legitimationskrise und sollen weiter geschwächt
werden. Zu seinen Forderungen zählen u. a. eine Demokratisierung
der Wirtschaftsbeziehungen, das Zulassen anderer Wirtschaftsformen und eine Veränderung der Land- und Einkommensverteilung. Seine Thesen erhielten auch auf den Treffen von Globalisierungskritikern und -kritikerinnen (wie z. B. dem Weltsozialforum,
www.weltsozialforum.org) viel Zuspruch.
33
Gewerkschaftsrechte unter
Globalisierungsdruck
Anmerkungen
Alleine im Jahr 2005 wurden 115 Gewerkschafter/-innen aufgrund ihres
Einsatzes für die Arbeiter/-innenrechte ermordet, mehr als 1.600 wurden
gewaltsam angegriffen und rund 9.000 verhaftet. Laut einem Bericht des
IBFG (Internationaler Bund freier Gewerkschaften) verloren darüber hinaus 10.000 Menschen wegen ihrer Gewerkschaftstätigkeit ihre Arbeit. Einer
Gewerkschaft beizutreten, Tarifverträge durchzusetzen oder gegen ausbeuterische Arbeitsbedingungen zu streiken – um grundlegende Arbeiter/-innenrechte ist es vielen Ländern äußerst schlecht bestellt.
Auch der verschärfte internationale Konkurrenzdruck trägt dazu bei,
dass nationale Regierungen die Missachtung von Arbeiter/-innenrechten
tolerieren, arbeitnehmerfeindliche Gesetze erlassen oder mit Gewalt gegen
Gewerkschafter/-innen vorgehen. Niedrige Löhne und Arbeitsstandards
gelten vielerorts als „Standortvorteil“ im Werben um ausländische Investitionen und im Kampf um Weltmarktanteile. Transnationale Konzerne können ihrerseits mit Produktionsverlagerungen drohen oder andere Zulieferbetriebe beauftragen.
Die Kehrseiten der Internationalisierung der Produktion zeigen sich insbesondere in den „freien Exportzonen“, deren Anzahl in den letzten Jahrzehnten rasant gestiegen ist (siehe auch vorheriges Kapitel). Gab es 1975
noch etwa 79 freie Exportzonen, zählt die internationale Arbeitsorganisation (ILO) mittlerweile mehr als 5.000 weltweit. Die Missachtung von Arbeiter- und Arbeiterinnenrechten steht dort auf der Tagesordnung. Der
größte Anteil der FEZ entfällt auf China (vgl. vorheriges Kapitel).
Gewerkschaftsrechte
Freie Exportzonen
Fallbeispiel: Freie Exportzonen in Nicaragua
Zu den schlimmsten Rechtsverletzungen kommt es wie so häufig in
den Freien Exportzonen (FEZ). Knapp 6 % der Beschäftigten sind Gewerkschaftsmitglieder, was größtenteils auf die Gewerkschaftsfeindlichkeit der Arbeitgeber zurückgeht. Nur wenige Gewerkschaften in
den Zonen verfügen über eine wirkliche Tarifverhandlungsmacht.
(…) Marcelina Garcia, die Generalsekretärin der Bekleidungsarbeitergewerkschaft „Sindicato de Costureras y Modistas“, stellte gegenüber dem IBFG fest, dass die Arbeitgeber von der gewerkschaftlichen
Organisierungsarbeit nichts wissen dürften, so dass Sitzungen außerhalb des Betriebes abgehalten werden müssten. Dadurch ergäben sich erhebliche logistische Probleme, da zahlreiche Beschäftigte
weit von der Maquila entfernt wohnten. Sämtliche Bemühungen um
Verhandlungen über einen Tarifvertrag stießen auf Opposition. Darüber hinaus hielten die Arbeitgeber die Namen von Gewerkschaftsmitgliedern und -organisatoren in einer Datenbank fest, die sie als
„schwarze Listen“ untereinander zirkulierten, um auf diese Weise
die Einstellung gewerkschaftlich organisierter Arbeitskräfte zu vermeiden. (…) Die erschreckenden Arbeitsbedingungen in den FEZ
machen deutlich, warum die Arbeitgeber nicht gewillt sind, mit den
Gewerkschaften zu verhandeln. Der durchschnittliche Monatslohn
beträgt 1.300 Córdoba, während der monatliche Einkaufskorb schätzungsweise 4.800 Córdoba kostet. Die Gesundheits- und Sicherheitsbedingungen sind erschreckend. Es gibt wenig oder überhaupt keine
gesundheitliche Versorgung, und die Arbeitgeber entrichten keine
Sozialversicherungsbeiträge für ihre Beschäftigten.
