10-Minuten-Aktivierung mit Verwirrten

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10-Minuten-Aktivierung mit Verwirrten
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Aufbruch in die Vergangenheit
32/60 min f VHS-Videokassette D 1996
Umgang mit Verwirrten gehört zum Alltag in Altenpflegeheimen. Der Film gibt konstruktive Hilfen und
Tipps für die Gestaltung des Miteinanders auf den Stationen und Wohnbereichen. Es werden u.a. die
Aktivierungsthemen "Einwecken, Waschtag, Kochen und Handwerk" behandelt. (Zwei
Videokassetten)
Sachgebiete:
 160 Gesundheit --> 16005 Therapie
 250 Pädagogik --> 25013 Erwachsenenpädagogik
Schlagworte: Altenpflege, Pflege, Alter, Demenz
Adressat:
B, E
Sprache:
dt
Video-Weiterbildung: 10-Minuten-Aktivierung mit Verwirrten
© Dr. Dr. Herbert Mück, Köln
"Greifen um zu Begreifen", "Ansprechen der Sinne" und "Gymnastik durch alltägliche Bewegungen mit
Alltagsgegenständen" lauten wesentliche Prinzipien einer von Ute Schmidt-Hackenberg entwickelten Methode zur
Aktivierung Demenz-Kranker. In sehr eindrücklicher und überzeugender Form veranschaulicht die Autorin in einem
30minütigen Videolehrfil, wie sie verwirrte alte Menschen regelrecht "wiederbelebt" bzw. "auftaut". Freudig
interessiert greifen Demenz-Kranke das Angebot auf, aus früheren Lebensabschnitten vertraute Alltagsgegenstände
zu begreifen, damit zu hantieren und sich auf ein Gespräch über deren Bedeutung und Funktionen einzulassen.
Diese Vorgehensweise knüpft am Individuellen an und betont die Kompetenz der Patienten. Als "aktivierende"
Gegenstände eignen sich beispielsweise alte Bekleidungsstücke, Küchengeräte (wie eine alte Kaffeemühle oder
Einmachgläser) und - besonders für Männer - Werkzeug. Mit Gürtel laden dann beispielsweise zur Gymnastik ein und
mit Schraubenziehern lassen sich Drehbewegungen üben. Zur praktischen Durchführung rät Frau SchmidtHackenberg u.a.:
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Gruppen gleichartig Betroffener zu bilden
die Teilnehmer immer wieder individuell mit dem Namen anzusprechen
ihre Biografie zu berücksichtigen
nur einfache Aufforderungen zu stellen
alles in lebendiger Weise vorzumachen
nie zu korrigieren
alle Sinne anzusprechen (wie hat es gerochen und geschmeckt?)
alles Gesagte aufzugreifen
auf regionale Besonderheiten (Dialekt, Gebräuche) einzugehen
genügend Ruhepausen einzulegen.
Trotz des verbreiteten Zeitmangels dürfte die 10-Minuten-Aktivierung letztlich in jedem Heimalltag noch Platz finden.
Die gegenstands- und handlungsbezogene Erinnerungsreise lockert die mitunter monotonen Abläufe auf und erlaubt
es den Betreuern, die Patienten aus neuen Blickwinkeln zu sehen und so noch mehr schätzen zu lernen. Die Autorin
empfiehlt allen Einrichtungen, "Gedächtnisschränke" einzurichten. Diese enthalten nach Themen geordnet Kästen
oder Kartons (z.B. "Nordseestrand"). Alltagsgegenstände aus früherer Zeit lassen sich auf Flohmärkten, bei Trödlern
oder bei Haushaltsauflösungen finden. Eine aktivierende Gestaltung des Wohnmilieus ergänzt die 10-MinutenAktivierung. Dazu eignet sich beispielsweise ein Schaukasten, der ähnlich wie ein Schaufenster regelmäßig neu
gestaltet wird und die Vorbeilaufenden zum Anhalten einlädt. Wie im Film demonstriert kann auch eine monatlich
wechselnde "Kontaktstelle mit der Jahreszeit" anregen. Im "Heumonat" Juli beispielsweise sind die Betreuerinnen
angehalten, gemeinsam mit den Demenz-Kranken das an der Kontaktstelle dekorativ aufgebaute Heu aufzuschütteln,
so daß der Geruch intensiver aufsteigt, und nach diesem zu fragen.
Der Lehrfilm wird ergänzt durch einen "Materialband", der in Videoform und ohne Kommentierung weitgehend
ungekürzte Sequenzen aus der Aktivierungsarbeit zeigt.
Aufbruch in die Vergangenheit: 10-Minuten-Aktivierung mit Verwirrten + Materialband + Begleitbroschüre. 32
Minuten bzw. 60 Minuten. Vicentz Verlag Hannover 1996. 189 DM
Empfehlenswert ist auch ein weiterer 30minütiger Videofilm des gleichen Verlages, der anhand von
Modelleinrichtungen in das "Problemfeld Demenz" einführt. Er zeigt den Umgang mit aggressivem und unruhigem
Verhalten, kritisiert das klassische Realitätsorientierungstraining und plädiert nicht zuletzt für einen flexiblen Umgang
mit den Kranken.
Auf der Suche nach Lösungen: Problemfeld Demenz (+ Begleitbroschüre). Vincentz Verlag 1993. 158 DM
Wohnen, pflegen, begleiten von verwirrten Leuten
Pflegephilosophie in den Pflegewohngruppen "Im Bohl", Aadorf
Wohnen - Geborgenheit - Vertrautheit
Vertrautheit geben durch die persönliche Zimmereinrichtung mit eigenen Möbeln und
Gegenständen aus dem früheren Haushalt, sofern sie noch vorhanden sind, ist für
die erkrankte Person wichtig. Vor allem für die Anfangsphase kann es eine gute Hilfe
zum Einleben sein. Wir sind bestrebt im ganzen Haus eine möglichst normale
Wohnatmosphäre zu bieten, die Wärme und Behaglichkeit ausströmen Durch das
Einhalten von möglichst vielen gewohnten Tages- und Jahresabläufen versuchen wir
Sicherheit zu vermitteln. Dazu gehört, dass die täglichen Verrichtungen meistens in
der gleichen Reihenfolge gemacht werden.
"Rituale", wie die z.B. eine tägliche Radiosendung oder die Tagesschau im
Fernsehen, auf Wunsch das gewohnte Abendgebet sprechen etc. bringen
Geborgenheit. Auf diese Weise können oft Beruhigungs- und Schlafmittel schnell
reduziert oder mit der Zeit ganz weggelassen werden.
Weglaufgefahr
Warum kommen Verwirrte plötzlich auf die Idee wegzulaufen? Meistens haben sie
einen triftigen Grund, den nur wir nicht immer verstehen können. Wir stellen fest,
dass die Weglaufgefahr am Nachmittag oder Abend meistens verstärkt ist, sie
müssen nach Hause, bevor es dunkel wird, sonst ängstigt sich die Mutter. Viele
Verwirrte leben in ihrer Gedankenwelt stark in der Vergangenheit, ja sogar in der
Kindheit, sie mussten ja als Kind am Abend auch nach Hause gehen. Ein anderer
Grund wäre, wenn man müde ist, sucht man sein Bett auf in der Geborgenheit des
Elternhauses? Vielleicht erlebte die Person kurz vorher eine Enttäuschung und
möchte sich deshalb entfernen, damit sie der Schmach aus dem Wege gehen kann.
Eventuell liegt der Grund hinter dem Weglaufen einfach darin, dass die Toilette
momentan unauffindbar ist und die richtigen Worte zum Fragen fehlen. Die Ursachen
des Weglaufens sind vielschichtig, doch bei einfühlsamer Beobachtung findet die
betreuende Person oft den Grund des Weglaufdranges und kann entsprechend
reagieren.
Ein kleiner Spaziergang genügt oft um wieder "nach Hause" kommen zu können oder
das Aufsuchen der Toilette ist die erlösende Tat ect.
Trotz eingezäuntem Garten kann es vorkommen, dass jemand entweichen kann.
Was tun, wenn sie einer verwirrten Person begegnen? Leute, die weglaufgefährdet
sind, tragen in der Regel eine Karte oder Brosche mit Namen und Adresse auf sich
(um den Hals oder in einer Kleidertasche) Sprechen sie die Person mit ruhiger,
sicherer Stimme an. Meistens sind Verwirrte sehr dankbar für jede Hilfe. Suchen sie
nach einer Weile die Identifikationskarte. Dann rufen sie so schnell als möglich die
vermerkte Telefonnummer an oder sie bringen die Person an die entsprechende
Adresse. Weggelaufene Patienten können ziellos und stur umherirren, jeglichen
Verkehr missachten und kennen keine Gefahren!
Orientierung
Sich "Zurrechtzufinden", sogar in der eigenen Wohnung, kann vielen Erkrankten
Mühe bereiten. Bei einem Wechsel in eine neue Umgebung wird das Problem noch
akuter. Es erfordert viel Verständnis und Geduld um täglich die immer
wiederkehrenden Fragen zu beantworten. Versuchen sie sich vorzustellen, sie
werden in eine wildfremde Stadt gestellt und müssten nun ihr Hotel finden und nur
wirsche Personen geben ihnen unverständliche Hilfe. So ungefähr fühlt sich eine
verwirrte Person.
Kennzeichnungen an den Türen können hilfreich sein, aber leider nicht immer. Je
nach Krankheitsstadium lernen die Patienten und Patientinnen nach einer gewissen
Zeit (einige Wochen bis Monate) die neue Umgebung kennen und finden sich selber
zurecht. Im Verlauf der zunehmenden Verwirrtheit können leider die
Orientierungsprobleme wieder auftreten.
