Geht das Christentum in Europa zu Ende? Ist der Vatikan daran

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Geht das Christentum in Europa zu Ende? Ist der Vatikan daran schuld?
P. Eberhard v. Gemmingen SJ
Für engagierte Christen ist es unübersehbar, dass es in der katholischen Kirche schwer kriselt.
Die Krise der katholischen Kirche wird von vielen bemerkt, dass es der evangelischen Kirche
um keinen Deut besser geht, davon spricht fast niemand. Bevor ich aber ein paar bekannte
Phänomene aufzähle, möchte ich meine Überzeugung ganz einfach ausdrücken: Wir erleben
eine historische Wende: Seit 1700 Jahren wuchsen Europäer in ihre Kirche hinein wie in
Familie und Staat. Nur ganz wenige Vordenker haben sich seit etwa 300 Jahren vom
kirchlichen Denken gelöst. Aber der Normaleuropäer wuchs - je nachdem, was seine Eltern
waren - in die katholische oder evangelische Kirche hinein. Das scheint mir vorbei. Wir sind
am Übergang zu einem Christentum der Wahl und Entscheidung. Das Hineinwachsen wird
zur Ausnahme, die Entscheidung das Normale. Wenn es gut geht, wird die Kirche dadurch
wieder zu einer gesellschaftlich überzeugenderen geistigen Kraft. Wohlgemerkt: ich plädiere
nicht für die kleine Herde, aber man gewinnt eben den Eindruck, dass das Hineinwachsen in
die Kirche der Eltern vorbei ist. Nun muss ich anfangs ein paar bekannte Phänomene in
Erinnerung rufen: die Zahl der sonntäglichen Kirchgänger nimmt seit Jahren gewaltig ab,
wegen Priestermangels nimmt die Zahl der angebotenen Gottesdienste ab, wegen
Priestermangels werden unzählige Pfarreien zusammen gelegt, es werden riesige
Pfarrverbände gegründet und das wird noch so weitergehen, der Ärger darüber ist bei vielen
Engagierten sehr groß, die Teilnehmer am Gemeindeleben werden immer älter, das Ende
vieler Gemeinden ist damit abzusehen. Nach Erstkommunion und Firmung kommen
Jugendliche nicht mehr in die Kirche. Auch wissen sie über Grundlagen des Christentums fast
nichts. Gleichzeitig besteht verbreiteter Ärger über die Kirchenleitungen. Vor allem fordern
engagierte Katholiken Fortschritte in der Ökumene, das Ende des Pflichtzölibats, die Weihe
von Frauen zu Diakoninnen und Priestern, einen seelsorglicheren Umgang mit geschiedenen
Wiederverheirateten und gemischten Ehepaaren. Die Kirche hat durch sexuellen Missbrauch,
durch Mängel im Klerus und anderem Versagen viel an Glaubwürdigkeit verloren. Die Kirche
hat ein sehr negatives Image. Der McKinsey-Mitarbeiter Mitschke-Collande schrieb jetzt ein
Buch: „Schafft sich die katholische Kirche ab?“ Man kann wirklich den Eindruck haben, dass
es mit der katholischen Kirche in Mitteleuropa zu Ende geht und viele kommen nicht darum
herum, anzunehmen: Große Schuld daran trägt der Vatikan. Wenn man noch an Vatileaks und
seltsame Vorgänge im Vatikan denkt, wird der Eindruck verstärkt, dass der Fisch vom Kopf
her stinkt. Für Deutsche gilt vielleicht „Wir sind einmal Papst gewesen“.
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Nun aber mein zweiter Abschnitt: Der evangelischen Kirche geht es keineswegs besser,
obwohl sie nicht unter einem Vatikan leidet, keinen Zölibat hat, Frauen ordiniert, großzügiger
mit geschiedenen Wiederverheirateten und Mischehepaaren umgeht. Die Zahl der
Kirchenaustritte aus der Evangelischen Kirche ist größer als aus der katholischen Kirche. Laut
Mitschke-Collande sind aus der Evangelischen Kirche seit 1970 70 Prozent mehr Mitglieder
ausgetreten als aus der katholischen Kirche. Das ist für mich ein Zeichen dafür, dass es sich
nicht nur um ein Problem der katholischen Kirche handelt, sondern um eine Krise des
Christentums in Mittel-Europa allgemein. Daher die Frage „Geht das Christentum in Europa
zu Ende?“ Und ich muss auch gleich anfügen: die Behauptung, der Vatikan sei daran schuld,
ist einfach viel zu simpel. Ohne Vatikan geht es der evangelischen Kirche noch schlechter als
der katholischen. Wohlgemerkt: ich spreche vom Christentum in Mitteleuropa. Dem
Christentum weltweit geht es sehr anders. Hier ein kurzer Überblick: Schon hinter der
polnischen Grenze sieht es sehr anders aus. Wer, behauptet, in Polen werde es bald ähnlich
aussehen wie in Deutschland, sollte nicht vorschnell urteilen. Denn auch im westlich
orientierten Italien gehen die kirchlichen Uhren sehr anders als nördlich der Alpen, was mit
der Mentalität zusammenhängt, davon aber später. Jedenfalls gehen meines Erachtens in allen
romanischen Ländern die Uhren anders als nördlich der Alpen, wo die Germanen und die
Angelsachen den Ton angeben. Christlicher Glaube ist in Lateinamerika das
selbstverständliche, auch wenn die Pfingstkirchen der katholischen Kirche viele Gläubige
wegnehmen. Berufung auf die Zugehörigkeit zu einer Kirche gehört auch im hoch
entwickelten Nordamerika zur Norm, leider auch in die Wahlkämpfe. Vor allem in Ostasien
wächst das Christentum in verschiedenen Konfessionen in beeindruckender Weise, gerade
auch in China. Und dies auf dem Hintergrund von schweren Verfolgungen. In Afrika gibt es
einige große Staaten, etwa Nigeria, Uganda und dem Tschad, in denen das Christentum bald
so groß ist wie früher in Italien, Spanien und Portugal. Christentum ist auf dem Vormarsch –
und nicht mit Feuer und Schwert, sondern mit Geist und Kraft.
