GEWERKSCHAFT ERZIEHUNG UND WISSENSCHAFT KREISVERBAND OFFENBACH-STADT UND - LAND IM LANDESVERBAND HESSEN FACHGRUPPE BERUFLICHE SCHULEN Stellungnahme von Lehrerinnen und Lehrern der Beruflichen Schulen aus Stadt und Kreis Offenbach, die am 5. Mai 2004 an einer Diskussionsveranstaltung der GEW zum Thema „Selbstverantwortung plus“ teilgenommen haben Wenn - Jugendlichen massenhaft Ausbildungsplätze fehlen und sie an beruflichen Schulen verstärkt in „Warteschleifen“ zu finden sind, - vermehrt benachteiligte Jugendliche die Berufsschule ohne Abschluss mit absolut ungesicherter Berufsperspektive verlassen, - Weiterbildung und Umschulung zum zwingenden Bestandteil jeder Berufsbiographie werden, müssen neue Perspektiven der beruflichen Aus- und Weiterbildung entwickelt werden. Ob der Aufbau „regionaler Kompetenzzentren“, wie die hessische Landesregierung ihn konzipiert, aus Sicht der GEW eine solche Perspektive sein kann, ist unter folgenden Zielsetzungen/ Leitkriterien zu prüfen: Sicherung des öffentlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags. Die Verantwortung für die berufliche Ausbildung muss beim Staat bleiben ! Freiräume und Gestaltungshoheit der beruflichen Schulen bei der inhaltlichen Neugestaltung von Ausbildungsgängen, Differenzierungsmöglichkeiten, Zusatzqualifikationen, Stärkung des allgemeinbildenden Bereichs, Projektunterricht Ausbau vollzeitschulischer Ausbildungsgänge, verbunden mit betrieblichen Praktika Lernortkooperationen unter der Wahrung der Eigenständigkeit der beruflichen Schule Sicherstellung der Ressourcen (personelle, räumliche und sächliche Ausstattung) für die Kernaufgaben und jede zusätzliche Aus- bzw. Weiterbildungsmaßnahme (einschl.10 % Vertretungsreserve) Beibehaltung des bisherigen Qualifikationsniveaus für Lehrkräfte an beruflichen Schulen Ausbau der Professionalität des päd. Angebots durch qualifizierte Fortbildungsangebote für Lehrkräfte, Schulsozialarbeit und ggfs. sonderpädagogische Förderung Beachtung pädagogisch vertretbarer Schulgrößen bei berufl. Schulen Sicherung und Verbesserung der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen (kein Einstieg in einen Niedriglohnsektor und in Fristverträge zur Erhaltung der Flexibilität , was im privaten Weiterbildungsbereich die Regel ist und angesichts massiver Mittelkürzungen der BA für die berufliche Weiterbildung (2,8 Mrd. € in 2 Jahren) und der Einführung von Bildungsgutscheinen noch forciert wird) Ausbau demokratischer Beteiligungsrechte Die vorliegenden Pläne zum Modellversuch „Selbstverantwortung plus“ erfüllen diese Kriterien nicht: Reduzierter Bildungsbegriff Alle bisher bekannten Äußerungen aus dem HKM zum Schulversuch gehen von einem Bildungsbegriff aus, der auf die Qualifikation für den Arbeitsmarkt beschränkt ist, politische und allgemeine Weiterbildung wird als Aufgabenerweiterung beruflicher Schulen nicht in Betracht gezogen. Mehr Markt, weniger Staat Das Ziel des Schulversuchs wird deutlich formuliert: die beruflichen Schulen sollen von einer staatlichen Bildungsanstalt in einen „kundenorientierten Bildungsdienstleister“ umgewandelt werden. Der Weg zur Privatisierung beruflicher Schulen soll bereitet werden. „Es ist klar, dass der Weiterbildungsbereich eine neue Rechtsform ... benötigt,“ sagt der zuständige Vertreter des Kultusministeriums Dr. Berthold in einem Interview. Die Übertragung auch auf die anderen Schulformen ist angestrebt. Auf die Idee, dass die Weiterbildung Teil des staatlichen Bildungsauftrags sein sollte, kommt im HKM anscheinend niemand. Gerade die viel zu geringe Fort- und Weiterbildungsquote besonders in den unteren und mittleren Bildungsschichten schreit gerade zu nach einer Regulierung des Weiterbildungsmarkts und nach staatlicher Förderung. Wenn die beruflichen Schulen in die Konkurrenz des Weiterbildungsmarktes drängen, führt