Kanada und die Vereinten Nationen – Hat der Multilateralismus noch eine Zukunft? Vortrag von Prof. Dr. Wilfried von Bredow Manche Fragen sind so formuliert, dass die Antwort auf jeden Fall beruhigend ausfällt. So auch bei der Titelfrage dieser Veranstaltung: Doch, aber selbstverständlich, in den internationalen Beziehungen hat der Multilateralismus durchaus eine Zukunft, und nicht nur das – er wird nachgerade wichtiger und auch attraktiver denn je. Aber damit ist das Thema freilich noch nicht abgehakt. Es stellen sich z. B. folgende Anschlussfragen: Aus welchen Gründen wird der Multilateralismus künftig noch wichtiger und attraktiver? Warum bietet er sich gerade für ein Land wie Kanada an? Welche Bedeutung besitzen die Vereinten Nationen für Länder, die wie Kanada ihre Außenpolitik zu einem großen Teil mit der Methode des Multilateralismus betreiben? Und schließlich, ohne dem Thema eine ungebührliche germano-zentrische Drehung geben zu wollen: Gibt es Rückbezüge von der Ausrichtung der kanadischen Außenpolitik auf die deutsche Außenpolitik? 1. Was bedeutet Multilateralismus in der Außenpolitik? Auf der akteurs-bezogenen Ebene internationaler Politik, kann man Multilateralismus definieren als eine außenpolitische Methode, mittels derer ein Staat seine eigenen nationalen Interessen dadurch durchzusetzen unternimmt, dass er sie in ein Interessenpaket mehrerer Staaten integriert. Dieses Interessenpaket wird dann gemeinsam durchzusetzen angestrebt. Internationale Abstimmungen formaler und informeller Natur, Allianzen, internationale Organisationen und Regime – all das sind Elemente multilateraler Politik. Auf der struktur-bezogenen Ebene, also der des internationalen Systems, kann man Multilateralismus als eine in den letzten Jahren erheblich an Gewicht gewinnende Bedingung erfolgreicher Außenpolitik begreifen. Warum dieser Bedeutungszuwachs eingetreten ist und sich weiter fortsetzt, liegt auf der Hand – Art und Zahl grenz-überschreitender Handlungen von Staaten und anderen Akteuren haben sich enorm vermehrt; zwischen den Akteuren haben sich (asymmetrische) wechselseitige Abhängigkeiten ausgebildet, so dass eine Politik des Unilateralismus, also eine Außenpolitik der unbedingten Interessendurchsetzung ohne Rücksicht auf andere Interessen, kaum noch möglich ist. Selbst den mächtigsten Akteuren im internationalen System bietet sich der Unilateralismus wegen seiner hohen Kosten nur in Ausnahmefällen als optimale Handlungsstrategie an. 2. Kanadischer Multilateralismus Kanadas außenpolitisches establishment und die politische Öffentlichkeit des Landes gleichermaßen sehen das Land in der Regel als eine Mittelmacht. Für diese (etwas diffuse) Kategorie von staatlichen Akteuren hat der Multilateralismus eine besondere Anziehungskraft. Denn sie sind erstens weniger den Versuchungen zum wirklich demonstrierten oder nur simulierten Unilateralismus ausgesetzt als die Großmächte, zweitens sind sie aber wirkungsvoll genug, um nicht nur aus Gründen ihrer niedrigen Stellung auf der Rangskala der Staaten einen „Multilateralismus der Schwachen“ inszenieren zu müssen. Kanada möchte als eine Mittelmacht mit Einfluss wahrgenommen werden, „a middle power which makes a difference“. In der Zeit des Ost-West-Konflikts bildete sich ein kanadischer Außenpolitik-Stil heraus, der vor allem auf dem Feld der Diplomatie und mittels des kooperativ ausgerichteten Einsatzes von MachtRessourcen nicht nur den nationalen Interessen des Landes, sondern auch der pfleglichen Weiterentwicklung der internationalen Ordnung dienen sollte – und dabei eine Reihe von beachtlichen Erfolgen errang. (Es gab auch Misserfolge, denn ein Allheilmittel ist solche Art Diplomatie auch wieder nicht.) Anders gesagt: Kanada hat sich seit 1945 nicht so sehr auf seine militärische und wirtschaftliche Stärke zur Verfolgung seiner Interessen verlassen, stattdessen mehr auf sanftere Mittel der Beeinflussung und Überzeugung anderer Akteure. Insofern ist Kanada ein gutes Beispiel für die Wirksamkeit einer Außenpolitik, die sich primär sogenannter weicher Macht-Mittel bedient. Um den Unterschied zwischen weichen und harten Macht-Mitteln zu verdeutlichen, genügt es vielleicht, auf eine Passage aus einer Studie von Joseph S. Nye, Jr. aufmerksam zu machen: 2 Getting other states to change might be called the directive or commanding method of exercising power. Command power can rest on inducement (‚carrots‘) or threats (‚sticks‘). But there is also an indirect way to exercise power. A country may achieve the outcomes it prefers in world politics because other countries want to follow it or have agreed to a system that produces such effects. In this sense, it is just as important to set the agenda and structure the situations in world politics as it is to get others to change in particular situations. This aspect of power, that is, getting others to want what you want – might be called indirect or co-optive power.1 Die indirekte oder kooperative Einsatz-Methode für Macht bedient sich in der Regel jener Ressourcen, die man verkürzt und ein wenig vergröbert eben als soft power bezeichnet. Der soft power-Ansatz ist und war immer die erste Option der allermeisten Staaten, einfach weil er kostengünstig ist. Ein Staat braucht aber einen Mix von hard power- und soft power-Ressourcen, um sich erfolgreich zu behaupten. Kanada hat bei der Pflege seiner soft power-Ressourcen eine Menge Kreativität entwickelt. (Zuweilen gibt es auch Kritik an den kanadischen Regierungen, weil sie die Pflege der hard power-Ressourcen des Landes vernachlässigen.) Übers ganze gesehen, hat Kanada jedoch den Ruf erworben, ein verlässlicher, ernsthafter und glaubwürdiger Verhandlungspartner in Konfliktsituationen zu sein, in denen solche Maklerdienste erwünscht und notwendig waren. Dies war vor allem in der Konstellation des Ost-West-Konflikts so. Dieser Konflikt war ja in mehrfacher Hinsicht besonders brisant, und es brauchte hier zur Aufrechterhaltung eines Minimums an Inter-Block-Kommunikation nicht nur ein paar (schwächere) neutrale Staaten, sondern auch in den beiden antagonistischen Blöcken Akteure, die als vermittelnde Zwischenträger fingieren konnten, ohne dass sie deswegen ihre jeweilige Intra-BlockSolidarität Zweifeln aussetzten. Im westlichen Lager war diese Rolle Kanada sozusagen auf den politischen Leib geschrieben.2 Und darüber hinaus spielte Kanada auch eine wichtige Mittlerrolle entlang der Konfliktlinie zwischen den westlichen Staaten und den sich in den fünfziger und sechziger Jahren aus ihrem Kolonialstatus befreienden Ländern der dann bald so bezeichneten Dritten Welt. Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts ist der kooperativ ausgerichtete Einsatz von MachtRessourcen noch wichtiger geworden, für Kanada in der neo-kontinentalistischen Konstellation von FTA und NAFTA sogar ganz besonders, denn für das Land ist das Verhältnis zu dem in jeder Beziehung übermächtigen Nachbarn im Süden ein Dauer- und Strukturproblem. Kanada hat seit 1990 immer wieder versucht, das Arsenal an multilateralen Instrumenten, das ihm zur Verfügung steht, zu vergrößern. 3. Kanada und die Vereinten Nationen An dieser Stelle kommen die Vereinten Nationen ins Spiel. Kanadas Außenpolitiker haben länger als viele andere an der Vorstellung festgehalten, dass die UNO nach dem Ende des Ost-West-Konflikts nicht mehr in der Hauptsache nur ein Forum internationaler Politik bleiben würde. Wenn denn Multilateralismus immer mehr zu einer Bedingung internationaler Politik wird, dann erhöht sich die Bedeutung der Rolle von internationalen Organisationen, die ja in sich ein Stück Multilateralität verkörpern. Deshalb hat Kanada in den neunziger Jahren großen Wert auf die Unterstützung der UNO gelegt und selbst eine Reihe seiner außenpolitischen Aktivitäten mit den Vereinten Nationen verknüpft. Nach Ablauf des Jahrzehnts und vor allem auch nach Ablauf der zweijährigen Mitgliedschaft im Sicherheitsrat der UNO scheint derzeit im kanadischen Außenministerium eine leise Enttäuschung über die Bilanz der vergangenen Jahre verbreitet zu sein. Die großen Hoffnungen auf wirksame und humanitär inspirierte internationale Ordnungspolitik von internationalen Organisationen wie der UNO (oder, auf regionaler Ebene, der OSZE) haben sich nur zu geringen Teilen erfüllt. 4. Mittelmacht mit Haushaltsproblemen 1 Joseph S. Nye, Jr.: Bound to Lead. The Changing Nature of American Power. New York (Basic Books) 1990, S. 188. 