Auf diesem Hintergrund kann man den Vatikan manchmal besser verstehen: die kleine Welt
Mitteleuropas ist in schwerer Krise, aber weltweit sieht es anders aus. Und in Mitteleuropa
kriselt es bei den Reformierten mehr als bei den Katholiken.
Schlussfolgerung nach dieser Einleitung: Die Forderungen nach Ende des Zölibats, nach
Frauenordination, nach besserer Pastoral für Geschiedene und Mischehen haben ihre Gründe.
Aber auch wenn die Wünsche erfüllt würden, wären die Probleme lange nicht gelöst. Das
Drama geht viel tiefer. Die eigentlichen Probleme kommen von den Folgen der Aufklärung.
Den Kirchen gelingt es nicht mehr, dass junge Menschen in den Glauben der vorhergehenden
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Generation hineinwachsen. Das war nämlich seit 1700 Jahren, seit Kaiser Konstantin, das
Normale. Kinder katholischer Eltern wuchsen wie in Familie und Gesellschaft in die
katholische Kirche hinein, ebenso Kinder evangelischer Eltern in die evangelische Kirche.
Das ist vorbei. Und das müsste von den Kirchenverantwortlichen noch klarer wahrgenommen
und darauf neu und anders geantwortet werden. Vor allem muss man aber sagen: Die
Verkündigung Jesu Christi gelingt in der bisherigen Form nicht mehr. Auf diesem
Hintergrund möchte ich feststellen: Wir erleben einen riesigen geschichtlichen Umbruch, wir
erleben eine Kulturbruch, den es nur selten in der Geschichte gibt, eine kulturelle
Veränderung, deren Folgen wir noch kaum abschätzen können. Erlauben Sie mir den
Vergleich: Wenn die Mehrheit der Menschen in buddhistischen Ländern nicht mehr weiß, wer
Buddha ist. Was geschieht dann. Ich fürchte, bald weiß die Mehrheit der Europäer nicht mehr,
wer Jesus Christus ist. Wenn die Mehrheit in der arabischen Welt nicht mehr weiß, wer
Mohammed war, was geschieht dann? Was geschieht, wenn die Mehrheit der Europäer nicht
mehr weiß, wer Jesus Christus ist.
Die Kirchen müssten Wege suchen, wie sie heute Jesus Christus verkündigen können. Das
wird ein mühseliger, langer Weg sein. Wenn Jesus Christus von modernen Menschen in
Mitteleuropa als interessant, als wichtig, als hilfreich erkannt werden soll, dann muss das in
einer neuen, noch nicht erkundeten Form geschehen. Ich meine vor allem, dass Christus als
große Provokation gezeigt werden muss. Er war damals aufregend, ja provozierend. Vielleicht
stellen wir ihn heute oft zu harmlos dar. Wir verkünden ihn als den großen Liebenden. Das
war er. Aber dass seine Liebe auch provoziert, herausfordert, uns irgendwie ärgern kann – das
sollten wir auch herausstellen. Christentum darf nicht verharmlost werden, sondern muss
Provokation sein und bleiben. Das aber hier nur als kleiner Denkanstoß! Wie Verkündigung
in Zukunft sein soll – darüber kann ich nicht sprechen, dafür habe ich auch zu wenig
Kompetenz. Aber ich wollte wenigstens an dieser Stelle kurz auf die größte, auf die zentrale
Herausforderung für alle Christen hinweisen.
Ich möchte aber jetzt im Lauf meiner Ausführungen für engagierte Christen ein wenig zu
klären versuchen, wie wir – nach meiner Ansicht - die heutige Kirchen-Situation verstehen
und wie wir darauf reagieren sollten.
Bevor ich aber darauf eingehe, möchte ich noch auf etwas Anderes hinweisen: Wenn das
Christentum in Europa weiterhin so rapide zahlenmäßig abnimmt, könnte das gewaltige
gesellschaftliche und politische Folgen haben. Ich denke: Das Schrumpfen der Zahl von
Christen in Europa hat ebenso politische Folgen wie die Zunahme der Muslime in Europa.
Mit dem Islam befassen wir uns – das ist gut und notwendig. Mit dem zahlenmäßigen
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Niedergang des Christentums könnten und sollten sich vielleicht Gesellschaftswissenschaftler,
Menschen der Kultur und Politiker befassen. Wie wäre es, wenn sich Parteien,
Gewerkschaften, Universitäten, Akademien mit der Frage auseinandersetzen, ob der
zahlenmäßige Niedergang der Christen gesellschaftliche und politische Folgen haben könnte.
Ich bin dessen sicher. Religiöser Glaube an Gott ist nicht nur gut, um in den Himmel zu
kommen, sondern erst recht, um eine Kultur zu gestalten. Man darf sich schon fragen, ob man
einen Staat ohne Gott machen kann. Ich zweifle. Und man darf sich fragen, welchen Einfluss
christlicher Glaube auf das Entstehen der Kultur Europas gehabt hat, auf die Vorstellung, dass
jeder Mensch eine unantastbare Würde hat, auch der arme Mensch, das Kind, der Sterbende.
Man darf sich fragen, ob es ohne das Evangelium zur Erklärung der Menschenrechte in
Europa gekommen wäre. Sie sind im Evangelium begründet, freilich hat sich die katholische
Kirche lange gegen sei gewehrt. Das Evangelium musste sich gegen Kirchenleute
durchsetzen. Man darf sich auch fragen, ob es ohne das Evangelium zum Sozialstaat
gekommen wäre, zur Erkenntnis, dass Eigentum verpflichtet, dass alle Menschen auch soziale
Pflichten haben.
Ich wünsche mir also, dass die Vordenker und Geistesgrößen heute sich mit der Frage
auseinandersetzen, ob und wie viel Europa an Qualität verlieren wird, wenn das Christentum
auf die Größe einer Sekte absänke. Darum aber geht es mir hier auch nicht weiter.
Ich möchte vielmehr helfen, dass engagierte Christen in der heutigen Kirchensituation leben
und zufrieden mitarbeiten können. Dazu ist meines Erachtens vor allem auch ein gutes
Verstehen der derzeitigen Lage nötig. Wenn wir verstehen und nicht Irrwegen nachgehen,
dann tun wir uns leichter.
