Mathematik für Architekten Winter 04/05 Fibonacci-Folge – Phyllotaxis – Goldener Schnitt Pflanzliche Organe bilden Muster. Dies ist besonders schön zu erkennen beim Blattstand von Laubbäumen, bei Fichten- und Föhrenzapfen, bei gewissen Arten von Kakteen, bei Blütenböden von Körbchenblütlern (Sonnenblume, Margerite, Silberdistel), bei Maiskolben und bei den Früchten der Ananas, um nur die Bekanntesten zu nennen. In jedem Fall wird das Muster gebildet von Elementen (Blüten oder Blätter), die auf zwei verschiedene Arten in Zeilen oder spiraligen Linien angeordnet sind. Diese Linien bilden zwei Parallelenscharen. Man unterscheidet Orthostichen (die zwei Scharen verlaufen parallel bzw. senkrecht zur Wachstumsrichtung) bzw. Parastichen (die Parallelscharen verlaufen schräg: die einen etwas steiler als die anderen). Wir werden uns im Folgenden nur mit dem Fall der Parastichen befassen. Wird nun die Anzahl dieser Parastichen bestimmt, so ergeben sich fast immer zwei ganze Zahlen, deren Verhältnis zwischen 3/5 und 2/3 liegt. Genauer ergeben sich in den allermeisten Fällen aufeinander folgende Zahlen der sog. Fibonacci-Folge. Der Anfang dieser Folge wird gebildet durch die Zahlen 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, … Sie kennen die Tests, bei denen solche Folgenanfänge bekannt sind und der Getestete jetzt die nächste Zahl hinschreiben muss. Erkennen Sie bei unserer Folge eine Gesetzmässigkeit? Ja, gewiss – die folgenden Glieder sind 89, 144, 233, 377, 610,… In Worten: Man erhält das nächstfolgende Glied stets, indem man die beiden Vorgängerglieder addiert. Ist nun die betreffende Zahlenfolge dadurch eindeutig festgelegt? Nein! Denn auch die Folge 1, 3, 4, 7, 11, 18, 29, 47, 76, … erfüllt dieselbe Gesetzmässigkeit. Offenbar kommt es zusätzlich auf die beiden Anfangsglieder an. Die Fibonacci-Folge beginnt mit einer doppelten Eins, während die soeben erwähnte Folge, die in der mathematischen Literatur Lucas-Folge heisst, mit 1 und 3 beginnt. Kennt man aber die beiden Startglieder und die angegebene Gesetzmässigkeit, so ist die Folge eindeutig festgelegt. Leben und Werk des Leonardo von Pisa Die Fibonacci-Folge erscheint unseres Wissens zum ersten Mal in einem Buch des Mathematikers und Kaufmanns Leonardo von Pisa. Er wurde um 1175 in Pisa geboren und starb daselbst nach 1240. „Fibonacci“ ist eine Kurzform für „Filius Bonacci“ (Sohn des Bonacci). Leonardos Vater Guilielmus Bonacci war Handelsgesandter der Stadt Pisa in der nordafrikanischen Küstenstadt Bugia (in der Nähe des heutigen Algier gelegen). Leonardo begleitete seinen Vater und eignete sich dadurch erste Mathematikkenntnisse an. Im Verlauf zahlreicher Reisen durch den Mittelmeerraum vertiefte er seine Kenntnisse. Er erkannte die Überlegenheit der indisch-arabischen Rechenmethoden über das herkömmliche Rechnen mit dem Abakus (Zählrahmen) und war massgeblich beteiligt an der Einführung des indischen Seite 1 Stellenwertsystems in Europa. Zurück in Pisa schrieb er 1202 den „Liber Abbaci“ (Buch des Rechenmeisters), mit dem er grosse Berühmtheit erlangen sollte.1 Leonardo lebte in einer Zeit der wirtschaftlichen Blüte; die italienischen Stadtstaaten prosperierten, allen voran Pisa und Genua. Es war auch eine Zeit des geistigen Aufbruchs, eine Art Vor-Renaissance. Es ist die Zeit der Scholastik und der ersten europäischen Universitätsgründungen. Leonardo hatte Kontakt mit dem Hof Friedrichs II. von Hohenstaufen, Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, welcher Wissenschaften und Künste in hohem Masse förderte. Leonardo widmete Friedrich sein zweites bedeutendes Werk, den „Liber quadratorum“ (1225), ein Buch über den damaligen Stand der Zahlentheorie. Über Leonardo