Ausserhalb des Gartens kann bei gewissen Verwirrten die Orientierung trainiert
werden, indem täglich der gleiche Spaziergang gemacht wird. Zuerst geht man ein
paar mal zusammen, nachher ist die betreuende Person nur noch im Hintergrund, bis
man sicher ist, dass der Weg nach Hause allein gefunden wird.
Gegenseitiges Verstehen in der Pflege von Verwirrten
Verständigungsprobleme zu überwinden ist in der Pflege von Verwirrten die
schwierigste Aufgabe. Je nach Erfolg ändert sich die Zufriedenheit des Patienten
oder der Pati-entin, der Pflegeaufwand und die Menge der Psychopharmakas
reduzieren sich.
Für den Umgang mit den Patienten und Patientinnen gibt es bei uns keine
eindeutigen Rezepte, jedoch Verhaltensformen, die gewisse Erfolge bringen.
Einige Beispiele:
- Logotherapie: gib den Wünschen gegenüber dem Patienten einen Sinn. Frau Fink
sitzt den ganzen Morgen im Stuhl und will sich nicht bewegen. Der Hunger und der
gedeckte Tisch sind aber ein einleuchtender Grund sich vom Stuhl zu erheben.
- Validation: eingehen auf das jeweilige Gefühl des Patienten. Fr. Meier zieht mitten
in der Nacht den Mantel an. Mögliche Reaktion: "Sie haben den Mantel angezogen,
müssen sie nach Hause gehen?, müssen sie dort dringed etwas erledigen,etc.?
- Realität ansprechen: Hr. Kreis ist unruhig und möchte unbedingt auf sein Büro
gehen. Mögliche Reaktion: "sie dürfen hier bleiben, jemand ist bereits mit ihrer Arbeit
beschäftigt.
- Mit Reflexen arbeiten: Fr. Ernst sitzt vor ihrem vollen Teller und weiss nicht mehr,
wie sie das Besteck benutzen muss. Mögliche Reaktion: "ich gebe ihnen die Gabel in
die Hand und führe das Besteck etwas, dann geht das Essen wieder von selbst".
- Rhythmus miteinbezeihen: Fr. Lutz hat momentan panische Angst vor dem Laufen.
Mit einem rhytmischen Vers, einem Lied oder einigen Takten Musik kann die
Aufmerksamkeit auf etwas anderes gelenkt werden und die Bewegungen kommen
automatisch zu stande.
- Haustiere können verloren geglaubte Fähigkeiten kurzfristig wieder aktivieren,
z.B.dass normales Sprechen mit dem Tier wieder möglich ist.
Einige Grundregeln im Umgang mit Verwirrten:
- Ganz allgmein sollen einfache und kurze Sätze gemacht werden.
- Versuchen sie sich in die Lage des Patienten einzufühlen.
- Versuchen sie nur bei ganz wichtigen Gründen zu widersprechen oder die
Patienten von ihrer Meinung abzuhalten.
Alltagsgestaltung, eine Gratwanderung zwischen Erfolgserlebnissen,
Enttäuschungen oder ein Leben in grosser Toleranz
Hört man in der Küche das Geschirr klappern, steigen angenehme, bekannte Düfte
aus den Pfannen, liegen Herbstlaub oder Essresten auf dem Boden, so sind das
natürliche Anstösse etwas zu unternehmen was man zeitlebens gemacht hat. Diese
Impulse sind zu nutzen und animieren die Erkrankten zu Aktivitäten, die von Erfolg
gekrönt sind. Bei der Aktivierung geht es vor allem darum Misserfolge zu vermeiden
und Beschäftigungen zu suchen, die zu einem Erfolgserlebnis führen. Fehler werden
nicht "angekreidet", wir versuchen sie eher zu umgehen und falls nötig unauffällig zu
korrigieren und zu verhindern.
Die Erkrankten werden ohnehin täglich mit vielen Unzulänglichkeiten konfrontiert.
Inkontinenz: Unvermögen für die kontrollierte Entleerung von Blase und Darm
Im späteren Stadium der Krankheit geht auch die Fähigkeit für eine kontrollierte
Entleerung von Blase und Darm verloren. Mit Toilettentraining, d.h. mit regelmässiger
Aufforderung zum Toilettengang wird die völlige Abhängigkeit von Slipeinlagen
solange wie möglich hinausgeschoben.
Patientenruf-System/Ueberwachung
Die Tätigkeit auf eine Klingel zu drücken um Hilfe anzufordern ist für den grössten
Teil unseren Patientinnen und Patienten bereits eine Ueberforderung oder in einer
Wahn-vorstellung fühlt sich der Patient nicht hilfsbedürftig, er macht einfach, was er
meint tun zu müssen.
Das einfachste für uns wäre eine Fernsehüberwachung, vor allem nachts. Doch der
Gedanke an eine totale Ueberwachung ist uns zuwider. Solange als möglich soll die
Intimssphäre im eigenen Zimmer nicht gestört werden.
Zur Sicherheit für gefährdete Leute setzen wir Bewegungsmelder und Mikrophone in
den Zimmern ein und ein Funkgerät für die Uebermittlung in beide Häuser.
Sterben in den Pflegewohngruppen
Leute, die bei uns Aufnahme gefunden haben, begleiten wir bis zum Tode im
eigenen Zimmer. Je nach Bedürfnis stellen wir ein Pflegebett bereit. Wir besitzen die
technischen Hilfsmittel (Sauerstoff, Absaugapparate etc.) und das Wissen für
Schmerzlinderung. Die Technik soll aber nicht im Vordergrund stehen, viel wichtiger
ist uns eine möglichst friedliche Zeit des Abschiednehmens und falls erwünscht auch
Begleitung der Angehörigen.
Quelle: http://www.curadementi.ch/Begleiten.htm
Konzepte für die Betreuung dementer Menschen.
Theoretische Modelle und ihre Umsetzung in der Praxis am Beispiel von
Altenheimen in Marburg
Quelle: http://www.we-serve-you.de/anne/index.htm?betreuungskonzepte.htm
In diesem Abschnitt werden ausgewählte Betreuungskonzepte vorgestellt, wobei vor allem
umfassendeKonzepte berücksichtigt werden, die einen komplexen Ansatz zur Betreuung von
dementen Menschen bieten. Auf andereKonzepte, die ebenfalls in der Betreuung eingesetzt werden,
aber eher spezielle therapeutische Interventionen darstellen (z.B. Kunsttherapie, Musiktherapie,
basale Stimulation), wird nicht näher eingegangen.
5.1 Realitätsorientierungstraining
Das Realitätsorientierungstraining (ROT) ist ein verhaltenstherapeutischer Ansatz, der 1958 von J.
Folsom, später unter Mitarbeit von L. R. Taulbee, in den USA entwickelt wurde. Zunächst war dieses
Konzept zur Rehabilitation von Kriegsopfern gedacht, wurde dann aber auch in die Arbeit mit
verwirrten Menschen in Pflegeheimen eingeführt (Kitwood, 2000, S. 87). Es war also nicht speziell für
Demenzkranke konzipiert, sondern allgemein für Menschen mit Gedächtnisverlust, Verwirrtheit und
Orientierungsschwierigkeiten in Institutionen, unabhängig von der zugrundeliegenden Krankheit (vgl.
Egidius, 1997, Kap. V. 2.3.5). Nach Folsom verfolgt das ROT das primäre Ziel, die Gedächtnisleistung
zu steigern und die zeitliche, örtliche und personelle Orientierung zu verbessern. Außerdem soll die
Identität der Verwirrten erhalten und ihre Selbständigkeit, ihr Wohlbefinden und ihre soziale
Kompetenz gefördert werden. Erwähnenswert ist auch die mit der Anwendung des ROT angestrebte
Steigerung der Arbeitszufriedenheit des Personals, welche zu den Zielsetzungen des ursprünglichen
Konzepts zählt (vgl. Egidius, 1997, Kap. V. 2.3.5).
Praktische Umsetzung
Das von Folsom entwickelte Konzept wird in seiner ursprünglichen Form nicht mehr angewendet. Es
lassen sich aber Teilaspekte daraus in unterschiedlichen, später entwickelten Betreuungskonzepten,
z.B. in der Milieutherapie (vgl. Kap. 5.2), wiederfinden. Herbert Mück bemerkt dazu: "Der Begriff ROT
diente bislang eher als Sammeltopf für viele unterschiedliche umweltorientierte Behandlungsansätze."
(Mück, 2001). Im Folgenden wird die praktische Anwendung des ROT anhand des drei Komponenten
umfassenden Konzepts von Folsom vorgestellt. (Quellen: Egidius, 1997, Kap. V. 2.3.5; Schaller, 1999,
S. 67-69; Wolter-Henseler, 1999).
Komponente 1: Das Einstellungstraining des Personals
Für die Anwendung des ROT ist die Vorbereitung des Pflegepersonals entscheidend, "da sich mit
einer rein technischen Anwendung des ROT kaum der gewünschte Erfolg erzielen lässt." (Schaller,
1999, S. 67). In Form von Schulungen werden dem Personal Grundgedanken und Prinzipien des
Konzepts mit dem Ziel vermittelt, sie für die praktische Umsetzung zu motivieren. Das
Einstellungstraining soll dem Personal eine positive Grundhaltung gegenüber verwirrten Menschen
nahe bringen, d.h. sie sollen davon überzeugt werden, dass diese Personengruppe gezielt und mit
Erfolg unterstützt werden kann. Daneben wird der empathische, respektvolle Umgang mit dementen
Menschen und die Wichtigkeit, über biographische Kenntnisse des Einzelnen zu verfügen, betont. Als
ausschlaggebend für die erfolgreiche Umsetzung des Konzepts gilt außerdem eine gute Teamarbeit
und die Beteiligung des gesamten Personals, da davon ausgegangen wird, dass nur dies eine
einheitliche Haltung und Umgangsweise gegenüber den verwirrten Menschen gewährleistet. Die
Zusammenarbeit zwischen den Mitarbeitern soll durch regelmäßig stattfindende Teamsitzungen
gefördert werden, die gleichzeitig Gelegenheit geben, über Probleme bei der Anwendung des ROT zu
diskutieren.