Zum Verstehen möchte ich Ihren Blick in verschiedene Richtungen und auf verschiedene
Faktoren lenken.
1. Ein Blick auf Johannes Paul II. und Papst Benedikt
2. Ein Blick auf das Pontifikat von Papst Benedikt und vatikanische Defekte
3. Ein Blick in die jüngste Kirchengeschichte und Vatikanum 2.
4. Ein Blick auf die Geistesgeschichte seit 500 Jahren
5. Ein Blick auf die verschiedenen Mentalitäten
1. Ein Blick auf Papst Johannes Paul II. und Papst Benedikt: Auf dem Hintergrund von
Papst Woityla ist es äußerst schwer das Papstamt wahrzunehmen. Der Papst aus Polen war
eine außerordentlich begabte Persönlichkeit für das öffentliche Auftreten, für die Medien, für
die Politik, für das Ansprechen der breiten Massen. Und er kam in einer politisch,
geschichtlich herausragenden Zeit. Papst Johannes Paul II. war ein geborener Schauspieler,
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der es aber auch verstand, sich und seine Überzungen ganz ehrlich zu zeigen. Er brachte sich
auf die Bühne der Welt, war durch das Fernsehen sichtbar, durch die Reisen weltweit präsent
und zeigte dabei seinen echten persönlichen Glauben. Die ausgebreiteten Arme vermittelten
den Eindruck, er wolle alle Menschen umarmen. Er wollte von Anfang an den atheistischen
Kommunismus überwinden. Er leistete einen wesentlichen Beitrag dazu und wurde dadurch
zur historischen Persönlichkeit, dem auch Nichtchristen Respekt zollten. Er verstand es
perfekt, mit Zeichen zu sprechen. Ich erinnere an den Bodenkuss, an die Umarmung von
Kindern, den ersten Besuch von evangelischen Kirchen und Moscheen, den Gang durch das
Brandenburger Tor und viele andere symbolische Gesten. In Lehre und Moral war er nicht
liberaler als sein Nachfolger, aber er vermittelte einen anderen Eindruck. Durch sein Leiden
und Sterben zeigte er, wie Christen das Leben am Ende meistern.
Papst Benedikt hat es auf diesem Hintergrund schwer. Er hat nicht die geschichtliche Stunde,
er ist ein Intellektueller, ein Theologieprofessor. Menschen des Geistes auch außerhalb der
Kirche bewundern seinen Geist. Aber er ist kein – erlauben Sie den Ausdruck –
Herzensbrecher wie sein Vorgänger. Er ist kein Papst fürs Fernsehen zum Sehen, sondern für
die Bücher, zum Lesen. Man muss bei ihm mehr denken, muss kritischer sein.
Theologen und Historiker werden Johannes Paul vielleicht vorwerfen, er habe die Bischöfe,
die Apostelnachfolger in den Schatten gestellt, habe sie überspielt, das Petrusamt überzogen.
Unter Benedikt können Ortsbischöfe wieder eine größere Rolle spielen. Er mache keine
Show, sondern zeige sich als Diener. Kurz: Die letzten dreißig Jahre wurden kirchlich geprägt
von sehr unterschiedlichen Personen. Und vielleicht muss man auch sagen: Kirchenführer
sollten überhaupt keine so herausragenden Rollen spielen. Christenleben spielt sich im Alltag
und vor Ort ab. Apostel sollen den Christenglauben und Leben dienen. Sie haben nicht
ununterbrochen aufzutreten. Sie sind zum Dienst bestellt, nicht zur Show und nicht zum
Herrschen.
2. Pontifikat von Papst Benedikt: Was will Papst Benedikt?
Die breite Öffentlichkeit hat den Eindruck, er wolle hinter das 2. Vatikanum zurück, er schaue
nur in die Vergangenheit. Ich verstehe diesen Eindruck, er kann entstehen, aber der Eindruck
gibt doch nicht die ganze Wirklichkeit wider. Die Gründe für dieses negative Image:
Erlaubnis die tridentinische Messe zu feiern, besondere Geduld mit den Piusbrüdern, die
Dummheit mit Bischof Williamson, kein Fortschritt in der Ökumene, scheinbare Beleidigung
der Muslime und Juden, seine Kleidung. Am schlechten Image des Papstes ist zum guten Teil
der schlecht funktionierende vatikanische Apparat schuld. Man muss aber auch sagen: Wir
Mitteleuropäer oder Germanen sind kritischer als viele Andere.
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Schauen wir die einzelnen Punkte an:
a)Etwa eine halbe Million Menschen in Mitteleuropa wünscht die alte Messe. Er gibt ihnen
die Erlaubnis. Aber es wäre wirklich töricht zu meinen, er sei der Ansicht, die Millionen
junger Christen in Afrika, Asien, auch Lateinamerika oder auch die Massen in Europa und
Nordamerikaner kämen dazu, die Eucharistie auf Latein und im alten Ritus vorzuziehen. So
naiv ist Papst Benedikt nicht. Das darf man ihm nicht unterstellen. Ich weiß nicht, ob nicht
äußerst papstkritische Medien eben nur dieses Image verbreiten wollen.
b) Mit den Piusbrüdern ist der Vatikan meines Erachtens zu geduldig. Ich schiebe die Schuld
daran auch dem Apparat zu. Und Papst Benedikt ist eben kein Regierer. Dazu später mehr.
c) Bischof Williamson, der den Holocaust leugnet: Die Information der Holocaustleugner
war vom päpstlichen Botschafter in Skandinavien in den Vatikan gemeldet worden. Dort blieb
sie auf einem Schreibtisch liegen. Der Papst wusste nichts. Diese Tatsache wurde nachher
auch nicht klar genug publiziert.