Aus: Jährliche Übersicht über die Verletzung von Gewerkschaftsrechten 2006, hg. v.
IBFG (Internationalem Bund freier Gewerkschaften)
34
In den letzten Jahrzehnten verstärkte sich der öffentliche Druck auf transnationale Konzerne, arbeitsrechtliche Mindeststandards bei der Herstellung ihrer Produkte zu gewährleisten. Sie sollen sich an freiwillige Verhaltenskodizes binden und so ihre soziale Verantwortung unter Beweis
stellen („Corporate Social Responsibility“/CSR). Unternehmen können auf
diesem Wege auch einem Image-Schaden und Verkaufseinbußen durch
zivilgesellschaftliche Kampagnen entgegenwirken (vgl. z. B. Clean clothesKampagne). Gewerkschaften kritisieren an der CSR einerseits das Prinzip
der Freiwilligkeit (und die fehlenden gesetzlichen Sanktionsmittel bei der
Verletzung von Mindeststandards) und weisen andererseits auf die Schwierigkeiten bei der Kontrolle hin. So werden beispielsweise Kontrollen in
Zulieferbetrieben lange im Voraus angekündigt, Arbeitnehmer/-innen mit
Drohungen eingeschüchtert, Lohnlisten manipuliert und falsche Arbeitszeitaufzeichnungen angefertigt. Die Gewerkschaften fordern daher, dass
Gewerkschaftsvertreter/-innen bei den Kontrollen von Produzenten und
Zulieferbetrieben einbezogen werden und unternehmensunabhängige Gewerkschaften zugelassen sein müssen.
Anmerkungen
Corporate Social
Responsibility und
Kritik an Kontrolle
Fallbeispiel: Arbeitsbedingungen in China
17 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche für 60 Euro im Monat –
Für die 20-jährige Jasmin, die in der südchinesischen Stadt Shaxi
Jeans für den Export nach Europa und in die USA zuschneidet, ist
das Alltag. Überwiegend junge Frauen verlassen ihre Heimatdörfer,
um in den Städten Arbeit zu finden. In ländlichen Provinzen sind
sie mit begrenzten Ausbildungsmöglichkeiten, Armut, arrangierten
Ehen und patriarchalischen Strukturen konfrontiert.
In China sterben täglich rund 350 Menschen auf Grund von Arbeitsunfällen. Über 80 Arbeiter/-innen erleiden täglich Verstümmelungen
an der Hand durch die Arbeit an nicht ausreichend gesicherten Maschinen. Neun von zehn chinesischen Herstellern missachten nicht
nur die internationalen Kernarbeitsnormen, sondern auch Chinas eigene Arbeitsgesetze. So schreibt das chinesische Arbeitsrecht eine tägliche Arbeitszeit von acht Stunden vor, tatsächlich sind die Arbeiter/
-innen 14 Stunden und mehr in den Fabriken beschäftigt. Die Arbeiter/
-innen produzieren sieben Tage die Woche Waren für den Export, obwohl ein freier Tag vorgeschrieben wäre. Die monatlichen Überstunden sind sieben Mal höher als das vom Gesetzgeber definierte Maximum von 36 Stunden. Trotz der überlangen Arbeitszeiten bekommen
die Beschäftigten ein Gehalt unter dem Mindestlohn ausbezahlt.
Nicht nur die Regierung trägt Verantwortung für die schlechten Arbeitsbedingungen. Besonders der Druck der westlichen Konzerne
zwingt die Zulieferbetriebe in China ihre Arbeiter/-innen bis 3 Uhr
in der Früh arbeiten zu lassen. Als Strategie zur Kostensenkung lagern multinationale Unternehmen Teile der Produktion in Zulieferbetriebe aus, wobei sich formelle und informelle Wirtschaft immer
mehr verschränken. Helga Neumayer vom Verein Frauensolidarität
weist auf die besonders prekäre Situation der Frauen hin, die am
Ende einer langen Kette von Subunternehmen stehen und die Aufträge in Heimarbeit erledigen. Jene Arbeiterinnen der so genannten
„Informellen Wirtschaft“ stehen unter enormen Druck, da sie für die
Erledigung von Just-in-time-Aufträgen exzessive Überstunden machen, ihre Kinder zuhause in die Fertigung der Waren einbinden und
pro Stück bezahlt werden. Sie arbeiten unter hoher körperlicher Belastung, ohne Arbeitsverträge und Lohnvereinbarungen, ohne Mutterschutz, Pensions-, Kranken- und Unfallsversicherung und ohne
arbeitsrechtliche Vertretung z. B. in Gewerkschaften.