das unwiderruflich zu deregulierten Beschäftigungsverhältnissen auch in den Berufsschulen. Tarifflucht Die „neuen Freiheiten“ bei der Organisation des Unterrichts, bei der Mittelverwendung und der Personalentwicklung sollen in den bisher vorliegenden Konzepten durch neue Fesseln erkauft werden: Rechenschaftsberichte, für Außenstehende nachvollziehbare interne Evaluation, externe Evaluation, private Inspektoren. Die „Möglichkeit“ der Umwandlung von Stellen in Geld beinhaltet die Gefahr, dass immer mehr Menschen mit befristeten Verträgen und unterwertiger Bezahlung an beruflichen Schulen unterrichten. Dies zeigen auch die Erfahrungen im Pilotprojekt im Kreis Groß-Gerau, wo versucht wurde über Honorarverträge Tarifverträge zu unterlaufen. Erst durch den massiven Widerstand der Gewerkschaften und der Personalräte konnten das Staatliche Schulamt und die Schulleitungen von der Einhaltung der tariflichen und gesetzlichen Bestimmungen überzeugt werden. Auch die nach dem neuen Entwurf v. 27.4.04 vorgesehene Erprobung von „Assistenzkräften im unterrichtlichen Bereich“ deutet auf das Ziel der Senkung der Personalkosten hin. Der Ausstieg Hessens aus der Tarifgemeinschaft der Länder offenbart die Absicht dieser Landesregierung. Den Mangel selbst verwalten Die Mittel- und Stellenzuweisungen für berufliche Schulen reichen bei weitem nicht aus. Wir arbeiten mit veralteten Materialien und mit zu wenig Stellen, um den Unterricht abzudecken. Ein Globalbudget auf dem jetzigen Niveau würde die Verantwortung für die Bedingungen an den beruflichen Schulen auf deren Lehrkörper und Schulleitung verlagern. Dies ist erklärtes Ziel des Modellprojekts. Inputsteuerung soll durch „ergebnisorientierte Steuerung“ ersetzt werden, der „effektive und effiziente Ressourceneinsatz“ über Rechenschaftsberichte nachgewiesen werden. Möglicherweise zusätzliche Mittelzuweisung für den Schulversuch sollte nicht den Blick darauf verstellen, was mit diesem Schulversuch beabsichtigt ist: den Weg dafür zu bereiten, die beruflichen Schulen zu privatisieren und Bildung zur Ware zu machen. Statt den Anspruch der Gesellschaft auf Bildung zu realisieren, soll mit Bildung auf dem Markt Geld verdient werden. Verlust von Einfluss Gleiche und hessenweit abgesicherte Beschäftigungs- und Mitbestimmungsstandards sollen durch eine „deregulierte Schule“ unterlaufen werden. Die veränderte Rolle der Schulleitung mit umfassender Personal- und Budgethoheit schränkt den bisherigen Einfluss der Lehrkräfte massiv ein. Falls ein Bildungsnetzwerk in der Region aufgebaut wird, verlieren die Lehrkräfte der beruflichen Schule durch den institutionalisierten Einfluss von außerschulischen Organisationen, vor allem der Wirtschaft, und Personen über ihre Mitgliedschaft in den Organisationen der Selbstverwaltung eines Bildungsnetzwerkes wie Beiräte, Regionalräte, reg. Bildungskonferenz o.ä. an Bedeutung, pädagogische Zielsetzungen werden zugunsten betriebswirtschaftlicher Orientierung in den Hintergrund treten. Die Voraussetzungen dafür sind mit der Einführung des Rechnungswesens (im Rahmen der Neuen Verwaltungssteuerung) in Hessen geschaffen. Noch mehr Arbeit ! Die Beteiligung einer Schule am Schulversuch wird deren bisherige Strukturen, Arbeitsbedingungen und Entscheidungsmöglichkeiten stark verändern und eine Menge an zusätzlicher Arbeit erfordern (externe und interne Evaluation, Umschreibung des Schulprogramms, Rechenschaftslegung und Finanzverwaltung, Bildungsangebote in den Ferien…). Jede Beteiligung am Modellversuch „Selbstverantwortung plus“ trägt dazu bei, dass sich die hessische Landesregierung ihrem im Grundgesetz verankerten staatlichen Bildungsauftrag entzieht. Wir lehnen dieses Vorhaben ab und fordern alle Kolleginnen und Kollegen auf, mit uns gemeinsamen Widerstand gegen diese Abbruchspolitik zu organisieren !