d) Stillstand in Ökumene: Die Öffentlichkeit erhoffte sich ein klares Zeichen beim
Papstbesuch in Erfurt. Wer sich aber auch nur ein wenig in der Ökumene auskennt, der konnte
wissen, dass die Gräben zwischen Katholiken und Reformierten heute breiter sind als vor 50
Jahren. Martin Luther wäre wohl erstaunt, wie weit sich die Reformation heute von seiner
Position entfernt hat. Das Einzige, was wohl möglich wäre, ist die Offenheit gegen
geschiedene Wiederverheiratete und Mischehepaare unter der Voraussetzung, dass der
Kommunionempfang eingebettet und getragen ist von einem gelebten täglichen Glauben
beider Partner. Kommunionempfang nur alle heilige Zeiten entspricht nicht dem Ernst der
Sache. Vorausgesetzt wird immer die Bereitschaft, das Leben Jesu im Alltag mit zu leben. Es
geht nicht um die Würdigkeit, denn wirklich würdig, die Kommunion zu empfangen, ist
niemand. Aber es geht darum, dass man den Kommuniongang ernst nimmt und einbettet in
ein wirkliches engagiertes Glaubensleben.
e) Das Verhältnis zu Muslimen und Juden: In Regensburg hat Benedikt den Eindruck
vermittelt, er habe die Muslime beleidigt. Er hat einen mittelalterlichen Kaiser zitiert, der
meinte, Mohammed habe nichts Gutes gebracht. Daraufhin haben Muslime in einigen
Ländern Gewalttaten verübt. Hier hat der Papst vergessen, dass er nicht wie ein Professor
sprechen darf, er ist nicht so frei, wie ein Professor. Wenn der Vatikanische Apparat damals
schneller und besser reagiert hätte, wäre am Image weniger Schaden entstanden. Die Juden
hat er scheinbar beleidigt, als er die Erlaubnis gab, in der tridentinischen Liturgie am
Karfreitag für ihre Erleuchtung beten zu lassen. Wer Ratzingers Lehren zum Judentum kennt,
weiß dass das keine Beleidigung der Juden ist. Aber es war ungeschickt.
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f) Meiner Meinung nach setzt Papst Benedikt in seiner Kleidung auch falsch Akzente. Die
roten Schuhe und riesige Mitren sind unnötig und kontraproduktiv
Aber aus all dem kann man nicht den Schluss ziehen, er gehe hinter die entscheidenden
Weichenstellungen des 2. Vatikanums zurück, nämlich die Gewissens- und Religionsfreiheit,
den Dialog mit Reformierten, Muslimen und Juden, hinter das Kirchenbild als Volk Gottes.
Aber einerseits vereinfachen die Medien ungebührlich, andererseits sind wir in Mitteleuropa
wesentlich anspruchsvoller und kritischer als andere Bevölkerungen. Es stimmt, dass Papst
Benedikt heute anders spricht als vor 40 oder 50 Jahren. Offenbar hat er seine theologische
Ansicht verändert. Aber daraus geht noch nicht unbedingt hervor, dass er die wesentlichen
Entscheidungen des 2. Vatikanum ablehnt oder hinter sie zurück will. Man darf nicht
vergessen, dass die kirchliche Lage vor 50 Jahren noch total anders war als heute.
3. Nun ein Blick in die jüngste Kirchengeschichte und auf das 2. Vatikanische Konzil.
Auf dem 2. vatikanischen Konzil fand ein kleiner Kulturkampf zwischen dem Norden und
dem Süden Europas statt. Nord und Süd Europas stritten gegen einander. Die moderne
Theologie war in den besten Köpfen des Nordens entstanden. Sie stand auf den Schultern der
modernen Philosophie, ich nenne nur Kant und Hegel, auf den Schultern der
Naturwissenschaft – ich nenne nur Charles Darwin, der Exegese oder der Bibelwissenschaft.
Alles geistige Produkte vorwiegend aus dem Norden. Vor allem in der Exegese hatten
Reformierte eine große Rolle gespielt. Die modernen Theologen kamen fast ausschließlich
aus Frankreich und dem deutschen Sprachraum. Unter den Deutschen nenne ich Hans-Urs
von Balthasar, Karl Rahner, Josef Ratzinger, Hans Küng. Aus der evangelischen Seite kamen
unter anderem Karl Barth und Rudolf Bultmann. Assistiert wurden die Theologen von
Romano Guardini. Wenn man etwas anspruchsvoll mit Hegel sprechen will, so kann man
sagen: Der Weltgeist, der bis Leonardo da Vinci und Galileo Galilei im Süden gewesen war,
war in den Norden Europas gekommen. Die Theologie, die in das 2. Vatikanum einfloss kam
eben wesentlich aus dem Norden. Erst recht die Entscheidung zur Liturgie. Jahrzehnte vor
dem 2. Vatikanum hatten vor allem nördliche Benediktiner sich wissenschaftlich und
praktisch mit der Liturgie auseinandergesetzt. Ich nenne nur die Klöster Maria Laach, Beuron,
Neuburg vor den Toren von Wien und das belgische Mecheln. Und hier noch einmal Romano
Guardini. Die Liturgie – vor allem die Messfeier war bis zu Papst Pius XII. völlig erstarrt.
Gerade Fachleute und solche, die täglich Liturgie feierten, haben weiter gedacht.
KonzilstheologeJosef Ratzinger sagte in einem Vortrag zur Liturgie:
„Das Geschick der abendländischen Liturgie war an eine streng zentralistisch bestimmte und
rein bürokratisch arbeitende Behörde gebunden, der es gänzlich an historischem Blick
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gebrach und die das Problem der Liturgie rein rubrizistisch-zeremoniell, sozusagen als
Ordnungsproblem der Hofetikette des Heiligen ansah. Diese Bindung bewirkte im Folgenden
eine völlige Archäologisierung der Liturgie, die jetzt aus dem Stadium lebendiger Geschichte
in dasjenige der reinen Konservierung überführt und so zugleich zum inneren Absterben
verurteilt war. Die Liturgie war zu einem ein für alle Mal abgeschlossenen, fest verkrusteten
Gebilde geworden, das den Zusammenhang mit der konkreten Frömmigkeit umso mehr
verlor, je mehr man auf die Integrität der vorgegebenen Formen achtete.“
Ratzinger fügt dann an, dass etwa Ignatius von Loyola, Teresa von Avila und Johannes vom
Kreuz ihre Spiritualität außerhalb der offiziellen Liturgie gefunden hätten, nur aus der
individuellen Begegnung mit Gott.