Quelle: Zusammengestellt nach Informationen der Clean Clothes Kampagne
Österreich – http://www.oneworld.at/cck/start.asp; Filmtipp zu den
35
Arbeitsbedingungen in der chinesischen Bekleidungsindustrie: China
Blue, 2005
Anmerkungen
Quelle: Clean Clothes Kampagne
Druck wird auf Arbeiter/-innen abgewälzt
Der 2004 veröffentlichte Oxfam-Bericht „Unsere Rechte im Ausverkauf“ zeigt, wie die Einkaufspraktiken großer Markeninhaber zur
Ausbeutung der Beschäftigten durch die Zulieferer beitragen können. Für Zulieferer kann es schwierig sein, die Rechte der Beschäftigten auf angemessene Entlohnung und menschenwürdige Arbeitsbedingungen einzuhalten, wenn ihnen für die produzierten Waren
zu niedrige Preise gezahlt werden und sie unter Druck gesetzt werden, schnell und sehr kurzfristig zu produzieren. Oft sind die Markeninhaber nicht zu langfristigen Geschäftsbeziehungen bereit. Um
diesen Forderungen gerecht zu werden, wälzen die Zulieferer den
Druck auf die Arbeitnehmer/-innen ab, die gezwungen werden, mit
großem Einsatz für niedrige Löhne zu arbeiten. Ferner beschäftigen
die Zulieferer Gelegenheitsarbeiter oder Personen mit befristeten Arbeitsverträgen, die sie problemlos entlassen können, wenn der Auftragseingang rückläufig ist oder der Markeninhaber den Auftrags36
umfang reduziert. Die stärkere Beachtung der Gewerkschaftsrechte
würde zur Überwindung dieses Machtungleichgewichts beitragen
und es den Arbeitnehmern/-innen ermöglichen, größeren Einfluss
auf die Löhne und die Bedingungen an ihrem Arbeitsplatz auszuüben. Die Gewerkschaftsbewegung spielt eine entscheidende Rolle bei
der Abschaffung von Kurzzeitverträgen und so genannten flexiblen
Arbeitsverhältnissen.
Anmerkungen
Quelle: Oxfam
Der zentrale Bezugspunkt für die Durchsetzung und Einhaltung von Arbeiter/-innenrechte sind die Kernarbeitsnormen der internationalen Arbeitsorganisation (ILO, siehe Box). Gewerkschaften fordern weltweit ihre verbindliche Verankerung auf internationaler Ebene und Sanktionsmechanismen bei deren Nichteinhaltung. Die Aufnahme der ILO-Kernarbeitsnormen
in das Regelwerk der WTO ist jedoch bis heute ausgeblieben (siehe auch
Karl-Heinz Nachtnebel aus dieser Reihe).
Kernarbeitsnormen
Der Kern sozialer Rechte
Zum Kernbereich der sozialen Rechte im Arbeitsleben zählen folgende Konventionen der ILO (International Labour Organization):
Vereinigungsfreiheit und Tarifautonomie:
Nr. 87: Übereinkommen über die Vereinigungsfreiheit und den
Schutz des Vereinigungsrechts (1948)
Nr. 98: Übereinkommen über die Anwendung des Grundsatzes
des Vereinigungsrechts und des Rechts zu Kollektivvertragsverhandlungen (1949)
Freiheit von Zwangsarbeit:
Nr. 29: Übereinkommen zur Zwangsarbeit (1930)
Nr. 105: Übereinkommen über die Abschaffung der Zwangsarbeit
(1957)
Freiheit von Diskriminierung
in Beschäftigung und Beruf, die aufgrund des Geschlechts, der Rasse,
der Hautfarbe, des Glaubensbekenntnisses, der politischen Meinung,
der nationalen Abstammung oder der sozialen Herkunft auftritt:
Nr. 100: Übereinkommen über die gleiche Entlohnung (1951)
Nr. 111: Übereinkommen über die Nichtdiskriminierung am Arbeitsplatz (1958)
Verbot der Kinderarbeit:
Nr. 138: Übereinkommen über das Mindestalter der Zulassung zur
Beschäftigung (1973)
Nr. 182: Beseitigung der schlimmsten Formen von Kinderarbeit
(1999)
Dan Gallin, Generalsekretär der Internationalen Gewerkschaft der
Lebens- und Genußmittelarbeiter/IUL bei der entwicklungspolitischen
Enquete des ÖGB, Oktober 1993:
„Die Demokratie wird nirgends überleben, wenn es dem transnationalen
Kapital gelingt, seine wirtschaftlichen Lösungen auf weltweitem Niveau
aufzuerlegen, und wenn es ihm gelingt, den sozialen Standard zum Beispiel
Chinas, Indonesiens, Russlands, Brasiliens oder El Salvadors den Arbeitern in
Westeuropa und Nordamerika aufzuzwingen. Die Wege, auf denen die Demokratie in Europa und Amerika ausgehöhlt, geschwächt und schließlich zerstört
37
werden kann, können verschieden sein, doch eine Konsequenz steht fest: Wenn
die transnationalen Konzerne das erreichen, was sie vorhaben, so bedeutet das
das Ende der Arbeiterbewegung als große, historische Kraft zugunsten einer
progressiven Veränderung der Welt – ja sogar als Potenzial für den Aufbau
einer sozialen Kraft.