Komponente 2: Das 24-Stunden-ROT
Das Ziel des 24-Stunden-ROT ist es, "den Alltag der dementiell
erkrankten alten Menschen ‚rund um die Uhr' so zu gestalten, dass
ihre Orientierungsfähigkeit unterstützt wird." (Egidius, 1997, Kap. V.
2.3.5). Die orientierungsunterstützenden Maßnahmen betreffen
hauptsächlich die Kommunikation und die Umgebungsgestaltung.
Jede Interaktion zwischen Pflegekraft und Demenzerkrankten stellt
nach diesem Konzept eine Möglichkeit dar, Informationen zur
Realität zu geben. Diese beziehen sich z.B. auf die aktuelle Zeit, den
Ort oder Personen. Alle Handlungen werden von der Pflegekraft
kommentiert und Fragen des Betreuten wahrheitsgemäß
beantwortet. Formuliert der demente Mensch falsche Aussagen
oder zeigt desorientiertes Verhalten, wird dies von der Pflegeperson
korrigiert, sofern es sich nicht um sehr sensible
Themenbereiche handelt. In der Anwendung des 24-Stunden-ROT
wird die Vermittlung von Erfolgserlebnissen betont, indem z.B.
leicht zu beantwortende Fragen gestellt werden und orientiertes
Verhalten und der Realität entsprechende Äußerungen der
Demenzerkrankten vom Pflegepersonal positiv verstärkt werden.
Insgesamt soll durch dieses Vorgehen ein Realitätsbezug und ein
Bewusstsein für das reale Geschehen hergestellt und die
Kommunikationsfähigkeit des Dementen gefördert werden.
Neben der verbalen Kommunikation soll auch die Umgebung die
räumliche und zeitliche Orientierung unterstützen. Die
Räumlichkeiten sollen einen wohnlichen Charakter aufweisen und
überschaubar und anregend gestaltet sein. Empfohlen werden auch
Orientierungshilfen, wie das Anbringen großer Uhren und Kalender,
Wegweiser, Namensschilder, die farbliche Gestaltung
verschiedener Funktionsbereiche im Altenpflegeheim und die freie
Verfügbarkeit anregender Materialien, wie z.B. Fotos, Spiele,
Zeitschriften und Radio. Zur Umsetzung des 24-Stunden-ROT
gehört des weiteren die Strukturierung des Heimalltags, d.h. ein re
Musiktherapie mit alten verwirrten Menschen
Universität Siegen
FB Sozialpädagogik / Musiktherapie
Fachvortrag am 01.11.2003
Quelle: http://www.sonoptikon.de/praxis-mt/favo-dem.php
1. Heimat, deine Sterne
Berge und Buchten, von Nordlicht umglänzt,
Golfe des Südens, von Reben bekränzt,
Ost und West hab´ ich durchmessen,
doch die Heimat nicht vergessen.
Hörst du mein Lied in der Ferne, Heimat.
Heimat deine Sterne,
Sie strahlen mir auch am fernen Ort.
Was sie sagen, deute ich ja so gerne
als der Liebe zärtliches Losungswort.
Schöne Abendstunde,
der Himmel ist wie ein Diamant.
Tausend Sterne stehen in weiter Runde,
von der Liebsten freundlich mir zugesandt.
In der Ferne träum´ ich vom Heimatland.
Länder und Meere, so schön und so weit,
Ferne, zu Märchen und Wundern bereit,
alle Bilder müssen weichen,
nichts kann sich mit dir vergleichen!
Dir gilt mein Lied in der Ferne, Heimat.
Heimat deine Sterne,
Sie strahlen mir auch am fernen Ort.
Was sie sagen, deute ich ja so gerne
als der Liebe zärtliches Losungswort.
Schöne Abendstunde,
der Himmel ist wie ein Diamant.
Tausend Sterne stehen in weiter Runde,
von der Liebsten freundlich mir zugesandt.
In der Ferne träum´ ich vom Heimatland.
Stand ich allein in der dämmernden Nacht,
hab´ ich an dich voller Sehnsucht gedacht.
Meine guten Wünsche eilen,
wollen nur bei dir verweilen.
Warte auf mich in der Ferne, Heimat.
Heimat deine Sterne,
Sie strahlen mir auch am fernen Ort.
Was sie sagen, deute ich ja so gerne
als der Liebe zärtliches Losungswort.
Schöne Abendstunde,
der Himmel ist wie ein Diamant.
Tausend Sterne stehen in weiter Runde,
von der Liebsten freundlich mir zugesandt.
In der Ferne träum´ ich vom Heimatland.
Erich Knauf
Melodie: Werner Bochmann, aus dem Film "Quax, der Bruchpilot" 1942
gesungen von Wilhelm Strienz
2. Alt werden
Carlos Castaneda berichtet in seinem Buch "Eine andere Wirklichkeit" über ein Gespräch mit seinem
indianischen Freund Don Juan zum Verhältnis des Kriegers zum Tod. Im Leben des Kriegers geht es
immer wieder darum, den Tod zu besiegen. Aber eines Tages, so Don Juan, wird der Krieger, der ein
Leben lang Sieger geblieben ist, von einem neuen Gegner bezwungen: Es ist das Alter.
2.1. Altern als natürlicher Prozess
Wir alle wollen alt werden, im Alter seelisch, geistig und körperlich gesund bleiben und in Würde und
mit unserem Leben ausgesöhnt sterben. Es ist für uns eine der schlimmsten Erfahrungen, zu erleben,
wie ein Familienmitglied oder ein Freund zum Ende seines Lebens seine Gesundheit, seine Identität
und seine Würde verliert und letztlich vom Tod aus endlosen Qualen erlöst wird.
Im zweiten Teil des 20. Jahrhunderts ist der Alterungsprozess zunehmend in den Blickpunkt wissenschaftlichen Interesses gerückt. Dass körperlicher und geistiger Abbau den Alterungsprozess
begleiten, galt zunächst - vor allem auch im Urteil der wenig informierten Öffentlichkeit - als
ausgemacht. Das Defizitmodell der geistigen Entwicklung korrespondierte mit dem Ergebnis von
amerikanischen Intelligenztests, die bei zunehmendem Alter fallende Werte aufwiesen (nach Lehr
1977), es geht davon aus, dass der Alterungsprozess notwendiger Weise nicht nur von körperlichen,
sondern auch geistigen Abbauprozessen begleitet wird.
Wir wissen heute, dass diese Auffassung so nicht stimmt. Sie wird allein durch die offensichtliche Tatsache widerlegt, dass wir viele 70-, 80- und sogar auch 90-jährige kennen, die geistig und körperlich fit
sind.
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Man kann nicht von Intelligenz als solcher sprechen, und es handelt sich auch nicht um ein stati-sches
Produkt. Mit dem Lebensalter erfolgt eine Verschiebung von der flüssigen zur kristallinen Intelligenz. Im
Jugendalter können sehr schnelle Anpassungen an neue Situationen erfolgen, Kombinationsfähigkeit,
Wendigkeit und Orientierungsfähigkeit gehören hier her. Diese Fähigkeiten nehmen im Alter ab,
demgegenüber nehmen Fähigkeiten zu, die man zur "Weisheit des Alters" zählen kann:
Erfahrungswissen, Allgemeinwissen, Sprachverständnis, Fähigkeit zum "Querdenken".
Alte Menschen werden langsamer, aber nicht dümmer. Intelligenztests sind fast immer an Zeit und damit
Geschwindigkeit gebunden. Hier werden alte Menschen benachteiligt.
Die Lernfähigkeit im Alter ist nicht so sehr einem natürlichen Alterungsprozess unterworfen, sondern in
viel stärkerem Maße anderen Bedingungen:
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Gesundheitliche Probleme bzw. gesunde Ernährung und Lebensweise
Einstellungen und Erwartungen: Nur wer auch im Alter noch Interesse an seiner Umwelt hat, wir geistig
aktiv und fit bleiben
Soziökonomische Bedingungen: Soziale Isolation, Einsamkeit, aber auch Armut grenzen den Lebensradius ein und verhindern eine schöpferische Auseinandersetzung mit der Umwelt.
Biografische Fakten: So wie ein Mensch gelebt hat, wird er sich auch im Alter verhalten. Wer zeitlebens
interessiert und aktiv war, wird es auch im Alter sein.
Das Alter bringt große Veränderungen für die Persönlichkeit, ein alter Mensch muss sich, vor allem,
wenn er aus dem Arbeitsprozess entlassen wird, unter Umständen sehr stark umstellen. Verschiedene sozialwissenschaftliche Modelle versuchen diesen Umstellungsprozess zu beschreiben:
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Die Aktivitätstheorie geht davon aus, dass - nach der Devise "wer rastet, der rostet" - nur der im Alter
glücklich und gesund bleiben kann, sich einen aktiven Alltag gestaltet.