Unter der Oberfläche waren Fachleute und vor allem Mönche theologisch und liturgisch
vorangegangen, ebenso in der Exegese, in der Auseinandersetzung mit der Evolutionstheorie.
Und man musste sich im Norden auch auseinandersetzen mit der Frage nach dem ewigen Heil
der Protestanten,
Ratzinger sagte: „Man kann überhaupt sagen, dass die gesamte konziliare Arbeit gleichsam
auf das ökumenische Problem hin gravierte.“ Und weiter sagt er: „Eine Leitlinie aller Arbeit
des Konzils bildet: das neue Ernstnehmen aller Fragen der getrennten Brüder, die
Bereitschaft, die Fehler der Vergangenheit zu sehen, zu bekennen und gut zu machen; der
Wille alles zu hindern, was der Einheit im Wege steht.“
Der Norden vor allem brachte auch die Fragen nach der Wahrheit in den anderen Religionen.
Sind Islam, Hinduismus, Buddhismus, Shainismus nur Irrlehren oder welchen Heilswert
haben sie für die Menschen. Welche Bedeutung hat das Gewissen? Kann man von
Religionsfreiheit sprechen? Das alles waren Fragen, die im Norden Europas und Amerikas
vorangetrieben wurden. Sie wurden im 2. Vatikanum im Sinne des Nordens beantwortet. Aber
es fand ein kleiner Kulturkampf statt.
Der Konzilstheologe Josef Ratzinger hat in einem Vortrag nach der dritten Konzilsperiode
Folgendes gesagt:
„Der italienische und der spanische Episkopat, noch unter dem Schutz staatlicher Protektion
lebend, hat von diesen Ideen her argumentiert, wobei man die Redlichkeit der Sorge vor
Sekten gar nicht leugnen muss. Der US-amerikanische Episkopat ist erstmals auf dem Konzil
in breiter Front zum Angriff angetreten, hat die Führung der anderen Seite übernommen. Ihm
schloss sich der angelsächsische Episkopat, sowie die Bischöfe der Missionsländer und ein
Teil der Lateinamerikaner an. Frankreich sekundierte dem Kardinal aus Chile. Beide Seiten
waren einer redlichen Gewissensüberzeugung gefolgt. Aber es ist klar, dass die Verneiner des
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Textes über die Religionsfreiheit nicht die Gewissensfreiheit, aber die Kultfreiheit ablehnten.
Sie kämpften für eine zusammenstürzende Welt. Die andere Seite gab den Weg für die
Zukunft frei. In einer entscheidenden Stunde des Konzils war die innere Führung von Europa
fort an die jungen Kirchen Amerikas und der Missionsländer übergegangen.“(33/34)
Natürlich spielte auch die Zeitgeschichte eine große Rolle. Papst Pius XII. hatte die harte Zeit
des Nationalsozialismus durch gestanden, er war gerade auch von uns Deutschen hoch
angesehen, weil er uns nicht pauschal verurteilte wie das viele Andere taten. Aber er hatte
gleichzeitig eine Art Denkverbot ausgesprochen gegenüber modernen Erkenntnissen der
Exegese, der Naturwissenschaft und der Theologie. Vielleicht lag das auch daran, dass es zur
Zeit von Hitler und Stalin nur darum ging, die Katholiken zusammen zu halten. Wenn man
innerhalb der Kirche Unterschiede oder Zweifel zugelassen hätte, hätten das die rechten oder
linken Kirchengegner ausgenützt. Katholiken waren gezwungen zusammen zu halten, ihre
Differenzen nicht zu zeigen. Es war eine Bunkermentalität. Sie änderte sich mit der Wahl von
Papst Johannes XXIII und der Ankündigung des Konzils. Etliche Theologen wurden
rehabilitiert, es begann eine Zeit der Freiheit und des Aufbruchs.
Ratzinger meinte in dem Vortrag:
„ In den Hoffnungen und Fragen, die die Liturgiereform einschließt, sind zugleich
entscheidende Hoffnungen und Fragen der Kirchenreform überhaupt vorweggenommen: Wird
es gelingen, den Menschen von heute neu in Beziehung zur Kirche und durch sie hindurch
neu in Beziehung zu Gott zu setzen?“ (22)
Ratzinger weiter: „Vielleicht darf man sagen, die Überwindung einer trägen Euphorie, die
alles wohl geordnet glaubte, und das Aufdecken der schwelenden Probleme sei die erste große
Aufgabe des Konzils gewesen.“ (16)
Und Ratzinger: „Man darf heute schon sagen, dass das Konzil den Wunsch Johannes XXIII.
erfüllt hat, einen Sprung nach vorne zu sein, ein Fenster zu öffnen, durch das frische Luft in
die Kirche kommt.“ (S.39)
Dahinter stand ein gut gepflegtes akademisches Leben und eine lebendige Volkskirche, die
schwere Zeiten überstanden hatte. So etwas wie die heutige Säkularisierung gab es höchstens
in einigen akademischen Kreisen. Die Volkskirche war gesund, lebendig, geschlossen.
Eine kleine Zusammenfassung der Konzilsarbeit nochmals aus dem Mund von Josef
Ratzinger: „Die Debatte über die Religionsfreiheit wird man in späteren Zeiten wohl zu den
wichtigsten Ereignissen des Konzils rechnen, das freilich an wichtigen Geschehnissen reich
genug ist, um Abstufungen schwierig zu machen. Diese Debatte stand, um das vorhin zitierte
Schlagwort noch mal aufzugreifen, das Ende des Mittelalters, ja das Ende der
konstantinischen Ära in der Peterskirche. Wenig hat der Kirche in den letzten hundertfünfzig
Jahren so sehr geschadet wie das zähe Festhalten an überlebten staatskirchlichen Positionen.
