Horst Tiwald

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Horst Tiwald
Die Leibes-Mitte
07. 11. 2003
Dieser
Text
dient
der
Erläuterung
des
Lehrbriefes
Nr.
4:
„Orientierung auf die Körpermitte“1. In diesem Text habe ich darauf
hingewiesen, wie wichtig beim Skilaufen das Unterscheiden von
„Körper-Mitte“ und „Körper-Schwerpunkt“ ist. Es lässt sich dann
nämlich in der „Inneren Empirie“ auch differenziert die „Spannung“
erleben, die beim Hinauswandern der „Körper-Mitte“ aus dem
„Körper-Schwerpunkt“ deutlich wird. Damit ist nicht nur der
„Schwerkraft-Sinn“, der zum Beispiel im Zentrum der FRELDENKRAISMETHODE2
steht,
sondern
auch
der
„Schwerpunkt-Sinn“
des
Menschen entdeckt.
Bei dieser Betrachtung haben wir die Ebene des OrganischBiologischen in der Bewegungswissenschaft aber bereits
überschritten und sind über die „Innere Empirie“ in eine
„anthropologische Ebene“ der Bewegungswissenschaft
eingetreten, in der im Bewegen das erfasst wird, was für
den Menschen typisch ist, nämlich die konkrete Möglichkeit
des Unterscheidens zwischen faszinierter „Aufmerksamkeit“
und freier „Achtsamkeit“.
Über das Erleben der „Spannung“ zwischen „Körper-Mitte“ und
„Körper-Schwerpunkt“ lässt sich nämlich entdecken, dass sich die
„Achtsamkeit“
in
dieser
„Spannung“
ganz
unterschiedlich
fokussieren lässt.
Man kann dann auch erlebend entdecken und für das Bewegen
konkret brauchbar machen, dass die „Leibes-Mitte“ als Zentrum der
faszinierten „Aufmerksamkeit“, und später der frei beweglichen
1
Siehe im Internet: www.mathias-zdarsky.de
MOSHE FELDENKRAIS: "Bewusstheit durch Bewegung – Der aufrechte Gang.", Frankfurt
am Main 1968
2
2
„Achtsamkeit“, etwas anderes ist als die „Körper-Mitte“ und auch
etwas anderes als der „Körper-Schwerpunkt“.
Dies ist nämlich bei den meisten, oft sehr statischen
Einstiegshilfen in das meditative Training der „Achtsamkeit“
nicht zu entdecken. Zum Beispiel, wenn man aufrecht steht
oder sich so bewegt oder sitzt, dass „Körper-Mitte“ und
„Körper-Schwerpunkt“ spannungslos „zusammenfallen“ und
es bei diesem Meditations-Einstieg dann nur mehr darum
geht, die „Achtsamkeit“ in diesem gemeinsamen Punkt,
d.h. im Bauch, zu fokussieren. Hier taucht dann allerdings
eine andere Spannung der Achtsamkeit auf, die Spannung
zwischen „Leibes-Mitte“ und „Schnittstelle“ mit der Umwelt,
wo das Schwerkraft-Wirken gespürt wird.
Diese Spannung ist ebenfalls ein für das Optimieren des Skilaufens
sehr relevantes Erleben. Es führt hin zum Spüren des pulsierenden
„Splittens“ der Achtsamkeit.3 Es wird dabei konkret erlebbar, dass
die
„Achtsamkeit“
selbst
eine
Einheit
von
gegengerichtetem
unkörperlichen Bewegen ist:
 einerseits verbindet sie und bindet in „Eins“;
 anderseits setzt sie auseinander und unterscheidet.
Sie ist sowohl Grundlage der kreativ ein- und verbindenden „EinBildungskraft“, als auch der kritisch spaltenden „Ur-Teilkraft“. Sie
ist als eine komplementäre4 Einheit:
vgl. mein Projektpapier: „Atmen und Achtsamkeit im Gewandtheits- und
Achtsamkeitstraining“. Im Internet: www.tiwald.com im Ordner: „Projektpapiere“, oder das
entsprechende Kapitel in: HORST TIWALD: „Yin und Yang – Zur Komplementarität des
leiblichen Bewegens“. Immenhausen bei Kassel 2000. ISBN 3-934575-10-2.
4 Das Wort "komplementär" ist hier im Sinne von sich gegenseitig ergänzend gemeint. Das
Ganze setzt sich zu einem Dualismus, zu einer Zweiheit, auseinander. Die so
auseinandergesetzten Pole brauchen sich gegenseitig, obwohl sie einseitig erscheinen.
Für sich alleine betrachtet ist das jeweils Auseinandergesetzte nicht absolut einseitig. Es
besitzt in sich selbst eine neue Komplementarität und setzt sich in sich selbst ebenfalls
wieder komplementär auseinander.
Die Komplementarität kehrt auf diese Weise auf allen Stufen bzw. Ebenen des
Auseinandersetzens wieder.
3
3


einerseits öffnend;
andererseits zentrierend.
