1 - Die Medienrevolution – 50 Jahre Theodor-Wolff

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Die Medienrevolution – 50 Jahre
Theodor-Wolff-Preis
Vor fünfzig Jahren sind die Texte erschienen, die mit den
ersten Theodor-Wolff-Preisen ausgezeichnet wurden – Ein
halbes Jahrhundert Zeitungsgeschichte wird besichtigt.
Von Thomas Löffelholz
Der Kalte Krieg hatte einen Höhepunkt erreicht: Die Mauer teilt
Berlin. Ein Reporter steht in der Bernauer Straße und beschreibt, wie
die Fenster auf der Südseite zugemauert werden und Menschen in
Panik auf die Straße springen – in die Freiheit. Und manche in den
Tod. „Im Berliner Wedding stirbt eine Straße.“ Die Reportage wird
mit einem der ersten Theodor-Wolff-Preise ausgezeichnet. Als er
übergeben wird – 1962 – stand die Welt näher an einem Atomkrieg
als je zuvor und wohl auch jemals seither. Sowjetische Schiffe –
beladen mit Atomraketen – nahmen Kurs auf Kuba.
Und heute? Die Mauer ist gefallen, die Sowjetunion existiert nicht
mehr; der Ost-West-Konflikt ist Geschichte. Viele der Feinde aus
jenen Zeiten sind Freunde geworden, sind nun mehr Mitglieder der
NATO und der Europäischen Union. Die Slowenen, Slowaken und
Esten zahlen nicht mehr mit Tolar oder Kronen; ihre Währung ist der
Euro. Moskau gehört inzwischen zu den G8 – jener Gruppe
führender Industriestaaten, die Mitte der siebziger Jahre Helmut
Schmidt und Valery Giscard d’Estaing initiierten, damals noch als
G6.
Wer freilich die Schlagzeilen der Zeitungen sieht oder die Bilder und
Debatten im Fernsehen, spürt sofort: Die Welt ist nicht einfach schön
geworden. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Die
Klimakatastrophe steht vor der Tür. Fukushima erlebt den SuperGau. Deutsche Soldaten sterben in Afghanistan in einem nicht mehr
nur „kalten“ Krieg. Terror gehört zu unserer Welt. Dioxin und
Pestizide bringen uns um. Und die Gesellschaft altert. Der Bestseller
der letzten Jahrzehnte heißt: „Deutschland schafft sich ab“. Und
Deutschland hat ein Armutsproblem. „Die Armut bei Kindern hat in
der Bundesrepublik Deutschland einen historischen Höchststand und
eine neue Qualität erreicht“, klagt das Rote Kreuz. „Wutbürger“ ist
das Wort des Jahres 2010. Logisch!
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Und auch die Welt der Medien und Zeitungen ist eine andere
geworden. Gewiss, am Zeitungskiosk hängen die Blätter wie 1961.
Millionen von Lesern holen auch heute am Morgen die Zeitung aus
dem Briefkasten. Aber die gedruckten Medien stehen inzwischen in
einem gnadenlosen Konkurrenzkampf. 1961 gab es in der
Bundesrepublik einen einzigen Fernsehkanal und ein Dutzend
Radiostationen. Privater Rundfunk? Ein absurder Gedanke!
Privatfernsehen? Eine Schnapsidee! Noch nicht einmal das ZDF war
auf Sendung.
Heute buhlen weit über 30 Fernsehsender um die Gunst der
Zuschauer. Dramatische Bilder und Nachrichten erreichen uns aus
allen Kontinenten. Die Türme des World Trade Centers stürzen in
der Ecke unseres Wohnzimmers zusammen, Sekundenbruchteile
nach dem Einschlag in New York. Wir sind dabei, wenn auf dem
Tahrir-Platz in Kairo Ägyptens Präsident Muhammad Mubarak
hinweggefegt wird. Für einen Augenblick sind wir alle Ägypter. Wir
hören Gaddafis wütende Reden, wir sehen live, wie der Tsunami
ganze Städte in Japan hinwegschwemmt und wie die Atommeiler in
Fukushima explodieren.
Wir sind informiert. Wir brauchen – so scheint es – kein bedrucktes
Papier. Wir brauchen kaum Worte; wir haben die ganze Welt im
Blick. Und dabei muss es nicht einmal Fukushima oder Gaddafi sein.
Wenn ein Haus im Westerwald niederbrennt und darin vier
Menschen sterben oder Halbstarke in einer Berliner U-Bahnstation
einen Menschen fast tot schlagen: Wir sitzen auf unserem Sofa und
schauen zu. Manche Fernsehsender – CNN, n-tv, N24 und Phoenix,
– senden Nachrichten und das pausenlos. Man muss auch nicht
mehr auf die Zuschauertribünen des Bundestags steigen, um unsere
Abgeordneten und Regierenden debattieren zu hören. Viele der
„Redeschlachten“ werden dem Wähler, wenn er sie denn unbedingt
sehen will, frei Haus geliefert. Sogar Heiner Geißlers Stuttgart-21Schlichtung konnte der Bürger daheim über Wochen Wort für Wort
verfolgen.