Der Versuch, den durch die moderne Wissenschaft bedrohten Glauben mit Mitteln staatlicher
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Protektion zu schützen, hat diesen Glauben erst recht von innen ausgehöhlt und ihn vielfach
an der nötigen geistigen Regeneration gehindert. Er hat die Vorstellung der Kirche als Feind
der Freiheit gefördert, die Wissenschaft und Fortschritt, die Produkte der menschlichen
Geistesfreiheit zu fürchten habe, und es ist eine der mächtigsten Wurzeln des
Antiklerikalismus geworden…. Die Verwechslung des Glaubens an die in Christus
erschienene, absolute Wahrheit mit einem absoluten innerweltlichen Rechtsanspruch der
eigenen Institution und der Unfähigkeit, über die eigene Glaubenssituation hinaus die
Situation des anderen zu verstehen, der nicht an einem ihm fremden Maß gemessen werden
darf, waren seit Jahrhunderten zu einer zählen Denkgewohnheit geworden, welche die
kirchliche Lehre von dem Verhältnis des Staates zur Kirche bis zur Stunde geprägt hat.“
Daher die Aufbruchsstimmung, von der heute manche träumen. Aber die Situationen damals
und heute sind doch sehr verschieden.
4. Und nun müssen wir noch einen weiteren Denkschritt zurück gehen und zwar zur
Aufklärung. Auch sie war weitgehend eine Sache der Denker im französischen, englischen
und deutschen Sprachbereit. Aufklärung bedeutet vor allem, dass sich religiöser Glaube vor
der Vernunft rechtfertigen muss. Mit anderen Worten: der Glaubende muss dem kritisch
Fragenden erklären können, wie er zu seiner Glaubensansicht kommt. Beispiel: Er muss
erklären können, wie er zum Glauben an einen dreifaltigen Gott kommt. Das Geheimnis der
Dreifaltigkeit kann er nie erklären, aber er kann erklären, wie ihn die Bibel und die
theologische Tradition dahin geführt haben, an eine Dreifaltigkeit zu glauben und was er unter
Dreifaltigkeit versteht. Ähnlich muss der Glaubende erklären können, wie er zu dem Glauben
kommt, dass der Mensch Jesus von Nazareth Gottes Sohn ist, dass er eine Inkarnation Gottes
ist. Er muss auch erklären können, wie er zu dem Glauben kommt, dass die Kirche, die ja
doch sehr fehlerhaft ist, das Volk Gottes ist und der mystische Leib Jesu Christi. Vor der
Aufklärung reichte es, einfach nur seinen Glauben zu bekennen. Kritische Rückfrage war
nahezu verboten. Mit der Aufklärung brach die Überzeugung durch, dass die Vernunft ein
Recht hat, den Glaubenden nach den Argumenten zu fragen, die ihn zu seinem Glauben
geführt haben. Und diese Erkenntnis der Aufklärung war in Geistern des französischen,
englischen und deutschen Sprachraums durchgebrochen. Im englischen Sprachraum ging es
besonders um die Frage, welche Rolle Religion in der Politik, im Staat spielen dürfe. Eine
wichtige Erkenntnis der Aufklärung war auch noch, dass die oberste und letzte Instanz für die
persönliche Entscheidung des Menschen das Gewissen ist. Ich erinnere an Thomas Morus, der
seinem König sagte, für Fragen des Glaubens hänge er eben nicht vom König, sondern von
seinem Gewissen ab.
Südlich der Alpen war die katholische Kirche in viel größerem Maß mit dem Staat, mit
Herrschern verbunden, weniger unabhängig. In Italien, Spanien und Portugal stützte sich der
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Staat viel stärker als im Norden auf die Ordnungsmacht Kirche. Die Herrscher sahen sich
auch als Protektoren des Glaubens und als Erste, dem Glauben in der neuen Welt die Türen zu
öffnen. In den Ländern der Reformation versuchten die Fürsten natürlich auch, die Kirche zu
ihren Gunsten zu steuern, aber die geistige Bewegung war doch wesentlich unabhängiger von
der staatlichen Macht als im Süden. Auch hier gab es also ein Nord-Südgefälle. Es ist der
Hintergrund für die theologischen Differenzen im zweiten Vatikanum. Wir machen manchmal
den Fehler, dass wir meinen, die Menschen seien doch alle gleich, sie hätten schließlich alle
den gleichen Verstand. Sie haben zwar alle Verstand, aber ihre Denkweise ist unterschiedlich,
die Herkunft ihres Denkens, ihrer Begriffe, vor allem ihre Erfahrungen sind unterschiedlich.
Populationen haben Denkgewohnheiten, Denktraditionen, unterschiedliche Lebens- und
Handlungsweisen. Menschen und Populationen sind verschieden. Und sie bleiben auch in der
einen Kirche unterschiedlich. Damit müssen die Christen leben, auch wenn das manchmal
schwer fällt. Und damit sind wir beim letzten Punkt
6.Ein Blick in die unterschiedlichen Mentalitäten. Ich vertrete die Ansicht, dass die
Mentalitäten und Denkweisen der verschiedenen Völker auch über Jahrhunderte sehr
unterschiedlich sind und bleiben. Ich meine, dass sich das auch zeigen lässt. Ich meine, dass
man in Europa vier Mentalitäten unterscheiden kann und muss. Die Angelsachsen, die
Slawen, die Romanen und die Germanen. Man versteht manches in Geschichte und
Geistesgeschichte besser, wenn man die verschiedenen Mentalitäten versteht. Statt von
Völkern spreche ich lieber von „Populationen“, denn das Wort Volk ist missverständlich.
Ich meine: Angelsachsen sind in gewisser Weise immer pragmatisch. Auch sie haben Ideale
und Ideen, aber ihr Handeln orientiert sich am Praktischen. Vielleicht hängt das mit
Meeresnähe und Klima zusammen. Ich weiß es nicht. Ihr Pragmatismus zeigt sich meines
Erachtens gerade auch in ihrem Verhältnis zu Religion und zwischen Religion und Staat. Die
Anglikaner haben sich nicht aus theologischen Gründen von Rom getrennt, sondern wegen
einer Ehescheidung.
Die Slawen sind in ihrem tiefen Inneren immer ein wenig mystisch, Mystiker. Am
deutlichsten zeigt sich das in Theologie und Liturgie. Sie haben sich seit 1700 Jahren nicht
geändert. Sie spüren keinen Bedarf, sie brauchen auch keine Aufklärung. Vielleicht lässt sich
manches an ihrem politischen Verhalten auch durch die mystische Grundkomponente
erklären. 70 Jahre atheistischer Kommunismus konnte ihre Religiosität nicht zerstören. Eine
gewisse Jenseitsorientierung scheint kaum zerstörbar.