Fibonacci, seine Zeit und insbesondere über seinen Liber Abbaci gab es im Herbst 2003 an der ETH Zürich eine sehr aufschlussreiche Ausstellung. Diese Ausstellung ist in virtueller Form erhalten geblieben. Man findet sie unter der Internet-Adresse http://www.math.ethz.ch/fibonacci/VirtuellerBesuch (6.10.2004). Die Kaninchen-Aufgabe Im Liber Abbaci findet sich u.a. die berühmt gewordene Kaninchen-Aufgabe. Die deutsche Übersetzung des lateinischen Originaltextes lautet: „Wie viele Kaninchenpaare stammen in einem Jahr von einem einzigen Paar ab? Jemand schloss ein Kaninchenpaar in einen vollständig mit Wänden abgeschlossenen Raum, um herauszufinden, wie viele Kaninchenpaare in einem Jahr von diesem einen Paar abstammen. Von Natur aus zeugt jedes Kaninchenpaar ein weiteres Paar pro Monat. Dieses wiederum beginnt vom zweiten Lebensmonat an, sich fortzupflanzen.“ Es geht also um ein Modell, welches die Fortpflanzung von Kaninchen beschreibt. Wie jedes Modell beschreibt es die Realität, stimmt aber nicht mit ihr überein. Es werden vereinfachende Annahmen getroffen. Z.B. wird es wohl kaum so sein, dass jedes reale Kaninchenpaar jeden Monat genau ein neues Paar zeugt. Zudem wird – unausgesprochen – angenommen, dass im Lauf des Jahres keine Kaninchen sterben. Nehmen wir einmal an, dass es im Oktober eine bestimmte Anzahl Kaninchenpaare gebe, beispielsweise 23, und dass es im September 14 waren. Von den Paaren im Oktober sind also 9 neu geboren worden und daher noch nicht zeugungsfähig. Also wird es im November die 23 1 Man muss sich dabei vergegenwärtigen, dass damals der Buchdruck noch nicht erfunden war. Der Erfinder Johannes Gutenberg lebte erst im 15. Jahrhundert. Es existierte also zunächst nur ein Exemplar eines solchen Buches. Wenn der Autor Glück hatte, so gab es irgendeinen Sponsor, meist ein Adliger, der bereit war, die Herstellung einer Abschrift zu finanzieren. Dies war beim Liber Abbaci der Fall. Auf Empfehlung seines Hofgelehrten Michael Scotus liess Kaiser Friedrich II. höchst persönlich das Buch abschreiben. Diese „zweite Auflage“ aus dem Jahr 1228 ist uns zusammen mit einigen späteren Abschriften erhalten geblieben, während das Original von 1202 verschollen ist. Gedruckt wurde der Liber Abbaci jedoch erstmals im 19. Jh.! Seite 2 Paare vom Oktober, vermehrt um die 14 Paare geben, die von den Kaninchen gezeugt wurden, die schon im September lebten. Diese Überlegung lässt sich mit beliebigen Ausgangszahlen durchführen. Wie Leonardo selbst beobachtet hatte, muss man also stets die Summe bilden, um zur nächsten Zahl zu gelangen: „…der ersten und der zweiten Zahl, also 1 und 1; dann der zweiten und der dritten, der dritten und der vierten, der vierten und der fünften, und so weiter, bis zur Summe der zehnten und der elften Zahl, also 89 und 144, um die Schlusssumme von 233 Kaninchenpaaren zu finden. In dieser Weise kann für beliebig viele weitere Monate fortgefahren werden.“ An dieser Stelle erscheint also die Folge, die später nach Fibonacci benannt wurde – wohl zum ersten Mal in Europa. Bezeichnen wir mit fn das Folgenglied mit der Nummer n, so gilt offenbar die Formel fn 1 fn fn 1 und zwar für alle natürlichen (d.h. positiven ganzen) Zahlen n mit n 2 . Dies ist die eingangs erwähnte Gesetzmässigkeit. Zur vollständigen Bestimmung der Fibonacci-Folge ergänzen wir f1 f2 1 . Damit ist diese Folge eindeutig festgelegt. Die angegebene Definition ist rekursiv; sie gestattet sofort, einige weitere Folgenglieder zu berechnen. Die Lucas-Folge, deren n-tes Glied wir mit l n bezeichnen wollen, genügt der gleichen Rekursions-Formel ln 1 ln ln 1 aber die Anfagswerte sind diesmal l1 1 und l2 3 . Phyllotaxis Aus den mannigfachen Beispielen