Wir informieren uns zu Tode
Und dann auch noch das Internet! Was den Profis der Medien
entgeht, liefern „YouTube“, „Facebook“ und „Wikileaks“.
Amateurvideos zeigen uns Szenen, die die professionellen Medien
verpassten oder bei denen ihnen – wie in Damaskus oder Teheran –
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von der Staatsgewalt der Zugang mit Knüppeln und Gewehren
versperrt wurde.
Journalisten haben in diesen Jahrzehnten auch ihr Vorrecht verloren,
als „vierte Gewalt“ exklusiv ihre Meinung zur Entwicklung der Welt zu
äußern. „Blogger“ melden sich rund um die Uhr zu Wort. Vor zwölf
Jahren wusste niemand, was ein „Blog“ ist. Das Wort war noch nicht
einmal erfunden. Und Blogger sind nicht alles: Der Leser und Hörer
kann heute im Netz zu allem und jedem seine Meinung sagen, ob
klug oder dämlich, richtig oder falsch, wen schert’s. Und er stimmt
dann auch gleich noch über das, was da gesagt und geschrieben
wird, ab: „Gefällt mir!“ – „Gefällt mir nicht!“. Ein Sturzbach von
Meinungen, Urteilen, von „Gut!“ oder „Schlecht!“ geht auf den
Menschen nieder. Neil Postman hat es in einem berühmten Buch
vorausgesehen: „Wir amüsieren uns zu Tode!“ Denn wer kann in
dem Katarakt des Neuen und der Sensationen noch den Überblick
behalten?
Dabei hatten die Medien – als die ersten Theodor-Wolff-Preise
vergeben wurden – die größte Revolution bei der Verbreitung von
Nachrichten schon lange hinter sich: Es gab Telefon und Telegraf.
Als Napoleon 1815 die Schlacht von Waterloo verlor, erfuhr man
davon in London – zwei Eisenbahnstunden oder den Bruchteil einer
Internetsekunde vom Schlachtfeld entfernt – vier Tage lang nichts.
Dann erst meldeten die britischen Zeitungen den historischen Sieg.
Amerika erreichte die Nachricht über die Schlacht, in der 40.000
Soldaten starben und die Europa veränderte, sechs Wochen
nachdem Napoleon sein Waterloo erlebt hatte.
Das war 1961 ganz anders. Die Meldung vom Start des Sputniks
oder vom Bau der Mauer erreichte die Redaktionen sofort.
Zeitungmachen war schneller, hektischer, fordernder geworden. Dies
galt doppelt, weil in einer sich globalisierenden Welt die Staaten sehr
viel stärker voneinander abhingen und zudem durch Bündnisse – wie
NATO oder EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) –
miteinander verflochten waren. Auch was jenseits der Ozeane
geschah, ging jetzt alle an. Internationale Konferenzen wurden
Alltag. Welche Herausforderung für die Medien!
Anfang der 1960er Jahre beklagte dann auch ein Korrespondent in
Paris die Unrast der neuen Welt. Traurig erinnerte er sich der guten
alten Zeit, als er morgens zum Zeitungsstand ging, die französischen
Blätter kaufte, sich zur Lektüre in ein Café setzte, nachdachte, einen
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Pernod nahm, und mit Kollegen, die sich ebenfalls einfanden und die
auch einen Pernod nahmen, prüfte, ob die Ereignisse fortgeschritten
genug seien, um dem Leser in Deutschland unterbreitet zu werden.
Und oft beschloss man, dass die Dinge doch lieber noch etwas
reifen sollten. So wichtig war das meiste, was jenseits des Rheins
geschah, zuhause nun auch wieder nicht.
Wie haben sich die Zeiten geändert, klagte der Mann. Er ahnte nicht,
wieviel schlimmer es kommen würde. Ungezählte Fernsehkameras
verfolgen heute rundum die Welt jeden halbwegs wichtigen Politiker.
Die Redaktionen werden mit Depeschen und mit Bildern zugedeckt,
und wehe dem Korrespondenten, der nicht genau weiß, was sich
gerade im Kreml oder im Weißen Haus abspielt.
