Zur neuen Qualität von Verunsicherung

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Modul 1: Meine Stellung in der Arbeitswelt
Spiegel der gesellschaftlichen Entwicklung?
Modul 1, Baustein 1, Text 1
„PREKÄR“: Zur neuen Qualität von Verunsicherung, Unsicherheit und Ausgrenzung
Dr. Frank Meng, 2010
Das Orientierungsmaß für soziale Sicherheit
Die Ausbeutung von Arbeitskraft und soziale Ungleichheit sind konstitutiv für kapitalistisch
organisierte Gesellschaftssysteme. Gleichwohl gab und gibt es in den westlichen, demokratisch und wohlfahrtsstaatlich organisierten Gesellschaften prinzipiell so etwas wie ein Grundversprechen auf soziale Sicherheit (vgl. Vogel 2006, S. 74), das die Möglichkeit zur ökonomischen, sozialen, kulturellen und politischen Teilhabe aller Gesellschaftsmitglieder impliziert. Im Grundsatz ist dieses Versprechen auf soziale Sicherheit und Beteiligung bereits in
der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verbürgt.1 Ein noch wichtigeres Dokument
ist der 1966 von der UN-Generalversammlung verabschiedete „Sozialpakt“2, der von der
Bundesrepublik Deutschland 1968 unterzeichnet wurde und seit 1976 in Kraft ist. Ideologisch
inspiriert wurde dieser Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
von der so genannten „Four Freedoms Address“ des ehemaligen amerikanischen Präsidenten F. D. Roosevelt, der schon 1941 gleichberechtigt neben die bürgerlichen Freiheiten die
Freiheit von Mangel und Furcht als Richtmaß für politisches Handeln ausgab.
Mit dem Pakt werden zunächst ein umfassendes Diskriminierungsverbot jenseits von Leistungskriterien und ein Gebot zur Sicherstellung der Gleichberechtigung der Geschlechter als
Richtmaß für politisches Handeln verankert. Als konkrete weitere Vorgaben werden u. a.
genannt:

Es sind geeignete Schritte zur Sicherung des Rechtes auf frei gewählte Arbeit zu unternehmen, mit denen der Lebensunterhalt verdient werden kann. Diese Schritte umfassen
„fachliche und berufliche Beratung und Ausbildungsprogramme sowie die Festlegung
von Grundsätzen und Verfahren zur Erzielung einer stetigen wirtschaftlichen, sozialen
und kulturellen Entwicklung und einer produktiven Vollbeschäftigung“. (Art. 6)

Die Anerkennung des Rechtes auf „gerechte und günstige Arbeitsbedingungen“. Konkret
genannt werden genannt: ein „Arbeitsentgeld, das allen Arbeitnehmern mindestens sichert (…) einen angemessenen Lebensunterhalt für sie und ihre Familien“, „gleiches
Entgeld für gleichwertige Arbeit ohne Unterschied (i.B. nach Geschlecht), „sichere und
gesunde Arbeitsbedingungen“, gleichberechtigte Aufstiegschancen sowie „Arbeitspau-
1
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte in deutscher Übersetzung kann unter folgendem Link abgerufen werden: http://www.ohchr.org/EN/UDHR/Pages/Language.aspx?LangID=ger. Sie wurde 1948 in San Francisco noch unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs und der krisenhaften ökonomischen und sozialen Entwicklung in dessen Vorfeld (sowie sicher auch des Holocausts und der Block-Konfrontation zwischen Ost und
West) verfasst und ratifiziert.
2
Offiziell „Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte“, siehe im Internet unter:
www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Aussenpolitik/Themen/Menschenrechte/Download/IntSozialpakt.pdf
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sen, Freizeit, eine angemessene Begrenzung der Arbeitszeit, regelmäßiger bezahlter Urlaub sowie Vergütung gesetzlicher Feiertage“. (Art. 7)