Die Disengagement-Theorie gehen davon aus, dass der "Rückzug aufs Altenteil" einen natürli-chen
Rückzug aus Aktivitäten und Verpflichtungen mit sich bringt. Der alte Mensch und die Ge-sellschaft
lösen gleichzeitig ihre Bindungen zueinander allmählich auf.
Das Kompetenzmodell (Baltes, 1979, 1992): Der psychologische Mechanismus zur erfolgreichen
Bewältigung der Herausforderungen des Alterns lautet Optimierung durch Selektion und Kompen-sation:
Selektion: Alte Menschen können sich durch bewusste Auswahl (Selektion) auf die für sie aktuell
wichtigen Lebensbereiche beschränken und den Umfang ihrer Aktivitäten den verfügbaren geistigen,
körperlichen und sozialen Ressourcen anpassen.
Kompensation: Körperlicher und mentale Schwächen können durch Rückgriff auf technische Hilfen und
Inanspruchnahme sozialer Unterstützung und Pflege ausgeglichen werden.
2.2. Degenerative Veränderungen als Produkte krankhafter Prozesse
Typische Kränkungen im Alter führen zu psychischen Verstimmungen, Störungen und Erkrankungen.
Auffallend ist auch eine hohe Suizidrate mit zunehmendem Alter. Einen eindrucksvollen Überblick
dazu gibt die Studie des Bundesministeriums für Familie und Senioren (Erlemeier 1992).
Es ist vor allem Einsamkeit und Isolation, die alte Menschen in eine Situation treiben, in der sie sich
nicht mehr anders zu helfen wissen als psychische und psychosomatische Symptome zu entwickeln.
Beobachtet werden Arbeits- und Leistungsstörungen, funktionelle und vegetative Beschwerden sowie
Verstimmungs- und Affektreaktionen. Dabei sind Angst- und Depressionsstörungen die häufigsten
Erscheinungen.
Daneben können auch krankhaft-degenerative hirnorganische Veränderungen einsetzen, die organisch bedingte psychische Symptome hervorbringen. Für diese Störungen finden sich eine große Anzahl von Diagnosen:
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Hirnorganisches Psychosyndrom (HOPS)
Psychoorganisches Syndrom (POS)
Senile Demenz
Senile Demenz Alzheimer Typ (SDAT)
Demenz Alzheimer Typ (DAT)
Multiinfarkt-Demenz (MID)
... und andere Symptomkreise.
Auffallend ist der Zusammenhang zwischen Isolation, Demenzerkrankung und Depression. Ein alter
Mensch, der an einer Demenzerkrankung leidet, bemerkt in der Regel den geistigen Abbau und reagiert mit großer Angst und Depression. Auch dann, wenn es nicht möglich ist, den degenerativen
Prozess zum Stillstand zu bringen, ist es notwendig, den Menschen in die dunkle Welt der Verwirrung
zu begleiten und ihm so weit wie möglich die Angst zu nehmen.
3. Der biografische Ansatz in der Altenpflege
Biografie ist Identität. Wir sind das, was wir sind, durch das, was wir erlebt haben und wie wir es
verarbeitet haben. Biografiearbeit heißt, Wertschätzung zu entwickeln für die Erlebnisse und
Erfahrungen eines alten Menschen und für das, was er uns mitzuteilen hat. Biografiearbeit hilft dem
alten Menschen, seine Identität zu bewahren oder zu retten. Gerade bei Demenzprozessen kann
Biografiearbeit helfen, Identität so weit wie möglich zu stabilisieren.
3.1. Gewinn für den alten Menschen
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Rückblick aus der heutigen Situation leisten, Vergangenes neu bewerten
Erinnerungen wachrufen, emotionale Momente nacherleben
Lebenserfahrungen weitergeben, Wertschätzung als Zeitzeuge erfahren
Vergangenes aufarbeiten, Versprachlichung von Erlebtem hilft verarbeiten
Beim Zuhörer Interesse am Vergangenen wecken
3.2. Gewinn für die Pflege
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Basis für Vertrauen wird geschaffen
Im Dienste der geragogischen Praxis sich als Medium einbringen können
Erkennen von individuellen Identitäten
Den Biografieprozess als einen unabgeschlossenen und dynamischen Prozess sehen
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Dem alten Menschen Zukunft zugestehen
Der biografische Ansatz beschränkt sich nicht nur auf das Gespräch, das überwiegend
klientenzentrierten Charakter hat. Die Orientierung auf die Biografie des alten Menschen geht weit
über das verbale hinaus. Gute Altenheime sammeln Gegenstände, Bilder, Fotos, Zeitungen aus
vergangenen Jahrzehnten. Alte Schallplatten können Anlass sein, sich auf biografische Ereignisse zu
erinnern, und auch die gemeinsame Zubereitung von Gerichten, die man als Kind gerne gegessen
hat, kann produktive Biografiearbeit sein.
Die Vergangenheit ist nicht nur rosig, sondern auch schuld- und konfliktbeladen. So kann
Biografiearbeit auch einen Beitrag dazu leisten, Vergangenheit aufzuarbeiten und konflikthafte
Prozesse abzuschließen. Gerade die Generation, die jetzt in Altenheimen lebt, ist davon betroffen. Die
meisten haben in der Zeit der Nazidiktatur gelebt, viele haben am Krieg teilgenommen. Und wir finden
unter dem Klientel der Altenheime nicht nur Opfer, sondern auch Täter. Immer wieder kann es auch zu
einer Täter-Opfer-Begegnung kommen.
Eine Aufarbeitung der Vergangenheit ist nur möglich, wenn der Betroffene geistig und psychisch gesund und damit auch in der Lage ist, eine derartige Aufarbeitung aktiv zu leisten. Aber auch bei Verwirrten hat Biografiearbeit einen Sinn: Hier schaffen wir mit Hilfe vorwiegend nonverbaler Medien eine
emotionale Brücke zur Vergangenheit und zur eigenen Identität.
Zur Erläuterung ein Fallbeispiel:
Frau H.
Frau H. Ist scheinbar gut orientiert, kommuniziert angeregt - es stellt sich aber heraus, dass sie auch
auf recht einfache Fragen keine Antwort geben kann. Sie schafft es, nach außen gut orientiert zu
wirken. Sie führt sozusagen eine "interessante Konversation", die geschickt von ihrer Demenz ablenkt
bzw. diese verdeckt. In der Musiktherapie wirkt sie manchmal recht kritisch und hinterfragt, was ich da
so mache. Sie hat sehr viele biografische Details beigesteuert: Als junges Mädchen hat sie Klavier
gespielt, ihr Lehrer war recht streng, und sie hat wohl den ganzen Katalog der Klassik gelernt,
Sonatinen, Sonaten usw.
Sie ist in einer ostdeutschen Industriestadt aufgewachsen, ihr Vater hat sie in einem Autohaus
untergebracht, und dort hat sie es wohl zur Chefsekretärin gebracht. Sie war wohl recht sorgfältig und
gewissenhaft. Vieles weiß sie nicht mehr so ganz genau, aber sie erzählt es gut und spannend.
Wenn sie auch manchmal etwas kritisch wirkt, so nimmt sie doch aktiv und teilweise sogar begeistert
an der Musiktherapie teil. Sie singt engagiert mit, und durch Mimik und Gestik wird deutlich, dass sie
sich mit den Texten auseinandersetzt. Wenn ich Akkordeon spiele, bekomme ich auch immer eine
positive Rückmeldung von ihr.
Sie spricht gerne über die Musik und über ihr Klavier, sie macht denn Eindruck, dass sie gerne etwas
"Anspruchsvolleres" hört. Im Krieg hat sie dann alles verloren, das Klavier "war futsch".
Frau H. Ist weit über achtzig, fast neunzig Jahre alt. Dennoch war sie die wachste von allen. Sie erinnert sich nicht an ihr Alter, aber an ihr Geburtsdatum. Dies trifft man bei älteren verwirrten Menschen
häufig.
Als ich nun für eine neue Maßnahme in das Heim gekommen bin, war Frau H. nicht mehr dabei. Sie
war in der Zwischenzeit gestorben.
Frau R.
Frau R. spricht mit lauter Stimme und etwas "roboterhaft": Am Anfang der Stunde gibt sie meist in
dieser Weise ihre Stellungnahme ab: "Was soll ich hier?", "Ich will nicht zur Musiktherapie?", "Ich
muss essen", "Wann bekommen wir etwas zu essen?". Sie ist blind und sitzt im Rollstuhl. Es gelingt
mir eigentlich immer, sie zum Bleiben und mit machen zu motivieren. Wenn wir singen, singt sie laut
mit. Bei "Lustig ist das Zigeunerleben" habe ich gefragt, ob denn jemand Kontakt mit Zigeunern hatte.
Frau R. erzählte, sie habe auf einem Hof gelebt, und da wären die Zigeuner gekommen. Sie hätten
Musik gemacht und wollten aus der Hand lesen. Sie hätte sich gerne aus der Hand lesen lassen, aber
die Mutter hat es verboten. Trotzdem hat sie sich doch heimlich die Zukunft sagen lassen. Sie erinnert
sich aber nicht mehr daran, was die Zigeuner ihr vorhergesagt haben. Am Ende sagte sie manchmal
in ihrer "roboterhaften", lauten Art: "Es war wieder schön heute in der Musiktherapie".