Die Allgegenwart der Kameras zeigt plastisch, wie archaisch die
Kommunikation 1961 noch war. Stenographen saßen in den
Redaktionen; die Korrespondenten diktierten ihre Texte über das
Telefon in den Block. Erst allmählich ersetzten Tonbandgeräte das
Stenogramm. Fernschreiber – Telexe – gab es nur in
Redaktionsbüros und Agenturen. Und auf Faxgeräte, die heute
schon altmodisch erscheinen, musste man noch zwanzig Jahre
warten. Dass ein Redakteur auf dem Computer Texte schreiben
könne, die ohne Umwege auf die Zeitungsseiten wandern, war
unvorstellbar.
Denn die Seiten wurden damals noch in Blei gegossen. Als am 22.
November 1963 – kurz bevor die Zeitung in Druck ging – die
Nachricht vom Attentat auf John F. Kennedy eintraf, wurden zwanzig
dramatische Zeilen mit der tonnenschweren Setzmaschine gesetzt:
„Attentat auf Kennedy – schwerverletzt“. Minuten später wurde der
kleine Bleiblock – noch warm – mit der Sensation zum Umbruchstisch getragen. Da trifft die Nachricht ein: Kennedy ist tot. Keine
Chance, die bleiernen Sätze zu ändern. Nur in der Schlagzeile – die
aus einzelnen Buchstaben von Hand zusammengesetzt wurde –
hätte man dem Leser die aufrüttelnde Nachricht noch liefern können:
„Kennedy tot“. Doch der verantwortliche Redakteur entschied: „Was
nicht in der (bleigegossenen) Meldung steht, kann auch nicht in der
Schlagzeile stehen“. Logisch!
Heute hat der Redakteur bis zur letzten Minute Zugriff auf die
Nachricht, kann korrigieren, nachschieben, aktualisieren. Und
trotzdem scheint es fast ein Wunder, dass sich die Zeitungen in dem
rasenden Wettlauf mit den elektronischen Medien behaupteten.
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„Nichts ist so alt, wie die Zeitung von gestern“, hieß es früher. In
unseren Tagen kann die „Zeitung von heute“ – inmitten der
Schnelllebigkeit der elektronischen Medien – schon alt aussehen.
Weshalb sich alle Zeitungen inzwischen auch „online“ zu Wort
melden.
Und doch sind sie nach wie vor da: Leitartikel, Glossen, Reportagen
und Nachrichten füllen die Seiten, 2011 wie 1961. Bilder spielen
allerdings – schaut man auf die alten Zeitungen – heute eine ganz
andere Rolle. Damals waren die vorderen Seiten der
anspruchsvollen Abonnementszeitungen „Bleiwüsten“, auch aus
technischen Gründen. Aktuelle Fotos konnten nicht in
sekundenschnelle rund um den Globus abgerufen werden. Auf
Farbfotos mussten die Leser der Boulevardblätter sogar noch Jahre
warten. 1969 veröffentlichte die „Bild“-Zeitung ihr erstes Foto in
Farbe: Neil Armstrong betritt den Mond.
Heute kommt keine Zeitung ohne Bilder und Farbe aus. Und dies ist
nur ein Teil der Zeitungsrevolution. Denn 1961 verschwendete man
– sieht man von den Boulevardblättern ab – an die Grafik, die Optik
und das Layout kaum einen Gedanken. Heute sitzen Artdirektoren
und Layouter in den Redaktionen. Ihre Namen stehen im Impressum
und ihr Wort hat Gewicht. Um den fernsehgewöhnten und
verwöhnten Leser zu erreichen, müssen die Blätter „Eindruck“
machen. Und so werden inzwischen für das Layout Medienpreise
wie für brillante Texte vergeben.
Der Irrweg des Kurz-kurz-kurz
Der Weg in die neue Medienwelt war freilich nicht gradlinig. Die
Allgegenwart des Fernsehens ließ viele Redaktionen und Verlage
zunächst glauben, auch die Zukunft der Zeitung liege vor allem in
Bildern und knalligen Schlagzeilen. „USA Today“, die 1982
gegründete Tageszeitung, bildergeprägt, mit knappen Texten galt
vielen Medienmachern rund um den Globus als Vorbild. Es schien
der logische Weg, um die Information nicht dem Fernsehen und den
elektronischen Medien ganz zu überlassen. Der moderne Mensch –
so die These – nimmt sich wenig Zeit, um zu lesen und schon gar
nicht für anspruchsvolle Texte. Im Fernsehen ist in 1:30 alles gesagt.
Und auch die Rundfunkkommentare, die in den 1960er Jahren noch
fünf Minuten lang sein durften, müssen in unserer hektischen Welt
kürzer werden.
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Doch die Devise „kurz, kurz, kurz“ erwies sich für die Zeitung als
Irrweg. Das zeigen die Theodor-Wolff-Preis-gekrönten Texte der
vergangenen Jahre. Kurz zu sein, garantiert keine Aufmerksamkeit.
