Vorwort Projektbericht für die World Society Foundation Der wirtschaftliche und politische Transformationsprozess Osteuropas in komparativer Perspektive Es sind bereits mehr als 10 Jahre her, dass in Osteuropa das "realsozialistische" System in eine Existenzkrise geriet, was einen Veränderungsprozess von historischer Bedeutung auslöste. Nach dem unerwartet schnellen Zusammenfallen des alten Regimes hofften viele auf bessere Verhältnisse. Die Erwartungen richteten sich dabei auf eine Verbesserung der Wirtschaftslage, aber auch auf die Bildung demokratischer Verhältnisse, auf eine gerechte "moralisch" erneuerte Gesellschaft schlechthin. Heute herrscht in den postsozialistischen Staaten Osteuropas Ernüchterung vor. Selbst in den ostmitteleuropäischen Ländern, die den schwierigen Transformationsprozess am besten bewältigt haben, sah eine Mehrheit der Bevölkerung wenig Grund zum Feiern. Bezeichnenderweise betrachteten 1999 in Tschechien über 70 Prozent die Wirtschaftslage als schlecht, in Polen fast 60 Prozent, während es in Ungarn rund die Hälfte waren. Und die Regierungen erhielten ebenfalls keine guten Noten. Nur rund je ein Fünftel bis ein Drittel schätzte deren Tätigkeit als gut ein (vgl. Tabelle 4.18). Sowohl die Umstellung der Wirtschaft wie die politischen Reformen erwiesen sich als komplizierte Prozesse mit vielen Schwierigkeiten. Sie brachten auch grosse regionale und länderspezifische Unterschiede mit sich, wobei vor allem die Länder Ostmitteleuropas und der GUS auseinanderdrifteten. Die wirtschaftliche Krise war stärker und längerdauemd als erwartet, die anschliessende Erholung meist weniger ausgeprägt und beständig als erhofft, wobei hier das West/Ost-Gefälle besonders deutlich ausfiel. Im "Modernisierungsprozess" resultierten selbst bei den relativ erfolgreichen Ländern Osteuropas ambivalente Entwicklungen. Im "Anschluss" an westliche Strukturen traten als Folge der asymetrischen Positionen Ungleichgewichte und Abhängigkeiten auf. Während des Umstellungsprozesses entstanden neue spezifische Produktionsverhältnisse. Dabei mischten sich die entstehenden kapitalistischen Verhältnisse mit Elementen des alten Systems, insbesondere den korporatistischen und klientelistischen Geflechten sowie den bürokratisch-staatlichen Zuteilungsmechanismen. Der Kampf um die Neuverteilung der Ressourcen und Spitzenpositionen wurde recht rüde ausgetragen, was in Osteuropa zu entsprechenden Bezeichnungen wie "Filzkapitalismus", "wilder Kapitalismus" bis hin zu "Banditenkapitalismus" führte. Wichtige Folgen dieser neuen Verhältnisse waren die Schwächung der regulativen und sozialen Funktionen des Staates sowie eine zunehmende Ungleichheit, die vor allem in Ländern mit geringen rechtsstaatlichen und "zivilgesellschaftlichen" Traditionen enorme Ausmasse annahmen. So haben GUS-Staaten wie Russland mit ihren "Finanzoligarchen" eine Einkommensungleichheit wie in Lateinamerika erreicht. In den mittelosteuropäischen Ländern war die Zunahme der Ungleichheit allerdings deutlich geringer und erreichte im allgemeinen ein mit Westeuropa noch vergleichbares Niveau. Neben einer mehr oder weniger grossen Minderheit von Transformationsgewinnern erfuhr die Bevölkerungsmehrheit insgesamt kaum bzw. nur selektive Verbesserungen, etwa bei der Versorgungslage, oder musste sogar deutliche materielle und soziale Verschlechterungen hinnehmen, etwa bei den Reallöhnen und der Arbeitslosigkeit. Aber nicht nur in wirtschaftlich-sozialen Belangen bildeten sich grosse regionale Unterschiede heraus. Auch im politischen Bereich setzten sich verschiedenartige Entwicklungstrends durch. Zwar ist die formale Umgestaltung zu einem demokratischen System mit der Garantierung grundlegender Freiheitsrechte weit fortgeschritten. Politische Strukturen und Verhaltensweisen, die das institutionelle Gerüst auch faktisch funktionieren lassen, fehlen aber zum Teil noch, selbst in den ostmitteleuropäischen Ländern. In den demokratisch orientierten osteuropäischen Ländern haben sich die anfänglich stark zersplitterten Parteien zwar besser konsolidieren können, sind aber selbst in den fortgeschritteneren Reformstaaten gesellschaftlich wenig verankert. Sie dienten zudem vielfach als "Interessenvereinigungen", um lukrative staatliche und parastaatliche Posten zu ergattern. Während in den meisten osteuropäischen Ländern wenigstens einigermassen demokratisch funktionierende parlamentarische Systeme vorherrschen, sind in den GUS-Staaten wenig demokratisch orientierte Systeme etabliert worden. Es dominieren auf die Präsidenten und seine Entourage fixierte Regimes, vor allem in den europäischen GUS-Staaten wie Russland oder sogar deutlich autoritär ausgerichte Systeme wie in den zentralasiatischen Staaten und in Weissrussland. Die vorliegende Studie bezweckt, ein genaueres empirisches Bild von den eben skizzierten Veränderungen zu geben und sie auch ansatzweise mit internationalen Entwicklungen zu vergleichen. In anbetracht der Komplexität und Breite der Fragestellung kann sie allerdings nur einige wichtige Aspekte herausgreifen und explorativen Charakter aufweisen. Sie schliesst dabei an die früheren Forschungen des Autors an (vgl. Juchler, 1994, 1997). Dabei wird ein Beitrag zur Schliessung einer immer noch bestehenden Forschungslücke zu leisten gesucht. In den zehn Jahren seit dem Beginn des Transformationsprozesse wurden zwar viele Einzelaspekte in immer zahlreicheren Projekten detailliert untersucht (Hodenius, Schmidt, 1996, 2ff., Hopfmann, Wolf, 1998, 13f., Osteuropa 5/1999). Es fehlten aber die Verknüpfungen, nicht nur zwischen den verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen, sondern vor allem zwischen den verschiedenen thematischen Bereichen. Versuche, wenigstens in Ansätzen systematische Überblicke zu skizzieren und nicht einfach nur Readers mit mehr oder weniger koordinierten Artikeln zusammenzustellen, blieben die Ausnahme und beschränkten sich zudem meist auf bestimmte Aspekte. Dies gilt auch für internationale Vergleichsstudien. Zudem hinken die Analysen den Veränderungen meist um Jahre hinterher. In der Einleitung wird zuerst der Bezugsrahmen umrissen und die Vergleichsanlage beschrieben. Danach werden relevante wirtschaftliche Veränderungen dargestellt. Dabei stehen makroökonomische Entwicklungen, Reformanstrengungen und die konkrete Gestalt der Produktionsverhältnisse sowie deren soziale Folgen im Vordergrund. Abschliessend wird auf die politischen Veränderungen eingegangen, wobei der Demokratisierungsprozess das Hauptthema bildet. Nach einem generellen Überblick werden spezifische Aspekte, die Entwicklung der Parteien, die politische Stabilität und die Problematik der Machtwechsel sowie die Akzeptanz, behandelt.