Die Anerkennung der Vertragsstaaten auf das „Recht eines jeden auf Soziale Sicherheit
(…), diese schließt Sozialversicherung ein“. (Art. 9)
Orientiert an diesen Versprechungen wurden in den westlichen Industriestaaten seit den
1950er Jahren zwei Jahrzehnte lang sukzessive die Finanzmärkte reguliert, der Wohlfahrtsstaat ausgebaut, gesetzliche Standards für die Arbeits- und Marktbeziehungen geschaffen,
deutliche Lohnzuwächse erkämpft und Gleichbehandlungsgrundsätze gesetzlich verankert.
Hintergrund waren eine prosperierende Ökonomie und die bis in konservative Parteien verbreitete Vorstellung, dass die „soziale Marktwirtschaft“ bei entsprechender politischer „Globalsteuerung“ fortgesetzt florieren könne. Soziale Sicherheit und ökonomische Prosperität im
Kapitalismus seien bei der richtigen Regulierung somit zwei Seiten einer Medaille. Theoretische Bezugsfläche dabei war der britische Ökonom John Maynard Keynes, dessen Lehre bis
Anfang der 1970er Jahre fast den Stellenwert eines Paradigmas in der Politik der westlichen
Industriestaaten behaupten konnte.3
Sichere und gute Arbeit in Normalarbeitsverhältnissen, „humane“ Arbeitsbedingungen, stete
materielle Verbesserungen durch die Beteiligung der abhängig Beschäftigten am Produktivitätsfortschritt sowie ein starker Staat mit gut ausgebauten sozialen Wohlfahrts- und Sicherungssystemen bilden die Richtschnur für die Bewertung dessen, was als soziale Sicherheit
bewertet wird. Für die Phase vom Zweiten Weltkrieg bis zur Mitte der 1970er Jahre sieht der
Soziologe Ulrich Beck (1986) diese Kriterien in der BRD eingelöst. Er spricht von einer
„Wohlstandsexplosion“ und einem „Fahrstuhleffekt“, der die Unterschiede zwischen den sozialen Schichten zwar keineswegs nivellierte, jedoch für alle mehr Wohlstand, Freizeit und
Bildung nach sich zog. Auf dieser Vorstellung basiert die Annahme die Erklärung für einen
besonderen ideologischen Konsens speziell in der BRD, der mit Begriffen wie Sozialpartnerschaft und später Rheinischer Kapitalismus etikettiert wurde. Diese Form der „sozialen
Marktwirtschaft“, deren häufig erkämpfte „Wohltaten“ stets unter einem Finanzierungsvorbehalten von Seiten der Unternehmen und des Staates standen, ist bis heute der Resonanzboden für die Bestimmung sozialer Unsicherheit und Ausgrenzung größerer und wachsender
Bevölkerungsteil, deren Trägergruppe auch in Deutschland als so genanntes Prekariat bezeichnet wird.
Die erneute Entfesselung des Kapitalismus
Noch ehe der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 1976 in
Kraft trat, die emanzipative Regulierung des Kapitalismus und der Arbeitsbeziehungen also
offiziell zur internationalen Richtschnur wurde, hatte sich der ideologische Wind gedreht. Es
ist eine bezeichnende Chiffre, dass der marktradikale Wirtschaftswissenschaftler Milton
Friedman im selben Jahr den Nobelpreis für Ökonomie erhielt. Schon fünf Jahre zuvor hatte
der amerikanische Präsident Nixon mit der Aufkündigung einer 1944 beschlossenen Weltfi3
„Im Jahr 1971 verkündet der {konservative] amerikanische Präsident Richard Nixon: „Wir sind nun alle Keynesianer.“ Wir. Damit meinte Nixon die großen Industrienationen der Welt. Die Deutschen. Die Franzosen. Die
Japaner. Und eben auch die Amerikaner“ (Schäfer 2009, S. 36).
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nanzordnung erste Fakten geschaffen, indem er das System fester Wechselkurse für beendet erklärte. Spätestens mit der Wahl von Margaret Thatcher zur englischen Premierministerin 1979 und dem Amtsantritt von Ronald Reagan zum amerikanischen Präsidenten zwei
Jahre später folgt eine bis heute andauernde Phase der Deregulierung von Arbeitsbeziehungen und Marktverhältnissen sowie des Sozialabbaus, kurz: der Entfesselung des Kapitalismus. Den politischen Paradigmenwechsel und dessen Auswirkungen für die Lohnabhängigen beschreiben Brinkmann u.a. (2006, S. 15f.) mit Bezug auf den französischen Soziologen
Robert Castel wie folgt:
„In der Verklammerung mit entkommodifizierender Sozialpolitik und ausdifferenzierten sozialen Sicherungssystemen verwandelte sich Lohnarbeit in ein zentrales Bindemittel der Gesellschaft. Eine – tendenziell lebenslängliche – Vollzeitbeschäftigung, ausgestattet mit einem dauerhaften, oberhalb eines kulturellen Minimums Existenz sichernden Einkommens und einem
Set an sozialen Statusrechten, sei für die Masse der Lohnabhängigen über Jahrzehnte zur entscheidenden Bedingung gesellschaftlicher Teilhabe geworden. Seit den 1970er Jahren werde
die marktkorrigierende Wirkung sozialstaatlicher Regulationen, die selbst entfremdete Lohnarbeit mit einer besonderen gesellschaftlichen Integrationskraft ausgestattet hätte, jedoch immer
schwächer. Im Ergebnis spalteten sich die nachfordistischen Lohnarbeitsgesellschaften in
mehrere Zonen. Die „Zone der Integration“ mit noch immer geschützten Normalarbeitsverhältnissen schrumpfte. Zugleich entstehe eine „Zone der Entkoppelung“; in der sich Gruppen befänden, die mehr oder minder dauerhaft von regulärer Erwerbsarbeit ausgeschlossen seien.
Zwischen diesen beiden Zonen expandiere eine „Zone der Prekarität“, die ein heterogenes
Sammelsurium aus jeder Zeit „verwundbaren“ Arbeitsverhältnissen umfasse.“
Die Aktivitäten zur ökonomischen Deregulierung und Entmachtung des Staates im Westen
erfolgten mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten und inhaltlichen Schwerpunkten.4 Im
Zentrum standen