zur Phyllotaxis wählen wir den Tannzapfen, also sozusagen die „Frucht“ der Rottanne oder Fichte. Er besitzt ein sehr eindrückliches Schuppenmuster. Man erkennt gut, dass dieses Muster zwei Familien von Parastichen enthält. Diese Parastichen verlaufen spiralig oder – korrekter gesagt – sie bilden Helices (Schraubenlinien). Dabei kann man sich den Schuppenmantel des idealen Tannzapfens (den es nicht gibt) als Mantel eines Kreiszylinders denken. Schneidet man diesen Zylindermantel in Achsenrichtung von oben bis unten durch, so lässt er sich abwickeln; d.h. man kann ihn glätten bzw. in eine Ebene legen. Auf diese Weise wird er zum Rechteck, und die Parastichen werden zu zwei Parallelenscharen. Dabei sind die einen etwas steiler als die anderen. Diese Eigenschaft bedeutet, dass der Tannzapfen eine Orientierung oder – wie man in der Botanik auch sagt – eine Händigkeit besitzt. Nennen wir ihn rechtshändig, falls die steileren Parastichen von links unten nach rechts oben verlaufen, andernfalls Seite 3 linkshändig. Falls wir mehrere Tannzapfen vor uns haben, ist es wahrscheinlich, dass es darunter sowohl rechts- als auch linkshändige gibt. Bei genauerem Hinschauen erkennt man auf dem Tannzapfen-Foto, dass sogar an derselben Fichte sowohl rechts- als auch linkshändige Zapfen vorkommen können. Diese Entdeckung lässt einen höchst interessanten Schluss zu: Wäre das Tannzapfenmuster vererbt, so müssten alle Zapfen eines Baums dasselbe Muster haben und somit auch dieselbe Händigkeit. Also ist das Tannzapfenmuster nicht vererbt sondern bildet sich bei jedem Zapfen spontan von Neuem! Es ist ein Phänomen der Selbstorganisation. Wir wollen jetzt die Schuppen unseres Tannzapfens mit Nummern versehen. Wir halten den Tannzapfen mit der Spitze nach oben, wählen irgendeine Schuppe im untersten Viertel und markieren sie mit der Zahl 0. Als nächstes müssen wir die Anzahl der Parastichen bestimmen. Dazu benötigen wir eine Zählstrategie. Sie werden diese sicher selbst herausfinden und dabei benützen, dass Sie mit der 0-Schuppe einen Startpunkt haben, zu dem Sie immer wieder zurückkehren können. Wir nehmen an, dass es 5 flachere und 8 steilere Parastichen hat. (Es stellt sich heraus, dass dies das weitaus häufigste Tannzapfenmuster ist. Sollten Sie andere Zahlen gefunden haben, so zählen Sie besser noch einmal nach!) Nun versehen wir die flache durch die 0-Schuppe laufende Parastiche mit der Fünferreihe. Die Schuppen werden also nacheinander mit den Zahlen 0, 5, 10, 15, 20, 25,… nummeriert. Entsprechend werden die Schuppen der steileren durch 0 laufenden Parastiche fortlaufend mit den Zahlen der Achterreihe versehen. Ein erstes kleines Erfolgserlebnis: Die beiden Parastichen treffen sich ein erstes Mal in der Schuppe mit der Nummer 40 und dann wieder bei 80 und bei 120 (falls Ihr Zapfen überhaupt so viele Schuppen besitzt). Als Nächstes nummerieren wir auf der steileren Parastiche durch die 5-Schuppe fortlaufend: 5, 13, 21, 29,… ; die nächste Zahl ist stets um 8 grösser als die vorangehende. Und auf der steileren Parastiche durch 10 ergibt sich die Folge 10, 18, 26, 34,… . Auf diese Weise können immer mehr Schuppen mit Nummern versehen werden. Ferner beachte man, dass auch rückwärts nummeriert werden kann: Auf der flacheren Parastiche durch 8 ergibt sich 3, durch 16 ergeben sich 11, 6 und 1, durch 24 sind es 19, 14, 9 und 4, und durch 32 schliesslich auch 12, 7 und 2. Was dabei entsteht, kann man als mathematischen Kristall ansprechen. Dies ist für sich schon eine erstaunliche Tatsache. Nun hat aber diese Nummerierung einen weiteren Sinn, der über die Schönheit des Zahlenmusters hinausgeht. Wir beginnen einmal bei der 0-Schuppe, drehen, bis wir die Nr. 1 