In meiner Terminologie ist:
 die "Körper-Mitte" die anatomische Mitte des biologischen
Körpers, sie liegt etwa im Bauch;
 der "Körper-Schwerpunkt" ist wiederum das "inerte"
Zentrum des physikalischen Körpers; er ist das scheinbare
Wirkzentrum der Gravitation bzw. das Zentrum der
Trägheit;
 die "Leibes-Mitte" ist dagegen das Zentrum meiner
Achtsamkeit in der Welt;. sie ist für mich mein "inertes",
d.h. mein ruhendes Achtsamkeits-Zentrum.
Wird
die
„Leibes-Mitte“
"fremdbestimmt"
für
festgelegt,
mich
dann
durch
eine
spreche
ich
Faszination
bei
dieser
Konzentration von "Aufmerksamkeit". Wird sie dagegen von mir frei
gesetzt
bzw.
wandernd
geleitet,
dann
spreche
ich
von
"Achtsamkeit".
Meine
„Leibes-Mitte“
kann
also
einerseits
ein
fremdbestimmtes, fixiertes Faszinations-Zentrum meiner
„Aufmerksamkeit“ sein, andererseits aber auch ein jeweils
zentrierendes, aber nicht „einhaltendes“ Bewegen meiner
von mir frei geleiteten „Achtsamkeit“.
Hält mein Bewegen der jeweils nicht nur weitenden sondern auch
zentrierenden „Achtsamkeit“ ein, d.h. „hält“ das Wandern der
Achtsamkeit zeitlich „ein“, bzw. "hangt" es räumlich an, dann wird
Das chinesische Symbol für das gegenseitige Verwinden von YIN und YANG ("verwinden"
im doppelten Sinn: sowohl im Sinne von sich gegensinnig verdrehen, d.h. ins Gegenteil
umkehren, als auch im dem Sinne, wie man zum Beispiel ein Leid verwindet) bringt das
gut zum Ausdruck. Das YIN hat das YANG nicht überwunden, sondern bloß verwunden.
Das YIN ist zwar souverän, aber es steckt in ihm das bloß verwundene YANG. Und
umgekehrt.
Es gibt daher keine harte Grenze zwischen YIN und YANG. Deshalb kann weder das eine
noch das andere definiert, d.h. begrenzt werden, ohne den immer wieder bloß
verwundenen und deshalb zur Bewegung antreibenden Gegensatz bzw. Widerspruch
aufzuwerfen.
4
das an sich freie Bewegen der Achtsamkeit ebenfalls zu einer
fixierten Aufmerksamkeit, die dann eben von meinem freien
„Vorsatz“ oder von meinem „Vor-Urteil“ festgehalten wird.
Wenn sich also auf die eine oder andere Weise meine „Leibes-Mitte“
fixiert, dann erscheint "für mich" eine Bewegung relativ zu ihr
bewegt.
Dieses Zentrum kann aber räumlich und zeitlich auch aus meinem
biologischen Körper hinauswandern.
Ich kann mein Achtsamkeitszentrum zum Beispiel räumlich
auf den am Nebengeleise anfahrenden Zug verlagern,
wodurch dieser durch mein Fixieren „für mich“ scheinbar
zur Ruhe kommt. Ich erlebe mich dann mit meinem Zug
bewegt, obwohl mein Zug sich physikalisch gar nicht relativ
zu den Schienen fortbewegt.
In
meinen
"Projektpapieren
zum
Achtsamkeitstraining"5
war
gegeben,
„Körper-Mitte“
zwischen
unterscheiden,
da
die
damals
noch
und
Gewandtheitskeine
Notwendigkeit
„Leibes-Mitte“
Meditations-Techniken
und
und
auch
zu
die
Ratschläge zum Kampfsport immer davon handeln, die Achtsamkeit
im Hara, (Bauch) zu fokussieren, damit sie nicht "fremdgeht" bzw.
von Faszinationen weggelockt wird und dann irgendwo "einhält"
und "anhangt", d. h. sich für mich gefährlich zur Ruhe setzt.
Deswegen ist es für den Einstieg besser, die Achtsamkeit bei sich in
seiner „Körper-Mitte“ „selbstbestimmt“ und achtsam kontrolliert
festzuhalten.
Bei diesem Bemühen, sie in der „Körper-Mitte“ fest zu
halten, bzw. „anzubinden“, wird eigentlich erst die (der
faszinierten
"Aufmerksamkeit"
gegensteuernde)
selbstbestimmte „Achtsamkeit“ entfaltet.
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Siehe die Texte zum Downloaden auf www.tiwald.com
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Ist die „Achtsamkeit“ aber in dem Bemühen, die „Aufmerksamkeit“
im Hara "selbstbestimmt" festzuhalten, entfaltet, dann ist sie frei
wie ein Vogel, der nirgends „einhält“, sondern pulsierend frei
wandert.