die Liberalisierung der Finanzmärkte, und damit verbunden ein gewaltiger Schub weltweiter Spekulation und Unternehmensübernahmen durch Finanzkapitalgesellschaften,

die Entflechtung und Privatisierung staatlicher Unternehmen, nicht selten übernommen
ebenfalls von Finanzkapitalgesellschaften mit nur kurzfristigen Gewinninteressen,

die internationale Öffnung der Märkte,

die aktive Entmachtung der Gewerkschaften (besonders dramatisch in Großbritannien)
und die Deregulierung der Arbeitsbeziehungen (z. B. Kündigungsschutz),

massive Steuererleichterungen für Unternehmen und Besserverdienende,

der Abbau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen und schließlich

die Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme.
Für Deutschland und Europa besonders einschneidende Ereignisse, mit denen die ökonomische Deregulierung vorangetrieben wird, waren die Schaffung eines europäischen Binnen-
4
Siehe hierzu Schäfer 2009, S. 39 bis 70.
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marktes 19925 und die Einführung der gemeinsamen Währung. Sie erhöhten die Konkurrenz
massiv und damit den Druck der Staaten die angeführten politischen Maßnahmen noch zu
beschleunigen. Durch die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten hat zudem die
Welle an Privatisierungen, verglichen mit anderen westlichen Staaten, ein ganz eigene Qualität.
Wie sehr die seit Ende der 1970er Jahre eingeschlagene, häufig als „Neoliberalismus“ gekennzeichnete politische Ausrichtung sich als Paradigma ins kollektive Bewusstsein der politischen Klasse gebrannt hatte, wurde ab 1998 nach der Bildung der rotgrünen Regierung
unter Kanzler Gerhard Schröder deutlich. Statt der zunehmenden sozialen Ungleichheit und
gestiegenen Deregulierung nach 16 Jahren konservativer Regierung unter Helmut Kohl korrigierend zu begegnen, wurde die Politik weitergeführt und sogar verschärft. Wichtige Marksteine der politisch forcierten Entfesselung des Kapitalismus durch Deregulierung und Umverteilung waren neben der Fortsetzung der Privatisierung staatlicher Unternehmungen, die
Zulassung hochspekulativer Finanztransaktionen oder der Lockerung des Kündigungsschutzes vor allem die größte Steuerreform der Nachkriegsgeschichte, die Riester-Rente und die
Hartz-Gesetzgebung.
Die Steuerreform von 2000 mit einem Umfang von 70 Milliarden DM beinhaltete nicht nur
deutliche Senkungen des Spitzensteuersatzes und der Körperschaftssteuer. Wesentlich einschneidender noch die vollständige Steuerbefreiung von Gewinnen aus der Veräußerung
von Anteilen an Kapitalgesellschaften durch Kapitalgesellschaften.
„Gemeint ist: Wenn Unternehmen einen Teil ihres Konzerns verkaufen, müssen sie auf den
Erlös keine Steuern mehr zahlen. Schröder und Eichel eröffnen den Konzernen damit die Möglichkeit, Firmen mit Zehntausenden von Jobs steuerfrei hin- und herzuschieben. Sie befördern
ein gewaltiges Monopoly der Unternehmen. (…) Der Steuersatz von null setzt das fatale Signal,
dass Unternehmen nur noch sich selbst verpflichtet sind, nicht mehr den Beschäftigten oder
dem Land“ (Schäfer 2009, S. 65f.).
Die Hartz-Gesetzgebung ersetzt nicht nur das alte System der Arbeitslosenhilfe durch das so
genannte Arbeitslosengeld II, womit Erwerbslose nach 12 Monaten faktisch auf das Niveau