Auch aus diesem Grund haben die Arbeiter sowohl der industrialisierten Welt,
als auch der Entwicklungsländer und der ehemals kommunistischen Länder
das denkbar stärkste gemeinsame Interesse: die Vernichtung der internationalen Arbeiterbewegung zu verhindern.“
Anmerkungen
Gründungskongress des Internationalen Gewerkschaftsbundes, Wien,
1. November 2006:
„Der Kongress bekräftigt erneut, dass die universelle und uneingeschränkte
Achtung der Gewerkschaftsrechte ein Hauptziel des IGB ist und dass die Globalisierung die Erreichung dieses Ziel noch dringlicher macht. Die Achtung
der Gewerkschaftsrechte ist eine Vorbedingung für Gerechtigkeit am Arbeitsplatz, in der Gesellschaft und weltweit. Nur wenn sich Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer uneingeschränkt organisieren können und wenn sie in der
Lage sind, freie Tarifverhandlungen zu führen, können sie einen gerechten
Anteil an dem von ihnen produzierten Wohlstand einfordern und zu Gerechtigkeit, einem Konsens und Zusammenhalt in der Gesellschaft sowie zu
einer nachhaltigen Entwicklung beitragen. Die – immer noch weit verbreitete
– Verletzung der Gewerkschaftsrechte führt zu unlauterem Wettbewerb in
der globalen Wirtschaft und muss sowohl aus wirtschaftlichen als auch aus
Menschenrechtsüberlegungen heraus verhindert werden: Unterdrückung an
einem Ort stellt eine Bedrohung für die Freiheit überall dar. Die Ausbeutung
von mehr als 50 Millionen Beschäftigten, hauptsächlich Frauen, in den Freien
Exportzonen (FEZ) der Welt sind ein konkretes Beispiel dafür, wie die Regierungen dem Druck des unregulierten internationalen Wettbewerbs nachgeben,
um die Gewerkschaftsrechte zu verweigern.“
9. Worin liegt der Unterschied zwischen „importsubstituierender“ und „exportorientierter“ Industrialisierung?
10. Unter welchen Voraussetzungen sind Industrialisierungsprojekte in der Dritten Welt als entwicklungspolitisch positiv zu beurteilen, unter welchen negativ?
38
Anmerkungen
11. Diskutieren Sie die Ursachen der Verschuldungskrise der
Dritte-Welt-Länder in den 80er-Jahren.
12. Was versteht man unter „negativem Ressourcentransfer“?
13. Welche sozialen Auswirkungen hatten diese wirtschaftlichen Vorgänge?
39
Die österreichische
Gewerkschaftsbewegung
und der Nord/Süd-Konflikt
Anmerkungen
Entwicklungspolitik ist für die österreichischen Gewerkschaften
nicht nur eine Aufgabe humanitärer Solidarität für die Benachteiligten dieser Welt, sondern zielt auch auf eine Neuordnung der
wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Nord und Süd ab. Gerechte Rohstoffpreise, gleiche Chancen auf dem Weltmarkt, ein
stabiles Zinsniveau und Kontrolle über die Aktivitäten multinationaler Konzerne sind dafür wichtige Voraussetzungen.
Aus diesen Gründen unterstützt der ÖGB den Solidaritätsfonds des Internationalen Gewerkschaftsbundes/IBG, der vor allem der Organisierung
und Ausbildung von Gewerkschaften in Afrika, Asien und Lateinamerika
zugute kommt. Gleichzeitig sind der ÖGB und die Gewerkschaften auch
direkt in Solidaritätsaktionen aktiv (z. B. gegen die Verletzung von Arbeitnehmerrechten in verschiedenen Ländern).
Als Beitrag zum Kampf gegen die Kinderarbeit unterstützt der ÖGB seit
2000 den Bangladesh Free Trade Union Congress (BFTUC) bei der Organisation zweier Schulen in Dhaka und Sylhet für ehemalige Kinderarbeiter/
-innen. In Zusammenarbeit mit dem ILO-Bildungszentrum in Turin werden regelmäßig Studienaufenthalte außereuropäischer Gewerkschafter/-innen in Österreich durchgeführt, die ein wichtigen Modul in einem internationalen gewerkschaftlichen Lehrgang darstellen. Zum Redaktionsschluss
wurden von verschiedenen Organisationseinheiten darüber hinaus diverse
entwicklungspolitische Projekte mit Gewerkschaftsrelevanz durchgeführt
(vom Verein „weltumspannend arbeiten“ in Linz Projekte betreffend Moldawien und China, vom Internationalen Gewerkschaftsinstitut des ÖGB
betreffend Zimbabwe).
