The Tyee Kanadas Pro Publica Ich habe das kanadische Online-Magazin als Station für mein Burns-Fellowship gewählt, weil ich etwas ganz anderes machen wollte, als meinen Job zuhause bei einer großen Tageszeitung: Der Plan ist aufgegangen! „The Tyee“ ist in einer Zeit entstanden, als die großen Tageszeitungen in Kanada in die Krise geraten sind – Anfang der 2000er. Überall wurde gespart und fusioniert. Der Tyee sieht sich als Gegenbewegung, als „independent media“, abseits der „mainstream media“. Und das sagt auch schon der Name: Tyee ist in der Sprache der indigenen Völker ein Fisch, der gegen den Strom schwimmt, das Wort steht aber für eine anerkannte Führungsfigur, deren Meinung andere folgen. Anders als viele andere Online-Plattformen verschreibt sich der Tyee der longform, will heißen, die Artikel sind meist sehr lang und sehr fundiert. Dabei konzentriert sich das Magazin auf Schwerpunkte: Umweltthemen, Energie (das ist in Kanada eines der wichtigsten wirtschaftlichen Themen), Bildung, Arbeitswelt, indigene Völker und Kultur. Das Team des Tyee ist klein und jung: Etwa zehn Schreiber sind regelmäßig im Büro, viele freie Mitarbeiter bekommt man nie zu Gesicht. Die Redaktion hat jede Menge Journalistenpreise abgeräumt und steht für seriösen, kritischen Journalismus. Berichtet wird objektiv, aber die Haltung ist klar: Es geht darum, Missstände aufzudecken. Dabei hat der Tyee eine klare Brille auf: die Weltanschauung ist linksliberal und ökologisch. Deswegen stehen auch die Themen Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit ganz oben. Obwohl der Tyee diese klare Haltung vor sich her trägt, genießt er in allen Gesellschaftsschichten Respekt. Ein Vertreter der kanadischen Botschaft sagte zu mir (er ist von den Konservativen): „Ich mag die Meinung des Tyee nicht immer, aber ich schätze das Portal. Die machen gute Arbeit.“ Unabhängig zu sein bedeutet für den Tyee auch andere Finanzierungsformen zu haben, als traditionelle Medien. Der Finanzierungsmix setzt sich aus mehreren Quellen zusammen. Manche nennen den Tyee das Pro Publica Kanadas. Denn ähnlich wie die New Yorker Plattform finanziert sich auch der Tyee teilweise über Spenden. Dieser Teil ist aus rechtlichen Gründen von der Hauptredaktion abgetrennt (wer in Kanada Spenden entgegennimmt, darf sich nicht politisch äußern). Hier werden längere Rechercheprojekte finanziert, meist arbeitet einer der Redakteure über einen bestimmten Zeitraum Vollzeit an einem Projekt in „Tyee Solutions“, wie der spendenfinanzierte Arm des Tyee heißt. Der spannendste Teil des Finanzierungsmix sind in meinen Augen die Beiträge der Leser. Freiwillig – ganz ohne paywall – abonnieren Leser den Tyee monatlich. Jeder gibt dabei, so viel er möchte, von fünf Dollar bis 50 oder noch mehr. Der Gedanke dahinter: Der Tyee sieht sich als Teil einer lebendigen Demokratie, dazu gehört unabhängige Information. Und die soll für alle Bürger gleichermaßen zugänglich sein, Geld soll nicht die Schranke darstellen. Die Leser, die den Tyee abonnieren, werden „Builder“ genannt. Sie bekommen, ähnlich wie Aktionäre, jährliche Berichte, wie ihr Geld investiert wurde. Die Berichte stehen allesamt im Internet auf der Homepage des Tyee zum Download bereit. Während ich in Vancouver war, gelang es der Reaktion über Leserfinanzierung den ersten Korrespondenten in der Geschichte des Tyee nach Ottawa zu schicken. Die Redaktion sammelte mit der Aktion „Tyee goes national“ weit über 100.000 kanadische Dollar ein, genug um in der Hauptstadt zu starten. Zudem wurde eine Chefredakteurin eingestellt, die künftig einen Teil der Arbeit von Gründer David Beers übernehmen soll. Dementsprechend gut ist auch die Stimmung: Während andere Medien sparen und entlassen, gibt es beim Tyee einen sichtbaren Aufwärtstrend. Das heißt nicht, dass hier der Rubel rollt, im Gegenteil: Die Redaktion ist nicht üppig ausgestattet, bis auf die Festangestellten bringen die Mitarbeiter (auch Burns Fellows) ihre eigenen Laptops mit. Während ich dort war, gab es auch Probleme mit dem Umzug in ein neues Büro. Zeitweise arbeiteten alle von zuhause aus, das ist jedoch nicht die Normalsituation. Die Redakteure sind allesamt sehr jung, der Umgangston freundlich und sehr kollegial. Ich habe mich während meiner Zeit auf zwei Kernthemen fokussiert und konnte die Kollegen immer ansprechen. Sie waren extrem hilfsbereit. Zu Beginn hat mir Dave Beers eine Tour d’Horizon durch alle möglichen Themen gegeben, die ich in Vancouver beackern könnte. Ich war erstaunt: Dass sich Chefs so gut auf Fellows vorbereiten, kommt selten vor! Auch bei jeder Recherche konnte ich mich darauf verlassen, dass mir die kanadischen Kollegen bei Ansprechpartnern gern helfen, auch wenn ich Geschichten für die Redaktion zuhause gemacht habe. Recherche in Archiven hingegen war etwas schwierig, da das Tyee-Budget zu knapp für teure Archiv-Anbieter ist. Meistens habe ich mich mir daher mit frei verfügbaren Quellen beholfen und Think Tanks u.ä. direkt kontaktiert. Das ist der große Nachteil einer so kleinen Publikation. Interessant war für mich zu sehen, wie sehr an einem Thema geschliffen wird, um den richtigen Dreh zu finden, der die Leser interessieren wird. Und wie dann die Geschichten gezielt über soziale Medien bei den Lesern landen. Und abgesehen davon ist Vancouver im Sommer in Sachen Lebensqualität unschlagbar!