sehen, drehen weiter zur Nr. 2, dann zur Nr. 3 usw. Durch diese Schuppen lässt sich offenbar wieder eine Helix legen. Vielleicht steigt sie nicht so regelmässig an wie die gut sichtbaren Parastichen. Aber insgesamt muss sie doch steigen, denn sie geht durch jede Schuppe hindurch und die Schuppen mit den grossen Nummern sind definitiv weiter oben als diejenigen mit den kleinen. Wir nennen sie die erzeugende oder generische Helix des Musters. Wenn wir den Zapfen von unten anschauen und so von der Schuppe mit der Nummer n zu derjenigen mit der Nummer n 1 drehen, so scheint es doch, dass wir immer etwa um den gleichen Winkel drehen müssen. Dies stimmt wohl bei den in der Natur vorkommenden Zapfen nur näherungsweise, aber beim idealen Zapfen ist das sicher richtig. Der Winkel einer solchen Drehung heisst in der Fachsprache Divergenzwinkel; wir wollen ihn mit bezeichnen und stets im Gradmass (Einteilung des Vollwinkels in 360°) messen. Doch wie gross ist ? Eine ganz grobe Abschätzung zeigt, dass der Divergenzwinkel sicher zwischen 90° und 180° liegt. Doch wir können diese Abschätzung wesentlich verbessern! Folgen wir nämlich der erzeugenden Helix, dann sehen wir, dass bei der Nummer 2 der volle Winkel noch nicht erreicht, bei 3 aber schon überschritten ist. Das heisst doch nichts anderes, als dass Seite 4 2 360 3 oder anders ausgedrückt: 120 180 Damit haben wir noch nicht viel gewonnen. Aber wir können so weiterfahren: Bei der Nummer 5 ist der zweite Umlauf noch nicht ganz vollendet, während die 8 nach wenig mehr als 3 Umläufen erscheint. Also 5 2 360 und 8 3 360 Wir erhalten damit die nächstbessere Eingabelung 135 144 . Diese Eingrenzung ist natürlich schon viel besser. Doch noch viel lieber möchten wir bei diesen Eingabelungen eine Gesetmässigkeit erkennen. Zu diesem Zweck schreiben wir die vorkommenden Winkelgrössen als Vielfache des vollen Winkels 180 12 360, 120 13 360, 144 25 360, 135 83 360 und der Grösse nach geordnet 1 3 360 3 8 360 2 5 360 1 2 360 Schauen wir Zähler und Nenner der Faktoren an: Das sind doch alles Fibonacci-Zahlen! Und bei ihrem Auftreten sind sie der Grösse nach bzw. nach ihrer Nummer in der Folge geordnet. Dabei ist der Nenner stets grösser als der Zähler. Ersterer ist aber nicht der unmittelbare Nachbar in der Folge sondern gerade das übernächste Glied. In der Schreibweise des vorangehenden Abschnittes kann somit jeder Faktor als Bruch der Form fn fn 2 dargestellt werden. Wenn man dieses Gedankenspiel weiterverfolgt, so erhält man die folgende verfeinerte Einschachtelung (wobei jetzt jedes Mal durch 360° dividiert wurde): 1 3 3 8 8 21 21 55 360 13 34 5 13 2 5 1 2 3 21 Die Differenz 13 34 55 ist übrigens bereits kleiner als 10 , und es besteht die berechtigte Hoffnung, dass diese Folge von Einschachtelungen eine einzige reelle Zahl übrig lässt. Anders ausgedrückt, hat die Folge der Brüche fn fn 2 einen Grenzwert. Wir analysieren unsere Situation wie folgt: Zunächst gilt offensichtlich: fn fn 2 fn fn 1 f f n n 1 . fn 2 fn 1 fn 1 fn 2 Mit dem Bildungsgesetz der Fibonacci-Folge schliessen wir weiter, dass fn fn 1 fn 1 f fn 1 f 1 f 1 n n n fn 2 fn 1 fn fn 1 fn 1 fn fn 1 fn 1 fn f f 1 n 1 n 1 Wenn wir die Zwischenresultate weglassen, so ergibt sich die Gleichung Seite 5 fn fn 1 fn 1 f 1 n fn 2 fn 1 fn 1 f n 1 ( Nehmen wir für den Moment an, dass nicht nur die Folge der Brüche Folge der fn fn 1 fn fn 2 sondern auch die gegen einen Grenzwert strebt. (Die letztere Folge beginnt mit den Brüchen 1 1 2 3 5 1 , 2 , 3 , 5 , 8 , .) Bezeichnen wir den Grenzwert von fn einmal mit x. Wenn dieser fn 1 Grenzwert tatsächlich existiert, dann streben doch in der Gleichung, die mit ( x, und die rechte Seite strebt gegen x 1 . x 1 Da