Ganz anders die Romanen, wobei ich vor allem an die Menschen in Italien denke. Die Römer
haben Europa das Recht geschenkt. Sie haben das Recht bis in I-Tüpfelchen entwickelt. Aber
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das Leben und Überleben fordert auch sein Rechte. Daher sind Römer Großmeister in
Kompromissen. Sie schlagen permanent Brücken zwischen der juristischen Theorie und der
Lebenspraxis, anders kann man nicht überleben.
Viel weniger kompromissbereit sind die ordnungsliebenden Germanen. Sie kennen und lieben
Ordnung, Prinzipien, Systeme. Vor allem nenne ich das Wort Systeme. Wir lieben Systeme
und hängen an ihnen. Wenn die Germanen einen Fehler an einem System sehen, werden sie
unruhig, bis der Fehler beseitigt ist. Ich denke die Bereiche Technik, in der die Germanen sehr
gut sind, Buchhaltung, hier sind sie ebenso sehr gut, Verwaltung, hier sind sie Großmeister –
vor allem im Vergleich zu anderen Populationen. Aber perfekt sind die Germanen auch im
Bereich der Philosophie und noch mehr im Bereich der Theologie. Germanen legen
gesteigerten Wert darauf, dass das gedankliche System stimmt, dass auch hier Ordnung
herrscht, dass die Prinzipien eingehalten werden. Ein besonders gutes Beispiel für diese
germanische Art ist Martin Luther. Den Systemfehler im Ablasshandel konnte er nicht links
liegen lassen. Die dahinter liegende Theologie war falsch. Das ließ er nicht durchgehen. Das
Lotterleben, das er in Rom erlebt hatte, ließ ihn kalt. Lotterleben gibt es immer wieder, aber
theologische Fehler kann man nicht durchgehen lassen. In ähnlich scharfer Weise denkt auch
der Theologe Josef Ratzinger. Er ist hier ganz germanisch. Andere Populationen können mit
Fehlern in Systemen ganz gut umgehen, irgendwie muss man mit ihnen leben. Germanen
leiden unter Systemmängeln und ruhen nicht, bis sie behoben sind.
Ich weiß, dass ich vielleicht vereinfache, ich bin kein Psychologe und kein Historiker. Aber
ich habe den Eindruck, wenn man diese Mentalitätsunterschiede erkennt und annimmt, dann
versteht man vieles in unserer Welt besser.
Werden meine Gedanken nicht gerade in unserer Zeit durch die Finanzkrise bestätigt. Muss
man nicht sagen, dass der Norden im Süden viele Defizite der Buchhaltung festgestellt hat.
Müssen nicht gar die protestantischen Staaten den katholischen helfen? Sieht man heute nicht,
dass die Uhren im Norden und Süden unterschiedlich gehen, dass die Völker anders ticken?
Ist nicht die Freude der Nordlichter beim Urlaub im sonnigen Süden deshalb so erfrischend,
weil nicht alles so präzise, so ordentlich, so korrekt ist?
Und die Schlussfolgerung für engagierte Christen: Christen im Norden werden vermutlich
auch in 100 Jahren mit einer Kirchenzentrale im Süden leben müssen, die nicht nach den
eigenen Vorstellungen vorangeht. Es hat wenig Sinn, sich ein Leben lang darüber zu ärgern,
dass der Vatikan anders handelt als man sich das wünscht. Ist es nicht vernünftiger, sich auf
Wesentlicheres zu konzentrieren und vieles selbst in die Hand zu nehmen. Das geht natürlich
nur begrenzt, aber das, was in den Grenzen möglich ist, sollte man eben tun. Jedenfalls lebt
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man wohl in der katholischen Kirche leichter, wenn man sie nicht ständig nach den einen
Vorstellungen verändern will. Vergebliches sollte man nicht versuchen. Es wäre ein Kampf
gegen die Windmühlen.
6.Nun aber gegen Ende: Was wünsche ich mir für die Kirche in Deutschland in diesen
unseren Jahren. Ich wünsche mir zunächst, dass wir das zentrale Problem genau erkennen:
Die Weitergabe des Glaubens von einer Generation an die nächste gelingt nicht mehr so wie
sie durch Jahrhunderte gelungen war. Wir sollten dieses Zentralproblem deutlich vor Augen
haben, um an seiner Lösung zu arbeiten. Wir sollten hier gute Germanen sein. Wir sollten
zweitens erkennen: auch wenn der Pflichtzölibat fallen würde, wäre damit die Weitergabe des
Glaubens keineswegs gesichert. Auch wenn wir wesentlich mehr und verheiratete Priester
hätten, wäre damit noch nicht das Weiterleben vieler Gemeinden garantiert. Das Beispiel der
Evangelischen sollten wir vor Augen haben. Dennoch wünsche ich mir, dass deutsche
Bischöfe in Rom noch einmal um einen Nachdenkprozess bitten sollten, ob wir den
Pflichtzölibat weiterführen sollen. Vielleicht sollte die ganze Kirche einmal ein Jahr lang den
heiligen Geist anrufen mit der Bitte um eine gute Entscheidung. Also Pflichtzölibat ist kein
Dogma. Aber seine Abschaffung allein ist keine Erfolgsgarantie. Gleiches gilt für den
Diakonat der Frau. Ich wünschte mir ihn. Die Weltkirche sollte sich wirklich ernstlich mit
ihm auseinandersetzen. Vor allem aber gäbe es viele Führungspositionen in der katholischen
Kirche, die von Frauen übernommen werden könnten. Ich denke an Direktorinnen in
Ordinariaten, bei der Caritas, in der Kirchenverwaltung, im Bildungswesen, auch in der
Gemeindeverwaltung.
Zur Gesamtkirche: Wir brauchen Dezentralisierung. Es läuft zu viel über römische
Schreibtische, zu viele Dinge werden in Rom entschieden, die auch in der Ortskirche
entschieden werden könnten. Ich kann verstehen, dass Päpste Angst davor haben, dass die
katholische Kirche auseinander bricht, wenn nicht überall gleiche Normen gelten. Aber ich
denke, man kann diese Gefahr auch umgehen. Warum müssen Katechismen, Messbücher,
Bibelübersetzungen, Lehrbücher immer von Rom garantiert werden. Geht es nicht auch
anders? Warum haben die Diözesen nicht mehr Mitsprache bei der Bischofsernennung?