der Sozialhilfe gesetzt werden, es baut vor allem so genannte atypische Beschäftigungsverhältnisse aus. Die Leih- und Zeitarbeit wird erleichtert, wobei ein equal-pay-Grundsatz durch
die Möglichkeit abweichender Tarifverträge mit Leiharbeitsfirmen im Gesetz selbst ausgehebelt wird. Auch der Ausbau von Mini- und Midijobs als Formen geringfügiger Beschäftigung,
die keinen (Mini) bzw. keinen hinreichenden (Midi) Sozialversicherungsschutz bietet, ist Gegenstand der Hartz-Gesetze.6 Auch die Möglichkeiten der vormals streng reglementierten
Befristung von Arbeitsverhältnissen wurden deutlich gelockert.
Diese „neoliberale“ Politik, welche die gesamte westliche Welt als ideologische Klammer
erfasste und mindestens bis zu ihrem vorläufigen Kollaps mit der Weltfinanzkrise 2008 eine
5
Der deutsche Vizepräsident der EG-Kommission, Karl-Heinz Narjes, nannte diesen Vorgang die „größte Deregulierung der Wirtschaftsgeschichte“ (vgl. Schäfer 2009, S. 60).
6
Mit der Riester-Rente wird im Übrigen staatliche Rente deutlich gekürzt und baut die private Altersversorgung
auf. Auch dadurch entstehen neue Herausforderungen und Unsicherheiten bei den abhängig Beschäftigten.
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ungeheure Dynamik entfaltete, hatte nachhaltige Folgen und evozierte eine neue Qualität
von Verunsicherung, Unsicherheit und Ausgrenzung. Dabei hat das sozialstaatlich konstituierte Normalarbeitsverhältnis als Leitbild für soziale Sicherheit weiterhin einen konstitutiven
Charakter. Der am gesellschaftlichen Fortschritt orientierte Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte hat offiziell zwar weiterhin politische Geltung, er
scheint jedoch gänzlich aus dem Blick geraten zu sein.
Folgen der Entfesselung des weltweiten Kapitalismus für die Beschäftigten
Die Folgen der skizzierten politischen Entwicklung sind für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch in Deutschland gravierend. Indem politisch stimuliert existentielle Sicherheiten der Beschäftigten als Grundlage für die Ausbildung eines kalkulierende unternehmerischen Habitus zugunsten eines rein betriebswirtschaftlich-kalkulierenden Denkens geopfert
wurde, breiten sich unsichere Beschäftigungs- und Lebensverhältnisse deutlich aus (vgl.
Brinkmann u.a. 2006, S. 14). Konkret heißt dies zunächst, dass eine wachsende Zahl von
Beschäftigten in atypischen Beschäftigungsverhältnissen7 tätig ist. Allein im Zeitraum von
1997 bis 2007 stieg die Anzahl um über 50 Prozent (vgl. Statistisches Bundesamt 2008).
Inzwischen arbeitet jedeR vierte abhängig Beschäftigte nicht in einem Normalarbeitsverhältnis. Die Anzahl der Leiharbeitnehmerinnen und –arbeitnehmer vervierfachte sich in diesem
Zeitraum fast, das Ausmaß der sozialstaatlich weitgehend ungeschützten, geringfügig Beschäftigten verdoppelte sich auf fast 2,8 Millionen (ebd.).
Angesichts der Schwäche der Gewerkschaften8, der erhöhten Konkurrenz in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit, des Ausbaus konzerninterner Standortkonkurrenzen und der politischen
Förderung atypischer Beschäftigung stieg auch der Druck auf die Löhne gewaltig. So fiel die
Netto-Lohnquote (Anteil der Löhne an den verfügbaren Einkommen aller privaten Haushalte)
von 1991 bis 2009 um über 10 Punkte auf nur noch 38,4%, während die ausgeschütteten