Meinungsforscher sagen inzwischen, das Gegenteil ist der Fall. Mit
dem emotionalen Bild, der aufrüttelnden Schlagzeile, der schnellen
Nachricht kann die Zeitung den Wettlauf gegen die elektronischen
Medien nicht gewinnen. Sie hat den eindringlichen Text, die
gründliche Information, die bewegende Reportage den
elektronischen Medien voraus. Hier müssen sich die Zeitungen
behaupten. Es klingt altmodisch: Aber Theodor Wolff weist mit
seinen intensiven Analysen, Essays, Erzählungen auch für die
modernen Zeiten den richtigen Weg.
Emotionen wecken Aufmerksamkeit
Wer die Texte liest, die in den vergangenen 20 Jahren mit dem
Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet wurden, erkennt die Stärke der
Zeitung. Es sind faszinierende und bewegende Beiträge. Obwohl
sich auch an ihnen der Medien-Umsturz der Jahrzehnte ablesen
lässt. Die preisgekrönten Artikel sind emotionaler und persönlicher
geworden. Es sind eher Geschichten als Analysen oder
grundsätzliche Betrachtungen. Einzelschicksale stehen oft im
Mittelpunkt: Der Herzkranke, der – fast ohne Hoffnung – über
Wochen hin auf sein neues Herz wartet; der kleine Junge, den die
Eltern in die Babyklappe legen und ein paar Stunden später
zurückholten, zu ihrem Glück. Der Obdachlose, der als „Waldschrat“
im Wald haust und von einer vorbeijoggenden engagierten Frau
ganz langsam in die moderne Welt zurückgeführt wird; das MultikultiHaus in Kreuzberg; die Geschichte eines Frankfurter
Trinkhallenbesitzers und dessen – zum Teil dahinvegetierenden –
„Saufkundschaft“ oder das Porträt des Fotografen, dessen Leben es
war, Lady Di immer im Sucher zu haben. Texte, die – auch wenn es
um einzelne Schicksale geht – doch Fragen an die ganze
Gesellschaft stellen.
In den letzten Jahren wurden zudem immer wieder Artikel
ausgezeichnet, in denen Journalisten über persönliche Erfahrungen
berichteten, über den Konflikt, der sich an der Rolle des Vaters bei
der Erziehung der eigenen Kinder entzündet; über die Gefühle des
Journalisten, als er einer Partei beitritt; über das glückliche Leben mit
dem eigenen behinderten Kind oder über die „Bewältigung“ der
Erinnerung an den RAF-Mord am Patenonkel: Alfred Herrhausen.
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Brillante Texte, emotionaler und gerade darum oft sogar fesselnder
als seine, die in früheren Jahrzehnten ausgezeichnet wurden.
Doch dies hat auch eine Kehrseite, die zum Nachdenken über die
modernen Medien zwingt. Beiträge, die sich mit großen politischen
Themen oder gesellschaftlichen Fragen beschäftigen, sind unter den
preisgekrönten Arbeiten rar geworden. Vor 25 Jahren (1987) gingen
drei Preise an Essays über die Barschelaffäre, Lothar Späths
politischen Aufstieg und die provozierende Behauptung:
„Deutschland ist teilbar.“ Vor vierzig Jahren (1971) wurden Texte
ausgezeichnet, die untersuchten, wie die Proteste der 68er das
Denken der Gesellschaft verändert hatten, welche Rolle das
Fernsehen für die Entwicklung eines Politikers spielte, die die
politische Bedeutung de Gaulles würdigten und die mit den
überzogenen Erwartungen abrechneten, die am Ende der
Wunderjahre an die Wirtschaft gestellt wurden. Analytische und
nachdenkliche Betrachtungen.
In einer Welt aber, in der die Bilder und Berichte über jede mittlere
Katastrophe, wo immer sie sich ereignet, uns zuverlässig gemeldet
werden – jedes Flugzeugunglück vom anderen Ende der Welt, jeder
dramatische Autounfall auch in 500 Kilometer Entfernung –, da ist es
schwerer geworden, den Leser zu erreichen und zu fesseln. Das
aber können bewegende Geschichten. Sie ragen aus dem
unendlichen Strom der Bilder, Nachrichten, Informationen heraus. Es
sind zudem journalistische Unikate. Dass Texte – verknüpft mit
bewegenden Einzelschicksalen und zum Teil sogar mit persönlichen
Erlebnissen – mehr Aufmerksamkeit wecken und ausgezeichnet
werden, spiegelt den Umbruch in der Welt der Zeitungen und der
Medien wider.
Bilder und Worte
Vielleicht haben sich aber auch die Erwartungen der Leser geändert.