Mindestens ein Vetorecht gegen Bischofsernennungen. Die Weltkirche ist im Lauf der letzten
150 Jahre ungeheuer gewachsen. Dennoch läuft vieles über römische Tische, was vor 1000
Jahren vor Ort gemacht wurde.
Ich wünsche mir zur Weiterführung der Seelsorge in den Pfarrgemeinden, dass diese selbst
stärker einbezogen werden in den Struktur und Veränderungsprozess. Vielleicht kommen die
Gemeinden ja auf die identischen Lösungen wie die Ordinariate. Aber wenn die Gemeinde
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selbst mit gedacht und entschieden hat, dann wird sie eine unangenehme Lösung leichter
annehmen, als wenn die Entscheidung nur von oben kommt. Die Verantwortlichen in den
Bistumsleitungen sollten sich ausdrücklicher als Diener verstehen und ganz bewusst nicht als
Menschen, die von oben herunter für die Gemeinden entscheiden.
Die kirchlichen Verantwortlichen für den schulischen Religionsunterricht sollten m. E.
anhaltend darüber nachdenken, ob und wie Grundwissen über das Christentum in den Schulen
vermittelt werden kann. Man kann ja den Eindruck haben, dass junge Leute kaum etwas
wissen über Jesus Christus, über Weihnachten, Ostern und Pfingsten, über Altes und Neues
Testament, über die zehn Gebote. Vielleicht täusche ich mich. Aber Eltern und
Kirchenverantwortliche sollten sich fragen: was müssen wir tun, damit Jugendliche
wenigstens ein kulturelles Grundwissen über den Glauben haben. Wollen wir vielleicht neben
dem Katechismusunterricht in der Schule einen privaten Unterricht, in dem mehr nach
traditioneller Methode auswendig gelernt wird. Etwa das Vater unser, die zehn Gebote, die
Seligpreisungen, liturgische Antworten im Gottesdienst. Denn offenbar gelingt es ja nicht,
diese Texte in der Schule zu lernen, schon weil die Eltern sie nicht kennen.
Ich wünsche mir ferner, dass bekannte Persönlichkeiten laut darüber nachdenken, was
gesellschaftlich und kulturell geschieht, wenn das Christentum in Europa auf die Größe einer
Sekte absinkt. Kann und darf man einfach schweigend zuschauen, wie ein wesentlicher
Kulturträger Europas, das Christentum abstirbt?
Meiner Ansicht nach sollte neu ins allgemeine Bewußtsein kommen, dass die europäische,
abendländische Kultur ganz wesentlich aus jüdisch-christlichem Denken kommt. Papst
Benedikt hat bei seiner Rede im deutschen Bundestag 2011 erklärt: „Das kulturelle Erbe
Europas sollte uns heute zu Hilfe kommen. Von der Überzeugung eines Schöpfergottes ist die
Idee der Menschenrechte, die Idee der Gleichheit aller Menschen vor dem Recht, die
Erkenntnis der Unantastbarkeit der Menschenwürde in jedem einzelnen Menschen und das
Wissen um die Verantwortung der Menschen für ihr Handeln entwickelt worden. Diese
Erkenntnisse der Vernunft bilden unser kulturelles Gedächtnis. Es zu ignorieren oder es als
bloße Vergangenheit zu betrachten, wäre eine Amputation unserer Kultur insgesamt und
würde sie ihrer Ganzheit berauben. Die Kultur Europas ist aus der Begegnung von Jerusalem,
Athen und Rom – aus der Begegnung zwischen dem Gottesglauben Israels, der
philosophischen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenken Roms entstanden. Diese
dreifache Begegnung bildet die innere Identität Europas. Sie hat im Bewusstsein der
Verantwortung vor Gott und in der Anerkennung der unantastbaren Würde des Menschen,
eines jeden Menschen, Maßstäbe des Rechts gesetzt, die zu verteidigen uns in unserer
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historischen Stunde aufgegeben ist.“ (Aus Osservatore Romano, deutsch 30. September 2012,
Nr. 39)
Wenn das, was der Papst sagt, als gültig angesehen wird, dann müssten Beleidigungen des
Christentums ebenso scharf von der Öffentlichkeit verurteilt werden wie Beleidigungen des
Islam und des Judentums. Es reicht nichts, wenn solche Beleidigungen strafbar wären. Sie
müssen gesellschaftlich geächtet sein. Wenn herausragende Persönlichkeiten sich offen als
Christen und zu christlichen Grundüberzeugungen bekennen würden, dann wäre Beleidigung
des Christentums leichter öffentlich geächtet. Es geht nicht darum, dass der Staat das
Christentum oder die Kirchen schützt. Das kann nicht seine Aufgabe sein, aber diejenigen
Personen, die beitragen zur öffentlichen Meinung, sollten – wenn möglich – zurückweisen,
was nach ihrer Ansicht nicht geht.
Da das Christentum in einerschweren Krise ist, kommt es heute auf jeden Einzelnen an. Ich
meine auf jeden Menschen, der sich zum Glauben an Jesus Christus bekennt. Es kann nicht
darum gehen, dass die einzelnen Christen mehr von ihren Bischöfen und vom Papst erwarten
und selbst nichts dazu beitragen. Das Zeugnis jedes Einzelnen, dem das Christentum ist
wichtig und gefragt. Verkündigung und Glaubenszeugnis kann nicht nach oben delegiert
werden an den Profi und Fulltimer. Wem Christentum wichtig ist, der muss selbst aktiv
mitmachen an seinem Platz – mitten im leben. Die Mentalität der Delegation, dass es ja
bezahlte Profis gibt, muss überwunden werden. Nur dann kann es – mit Gottes Hilfe –
gelingen, die Liebesbotschaft Jesu Christi in Europa am Leben zu erhalten und
gesellschaftlich relevant zu machen. Dann kann und wird das Evangelium Jesu Christi nicht
nur in den Himmel führen, sondern die Erde positiv mit gestalten.
Eichstätt, 14. September 2012
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