aber für jeden noch so grossen Index n die linke und die rechte Seite von ( übereinstimmen, muss dies auch im Grenzfall gelten. Somit erhalten wir die Gleichung x2 x 1 x 1 Diese Gleichung lässt sich nun leicht nach x auflösen. Wir wissen, dass der Grenzwert zwischen 1/3 und 1/2 liegt, also sicher von Null verschieden ist. Somit dürfen wir beide Seiten durch x dividieren, und es bleibt x 1 x 1 Multiplizieren wir beide Seiten mit x 1 , so ergibt sich die quadratische Gleichung x (x 1) 1 Wir erreichen die Standardform dieser Gleichung, indem wir die linke Seite ausmultiplizieren und auf beiden Seiten 1 subtrahieren: x2 x 1 0 (2) Irgendwann haben Sie vermutlich auch schon quadratische Gleichungen gelöst. Erinnern Sie sich noch daran? Eine solche Gleichung kann stets in die Form ax 2 bx c 0 gebracht werden, wobei angenommen wird, dass der Leitkoeffizient a verschieden ist von Null. (Sonst wäre es ja gar keine quadratische Gleichung.) Falls nun der Ausdruck D b 2 4ac positiv ist, so hat die Gleichung die Lösungen x1 b b 2 4ac 2a und x2 b b 2 4ac . 2a (Diese Lösungsformeln gelten auch, wenn D 0 ist; die beiden Lösungen stimmen in diesem Fall überein.) In unserem Beispiel sind a 1, b 1, c 1 . Seite 6 Man rechnet leicht nach, dass die Gleichung (2) die folgenden Lösungen besitzt: 1 5 2 x1 und x2 1 5 2 Nun ist aber die für unser Problem relevante Lösung sicher positiv, also scheidet die algebraisch korrekte Lösung x2 aus. Die gesuchte Lösung ist somit 1 5 2 x1 5 1 , 2 oder – als Dezimalbruch ausgedrückt – 5 1 0,618033988 2 x1 Wie die Zahl 2 ist auch unsere Lösung x1 eine irrationale Zahl; d.h. sie lässt sich nicht als Bruch von zwei ganzen Zahlen darstellen. Ihre Dezimalbruchentwicklung ist deshalb weder abbrechend noch periodisch. Nun müssen wir allerdings feststellen, dass wir erst den Grenzwert der Folge der fn fn1 und nicht etwa den gesuchten der Folge fn fn 2 berechnet haben. Doch nach unserer Überlegung ist klar, dass die gesuchte Zahl das Quadrat von x1 ist. Es gilt also lim n 2 fn x 2 1 fn 2 5 1 5 2 5 1 3 5 4 2 2 wobei lim fn fn2 den Grenzwert (lat.: Limes) der betreffenden Folge bezeichnet. Wir n beachten, dass x12 x1 5 1 3 5 1 2 2 ist. Somit haben wir lim n fn fn 2 1 0, 618033988 0, 381966011 Wir kehren zurück zum Schuppenmuster unseres Tannzapfens. Auf eine ganz bestimmte Art haben wir diese Schuppen nummeriert. In Gedanken haben wir dann die Schuppen mit aufeinander folgenden Nummern verbunden. Setzt man diese Verbindungen zusammen, so entsteht eine einzige Verbindungslinie, die sämtliche Schuppen trifft. Diese Linie kann – zumindest bei dem uns vorschwebenden idealen Tannzapfen – als Helix (Schraubenlinie) aufgefasst werden; man nennt sie die erzeugende Helix des Musters. Wenn das tatsächlich eine Helix ist, dann müssen alle Winkel, um die man den Tannzapfen drehen muss, um von einer Schuppe zu derjenigen Schuppe mit der nächstgrösseren Nummer zu gelangen, gleich gross sein. Dieser gemeinsame Winkel heisst Divergenzwinkel. Wir sind davon ausgegangen, dass das Muster 5 flachere und 8 steilere Parastichen aufweist. Falls das Muster die hohe Regelmässigkeit besitzt, die wir in unsere Überlegung hineingesteckt haben, dann gibt es einen idealen Divergenzwinkelund dieser beträgt f 360 lim n 360 0, 381966 137.50776 . n fn 2 Seite 7 Wenn man nun umgekehrt auf einem Zylindermantel fortlaufend Punkte anbringt, indem man von Punkt zu Punkt den Zylinder um seine Achse stets um den Winkel 137.5 dreht und die Höhe (in Achsenrichtung) stets um dasselbe Inkrement vergrössert, so entsteht genau das ideale Fibonacci-Muster mit den 5 flacheren und 8 steileren Parastichen. Der Goldene Schnitt Wir machen hier einen Abstecher in die Proportionenlehre. Von