Bei Frau R. habe ich Erfahrung mit einer speziellen Problematik gemacht: Die Angehörigen von Frau
R. gehören zu Jehovas Zeugen, und sie standen der Musiktherapiestunde misstrauisch gegenüber,
da sie nicht sicher waren, ob nicht auch religiöse Inhalte vermittelt würden. Wie man weiß, sind
Jehovas Zeugen sehr konsequent in der Ablehnung auch anderer christlicher Strömungen. So
vermeiden sie z.B. die Beteiligungen an Weihnachtsfeiern (z.B. in Schule oder Kindergarten). Sie
übten auf ihre Mutter bzw. Schwiegermutter Druck aus und diese traute sich nicht mehr zu kommen.
Frau R. ging es dann zunehmend schlechter, und sie konnte nicht mehr kommen. Inzwischen ist sie
auch verstorben.
4. Validation
Die deutschstämmige Amerikanerin Naomi Feil hat bereits in den 70er Jahren des letzten
Jahrhunderts den methodischen Ansatz der Validation entwickelt. Es geht dabei darum, alten,
verwirrten Menschen in einer angemessenen Weise zu begegnen.
Nach Naomi Feil ist Validation:



Eine Entwicklungstheorie für sehr alte, mangelhaft/unglücklich orientierte und sorientierte Menschen
Eine Methode, ihr Verhalten einzuschätzen
Eine spezielle Technik, die diesen Menschen hilft, durch individuelle Validation und Validations-Gruppen
ihre Würde wieder zu gewinnen
Validationsziele sind:
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Wiederherstellung des Selbstwertgefühls
Reduktion von Stress
Rechtfertigung des gelebten Lebens
Lösen der unausgetragenen Konflikte aus der Vergangenheit
Reduktion chemischer und physischer Zwangsmittel
Verbesserung der verbalen und nonverbalen Kommunikation
Verhinderung eines Rückzugs in das Vegetieren
Verbesserung des Gehvermögens und des körperlichen Wohlbefindens
Naomi Feil geht davon aus, dass es vor allem psychische Faktoren sind, die verantwortlich sind für
den Demenzprozess. Beim alten Menschen entstehen im Gehirn Eiweißbrücken, die für
Fehlfunktionen verantwortlich sind. Man kann sich dies vorstellen wie Deformationen des Lötmaterials
bei einer Platine, die für "Kurzschlüsse" und damit Fehlfunktionen der Platine verantwortlich sind.
Aufschlussreich ist allerdings eine Beobachtung, die Naomi Feil gerne zitiert: Derartige Eiweißbrücken
im Gehirn gibt es bei allen sehr alten Menschen, aber nicht alle sind verwirrt. Sie geht davon aus, dass
jemand, der psychisch gesund ist, die Deformationsprozesse im Gehirn ausgleichen kann. Nao-mi Feil
bezieht sich sehr stark auf die Entwicklungstheorie von Erikson (1966): Jede Entwicklungsphase ist
gekennzeichnet durch einen speziellen Katalog von Aufgaben, die in dieser Phase gelöst werden
müssen. Nicht erledigte Aufgaben hinterlassen schädliche Reste, die den Menschen im Alter
beeinträchtigen.
Zu den Phasen von Erikson hat Naomi Feil noch eine eigene hinzugefügt:
Aufarbeiten oder Vegetieren - das Stadium jenseits der Integrität
Sehr alte Menschen, die mit ihren tiefen, ungelösten Gefühlen aus der Vergangenheit festsitzen,
kehren oft in die Vergangenheit zurück, um diese Gefühle zu lösen. Sie bereiten sich auf die letzte
Reise vor und sie kommen ihren tiefen Bedürfnis nach, in Frieden zu sterben. Personen, die im hohen
alter noch über Integrität verfügen, gelangen niemals in den Zustand des Vegetierens. Da wir aber
immer älter werden, geraten immer mehr Menschen in diesen Zustand. Wenn sie nicht in der Lage
sind, ihre Gefühle aufzuarbeiten, werden sie zu "Lebenden Toten". Validation hilft, die aufgestauten
Gefühle zu bestätigen und zu zerstreuen, wenn eine Aufarbeitung nicht mehr möglich ist.
Naomi Feil nennt die Phasen der Demenz und die Möglichkeiten, in diesen Phasen zu validieren:
I.
II.
III.
Mangelhafte/unglückliche Orientierung (orientiert aber unglücklich)
Personen in diesem Stadium halten an den gesellschaftlichen Rollen fest, aber sie äußern alte Konflikte
in "verkleideter" Form, indem sie Personen der Gegenwart als "Symbole" für Personen und/oder
Konflikte in der Vergangenheit verwenden. - In dieser Phase brauchen sie eine vertrau-ensvolle
Beziehung, die ihnen diese symbolischen Handlungen nicht wegnimmt, sondern sie ak-zeptiert und einer
Lösung zuführt.
Zeitverwirrtheit
Zeitverwirrte Menschen können die Verluste nicht mehr leugnen, sich nicht mehr an die Realität
klammern. Sie versuchen nicht mehr, sich an eine chronologische Ordnung zu halten und ziehen sich
zurück. Ein Ding oder eine Person der Gegenwart ist die Fahrkarte in die Vergangenheit. Zeitverwirrte
Menschen kehren zu grundlegenden, universellen Gefühlen zurück: Liebe, Hass, Trauer, Angst vor
Trennung. - Validations-Anwenderkönnen die Gefühle der alten Menschen nachempfinden, sie
verstehen die Trennungsängste, den Schrei nach Identität.
Sich wiederholende Bewegungen
Menschen, die ihre Gefühle nicht äußern können, ziehen sich in vorsprachliche Bewegungen und
Klänge zurück. Körperteile werden zu Symbolen. In diesem Stadium wird die Sprache unver-ständlich,
sie dient dem sinnlichen Vergnügen, Klänge zu erzeugen. - Validation kann einer zeit-verwirrten Person
Momente rationalen Denkens wieder geben. Validation durch Bestätigung und Teilnahme kann ein
weiteres Abgleiten in Phase IV verhindern.
IV.
Vegetieren
In diesem Stadium verschließt sich der Mensch völlig vor der Außenwelt und gibt das Streben, sein
Leben zu verarbeiten, auf. - Menschen in diesem Stadium brauchen Berührung, Anerken-nung und
Fürsorge. Es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass Menschen in diesem Stadium positiv auf Validation
reagieren. Und die Reaktion auf Musik und Klänge ist eine der letzten Kommunika-tionsmöglichkeiten,
die auch in diesem Stadium noch lange erhalten bleiben.
Es würde zu weit führen, den Ansatz der Validation und seine praktische Realisierung an dieser Stelle
zu erklären. Es gibt dazu Ausbildungs- und Trainingskurse. Ich verweise deshalb in diesem
Zusammenhang auf das Buch von Naomi Feil (2002).
Stattdessen ein Fallbeispiel:
Frau A.
Frau A. ist recht freundlich und kommunikativ, spricht aber völlig unverständlich. In der Musiktherapiestunde schläft sie oft. Manchmal aber ist sie aktiv dabei und verfolgt alle Aktivitäten ganz gespannt.
Bei aktiver klassischer Musik fängt sie an zu "dirigieren", ich unterstütze sie dabei. Manchmal steht sie
auf und tanzt in der Mitte des Raums. Ich tanze dann manchmal mit. Manchmal ist sie recht unruhig.
Sie steht dann auf und wechselt den Platz, oder sie möchte den Raum verlassen. Meist gelingt es mir,
sie zum Bleiben zu bewegen.
Frau A. ist ein wenig wie ein Kind. Sie verhält sich tatsächlich "kindlich-fröhlich", möchte singen, tanzen, klatschen. Manchmal sagt sie völlig unvermittelt einen klaren, verständlichen Satz ("Ach, hör
doch auf!"), der aber dann völlig unzusammenhängend im Raum steht. Es ist als hätte sich eine Redensart in ihrer Erinnerung festgesetzt, die sie dann selbst wiedergibt. Validieren heißt in diesem Fall,
"sich mit Frau A. bewegen", Körperkontakt halten. Noch deutlich wird es bei der Sprache: Frau A.
spricht mich an und hält dabei intensiven Augenkontakt. Ich kann sie aber nicht verstehen, weil sie
völlig unverständliche Klänge formuliert. Es wäre falsch, so zu tun, als ob ich sie verstünde, ich kann
mich aber auf ihre Mimik und Gestik einlassen und mit ihr sprechen.
Herr L.
Bei Herrn L. war deutlich, wie er über die Zeit abgebaut hat. Anfangs (vor einem Jahr) war er sehr
aufmerksam beteiligt. Er machte Liedvorschläge oder erzählte unaufgefordert etwas aus seinem
Leben: "Ich habe auf der Zeche gearbeitet!". Er war immer recht humorvoll, bei der letzten Maßnahme
war er viel passiver. Er saß er meist in sich gekehrt da, machte aber dann doch mit, wenn gemeinsam
gesungen wurde. Ich konnte ihn aktivieren, wenn ich ihn direkt ansprach und z.B. einen Liedtitel
nannte, den er kannte. Einmal kam das Gespräch auf das Tanzen und die Jugendvergnügungen. Die
Frauen begann etwas zu schäkern, da stand Her L. auf und begann in der Mitte des Kreises zu
tanzen, ganz locker und ganz "cool". Zu Anfang des neuen Kurses war nicht mehr dabei, die Kollegin
sagte, er sei zu schwach und dämmere meist vor sich hin. Inzwischen ist er verstorben.