Solidaritätsaktionen
Von der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit Österreichs
fordert der ÖGB die verstärkte Berücksichtigung von Arbeitnehmerinteressen sowie die Orientierung an der Beachtung der Gewerkschaftsrechte bei der Planung von Entwicklungshilfeprojekten:
Der 16. ÖGB-Bundeskongress forderte im Jänner 2007 darüber hinaus verstärkt die Verantwortung international tätiger Unternehmen für Demokratie und Sozialstandards ein:
Forderungen des ÖGB
„In den vergangenen Jahren haben auch zahlreiche Unternehmen mit Stammsitz in Österreich die Vorteile der wirtschaftlichen Globalisierung genutzt. Zunehmend ist es zur Errichtung bzw. Verlagerung von Produktionsstandorten
in bzw. nach Regionen gekommen, in denen es keine oder nur eine sehr geringe
gewerkschaftliche Organisierung gibt und in denen die Einhaltung von Demokratie und Menschenrechte sowie Sozial- oder Umweltstandards keine Rolle
spielt. Global tätige österreichische Unternehmen tragen daher auch globale
Verantwortung für den Schutz oder die Verletzung dieser Werte.
Der ÖGB
x wird seine internationale Gewerkschaftsarbeit aufwerten und die Internationalisierung seiner sozial- und wirtschaftspolitischen Konzeptionen
vorantreiben
40
x wird sich im Rahmen der ILO verstärkt für die Sicherung und Anhebung
von Sozialstandards sowie für die Verwirklichung Gewerkschaftsrechte einsetzen; ergänzend dazu sollen verstärkt Solidaritätsaktionen durchgeführt
werden
x und seine Gewerkschaften sehen es im Sinn internationaler Solidarität als
ihre Aufgabe an, menschenrechtswidrige sowie demokratie-, sozial- oder
umweltschädigende Praktiken von global tätigen Unternehmen in Österreich im Gespräch mit den betroffenen Betriebsräten sowie unter Heranziehung von Experten und NGOs aufzuzeigen und Alternativen einzufordern.
Der ÖGB fordert weiters die Verpflichtung österreichischer Firmen zur
Einhaltung der OECD Guidelines for Multinational Enterprises bei Inanspruchnahme staatlicher Export- und Internationalisierungsförderungen.
Das Ausfuhrförderungsgesetz (AFG) bzw. das Ausfuhrfinanzierungsförderungsgesetz (AFFG) sollte dahingehend angepasst werden. Der Nationale
Kontaktpunkt Österreichs beim BMWA sollte von der Arbeitnehmerseite
verstärkt genutzt werden.“
Anmerkungen
Angesichts der wirtschaftlichen Globalisierung werden Jobs, soziale Errungenschaften und Wohlstand in Europa und Nordamerika auf Dauer
nur dann sicher sein, wenn auch die extreme Verarmung und der sinkende Lebensstandard der Bevölkerungsmehrheit in den Ländern des Südens
überwunden werden. Dazu sind strukturelle Veränderungen der weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen erforderlich – eine Aufgabe, zu der sich
die internationale Gewerkschaftsbewegung und mit ihr auch der Österreichische Gewerkschaftsbund bekennt.
41
Glossar
Anmerkungen
42
O
Antiinflationäre Maßnahmen: Maßnahmen, die von Regierungen in
Absprache mit dem Internationalen Währungsfonds zur Bekämpfung
der Inflation gesetzt werden. In der Regel handelt es sich um Beschränkungen der Kaufkraft breiter Bevölkerungsschichten, z. B. Kürzung von
Subventionen für Grundnahrungsmittel, reale Lohnsenkungen, Verringerung von Sozialleistungen.
O
Barter-Geschäfte: Austausch von Waren unter Vermeidung einer geldmäßigen Verrechnung der Warenwerte; dient vor allem der Einsparung
von Devisen.
O
Charta: Feierliche Erklärung.
O
Dekade: Jahrzehnt.
O
Entkolonialisierung (Dekolonisation): Historischer Prozess des 19. und
20. Jahrhunderts, in dessen Verlauf die abhängigen Territorien Lateinamerikas, des Nahen Ostens, Asiens und Afrikas ihre politische (nicht
aber die wirtschaftliche) Selbstständigkeit erhielten.