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Dann ist es möglich, in der Meditation das AchtsamkeitsZentrum auch räumlich nach außen7 oder zeitlich in die
Vergangenheit und Zukunft wandern zu lassen, ohne
"anzuhangen", ohne sich irgendwo zu fixieren.
Um nun dieses Loslösen, bzw. „Loslassen“ von der faszinierten und
anhangenden Aufmerksamkeit "zur Sprache zu bringen", muss man
einerseits zwischen der freien, beweglichen, selbstbestimmten
"Achtsamkeit"
wollenden,
und
zeitlich
der
faszinierten,
einhaltenden
und
trägen,
d.h.
räumlich
verharren
anhangenden
"Aufmerksamkeit", andererseits aber auch im sogenannte Hara die
"Körper-Mitte" von der "Leibes-Mitte" unterscheiden.
Dies vor allem deswegen, weil beim Bewegen der
Achtsamkeit sich gerade die „Leibes-Mitte“ als Zentrum der
Achtsamkeit ins Bewegen setzt, also zeitlich „fließend“ und
vgl. hierzu: KARLFRIED GRAF DÜRCKHEIM: „Wunderbare Katze und andere Zen-Texte“
Bern-München-Wien 1964 und MEISTER TAKUAN: „Zen in der Kunst des kampflosen
Kampfes“ Bern-München-Wien 19984
7 In diesem DENK-MODELL erscheint dagegen das zentrierende Verengen des „Leibes“ zu
seinem Zentrum hin als das Bemühen, das sogenannte Nirwana zu erreichen, d. h. in der
Welt zu „verlöschen“. Dieses „implosive“ Bewegen der Achtsamkeit zu ihrem Zentrum hin,
ist aber, entsprechend der in diesem DENK-MODELL mitgedachten Komplementarität, kein
absolutes „Erlöschen“. Im Zentrum, als dem Extrem des zentrierenden Bewegens, schlägt
nämlich dieses sich verengend verlöschende Bewegen in sein komplementäres Gegenteil,
in das sich öffnende und weitende Bewegen um. Dies ist der „Umschlag“ der Achtsamkeit,
der im ZEN als „Satori“, als neuer Eintritt in die Welt der Unterscheidungen, bezeichnet
wird. Die umschlagende Umkehr im Zentrum wird durch das kreisförmige YIN-YANGSYMBOl veranschaulicht. Erlebbar ist ein ähnlicher Umschlag beim tanzenden Bewegen in
ein SPIRALIGES LABYRINTH hinein, dessen „Zentrum der Umkehr“ das YIN-YANG-SYMBOL
darstellt. Ähnliches ist beim rhythmischen Skilaufen im Schwung-Zentrum zu erleben.
Wobei ich hier darauf hinweise, dass für mich der Schwung, als rhythmisches Element der
skiläuferischen Fortbewegung, ein S-förmiger Doppel-Bogen ist. Die Analyse der
Schwünge kann hier nicht wiederholt werden. Der interessierte Leser möge diesbezüglich
in meinem Buch "Von Pflugbogen, Schlangenschwung und Schuß-Bums-Technik Beiträge zur Geschichte des Alpinen Skilaufes". Hamburg 1996, ISBN 3-9804972-0-8
nachlesen
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räumlich pulsierend „gesplittet“ und trotzdem als ein
verbundenes Ganzes erlebt wird.
Der „Leib“ ist daher nicht der „Körper“. Er kann aber mit dem
Körper
zusammenfallen
und
dann
als
„beseelter
Körper“
erscheinen.
Einerseits kann nämlich sein Zentrum auch räumlich
außerhalb oder zeitlich vor- oder nachher liegen8,
andererseits kann seine räumliche Ausdehnung sowohl
größer als der Körper sein und mit der Umwelt
verschmelzend „Eins-werden“, als sich auch in den Körper
hinein verkriechen und kleiner als die Hautoberfläche sein,
wie bei den Autisten, die nicht einmal ihren Körper
umfassen, geschweige denn die Um- und Mitwelt erreichen.
Analoges gilt für das Zeitliche.
Es gibt Menschen, die weder erinnern noch vorausschauen können,
aber auch solche, die nur in der Vergangenheit oder nur in einer
phantasierten Zukunft leben, dort „leiblich“ zentriert sind, und
dadurch ihre Gegenwart, mit ihrem „Körper“, verloren haben.
Dies mag den Gedanken von VIKTOR VON WEIZSÄCKER erläutern, der
schrieb:
"Ich frage zum Beispiel nicht nach dem Wert der
Leibesübungen, sondern ich untersuche, welcher Leib
überhaupt geübt werden kann, und finde, dass dieser Leib
- die Seele ist.
Ich muss also da beginnen, wo ich bin."9
vgl. den Begriff der „janusköpfigen“ Achtsamkeit in HORST TIWALD: "Talent im Hier und
Jetzt“. Hamburg 2003. ISBN 3-936212-10-4.)
9 VIKTOR VON W EIZSÄCKER: „Menschenführung - Nach ihren biologischen und
metaphysischen Grundlagen betrachtet.“ Göttingen 1955
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