alters her übt die Proportion des Goldenen Schnittes auf den Menschen eine grosse Anziehungskraft aus. In Architektur und Kunst wurde und wird sie häufig verwendet – sei dies beabsichtigt oder nicht. Der goldene Schnitt (früher auch „göttliche Proportion“ genannt) ist ein Begriff aus der Geometrie. Wir gehen aus von einer Strecke mit den Endpunkten A und B und mit einem Punkt T, der diese in zwei Teilstrecken oder Abschnitte zerlegt. M m A T B Die Länge des grösseren Abschnitts AT wird mit M (für Major) und diejenige von TB mit m (für Minor) bezeichnet (s. Figur). Man sagt nun, der Punkt T teile die Strecke AB im Goldenen Schnitt, falls sich die ganze Strecke zum grösseren Abschnitt gleich verhält wie der grössere Abschnitt zum kleineren. Formal geschrieben: (M m) : M M : m (*) oder – gleichwertig – M M m 1 1 m M M m Setzen wir nun x M m , so ergibt sich die Gleichung x 1 1 x Multipliziert man diese mit der Variablen x und subtrahiert man anschliessend auf beiden Seiten x 1 , so erhält man die quadratische Gleichung x2 x 1 0 . Dass diese Gleichung sehr ähnlich aussieht wie die Gleichung (2) des letzten Abschnitts, ist – wie sich herausstellen wird – kein Zufall! Wir wenden wieder die weiter oben angegebene Lösungsformel an – diesmal für a 1, b 1, c 1 – und erhalten x1 1 5 2 und x2 1 5 2 Wieder ist x2 negativ und kommt als Verhältnis zweier Streckenlängen nicht in Frage. Die einzige Lösung ist somit Seite 8 x1 1 5 2 1,618033988 Wir rekapitulieren, dass wir die Bezeichnung x für das Verhältnis von Major zu Minor des Goldenen Schnittes eingesetzt haben. Es gilt also M 1 5 1,618033988 m 2 D.h. die Irrationalzahl 1,618033988… ist der numerische Ausdruck für das Teilverhältnis des Goldenen Schnittes. Indem wir diese Zahl mit bezeichnen, schliessen wir uns H.S.M. Coxeter2 an. Sie haben bestimmt schon bemerkt, dass sich die Zahl von der im Zusammenhang mit dem idealen Divergenzwinkel aufgetretenen Zahl 0,618033988… um genau 1 unterscheidet. Doch es kommt noch besser: Für ein tieferes Verständnis des goldenen Schnittes ist es sicher ratsam auch den Minor zum Major ins Verhältnis zu setzen, also den Kehrwert von zu bilden. Diese Zahl wird im Folgenden mit bezeichnet. Bei der Bildung des Kehrwertes kommt ein Wurzelausdruck in den Nenner. Erweitert man diesen Bruch mit einem passenden anderen Wurzelausdruck, so wird der Nenner wurzelfrei: 1 m 2 M 1 5 2 5 1 2( 5 1) 5 1 5 1 5 1 5 1 2 Der Term auf der rechten Seite der letzten Gleichung ist uns vom Abschnitt über die Phyllotaxis wohlbekannt! Dies ist doch gerade der Grenzwert der Folge fn fn1 der Quotienten aufeinander folgender Glieder der Fibonacci-Folge. Zur Bestimmung des idealen Divergenzwinkels benötigten wir nicht diesen Grenzwert sondern sein Quadrat. Dabei stellte sich heraus, dass sich die beiden Werte gerade zu 1 ergänzen. Dies lässt nun die folgende geometrische Interpretation zu: Markiert man auf der Zahlengeraden das Intervall aller reellen Zahlen von 0 bis 1, so teilt die Zahl dieses Intervall gerade im goldenen Schnitt mit als Major und 1 2 als Minor; denn 1 : : 2 . 1 0 1 2 3 Schauen wir uns noch einmal an, wie wir den Divergenzwinkel berechnet haben: f 360 lim n 360 2 137.50776 n fn 2 Also ist der Divergenzwinkel nichts anderes als der Minor, wenn man den Vollwinkel – hier als Intervall dargestellt – im Goldenen Schnitt teilt! 