5. Zur Indikation von Musiktherapie bei verwirrten alten Menschen
Musiktherapeuten gehen davon aus, dass im Prinzip zunächst einmal bei allen Patienten- bzw. Klientengruppen Musiktherapie indiziert sein kann. Dennoch ist es wichtig, zu fragen, ob unsere Klientengruppe überhaupt von Musiktherapie erreicht werden kann.
Die Phasen des musiktherapeutischen Prozesses - Exploration - Differenzierung - Kommunikation Spezialisierung - sind in dieser reinen Form nur bei erwachsenen Klienten sichtbar. Wo bei Erwachsenen die sprachliche Verarbeitung des musikalischen Prozesses eine große Rolle spielt, steht beim
Kind die Sprache als Analyseinstrument kaum oder überhaupt nicht zur Verfügung und es ist in sehr
viel stärkerem Maße der Prozess selbst, der heilende Wirkung haben soll.
Beim verwirrten alten Menschen haben wir es mit einer noch komplizierteren Situation zu tun. Auch
hier steht Sprache als Analyseinstrument kaum mehr zur Verfügung, darüber hinaus aber sind
verwirrte alte Mensch kaum mehr in der Lage, über die aktive freie Improvisation therapeutische
Prozesse zu erleben. Zum einen sind sie häufig nicht mehr in der Lage, ihre Bewegungen so zu
koordinieren, dass die Bedienung eines Instrumentes möglich ist, sie "wissen nicht, was sie mit dem
Instrument anfangen sollen", darüber hinaus assoziieren sie mit dem Spielen eines Instruments häufig
Leistung, und dazu sind sie nicht mehr fähig.
Die Fähigkeiten der demenzkranken Menschen, nichtsprachliche Äußerungen zu verstehen und zu
benutzen, bleiben sehr lange erhalten. Naomi Feil (2001, S. 30) verwendet als letzte Validationstechnik "Musik einsetzen", und sie zitiert die Auffassung von Musiktherapeuten, dass wir die Fähigkeit,
Musik aufzunehmen, als Letztes verlieren. Musik, die uns seit den frühesten Tagen vertraut ist,
begleitet uns unser ganzes Leben. Sehr alte Menschen, die wegen mangelnder Betätigung oder durch
einen Schlaganfall ihre Sprachfähigkeit eingebüßt haben, können trotzdem noch den ganzen Text
alter Lieder singen.
Dorothea Muthesius (1999) sieht Musiktherapie als die Methode der Wahl bei demenzkranken Menschen. Die "Sprache Musik" kann gerade für nicht sprechende Menschen vielerlei Kompensationsmöglichkeiten bieten:

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



Musik ist emotionalisierend: Anknüpfen, Erhalten und Reaktivieren emotionaler Fähigkeiten
Musik ist ordnend, strukturierend: Handlungen werden synchronisiert, Reize koordiniert
Musik ist erinnerungsauslösend: Das Gedächtnis wird unterstützt, Krankheit wird bewältigt, Iden-tität
wird gestärkt
Musik motiviert zur Kreativität
Musik fördert Interaktion: Erleben von Zugehörigkeit
Musik ist bewegungsfördernd: Erinnerung und Körperkontakt
Musiktherapie ist die Methode der Wahl bei alten verwirrten Menschen. Wir knüpfen dabei zunächst
rezeptiv an der vertraute Musikwelt der alten Menschen an, verbunden mit biografischen und validierenden Techniken
6. Musiktherapie als Methode bei alten verwirrten Menschen
6.1. Die Vorgeschichte
In einem Teil meiner Arbeitszeit arbeite ich als Dozent in der Ausbildung von AltenpflegerInnen.
Bereits 2001 war in dem Fachseminar, in dem ich schwerpunktmäßig arbeitete, bekannt, das ich eine
Musiktherapie-Ausbildung mache. So kam auch recht schnell ein Gespräch zwischen der Leiterin
meines Fachseminars und einem Heimleiter zu Stande, in dem wohl meine sich entwickelnde
Qualifikation thematisiert wurde, denn bald fragte man mich, ob ich denn bereit wäre, ein Projekt
"Musiktherapie mit alten Menschen" zu gestalten.
Ich sagte zunächst mal zu - dies ist halt meine Art - und suchte mir dann bei Kollegen und Dozenten
Hilfe. Kann man mit alten verwirrten Menschen frei improvisieren? Kann man interpretieren,
differenzieren, Konflikte bearbeiten?
Nein, das ist wohl nicht so einfach. Von meinen Dozenten und erfahrenen Kommilitonen hörte ich:
"Singen". Und so packte ich mein Akkordeon, Noten, einen Gedichtband aus meiner Schulzeit, ein
Liederbuch ein und machte mich an die Arbeit. Da ich außer "Singen" kaum ein Konzept zur Verfügung hatte, begann ich meine Arbeit mit den schlimmsten Befürchtungen, und vor meiner ersten
Stunde mit einer Riesenangst - erst sehr viel später, aus der Praxis heraus, entwickelte sich eine
konzeptionelle Idee und , vor allem, meine eigene Wertschätzung für eine vermeintlich so
"anspruchslose" Tätigkeit
6.2. Konzepte
Sehr wertvolle Hinweise für meine Arbeit bekam ich aus der umfangreichen und einfühlsamen Arbeit
von Leidecker (2001). Klaus Leidecker hat zwar überwiegend nicht mit verwirrten Menschen
gearbeitet, vieles aus seiner Arbeit ist aber übertragbar auf meine Situation:
Lieder sind Bedeutungsträger (wie übrigens auch Märchen). In jedem Volkslied manifestieren sich
wesentliche Themen, die im menschlichen Leben immer wieder vorkommen. Solche Themen sind
Heimat, Tod, Kindheit, Freiheit und andere. Auch Menschen, die kaum mehr sprechen können, singen
bekannte Refrains deutlich mit, und durch die Beobachtung von Mimik und Gestik teilt sich uns mit,
dass die Liedzeilen auch eine innere Auseinandersetzung mit dem Thema transportieren, die verbal
so nicht mehr möglich wäre. Durch das gemeinsame Singen findet eine symbolische
Auseinandersetzung mit wesentlichen Lebensthemen statt und schafft Erleichterung in einer
Lebenssituation, in der Bewältigung nicht mehr oder nur noch schwer möglich ist.
Katrin Müller (1998) beschreibt ein Vorgehen, in dem die Teilnehmer durch das Singen ermuntert
werden, sich zu bewegen. In ihrer Arbeit wird deutlich, dass es kleine und kleinste Erfolge sind, die wir
beobachten und beachten müssen.
Eine große Bedeutung haben Rituale, die einen festen Rahmen bilden, aber auch emotionale Signale
bilden. Wichtig ist natürlich ein Anfangsritual, das den Teilnehmern hilft, sich immer wieder von neuem
in die Situation hinein zu finden, und ein Schlussritual, das das Ende der Stunde und den Abschied
spielerisch thematisiert.
7. Meine praktische Arbeit
7.1. Vorüberlegungen
Die Aufgabe war, fünfundvierzig Minuten so zu strukturieren, dass ca. zehn alte, verwirrte Menschen
"unterhalten" werden, angeregt werden, mitzumachen, Freude empfinden und diese Freude auch ein
Stück in ihren Heimalltag mitnehmen können.
In der Anfangsphase meiner praktischen Tätigkeit habe ich deshalb Ziele formuliert und
entsprechende Methoden eingesetzt.
Ziele:
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Anregung, Aktivierung
Freude empfinden
Struktur vermitteln
Erinnerungen wecken und beleben (Biografiearbeit)
Wertschätzung für die "andere Welt" entwickeln (Validation)
Methoden:
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
Mein eigener Beitrag auf dem Akkordeon und anderen Instrumenten
Lieder
Alte Schlager
Klassische Musik
Gedichte und Geschichten
Gespräch
Validation in Bewegung, Mimik und Sprache
7.2. Technische Voraussetzungen
Soziale Arbeit findet immer in einem bestimmten technischen Rahmen statt, der die Arbeit befördern
oder auch behindern kann. Die Bedingungen im Philipp-Nicolai-Haus in Marl (Träger ist das
Johanniswerk e.V.) waren recht gut, doch gab es auch einige Fallstricke, die erwähnt werden sollen.
Zunächst fand ich sehr gute personelle, räumliche und organisatorische Bedingungen vor: Das musiktherapeutische Angebot wurde getragen vom sozialen Dienst des Hauses. Die beiden Mitarbeiter
sind sehr interessiert, engagiert und kommunikativ, und es bereitet Freude, mit diesen Kollegen
zusammenzuarbeiten, die die Arbeit nicht nur recht professionell vorbereiten, sondern auch Wert auf
eine sorgsame Auswertung und Begleitung legen. Der soziale Dienst sucht Bewohner für die
Musiktherapie aus. Kriterium ist die Fähigkeit, bei zunehmender Demenz noch an der Gruppe
teilnehmen zu können. Dieses Kriterium trifft auf Personen mit sehr unterschiedlichen Fähigkeiten zu,
was später noch zu zeigen sein wird.
Die Arbeit ist so organisiert, dass jeweils ein Turnus von üblicherweise 10 Veranstaltungen geplant
und durchgeführt wird. Danach erfolgt eine Auswertung und ich rechne mit dem Haus ab. Im ersten
Durchgang wurde die Maßnahme vom Haus selbst finanziert, drohte dann aber nicht mehr weitergeführt werden zu können, weil keine finanziellen Mittel mehr bereit standen. Inzwischen wird die
Teilnahme in Abstimmung mit den Angehörigen vom Taschengeld bezahlt, eine Lösung, die nicht
unumstritten ist: In anderen Heimen gilt die Verwendung des Taschengeldes für Maßnahmen
innerhalb des Hauses als Tabu: Es wird argumentiert, dass mit den teilweise erheblichen
Unterbringungskosten auch entsprechende Leistungen abgedeckt sein sollen und dass es nicht
sinnvoll ist, die Bewohner für zusätzliche Leistungen mit zusätzlichen Kosten zu belasten.