„Die Medienbürger des digitalen Zeitalters“, so schreibt Ernst Elitz,
der viele Jahre Intendant des Deutschlandradios war und
Medienwissenschaften lehrt, „handeln nicht mehr nach Normen, die
lange als unverrückbar galten. Für das Private galt ein
Vermummungsgebot. ... In Winnenden veröffentlichten Eltern Fotos
ihrer ermordeten Kinder – lachend und lebenszugewandt – um ihnen
nach dem Amoklauf ein ‚Gesicht zu geben’. Mit diesen
hochemotionalen Bildern konfrontierten sie die Politik.“ Elitz
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formuliert „zwölf Thesen für einen besseren Journalismus“. Eine von
ihnen lautet: „Menschliche Schicksale bieten bessere Argumente als
Politikerreden“ und „Die Medien müssen mit Emotionen und mit
erschütternden Bildern argumentieren.“
Kommen wir noch einmal auf die Bilder zurück. „Ein Bild sagt mehr
als tausend Worte!“ Der Satz ist zu einer Art medialem
Glaubensbekenntnis geworden. Der britische Werbefachmann Fred
R. Barnard erfand ihn, als man vor neunzig Jahren in London über
Werbeplakate auf den Straßenbahnen stritt. Dreist erklärte er ihn zu
einer chinesischen Weisheit, „damit die Leute ihn ernst nehmen“.
Doch ob chinesisch oder Straßenbahn: Man nimmt ihn ernst. Ja, er
scheint die Offenbarung der modernen Medienwelt.
„Am Anfang war das Wort!“ Ein absurder Gedanke. „Am Anfang war
das Bild!“ Bewegende und anrührende Bilder und Schicksale
faszinieren den Leser stärker als die nüchterne Analyse. Die Frage
ist freilich: bieten „menschliche Schicksale“ und „erschütternde
Bilder“ tatsächlich immer die „besseren Argumente“? Beschwören
sie nicht oft die Gefahr herauf, dass Gefühle die Vernunft
überwältigen. Die meisten Bilder, sogar die „erschütterndsten“,
sagen nichts, wenn der Betrachter sie nicht einordnen kann.
Jede Gesellschaft, auch die reichste, auch die gerechteste,
produziert Tag für Tag ungezählte „erschütternde Bilder“ und
„bewegende, menschliche Schicksale“. Sogar in der Natur, die vielen
Menschen in unserer Welt der Technik als das Gute schlechthin
erscheint, ist das Erschütternde allgegenwärtig. Beispielsweise wenn
der Gepard die Antilope tötet oder ein Tsunami ganze Landstriche
verwüstet. Die Natur kennt keine Regeln menschlicher Moral. Sie
kennt auch keine Gnade. Und an erschütternden Bildern, mit denen
man eine „Kampagne“ fahren kann, ist in der Medienwelt unserer
Tage nie Mangel. Notfalls liegen sie im Archiv bereit. Aber sagen
Bilder, was sie sagen?
Zum Sinnbild des ersten Golfkriegs wurde ein ölverschmierter,
totgeweihter Kormoran. Das Bild rüttelte die Menschen auf, als
Saddam Hussein Öl in den Golf laufen ließ. Experten warnten, das
brennende Öl werde die Welt verdunkeln und das Klima rund um
den Erdball zerstören. Was bedeutet es in diesem Zusammenhang,
dass der sterbende Kormoran den Golf nie zu Gesicht bekommen
hatte. Sein Bild lag im Archiv, wo es kampagnenfähige Journalisten
fanden, um die Menschheit aufzurütteln. Es ging schließlich um den
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Frieden in der Welt!
Man könnte auch die Bilder des an Aids sterbenden Kindes nehmen,
die die Bundesbürger aufrüttelten, als 1994 über aids-verseuchte
Blutkonserven debattiert wurde. Panik verbreitete sich. Todkranke
verzichteten auf Transfusionen: Lieber tot als Aids! Nur, die Bilder
waren zehn Jahre alt und hatten mit Blutkonserven nichts zu tun. Es
gab seit Jahren keine einzige aids-verseuchte Blutkonserve. Was
also sagt ein Bild?
Bilder, die kommentieren
Wenn man genauer hinsieht, ist die Entwicklung noch verblüffender:
Bilder, die heute die vorderen Zeitungsseiten dominieren, sind oft
eher Symbole als Dokumente. Denn Bilder können Kommentare
sein oder sie ersetzen, so paradox es klingt. Der Kormoran oder das
sterbende Baby belegen ja nicht das, was sie zu belegen scheinen.
Da schlittert eine Regierung in die Krise und das Foto zeigt die
entgleisten Gesichtszüge von Kanzlerin und Vizekanzler. Jetzt weiß
der Dümmste, was los ist. In Wahrheit stammt das Bild (fast) immer
aus dem Archiv und hat mit der sich gerade entwickelnden Krise
nichts zu tun. Vielleicht entstand es, als sich die beiden gerade bei
einer besonders dummen Rede eines Kollegen langweilten. Was
also sagen Bilder?