Unternehmensgewinne deutlich gestiegen sind (vgl. Böckler-Impuls, Heft 19/2009, S. 1). Die
Reallöhne in den 15 alten EU-Staaten stiegen von 2000 bis 2008 zwischen 3 Prozent und 40
Prozent; in Deutschland war dagegen ein Reallohnverlust von 0,8 Prozent zu verzeichnen,
wobei die unteren Einkommensgruppen stark überproportional betroffen waren.9 Immer mehr
Personen müssen mit einem Haushaltseinkommen unterhalb der Niedriglohngrenze (70%
des mittleren Einkommens) leben10 und die durchschnittlichen Niedriglöhne sind tendenziell
fallend. Bei den Beschäftigten in atypischer Beschäftigung ist das Risiko eines (prekären)
7
Das Statistische Bundesamt fasst unter solchen Beschäftigungsverhältnisse (a) befristete Arbeitsverhältnisse,
(b) Teilzeitbeschäftigungen mit 20 oder weniger Stunden, (c) Zeit- bzw. Leiharbeitsverhältnisse und (d) alle
Formen geringfügiger Beschäftigung. Erfasst wird dabei ausschließlich die Haupterwerbstätigkeit (vgl. Statistisches Bundesamt 2008, S. 6).
8
Symptomatisch für die Schwäche der deutschen Gewerkschaften ist die Forderung nach Mindestlöhnen, die
lange Jahre und aus einer Position der Stärke als Gefahr für eine Lohnspirale nach unten abgelehnt wurde.
9
Auswertungen des Sozioökonomischen Panels (SOEP) zeigen, dass zwischen 2000 und 2006 ausschließlich die
Löhne des untersten Viertels der abhängig Beschäftigten rückläufig waren (vgl. Böckler Impuls Heft 3/2010).
10
In 2007 mussten 6,5 Millionen Erwerbstätige für einen Niedriglohn arbeiten, über zwei Millionen mehr als
noch 1995 (vgl. Böckler Impuls, Heft 13/2009).
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Stundenlohns unterhalb der Niedriglohnschwelle 3,5 x höher als dies bei Personen aus Normalarbeitsverhältnissen der Fall ist (vgl. Brehmer u. Seifert 2008, S. 510). Und dabei ist auch
die atypische Beschäftigung in den allermeisten Fällen die Hauptquelle zur Sicherung des
Lebensunterhaltes (vgl. Statistisches Bundesamt 2008, S. 21).
Der Verlust von relativer sozialer Sicherheit aus dem Beschäftigungssystem verlief synchron
zur Erosion der sozialen Sicherungssysteme und des Wohlfahrtsstaates. Die soziale Unsicherheit und drohende gesellschaftliche Marginalisierung verstärken sich dadurch weiter. In
besonderer Weise betroffen von dieser Entwicklung sind Frauen sowie Migrantinnen und
Migranten.
Zur Kennzeichnung der Trägergruppen von den genannten neuen Formen von Verunsicherung und Ausgrenzung ist seit einem guten Jahrzehnt auch in Deutschland der Begriff des
Prekariats verbreitet. Doch worum handelt es sich bei dieser Gruppe? In seiner berühmten
Rede „Prekarität ist überall“ aus dem Jahre 1997, in der er die Verunsicherung und Ausgrenzung als politisches Projekt entlarvt, fasst der französische Soziologe Pierre Bourdieu die
Trägergruppe sehr weit und subsummiert alle Arbeitskräfte ohne klassisches Normalarbeitsverhältnis. Für ihn zählen befristet Beschäftigte im privaten und öffentlichen Sektor ebenso
dazu wie unsicher Beschäftigte im Kultur-, Medien- oder Bildungsbereich. Er begründet dies
mit einer allumfassenden Verunsicherung und „Destrukturierung“ der Betroffenen, die häufig
in eine Apathie führen kann.
„Beinahe überall hat sie identischen Wirkungen gezeigt (…): die Destrukturierung des unter