2 Im östlichen Lager versuchte zeitweise Polen diese Rolle zu übernehmen; jedoch gelang das seit den fünfziger Jahren immer weniger gut. 3 Die Außenpolitik eines Staates bleibt unverständlich, wenn man nicht seine Innenpolitik mit den Blick nimmt. Die kanadische Innenpolitik der Regierungsjahre Chrétien war in starkem Maße von der Mühe geprägt, die öffentlichen Schulden zu reduzieren und den Haushalt auszugleichen. Dabei war die Regierung überraschend schnell erfolgreich, aber dieser Erfolg setzte erhebliche Einsparungen bei den öffentlichen Haushalten voraus. Davon war auch die Außenpolitik betroffen. Was macht man, wenn man als Mittelmacht keine Einbußen an seiner internationalen Präsenz und seinem internationlem Image hinnehmen möchte, aber bei den Mitteln zur Aufrechterhaltung von beidem äußerst sparsam verfahren muss? Die kanadische Antwort darauf heißt: NischenDiplomatie. In einer sich globalisierenden Welt gibt es so viele grenz-überschreitende Probleme aller Art, dass eine zur Sparsamkeit angehaltene Mittelmacht nicht überall eingreifen kann. In den Worten einer kanadischen Politologin: Canada must be more selective and focus on particular issue areas where there is Canadian expertise and/or a comparative advantage. Suggested niches include peace building, human rights, particularly women’s rights and children’s rights, and the protection of natural resources, to name a few. Our policy initiatives should be, in the words of liberal economies, effective and efficient. The aim is to achieve maximum impact... A response to the cost of more diffuse diplomacy, this result-oriented diplomacy has three components. First, mission-oriented diplomacy is characterized by functional leadership and coalition building...The second component is the inclusion of, and the provision of an enhanced role for, NGOs. Third, the diplomacy is characterized by issue linkage3. Mit dieser Konzeption ist Kanada im allgemeinen gut gefahren. Freilich hat es bezüglich der Selektion der Nischen auch interne Kritik gegeben. 5. Aus deutscher Perspektive Wenn man nun sozusagen ein paar Schritte zurücktritt und sich speziell einer deutschen Perspektive4 bedient, stößt man auf eine Reihe überraschender Beobachtungen. Die Ausgangssituation für die bundesrepublikanische Außenpolitik 1949 und auch wiederum 1990 ist wahrlich ganz und gar anders als die der kanadischen Außenpolitik –geopolitisch wie historisch. Auch muss hier erwähnt werden, dass die zunehmende Einbindung der deutschen Außenpolitik in eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union ein (besonders spannender) Aspekt ist, der einen Vergleich erschwert. Andererseits kann man auch die Behauptung wagen, dass manche Gemeinsamkeiten in Bezug auf Multilateralismus und soft powerapproach, die heute zwischen Deutschland und Kanada auszumachen sind, in Zukunft zwischen der EU und Kanada bestehen werden. Auf jeden Fall gibt es eine Reihe von deutsch-kanadischen Gemeinsamkeiten, von denen die wichtigste vielleicht der auch für die Bundesrepublik überragende außenpolitische Grundsatz des Multilateralismus ist. Aus diesem Grundsatz ergeben sich für Deutschland eine Reihe von Folgerungen, die eine gewisse Parallelität deutscher und kanadischer Außenpolitik aufweisen: - auch für Deutschland besitzen internationale Organisationen, sowohl solche der kollektiven Verteidigung, als auch solche der kollektiven Sicherheit eine sehr wichtige Rolle; - unter den zuletzt genannten sind es vor allem die UNO und die OSZE, die für Deutschland im letzten Jahrzehnt als besonders wichtig erachtet wurden; - auch in Deutschland war die schwächer als erwartet ausgefallene performance dieser beiden Organisationen ein Grund für Enttäuschung; - in mancherlei Beziehung kann Deutschland von der außenpolitischen Initiativfreudigkeit der kanadischen Regierung Lehren ziehen, z. B. im Kontext peacekeeping, human security (allerdings in abgespeckterer Version); Heather A. Smith: „Niche Diplomacy and Mission-Oriented Behaviour: A Critical Assessment“. In: Andrew F. Cooper and Geoffrey Hayes (eds.): Worthwhile Initiatives? Canadian Mission-Oriented Diplomacy. Toronto (Irwin Publ.) 2000, S. 15 f.. 4 Damit ist zweierlei gemeint: erstens eine Beurteilung der kanadischen Außenpolitik von Deutschland aus und zweitens eine Art Vergleich der Voraussetzungen, Ziele und Methoden kanadischer und deutscher Außenpolitik. Beides hier freilich nur in Form einer groben Skizze. 3 4 - beide Länder stehen vor der Aufgabe, ihre Rolle im internationalen System auf besonders sorgfältige Weise immer wieder neu zu justieren, was z. B. das Verhältnis zu den USA betrifft oder die in die Arbeit der UNO zu investierenden Ressourcen. Kurz: von einer Intensivierung der Koordination ihrer außenpolitischen Perzeption und ihres außenpolitischen Vorgehens könnten beide Länder nur einen Gewinn ziehen.