O
Exportorientierte Industrialisierung: Industrialisierungspolitik, die auf
die Erzeugung von Exportprodukten abzielt, um dadurch Devisen zu
erwirtschaften. In der Regel mit Investitionsanreizen für multinationale
Konzerne verbunden.
O
Importsubstituierende Industrialisierung: Industrialisierungspolitik,
die auf die Herstellung von bisherigen Importprodukten im eigenen
Land abzielt, um dadurch Devisen zu sparen. In der Regel mit dem Aufbau eines geschützten einheimischen Produktionssektors – oder, wenn
inländisches Investitionskapital fehlt, einer verstaatlichten Industrie –
verbunden.
O
Indikatoren: Anzeichen, Merkmale.
O
Informeller Wirtschaftssektor (Schattenwirtschaft): Wirtschaftsbereich
außerhalb der öffentlich geregelten Marktbeziehungen sowie der Besteuerungs- und Sozialsysteme (vorwiegend bei Handel und Dienstleistungen). Schattenwirtschaft ist eine Reaktion auf die hohe Arbeitslosigkeit in
Entwicklungsländern: Informellen Beschäftigungsmöglichkeiten stehen
schlechte Bezahlung, mangelnder sozialer Schutz und häufig persönliche
Abhängigkeit gegenüber (hoher Anteil an Kinderarbeit).
O
Interdependenz: In unserem Zusammenhang Aufeinander-Angewiesen-Sein von Industrie- und Entwicklungsländern. Schlüsselbegriff des
Endberichts der von Willy Brandt geleiteten „Nord-Süd-Kommission“
von 1979.
O
Internationaler Währungsfonds (International Monetary Fonds): Gemeinsam mit der Weltbank (International Bank for Reconstruction and
Development) im Juli 1944 in Bretton Woods (USA) gegründet. Ursprüngliche Aufgabe war die Überwachung und Absicherung der Währungsbeziehungen (Paritäten) der Mitgliedstaaten untereinander. Seit Anfang
der 80er-Jahre steigende Bedeutung aufgrund der strukturellen Anpassungsprogramme für die Volkswirtschaften der hochverschuldeten Länder (des Südens und des Ostens), die vom IMF durchgeführt werden. Im
Gegensatz zum Weltwährungsfonds versucht die Weltbank neuerdings,
die Anpassungsprogramme sozial und ökologisch abzufedern. In beiden
Organisationen (Sitz: Washington) verfügen die fünf reichsten Industrieländer über die absolute Mehrheit des Stimmrechts.
O
Konzession: hier: Genehmigung zur Förderung bestimmter Bodenschätze (Gold, Erdöl ...).
O
Marginalisierung: Jemand oder etwas wird in die Bedeutungslosigkeit
abgedrängt.
O
Migration: Wanderung (z. B. von Arbeitskräften).
O
Monokultur: Durch kolonialpolitische Eingriffe bedingte Ausrichtung
der (Land-)Wirtschaft von Entwicklungsländern auf ein einziges oder
einige wenige Produkte, die in der Regel für den Export bestimmt sind.
Gegenteil: diversifizierte Wirtschaftsstruktur.
O
Monroe-Doktrin: Erklärung des US-amerikanischen Präsidenten James
Monroe aus dem Jahr 1823, die – gegen die europäischen Kolonialmächte, aber auch gegen die eben unabhängig gewordenen Staaten Südamerikas – den Führungsanspruch der Vereinigten Staaten über die „westliche
Hemisphäre“ proklamierte.
O
Multinationale (Transnationale) Konzerne: Firmen, die abhängige Tochterfirmen in mehr als einem Staat besitzen. Trotz ihrer grenzüberschreitenden Geschäftspolitik bleiben multinationale Konzerne in der Regel
hinsichtlich ihres Stammkapitals, ihrer Konzernzentrale und ihrer Geschäftspolitik an ihr Ursprungsland gebunden.
O
Negativer Ressourcentransfer: Seit Anfang der 80er-Jahre feststellbares
Phänomen: Aus den Entwicklungsländern fließt netto mehr Kapital in
die Industrieländer als umgekehrt. „Entwicklungshilfe“ des Südens an
den Norden.
O
Primärprodukte: Noch nicht weiterverarbeitete Produkte der Landwirtschaft und des Bergbaus (also des primären Wirtschaftssektors).
O
Protektionismus: Maßnahmen der Industrieländer zur Abschottung ihrer Märkte gegen Importe aus Entwicklungsländern: z. B. hohe Zölle,
bürokratische Hindernisse, Einfuhrkontingentierungen etc.
O
Rentabilität: Verhältnis zwischen dem Gewinn einer wirtschaftlichen
Aktivität (z. B. Firma) und dem eingesetzten Kapital.