0° 2 = 137.5° 360° H.S.M. Coxeter (1907–2003), englischer Mathematiker. Sein Buch „Unvergänglivhe Geometrie“ (Birkhäuser, Basel/Stuttgart 1963) enthält ein Kapitel über den Goldenen Schnitt und die Phyllotaxis. Seite 9 Es wird vermutet, dass der Goldene Schnitt von den Pythagoreern entdeckt wurde. Dies war ein von Pythagoras3 gegründeter Geheimbund, der sich mit Mathematik und Musiktheorie befasste – im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Esoterik. Dieser Geheimbund verwendete als Erkennungszeichen das Pentagramm, d.h. das Diagonalengebilde des regulären Fünfecks. (Ein Fünfeck ist regulär, wenn nicht nur alle fünf Seiten gleich lang sondern auch alle fünf Innenwinkel gleich gross sind. Wir behaupten nun, dass in einem regulären Fünfeck jeder Schnittpunkt von zwei Diagonalen, welche keine gemeinsame Ecke besitzen, beide Diagonalen im Verhältnis des Goldenen Schnittes teilt. C B A F D E Da jede Diagonale parallel ist zur gegenüber liegenden Fünfecksseite, erkennt man, dass der grössere Diagonalenabschnitt gleich lang ist wie die Fünfecksseite. Also ist die Behauptung mit der Gültigkeit der Proportion () gleichwertig: d : s s : (d s) (). Dabei bedeuten s die Länge einer Fünfecksseite und d die Diagonalenlänge. Für einen Beweis dieser Tatsache überlegt man sich, dass die beiden gleichschenkligen Dreiecke ABC und DEF ähnlich sind, d.h. sie haben die gleiche „Form“ oder – präziser ausgedrückt – entsprechende Winkel stimmen überein. In der Tat ist die letztere Eigenschaft erfüllt, denn je zwei entsprechende Dreiecksseiten sind parallel; z.B. gilt dies für die Seiten BC und EF. Nun weiss man aber aus der elementaren Geometrie, dass in ähnlichen Dreiecken die Verhältnisse entsprechender Seiten gleich sind. Insbesondere verhält sich die Basis AB des grösseren Dreiecks zu seinem Schenkel AC gleich wie die Basis DE des kleineren zu dessen Schenkel DF. Verwenden wir jetzt die eingeführten Abkürzungen d und s, so erhalten wir genau die Gleichung (). Also verhalten sich Diagonale und Seite im regulären Fünfeck wie Major und Minor des goldenen Schnittes. Anders ausgedrückt, teilt beispielsweise der Punkt F die beiden Diagonalen AE und BD je im Goldenen Schnitt. Folglich gilt d , bzw. d s s 1, 618033988 s und 3 Pythagoras von Samos (ca. 590–510 v.Chr.), griechischer Philosoph, Mathematiker und Begründer der Harmonielehre Seite 10 s , bzw. s d d 0, 618033988 d Wir werden ein gleichschenkliges Dreieck ein goldenes Dreieck nennen, wenn zwischen Basis und Schenkellänge das Verhältnis des Goldenen Schnittes besteht. Bei einem stumpfwinkligen goldenen Dreieck verhält sich die Basis zum Schenkel wie :1 . Ein spitzwinkliges goldenes Dreieck ist hingegen dadurch charakterisiert, dass sich die Basis zum Schenkel wie :1 verhält. Die Pentagramm-Figur (mit ergänzendem Fünfeck) enthält mehrere spitzwinklige und stumpfwinklige goldene Dreiecke. Beispielsweise sind die Dreiecke DEC und ABC golden; Dreieck DEC ist spitzwinklig, ABC hingegen stumpfwinklig. Ein Zitat Für das Verständnis des nachfolgenden Kepler-Zitats ist es wichtig zu wissen, dass der Zitierte – wie die Griechen zur Zeit von Pythagoras – mit „Zahlen“ stets ganze Zahlen meint. Irrationale Verhältnisse wie oder können demnach nicht als Verhältnisse von Zahlen ausgedrückt werden; sie galten deshalb als „unaussprechbar“. Der Goldene Schnitt heisst bei Kepler „Göttlicher Schnitt“ oder „Teilung nach dem äusseren und mittleren Verhältnis“. (Die letztere Bezeichnungsweise geht auf Euklid4 zurück; der Ausdruck „Goldener Schnitt“ ist wesentlich jüngeren Datums.) „Zunächst erinnere man sich …, dass das Fünfeck durch die Teilung nach dem äusseren und mittleren Verhältnis bestimmt ist, die den göttlichen Schnitt bildet. In diesem schönen Verhältnis liegt nun aber die Idee der Zeugung verborgen. Denn wie der Vater den Sohn erzeugt, der Sohn einen anderen, jeder einen ihm ähnlichen, so wird auch bei jener Teilung die Proportion fortgesetzt, wenn man den grösseren Abschnitt zum Ganzen hinzufügt. Die Summe erhält dann die Stelle des Ganzen, und was vorher Ganzes war, ist jetzt grösserer Abschnitt.