„Der Depressionstod von Robert Enke (dem Torhüter des
Fußballvereins Hannover 96) hat uns radikal vor Augen geführt, dass
Medien frühzeitig gesellschaftliche Tabus brechen müssen, um
Menschen vor Katastrophen zu bewahren“, heißt es in den
erwähnten „Zwölf Thesen“ von Elitz. Die Bilder der trauernden Fans,
der Mitspieler, gruben sich so tief ein, dass Margot Käßmann als
Vorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in ihrer
Neujahrspredigt 2010 Enkes Depressionen und seinen Tod als
Beispiel zitierte und hinzufügte: „Nichts ist gut, wir erschrecken,
wenn wir erkennen, wie bei uns eine solche Atmosphäre der
Gnadenlosigkeit herrscht und alle immer stark sein müssen – wie
unmenschlich!“
Schauen wir für einen Augenblick nicht auf Robert Enke, sondern in
die Statistik. Sie zeigt: die Selbstmordgefahr ist dramatisch
gesunken. 2008 nahmen sich in Deutschland halb so viele
Menschen das Leben wie 1980. Dabei werden die Menschen älter.
Und alte Menschen neigten laut Studien eher dazu, ihrem Leben ein
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Ende zu setzen. Das macht den Rückgang noch erstaunlicher. In der
„Standardisierten Sterberate durch Suizid“ wird die Altersstruktur
berücksichtigt: altersbereinigt ist die Zahl der Selbstmorde sogar um
sechzig Prozent gesunken. Wo immer sich 1980 fünf Menschen das
Leben nahmen, sind es heute noch zwei. Offenbar haben Politik,
Gesellschaft und Medizin Unglaubliches erreicht.
Aber diese Nachricht hat gegen Enke keine Chance. Wir sehen die
trauernden Kicker und schreiben wissend und wütend: Die Politik,
die Vereine, der Fußballbund und die Gesellschaft haben versagt!
Die Frage ist nur, verstellen Bilder, die solche Emotionen aufrühren,
nicht den Weg zu wirklicher Information.
Medien, die jede „Katastrophe“ rund um den Globus in
Sekundenbruchteilen in unsere Wohnzimmer bringen, zeigen eine
Welt, die von Unheil, Gefahr, politischem und gesellschaftlichem
Versagen geprägt ist. Dioxin steckt in den Eiern, Millionen Tonnen
Erdöl laufen im Golf von Mexico ins Meer, ein Anschlag auf dem
Moskauer Flughafen kostet 36 Menschen das Leben, in Duisburg
endet die Love Parade mit 21 Toten. Und dann auch noch Stuttgart
21, Guttenberg, Fukushima und Sarrazin!
Erstaunlich ist allein, dass wir in dieser Welt des Rinderwahns, des
Dioxins und der Pestizide immer älter werden. „Unser Leben währet
70 Jahre, und wenn es hoch kommt, so sind’s 80 Jahre“, lehrt uns
die Bibel. Hätte es – als der 90. Psalm niedergeschrieben wurde –
kritische Journalisten gegeben, sie hätten melden müssen: „Die
Zahlen sind erschreckend falsch!“ Denn die allerwenigsten erlebten
damals auch nur den siebzigsten Geburtstag. Die erste überlieferte
Sterbetafel – 1693 in Breslau erhoben – zeigt, noch vor 300 Jahren
war die Hälfte der Menschen mit zwanzig Jahren tot.
Seit 2008 aber ist das biblische Alter von achtzig Jahren in
Deutschland der Normalfall. Und genauso alt oder sogar älter
werden die Menschen in jedem sechsten Land der Welt. Ein Rekord!
Dabei spiegeln diese Zahlen das wahre Maß der Veränderung nicht
einmal wider. Vor zwanzig Jahren gab es noch kein einziges Land, in
dem der Durchschnittsbürger auf achtzig Jahre hoffen konnte. In
einem Wimpernschlag der Geschichte ist die Lebenserwartung des
Menschen weltweit um vier Jahre gestiegen, in den beiden größten
Staaten – China und Indien, wo mehr als ein Drittel der Menschheit
lebt – sogar um sechs! Was nicht verhindert, dass wir unter dem
Titel „Unser täglich Gift“ in den Medien anschaulich gezeigt
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bekommen, wie uns die modernen Lebensmittel – „vollgepumpt mit
chemischen Stoffen“ – vom Leben zum Tode befördern.