O
Ressourcen: Hilfsmittel; im wirtschaftlichen Zusammenhang: alle für
die Produktion von Gütern und Dienstleistungen geeigneten Mittel (Anbauböden, Rohstoffe, Energie, Arbeitskräfte und deren Qualifikationsniveau ...).
O
Schuldendienstquote: Anteil der Schulden eines Landes an seinen Exporten von Gütern und Dienstleistungen; Maßstab für die Verschuldung.
O
Schwellenländer: Entwicklungsländer, die aufgrund ihrer hohen durchschnittlichen Industrieproduktion als „an der Schwelle“ zum Industrieland stehend angesehen werden. Beispiele sind Südkorea, Singapur,
Brasilien, Südafrika oder die Türkei. Die Bezeichnung täuscht über die
großen sozialen Unterschiede und die Verelendung großer Teile der Bevölkerung in diesen Ländern hinweg.
O
Terms of Trade: Verhältnis der Import- und der Exportpreise eines
Landes; Gradmesser für die Kaufkraft einer Volkswirtschaft.
O
Variable Zinssätze: Zinssätze sind nicht längerfristig vertraglich festgelegt, sondern schwanken täglich je nach Angebot und Nachfrage.
O
Weltbank: Siehe Internationaler Währungsfonds.
Anmerkungen
43
Beantwortung der Fragen
Anmerkungen
F 1:
– Raubkolonialismus:
Rücksichtslose Aneignung von Bodenschätzen in den Kolonien, Versklavung der Bevölkerung.
– Imperialismus:
Systematische Erschließung von Produktionskapazitäten in den Kolonien (Plantagen, Bergwerke) und flächendeckende politische Beherrschung.
F 2:
Reis- und Schlafmohnanbau in Südostasien, Palmölproduktion in
Westafrika, Viehzucht in Südamerika. – Durch die Anlegung exportorientierter Monokulturen kommt es zu einer Zerstörung traditioneller gesellschaftlicher Strukturen, einer einseitigen Ausrichtung
von Produktion und Infrastruktur zugunsten des Exports einer oder
weniger Produkte sowie zum Verlust der Selbstversorgungsmöglichkeit mit Nahrungsmittel.
F 3:
Woermann und Fanon betonen beide den Vorteil des Kolonialismus für den Aufbau der europäischen Volkswirtschaften. Der Unterschied zwischen ihnen liegt in der politischen und moralischen Bewertung.
F 4:
Die Neuordnung der Weltwirtschaft nach 1945 beruhte auf der Anerkennung des amerikanischen Dollars als Leitwährung und auf
einem System fixer Wechselkurse
F 5:
Zur Entwicklungshilfe kam es aus politischen, wirtschaftlichen und
humanitären Gründen. Im Vordergrund dabei stand der Versuch der
Industrieländer, die traditionellen Beziehungen zu ihren ehemaligen
Kolonien nach Möglichkeit aufrecht zu erhalten.
F 6:
Unter „Interdependenz“ verstand die Brandt-Kommission die gegenseitige Angewiesenheit von Industrie- und Entwicklungsländern
(z. B.: Hebung der Kaufkraft in der Dritten Welt führt zu verstärkten
Exporten der Industrieländer und somit zur Sicherung der Arbeitsplätze).
F 7:
„Terms of Trade“ ist das Verhältnis der Export- und Importpreise
eines Landes.
F 8:
Die Möglichkeiten einer Volkswirtschaft zum Erwerb von Devisen
liegen entweder im Verkauf konkurrenzfähiger Produkte auf den
Weltmärkten oder in der Aufnahme von Krediten oder in Überweisungen von Arbeitskräften im Ausland. Für die Entwicklungsländer,
deren Rohstoffexporte von einem langfristigen Preisverfall charakterisiert sind, sind vor allem die Aufnahme von Krediten und teilweise
auch Überweisungen von Gastarbeitern wichtig.
F 9:
Importsubstituierende Industrialisierung bezweckt die Produktion
von Gütern im eigenen Land, die ansonsten eingeführt hätten werden müssen. Exportorientierte Industrialisierung ist auf die Produktion von Gütern hin ausgerichtet, die auf dem Weltmarkt abgesetzt
werden können. Im ersten Fall sollen Devisen erspart, im zweiten
erwirtschaftet werden.
F 10: Industrialisierungsprojekte in der Dritten Welt sind entwicklungspolitisch positiv zu beurteilen, wenn sie sich in eine bestehende lokale Wirtschaftsstruktur einfügen, der Entwicklung der Volkswirtschaft
dienen, arbeitsintensive Beschäftigungsmöglichkeiten für die einheimische Bevölkerung bieten und ökologisch verträglich sind.