“ Hier wird die Tatsache angesprochen, dass der goldene Schnitt auch besteht zwischen der um den Major verlängerten ganzen Strecke und letzterer, und dass sich diese Eigenschaft immer weiter fortpflanzt. Analog teilt der Minor den Major im goldenen Schnitt, wird dabei selbst zum Major, der nun von seinem Minor wieder im goldenen Schnitt geteilt wird, usw. Aus diesem Grund wird der goldene Schnitt auch etwa „stetige Teilung“ genannt. Drücken wir die angesprochenen Tatsachen algebraisch aus, so ergeben sich M : m (M m) : M (2M m) : (M m) (3M 2m) : (2M m) bzw. M : m m : (M m) (M m) : (2m M ) Kepler fährt weiter: „Wenn auch dieses Verhältnis nicht durch Zahlen ausgedrückt werden kann, so gibt es doch eine Zahlenreihe, die dem wahren Wert des Verhältnisses immer näher kommt. In dieser Reihe erzeugt der Unterschied der Zahlen gegenüber den wirklichen Proportionsgliedern (die unaussprechbar sind) in höchst merkwürdiger Weise Männchen und Weibchen, wie sie sich durch ihre Geschlechtsglieder unterscheiden. Es sei zunächst der grössere Teil 2, der kleinere 1, das Ganze 3. Es verhält sich nun nicht genau 1 zu 2 wie 4 Euklid von Alexandria (ca. 365–300 v.Chr.), griechischer Mathematiker, Verfasser der „Elemente“, einer Sammlung von Mathematik-Lehrbüchern, die heute noch verwendet werden. Seite 11 2 zu 3; vielmehr bleibt das Rechteck aus den Aussengliedern 1 und 3 hinter dem Quadrat des Mittelgliedes um eine Einheit zurück. Addiert man nun 2 und 3, so erhält man als neues Ganzes 5; addiert man 3 und 5, so erhält man als Ganzes 8 usw. Das Rechteck aus 1 und 3 erzeugt ein Weibchen, denn es fehlt ihm eine Einheit gegenüber dem Quadrat von 2. Das Rechteck aus 2 und 5 erzeugt ein Männchen, denn es überschreitet das Quadrat von 3 um eine Einheit. Das Rechteck aus 3 und 8 erzeugt ein Weibchen, denn es fehlt ihm eine Einheit gegenüber dem Quadrat von 5. Aus 5 und 13 entsteht wieder ein Männchen, im Hinblick auf das Quadrat von 8; aus 8 und 21 ein Weibchen im Hinblick auf das Quadrat von 13 usw. bis ins Unendliche. Das ist also die Natur der Teilung, die bei der Herstellung des Fünfecks Verwendung findet.…“ Dieses Zitat stammt aus Keplers5 Weltharmonik, 3. Buch, S. 165–166. Dieses bedeutende Werk, welches auch das dritte Keplersche Gesetz über Planetenbahnen enthält, erschien 1619 in lateinischer Sprache. Die deutsche Fassung besorgte M. Caspar (München/Berlin 1939). Die nachstehende Veranschaulichung des Zitats geht auf eine Idee Keplers zurück, die sich am Rand der entsprechenden Buchseite findet. 1:2 2 : 3 1) bzw. 1 3 22 genauer 1 3 22 1 2 :3 3:5 2) bzw. 2 5 32 genauer 2 5 32 1 3:5 5 :8 3) bzw. 3 8 52 genauer 3 8 52 1 5 : 8 8 :13 4) bzw. 5 13 8 2 genauer 5 13 8 2 1 Kepler war also vom Goldenen Schnitt ausgegangen und stiess auf die Fibonacci-Folge, weil er das „unaussprechbare“ Verhältnis durch ganzzahlige Verhältnisse annähern wollte. Er 5 Johannes Kepler (1571–1630), bedeutender deutscher Astronom und Mathematiker der frühen Neuzeit. Seite 12 wusste also bereits um den Zusammenhang zwischen der Fibonacci-Folge und dem Goldenen Schnitt, dem wir weiter oben begegnet sind: lim n fn 1 1 5 fn 2 Kepler gelangte zu dieser Einsicht, indem er eine Eigenschaft der Fibonacci-Folge entdeckte, die heute Simson-Identität genannt wird. In formaler Sprache lautet sie: fn1 fn1 fn 2 (1)n für alle n (n 2) Dividiert man beide Seiten durch fn 1 fn , so erhält man die Gleichung fn1 fn (1)n fn fn1 fn1 fn Aus dieser Form der Simson-Identität lässt sich nun eine Eingabelung der Zahl finden, welche der Eingabelung des Divergenzwinkels (s. Abschnitt über Phyllotaxis) analog ist: 1 3 2 8 5 21 13 34 21 13 8 5 3 2. Seite 13