Andererseits wäre es unsinnig, wenn sinnvolle und wirksame Maßnahmen ausbleiben würden, obwohl
die finanziellen Mittel zur Verfügung stehen.
Da die Teilnehmer im wesentlichen die gleichen bleiben (einige bleiben weg oder sterben, einige
kommen dazu), kann ich zu ihnen mittel- und langfristig eine Beziehung aufbauen, was eine
Grundvoraussetzung für erfolgreiche Arbeit ist.
Uns steht im Untergeschoss des Hauses ein Raum zur Verfügung, der nur geringfügig vorbereitet
werden muss (das macht der Hausmeister). Ein wichtiges technisches Problem, das mir vorher nicht
bewusst war, ist der Transferprozess: Die Teilnehmer werden von den MitarbeiterInnen der Stationen
gebracht, dabei müssen sie durch das "Nadelöhr" eines Aufzugs, vor dessen Tür sich manchmal
regelrechte Schlangen bilden. Dies ist ein Problem für den Beginn der Stunde. Manchmal werden
Teilnehmer einfach vergessen, oder die Mitarbeiter haben die Idee, jemanden in die Gruppe
mitzubringen, der überhaupt nicht angemeldet ist.
7.3. Die Praxis, die Entwicklung des Konzepts und der heutige Stand
Wenn die Teilnehmer vollzählig sind, begrüße ich sie in der Regel persönlich mit einem kleinen Instrument, einem Klangstab, einer Kalimba, einer Kantele oder einem anderen kleinen Instrument.
Jeder Teilnehmer wird persönlich mit seinem Namen begrüßt. Ich sage ihm, dass ich mich über seine
(ihre) Anwesenheit freue und spiele einen Ton, einen Klang oder eine kleine Melodie (je nach Instrument). Manchmal nutze ich diese Möglichkeit, noch mal Namen zu memorieren, die ich vergessen
oder mir noch nicht gemerkt habe. Die meisten Teilnehmer kennen ihren Namen und können mir so
weiterhelfen.
Der erste "Programmpunkt" ist dann ein Akkordeonstück "Das Sandmännchen": Ich erzähle dazu die
Geschichte, dass ich dieses Stück immer meiner Tochter vorgespielt habe, als sie noch recht klein
war. Heute spielt sie dieses Stück selbst.
"Das Sandmännchen" ist ein sehr ruhiges Stück, durchaus auch als Schlaflied geeignet, aber eben
auch mit seiner prägnanten, ruhigen Melodie passend für eine beruhigende Einleitung für die Stunde.
Die Teilnehmer lieben dieses Stück sehr, und während ich spiele, höre ich, wie einige leise
mitsummen. Der Atem beruhigt sich, und am Ende lächeln einige, und es entsteht eine ruhige
erwartungsvolle Stille. Danach gibt es manchmal Beifall.
Manchmal ist es so, dass es den Teilnehmern schwer fällt, sich in dieser Situation zu orientieren. Sie
fragen "Warum bin ich überhaupt hier?", "Was mache ich hier?", "Wann bekomme ich etwas zu
essen", "Mir ist kalt".
Teilweise fallen solche Bemerkungen auch in mein "Eröffnungsspiel" und ich kann darauf nicht sofort
reagieren. Das "Sandmännchen" schafft aber mit der Zeit eine gute Orientierung, die Teilnehmer
erinnern sich an die Situation und beruhigen sich.
Die TeilnehmerInnen reagieren sehr unterschiedlich. Einige sind recht kommunikativ, und mit ihnen
kommt ein Gespräch in Gang, andere dämmern vor sich hin, einige schlafen. Manchmal sind es nur
Blicke oder ab und zu ein Lächeln, das mir signalisiert, dass eine Teilnehmerin tatsächlich teilnimmt.
Am Ende einer Stunde spiele ich ein lustige finnische Mazurka ("zum Abschluss spiele ich Ihnen eine
lustige Mazurka"), und die Teilnehmer werden einzeln mit einem Instrument verabschiedet. Hier
nehme ich noch einmal Bezug zur vergangenen Stunde und wie ich den Teilnehmer erlebt habe und
wünsche alles Gute für die nächste Woche.
Am Anfang eines Durchgangs, wenn einige Zeit verstrichen ist und wir uns länger nicht gesehen haben, ist die Resonanz auf meine Aktivitäten recht gering. Wir müssen uns erst wieder "beschnuppern".
Extrem ist diese Situation natürlich bei einer ganz neuen Gruppe: Über 2-3 Wochen bin ich
"Alleinunterhalter", d.h. ich versuche ein Programm zu gestalten, ohne dass ich auf meine Aktivitäten
ein nennenswertes Feedback bekomme.
Ich singe dann Volkslieder, erzähle Geschichten, rezitiere Gedichte, spiele alte Schlager und Klassik.
Dazwischen spreche ich die Gruppe oder einzelne Teilnehmer persönlich an. Es kann ziemlich
frustrierend sein, ohne nennenswerte Rückmeldung zu agieren, und so bin ich anfangs am Ende einer
Stunde immer recht erschöpft und gehe etwas irritiert nach Hause. Diese Situation ändert sich mit der
Zeit:
Am auffälligsten ist die Reaktion bei den Volksliedern. Diese werden relativ schnell mitgesungen, auch
von denen, die so gut wie nicht sprechen. Manche kennen nur die erste Strophe, den Refrain kennen
alle.
Bei alten Schlagern ist die Reaktion etwas anders. Bei manchen Liedern geht bei einigen ein Lächeln
des freudigen Wiedererkennens über das Gesicht. Der Refrain wird dann meistens mitgesungen.
Es ist wohl so wie man das heute auch beobachten kann: Die Mehrheit hört Schlager, eine Minderheit
hört Klassik. Es wäre natürlich verfehlt, sich in einem Angebot auf Schlager zu beschränken und somit
dem Klassikliebhaber eine unerträglich Situation zu bescheren: Ich spiele in der Regel nur einen
Schlager vor, aber eben auch ein klassisches Stück, in der Regel aus Vivaldis "Jahreszeiten", einmal
habe ich es mit dem "Regentropfen-Prelude" von Chopin versucht. Die Teilnehmer reagieren auf mein
Klassik-Angebot unterschiedlich: Die meisten hören ruhig zu, eine Teilnehmerin liebt die Stück und
fängt an, sich zu bewegen. Sie macht heftige und fröhliche "Dirigier"-bewegungen. Ich imitiere dann
ihre Bewegungen, und so sitzen wir da und "tanzen" zu Vivaldi.
Mit Gedichte und Geschichten versuche ich an Biografien anzuknüpfen. Ich verwende Gedichte, von
denen ich annehme, dass sie aus der Schule bekannt sind. Es ist hauptsächlich Goethe dabei, aber
auch Mörike, Eichendorff und andere. Gedichte sprechen die Teilnehmer an, die noch sprechen können. Häufig ist mir beim ersten Vortrag aufgefallen, dass ein Gedicht zu schwierig war. Dann wurde es
wieder aus dem Repertoire gestrichen.
Wenn das "Eis gebrochen" ist, mache ich die Erfahrung, dass die Kommunikation in der Gruppe lebendiger und dichter wird. Die meisten singen mit, und ich kann beobachten, wie Liederstrophen und
Refrains teilweise inbrünstig mitgesungen werden, wie auf einen Liedbeginn oder auch die ersten
Töne eines Schlagers mit einem frohen Lächeln reagiert wird. Und es kommt zwischen den
Programmbeiträgen zu biografischen Gesprächen und unterschiedlichen Aktionen. Die Teilnehmer
kommunizieren auch ein wenig untereinander.
Lieder und Gedichte sind wie Märchen: Für die alten Menschen enthalten sie Symbole, die auf wesentliche Inhalte der Lebensbewältigung verweisen. Eines der Lieder mit der umfassendendsten
Thematik ist z.B. "Hoch auf dem gelben Wagen": Es ist ein ganzes Leben, das dort abläuft, mit junger
Liebe, Festen und Tanz, am Ende der Tod, den man alleine durchlebt. Der Wagen rollt, alles geht
vorbei, nichts bleibt, und alles wird zur Vergangenheit. Es ist kaum mehr möglich, mit alten verwirrten
Menschen Lebensbewältigung zu betreiben, aber sie singen und erleben die Inhalte, die hinter den
Symbolen der Lieder stehen.
Ich habe die Lieder, Schlager und Gedichte, die Bestandteil meines Programms waren, einmal nach
verschiedenen Inhalten untersucht:
Beherrschende Themen sind hier die Natur und das Leben im allgemeinen, vielfach auch Abschied,
die Liebe und die Heimat.
Bei den Schlagern ist die Situation etwas anders:
Hier ist es die Liebe, die vor allem anderen beschworen wird, darüber hinaus das Leben insgesamt,
Abschied, und ein bisschen Heimat.
Bei den Gedichten steht die Naturthematik eindeutig im Vordergrund, neben dem Leben allgemein,
der Tod tritt meist im Zusammenhang mit einer Naturthematik auf dem Plan, und häufig wird die Natur
in einem spirituellen Zusammenhang gesehen.