44
F 11: Die Verschuldung der Länder der Dritten Welt stieg in den 70erJahren durch Industrialisierungsprojekte, steigende Rüstungsausgaben und die gestiegenen Erdölpreise. Zur Verschuldungskrise kam
es in den 80er Jahren jedoch durch den plötzlichen Anstieg des internationalen Zinsniveaus, der von der monitaristischen Wirtschaftspolitik der US-amerikanischen Regierung verursacht wurde.
Anmerkungen
F 12: Unter „negativem Ressourcentransfer“ versteht man das Phänomen,
das gegenwärtig mehr Finanzmittel von den Ländern der Dritten
Welt in die Industrieländer zurückfließen als umgekehrt.
F 13: Die strukturellen Anpassungsprogramme des internationalen Währungsfonds führten in vielen Ländern zum Ansteigen der Lebensmittelpreise, zur Einfrierung bzw. Senkung von Löhnen und zur
Verringerung staatlicher Sozial- und Bildungsausgaben. Der Lebensstandard breiter Bevölkerungskreise sank dadurch beträchtlich.
Durch die damit erreichte Einschränkung des privaten Konsums
wurden entsprechende Finanzmittel zur Rückzahlung der Auslandsschulden frei.
45
Literatur
Anmerkungen
ATTAC (Hg., 2003): Die geheimen Spielregeln des Welthandels. WTO-GATSTRIPS-M.A.I. Wien: Promedia.
Becker, Joachim/et al. (Hg., 2003): Geld. Macht. Krise. Finanzmärkte und neoliberale Herrschaft. Wien: Promedia.
Fischer, Karin/et al. (Hg., 1999): Globalisierung und Peripherie. Umstrukturierung in Lateinamerika, Afrika und Asien. Wien: Südwind.
ICTFU/IBFG (2004): Behind the brand names. Working conditions and
labour rights in export processing zones.
http://www.icftu.org/www/PDF/EPZreportE.pdf
ICTFU/IBFG (2006): Jährliche Übersicht über die Verletzung von Gewerkschaftsrechten.
http://www.icftu.org/www/pdf/survey06/Survey06-DE.pdf
Nohlen, Dieter (Hg., 2002): Lexikon Dritte Welt. Hamburg: Rowohlt.
Nuscheler, Franz (1996): Lern- und Arbeitsbuch Entwicklungspolitik. Bonn:
Dietz.
Schlussbericht der Enquete-Kommission (2002): Globalisierung der Weltwirtschaft – Herausforderungen und Antworten.
http://www.bundestag.de/gremien/welt/glob_end/index.html
UNCTAD (2005): Trade and Development Report.
http://www.unctad.org/Templates/WebFlyer.asp?intItemID=
3453&lang=1
UNCTAD (2005): Worldinvestment Report.
http://www.unctad.org/en/docs/wir2004_en.pdf
UNDP (2005): Human Development Report.
http://hdr.undp.org/reports/global/2005
WEED (2001): Kapital braucht Kontrolle. Die internationalen Finanzmärkte:
Funktionsweise – Hintergründe – Alternativen.
http://www.weed-online.org/themen/finanzen/30862.html
Weltkommission für die soziale Dimension der Globalisierung (2004): Eine
faire Globalisierung: Chancen für alle schaffen.
www.ilo.org/public/english/wcsdg/docs/reportg.pdf
46
Name und Adresse:
Anmerkungen
Fragen zur Internationalen
Gewerkschaftsbewegung 3
Wir ersuchen Sie, die folgenden Fragen zu beantworten:*
1. Welche Argumente sprechen für, welche gegen eine verstärkte Unterstützung der so genannten Dritten Welt?
2. Worin sollte Ihrer Meinung nach das Ziel von „Entwicklung“ liegen?
Diskutieren Sie mit Kollegen/-innen darüber.
47
3. Kontrollierter oder völlig freier Markt? Nehmen Sie zu diesem wirtschaftspolitischen Grundproblem Stellung am Beispiel des Unterschieds
zwischen dem Integrierten Rohstoffprogramm und dem Lomé-Abkommen.
Anmerkungen
4. Besprechen Sie mit Kollegen/-innen die im Text angeführten Argumente
von Dan Gallin. Worin kann ein gemeinsames Interesse der Arbeitnehmer in Industrieländern und der Dritten Welt liegen?
* Fernlehrgangsteilnehmer/-innen bitten wir, nach Abschluss der Fragenbeantwortung die Seite(n) mit den Fragen abzutrennen und an folgende
Adresse zu senden:
Fernlehrgang des Österreichischen Gewerkschaftsbundes
1010 Wien, Laurenzerberg 2.
48
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