anderem seiner zeitlichen Strukturen beraubten Daseins und der daraus resultierende Verfall
jeglichen Verhältnisses zur Welt, zu Raum und Zeit. Prekarität hat bei dem, der sie erleidet,
tiefgreifende Auswirkungen. Idem sie die Zukunft überhaupt im Ungewissen läßt, verwehrt sie
den Betroffenen jede rationale Vorwegnahme der Zukunft und vor allem jenes Mindestmaß an
Hoffnung und Glauben an die Zukunft, das für eine vor allem kollektiv Auflehnung gegen eine
noch so unerträgliche Gegenwart notwendig ist“ (Bourdieu 1997).
Spätere Studien, in denen immer wieder auf die Unschärfe des Begriffs verwiesen wird, versuchen dagegen, ausgehend von atypischen Beschäftigungsverhältnissen, eine Eingrenzung
und nehmen dabei das Lohnniveau und die Lebenslagen der Beschäftigten in den Blick.
Brinkmann u. a. beziehen sich auf das Erwerbssystem und kommen zu folgender ersten Definition:
„Als prekär kann ein Erwerbsverhältnis bezeichnet werden, wenn die Beschäftigten aufgrund
ihrer Tätigkeit deutlich unter ein Einkommens-, Schutz- und soziales Integrationsniveau sinken, das in der Gegenwartsgesellschaft als Standard definiert und mehrheitlich anerkannt wird.
Und prekär ist Erwerbsarbeit auch, sofern sie subjektiv mit Sinnverlusten, Anerkennungsdefiziten und Planungsunsicherheit in einem Ausmaß verbunden ist, das gesellschaftliche Standards deutlich zuungunsten der Beschäftigten korrigiert“ (Brinkmann u.a. 2006, S. 17).
Dass zumindest ein Haushaltseinkommen im Niedriglohnbereich ein notwendiges Kriterium
bei der Zuordnung zum Prekariat ist, scheint inzwischen weitgehend Konsens. Unter eine
solche Definition fällt weder die befristet beschäftigte Junior-Professorin, der gut bezahlte
freiberufliche Journalist noch dessen Ehegattin, die neben der Kindererziehung auf einer
halben Stelle in einem Stadtplanungsbüro tätig ist.
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Sicher ist jedoch, und das wird mit dem Text hoffentlich deutlich, dass ein wachsender Bevölkerungs- und Beschäftigtenteil mit Rekurs auf eine Phase relativer Prosperität mit einer
erneuten Form der Ausgrenzung und Verunsicherung konfrontiert ist.
Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Suhrkamp:
Frankfurt a. M., v.a. S. 121-160.
Brehmer, W. u. Seifert, H. (2008), Sind atypische Beschäftigungsverhältnisse prekär? Eine
empirische Analyse sozialer Risiken, in ZAF, Heft 4/2008, S. 501-519).
Bourdieu, Pierre (1998): Prekarität ist überall. In: Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste
des Widerstands gegen die neoliberale Invasion. Konstanz: UVK, 96-102.
Brinkmann, U., Dörre, K., Röbenack, S., Kraemer, K. u. Speidel, F. (2006), Prekäre Arbeit:
Ursachen, Ausmaß, soziale Folgen und subjektive Verarbeitungsformen unsicherer Beschäftigungsverhältnisse, Hrsg. Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn
Schäfer, Ulrich (2009), Der Crash des Kapitalismus – Warum die entfesselte Marktwirtschaft
scheiterte, Frankfurt a.M.
Statistisches Bundesamt (2008) Atypische Beschäftigung auf dem deutschen Arbeitsmarkt
(Begleitmaterial zum Pressegespräch am 9. September 2008 in Frankfurt am Main), Wiesbaden
Vogel, B. (2006), Sicher – prekär, in: Lessenich, S. u. Nullmeier, F. (Hrsg.), Deutschland –
eine gespaltene Gesellschaft, Frankfurt/New York
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