Wir rütteln den Leser auf, indem wir die Lebensgefahren der
Pestizide, Fungizide, Konservierungsmittel oder des Kunstdüngers
beschwören. Die Frage, wo die Menschheit stünde, gäbe es keine
Pestizide, Fungizide, Konservierungsstoffe und keinen Kunstdünger,
wird nicht gestellt. Dabei hat die Tatsache, dass die
Lebenserwartung dramatisch gestiegen ist und dass heute über
sieben Milliarden Menschen auf der Erde leben, nichts mit Bio oder
Öko zu tun, sondern mit Technik, Medizin und menschengemachter
Chemie. Immer weniger Krankheiten „nehmen heute einen tödlichen
Ausgang", meldete schon vor Jahren das Statistische Bundesamt.
Und auch andere „Lebensgefahren“, wie verdorbene Lebensmittel,
Mutterkorn, Schimmel, Fleischvergiftung (Botulismustoxin), an denen
früher Millionen starben, spielen gerade in den
Industriegesellschaften keine Rolle mehr. Technik und Chemie
bewahren uns davor. Dass die heißgeliebte „Natur“ Gifte
hervorbringt, an denen gemessen, die meisten von Menschen
gemachten Gifte fast harmlos sind, wird kaum vermerkt.
Die journalistische Weisheit, dass die schlechte Nachricht die gute
Nachricht ist, hat in unseren Zeiten eine neue Dimension
bekommen. Einmal, weil wir über eine unendliche Menge an
schlechten Nachrichten aus allen Teilen der Welt verfügen; vor allem
aber, weil dadurch der Druck wächst, emotionaler,
skandalisierender, jubelnder, hysterischer zu berichten, um den
Leser und den Hörer zu erreichen. Auch die politische Sprache wird
lauter. Kein Wunder, dass die Schlagzeilen in den Medien
inzwischen oft Kommentare sind. Statt nüchtern Fakten zu
beschreiben, sprechen sie Gefühle an, jubeln, verdammen,
verurteilen. Schlagzeilen manifestieren oft (Vor-)Urteile, bevor der
Leser die Chance hat, sich sein Bild zu machen.
Hier liegt eine Herausforderung für den Qualitätsjournalismus. Dass
Journalisten mit erschütternden Bildern „argumentieren“ oder
„Kampagnen fahren“, um Missstände aufzudecken, mag hin und
wieder nötig sein. Doch Zeitungen – gerade Qualitätszeitungen –
müssen sich der Aufgabe stellen, dem Leser jenes Maß an
Informationen zu geben, das ihm ein eigenes, sachgerechtes Urteil
ermöglicht.
Dolf Sternberger – einer der großen deutschen Politikwissenschaftler
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– hat in den Jahren der ersten Theodor-Wolff-Preis-Vergaben die
Rolle der „Journalisten im Staatsleben“ wie folgt beschrieben: „Der
erste und wahrhaft elementare Beitrag der Journalisten zum Staat –
das erste, was sie in Freiheit für den Staat tun, auch tun müssen und
tun sollen – ist nicht zu regieren oder die Regierung zu beraten, ist
nicht zu opponieren, nicht zu kritisieren, nicht zu kontrollieren und es
ist auch nicht die Meinungsbildung und es ist auch nicht die
Willensbildung. Sondern das erste ist die Information, die Nachricht.
Die Unterrichtung. ... Sie werden mir sagen: Das ist eine
Binsenwahrheit. Und das ist es auch. Aber Binsenwahrheiten haben
es vielfach an sich, dass man sie übersieht und vergisst."
Heute scheint es manchmal, als gehe die Binsenweisheit in der Flut
der aufrüttelnden Bilder und der emotionalen Berichte ganz und gar
unter. Der Prozess gegen den Wettermoderator Jörg Kachelmann ist
ein anschauliches Beispiel dafür. Kachelmann wird verhaftet,
abgeführt, angeklagt. Der Leser erwartet Informationen, wie sollte es
anders sein. Aber handfeste und unparteiische Informationen über
das Verfahren gibt es nicht. Es findet zum größten Teil hinter
verschlossenen Türen statt; obendrein liefern Zeugen und Gutachter
– wie am Ende das Urteil zeigt – offenbar keine belastbaren Fakten
über das, was wirklich geschah. Und so stochert man über ein Jahr
lang im Dunkeln herum. Und viele Medien behelfen sich, indem sie
als Ersatz das lockere Leben des Jörg Kachelmann erkunden und
manche zahlen den Geliebten Geld dafür. Noch bedenklicher aber
scheint, dass wichtige, ernsthafte Medien, die fehlenden
Informationen dadurch ersetzen, dass sie (Vor-)Urteile aussprechen.
Und dies nicht behutsam und leise, sondern donnernd und laut. Sie
haben keinen Zweifel: Er ist schuldig, entscheiden die einen; er ist
das Opfer, urteilen genauso kategorisch die anderen. Ist dies
Information?
Journalisten sind keine Richter; sie sprechen nicht Recht. Und sie
sollten sich in einem demokratischen Rechtsstaat hüten, Urteilen
vorzugreifen und zu versuchen, sie zu beeinflussen. Denn die
politische Legitimation des einzelnen Journalisten ist nicht größer als
die jedes anderen Bürgers. Er erfüllt eine – für die Demokratie
allerdings grundlegende und herausragende – Funktion: zu
informieren, nicht zu entscheiden oder zu indoktrinieren, oder gar
Kampagnen zu führen. Wobei der Fall Kachelmann nur ein Beispiel
für ein Problem ist, dem sich der Journalist mitten in der modernen
Nachrichtenflut immer wieder gegenübersieht. Belastbare
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Informationen und Hintergründe fehlen öfter, als dem ernsthaften
Berichterstatter lieb sein kann. Wer durchschaut, was in Ägypten,
Libyen, Syrien vor sich geht.
Nüchterne Information ist aber auch deshalb schwieriger geworden,
weil in der arbeitsteiligen, globalen Welt unendlich viele, oft
dramatisch widersprüchliche Interessen miteinander konkurrieren.
Ihnen muss die Politik gerecht werden, so gut dies geht. Und oft geht
es nicht. Wir fordern den Atomausstieg – sofort – und natürlich keine
Kohlekraftwerke – des Klimas wegen. Aber trotzdem wollen wir
genügend Strom (aus der Steckdose) und jene Energie, die nötig ist,
um die Arbeitsplätze zu sichern. Eine solche Gesellschaft im
Widerspruch können „erschütternde Bilder“ und Emotionen nicht
erklären, im Gegenteil, sie vernebeln und befördern
Politikverdrossenheit.
Und trotzdem kokettieren wir damit, in einer Gesellschaft der
„Wutbürger“ zu leben; wir lieben sie fast unsere Wutbürger. Aber
kann sich ein demokratischer Staat wünschen, dass „Wutbürger“
über die Zukunft der Gesellschaft entscheiden. Angst ist kein guter
Ratgeber und Wut noch weniger. Wobei erstaunlicher Weise nicht
die Armen und Arbeitslosen die „Wutbürgern“ sind, sondern oft
Menschen aus einem saturierten Umfeld. Sie gehen für alternative
Energien und gegen die Atomkraft auf die Straße, aber genauso
gegen Stromtrassen, die den alternativen Strom bringen könnten
und natürlich gegen unterirdische Speicher für Kohlendioxid. Sie
jetten in den Urlaub, aber wehren sich gegen den Lärm der
Flughäfen. Sie fordern Biosprit, der Umwelt zuliebe. Dass die
Förderung des Anbaus energiehaltiger Pflanzen auf Kosten der
Nahrungsmittelproduktion gehen und die Not gerade in der
hungernden dritten Welt steigern könnte, erscheint angesichts der
drohenden Klimakatastrophe nicht so wichtig. Wobei freilich der
Anreiz, mit Biosprit Geld zu verdienen, leicht dazu führen kann, dass
die wichtigste Klimareserve der Welt – der Urwald – zerstört wird.
Wie die Wutbürger solche Debatten führen, zeigt das kuriose Ende
der deutschen Biosprit-Diskussion. Als klar wird, dass Super E10
vielleicht den Motoren schaden könnte, ist die Antwort eindeutig:
Gottseidank gibt es ja „Super-Plus“.
„Wo Pressefreiheit herrscht und jedermann lesen kann, da ist
Sicherheit“, schrieb Thomas Jefferson, der Vater der amerikanischen
Unabhängigkeitserklärung. Doch gilt Jeffersons Satz in unserer
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emotionalen und zum Teil hysterischen Gesellschaft noch? Er
unterstellt, dass die Medien den Bürger, den Souverän im
demokratischen Staat, so klar und unvoreingenommen informieren,
dass der sich sein Urteil bilden kann. Dies ist in unseren Tagen
schwieriger geworden. Denn der Mensch greift tiefer in die Natur ein,
als je zuvor in der Menschheitsgeschichte. Und die Folgen sind oft
schwer abzuschätzen. Unser Blick in die Zukunft ist unsicherer
geworden, auch für die Medien. Der Philosoph Hermann Lübbe,
nennt es „Zukunftsgewissheitsschwund“.
Doch genau das setzt – wenn man an Jeffersons Weisheit und an
die aufklärerische Rolle der Medien glaubt – ein neues Maß für den
„Qualitätsjournalismus“. Journalisten dürfen sich nicht auf
Emotionen, Skandale und aufrüttelnde Bilder beschränken. Sie
müssen, so gut sie es können, die Fakten in ihrer ganzen Breite dem
Menschen nahe bringen, damit der sich sein Urteil bilden kann. Und
da sind – gerade in unserer bild-lastigen Welt – vor allem Zeitungen
gefordert.
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