Mir ist in der Arbeit deutlich geworden, dass die Teilnehmer diese Symbole erkennen und mit ihnen
umgehen. Es ist keine Bewältigungsarbeit, die betrieben wird, sondern eher kathartisches Erleben:
Wenn ich beobachte, wie eine Teilnehmerin singt, "das gibt's nur einmal, das kommt nicht wieder [...]
denn jeder Frühling hat nur einen Mai", dann verstehe ich, dass sie das, was sie singt, wirklich erlebt.
8. Nachbetrachtung und Ausblick
Es fiel mir am Anfang sehr schwer, meiner eigene Tätigkeit ("nur" singen, "nur" sprechen, "nur"
spielen) die nötige Wertschätzung zukommen zu lassen. Ein innerer Konflikt zwischen meiner
Tätigkeit und der dafür enthaltenen Bezahlung machte mich anfangs etwas unruhig. Irgendwann fiel
mir dann auf, dass ich nach der Stunde etwas erschöpft war: ich musste also doch irgendwie
gearbeitet haben.
Es ist zunächst einmal die Tatsache, eine ganze Stunde ohne Unterbrechung präsent zu sein. Das ist,
was Therapie ausmacht. Zu singen oder zu sprechen, und dabei immer Kommunikationsverbindung
zu halten mit den alten Menschen, die meist nur noch rudimentär kommunizieren können. Manchmal
spüre ich, dass ein Blickkontakt während des Singens aktivierend wirkt, aber ich kann gleichzeitig
immer nur mit einem Teilnehmer Blickkontakt halten. Dennoch benötige ich eine erhöhte Vigilanz, eine
Antenne für das, was in der Gruppe passiert, wo Impulse von einer Person kommen, wo fast
unmerklich Kommunikation stattfindet.
Es passiert in der Regel nicht sehr viel, aber wenn etwas passiert, dann muss ich versuchen, es zu
verstehen oder zu validieren: Einige Verhaltensweisen können aufgegriffen werden, so z.B., wenn
jemand ein Lied vorschlägt. Wenn ein Lied vorgeschlagen wird, wird es grundsätzlich gesungen.
Manche Aussagen können biografisch interpretiert und weitergeführt werden. Aber manche
Verhaltensweisen und Aussagen sind nicht ohne weiteres verständlich.
Etwas, womit ich in der Arbeit mit alten, verwirrten Menschen fertig werden muss, ist die Tatsache,
dass es keine Erfolge im herkömmlichen Sinne gibt: Wir können niemanden "heilen", und es gibt auch
keine Fortschritte, sondern die Arbeit endet meist mit dem Tod der Teilnehmer, oder damit, dass sie
zu einer Teilnahme nicht mehr in der Lage sind und meist bald darauf sterben. Doch dies kann auch
zu einer besonderen Tiefe der Arbeit führen: Wir müssen erkennen, dass auch wir jeden Tag dem Tod
ein Stück näher kommen, dass alles, was wir aufbauen, alle unsere Träume und Erfolge letztlich ins
Grab führen. Wenn wir dies verstehen, bringen wir der Arbeit die Wertschätzung und Demut entgegen,
die sie verdient.
9. Literaturverzeichnis
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wiederkehrender Tagesablauf.
Komponente 3: Gruppensitzungen
Das 24-Stunden-ROT wird durch täglich stattfindende Gruppensitzungen für die dementen
Heimbewohner unter der Leitung von ein bis zwei Mitarbeitern der Institution erweitert. Das
Gruppenangebot soll dabei jeden Tag in den gleichen Räumlichkeiten und zur selben Tageszeit
stattfinden und maximal 60 Minuten dauern. Auch die Zusammensetzung der einzelnen Gruppen
sollte nicht variieren. Die empfohlene Teilnehmerzahl beträgt 3 bis 6 Personen, die in Bezug auf den
Schweregrad der Demenz möglichst homogen sein sollen. In den Gruppensitzungen werden den
Teilnehmern Informationen zur Orientierung, z.B. zu Personen, Zeit, Ort und Alltagstätigkeiten,
vermittelt. Dies soll auf eine möglichst abwechslungsreiche Art und Weise geschehen, z.B. in Form
von Gesprächsrunden, Gedächtnisspielen, Spaziergängen und alltagsnahen Aktivitäten, wie
gemeinsames Einkaufen und Kochen.
Ziel ist es hier, die Anteilnahme des dementen Menschen an seiner Umwelt und an der Realität zu
fördern. Besonders durch die Vermittlung von Erfolgserlebnissen und der Förderung sozialer Kontakte
und Kommunikation, soll der soziale Rückzug der dementen Menschen verhindert, ihre kognitive
Leistungskraft erhalten und ihr Wohlbefinden insgesamt gesteigert werden.
In der praktischen Arbeit mit dementen Menschen wird das ROT in seiner ursprünglichen Form nicht
mehr angewandt, da es sich zeigte, dass der korrigierende Ansatz des Konzepts eine Belastung für
den Erkrankten darstellt und nur wenig erfolgversprechend ist. Das Konzept hat sich dahingehend
weiterentwickelt, dass von dem korrigierendem Ansatz Abstand genommen wurde und die
Schwerpunkte heute auf den externen Orientierungshilfen, der Wohnraumgestaltung und der
Tagesstrukturierung liegen, die sich auch in anderen Betreuungskonzepten für demente Menschen
finden. (vgl. Baier, 2001, S. 392).
5.2 Milieutherapie
"Unter Milieutherapie wird ein therapeutisches Handeln zur Anpassung der materiellen und sozialen
Umwelt an die krankheitsbedingten Veränderungen der Wahrnehmung, des Empfindens, des
Erlebens und der Kompetenzen (der Verluste und der Reserven) der Demenzkranken verstanden."
(Wojnar 2001c, S. 155).
Die Milieutherapie stellt ein umfassendes Betreuungskonzept dar, in dessen Zusammenhang sich der
Begriff "Milieu" sowohl auf die räumliche Umgebung als auch auf Umgangsformen und Aktivitäten
bezieht (vgl. Baier, 2001, S. 391). Es soll eine Verbesserung des gesamten therapeutischen Milieus,
besonders in Langzeiteinrichtungen (Altenheime, Pflegeheime) erzielt werden, wobei psychische
Bedürfnisse der Demenzkranken im Vordergrund stehen. Körperliche Pflege spielt in diesem Konzept
ein nachrangige Rolle. Die therapeutische Wirkung resultiert nicht nur aus Einzelkomponenten der
baulichen Umgebung als Milieu, "sondern vom Zusammenwirken aller Umweltkomponenten (Bau,
psychosoziales Milieu, Organisation)." (Heeg, 2001, S. 111).
Theoretischer Hintergrund
In der Literatur finden sich unterschiedliche Angaben zur Entstehung bzw. zur konzeptionellen
Einordnung der Milieutherapie. Nach Wächtler et al. ist die Milieutherapie eher eine spezifische Form
des ROT (vgl. Kap. 5.1). Andere (Lind und Heeg) stellen eher einen Bezug zu Lawtons
"Umweltanforderungs-Kompetenz-Modell" her. Dessen Kernaussage lautet, "dass durch
altersbedingte Veränderungen die Umweltkompetenz alter Menschen abnehmen kann" (Egidius,
1997, Kap. V. 2.3.1). Umweltkompetenz bedeutet in diesem Zusammenhang eine gelungene
Anpassung an Umweltanforderungen, die einen "Anforderungsdruck" auf die betroffene Person
ausüben. Die Anpassung an diesen Druck ist von individuellen Ressourcen abhängig und wird durch
Außenbedingungen, wie dingliche oder soziale Umwelt, erschwert oder erleichtert. Im optimalen Fall
herrscht ein Gleichgewicht zwischen den Anforderungen der Umwelt und der Umweltkompetenz,
darauf zu reagieren. Dieses Gleichgewicht stellt die Voraussetzung für eine hohe Lebenszufriedenheit
dar. Entspricht die Kompetenz nicht dem Anforderungsdruck, so kann es zu einer Unter- oder
Überforderung kommen, die von einer niedrigen Lebenszufriedenheit begleitet wird. Um ein solches
Ungleichgewicht zu korrigieren, können sowohl die individuellen Ressourcen gestärkt werden als auch
eine Anpassung der Umweltanforderungen (Außenbedingungen) erfolgen (vgl. Egidius, 1997, Kap. V.
2.3.1).
Für demente Menschen, die oft eine starke Einschränkung ihrer Umweltkompetenz erfahren, steht, da
in diesem Fall die individuellen Ressourcen nur bedingt änderbar sind, die Anpassung der dinglichen
und sozialen Umwelt im Vordergrund, um die Lebenszufriedenheit zu verbessern. Durch kognitive
Störungen verlieren demente Menschen "die Fähigkeit zu einer realistischen Beurteilung der
Umgebung und zur Anpassung ihres Verhaltens an die sozialen Normen und Erwartungen. ... Mit
einer abnehmenden Anpassungsfähigkeit wächst die Bedeutung einer flexiblen, ‚prothetischen'
Umgebung, die den Kranken akzeptiert, unterstützt und nicht überfordert." (Wojnar, 2001a, S. 40f.).
Die adäquate Gestaltung der Umgebung bekommt so eine Schutzfunktion: Sie soll Quellen der
Überforderung abbauen und Sicherheit und Geborgenheit ausstrahlen. Die so gestaltete Umgebung
hat die Aufgabe, die Selbständigkeit zu erhalten und zu fördern und das Selbstwertgefühl zu stärken.
"Die Milieutherapie soll den Demenzkranken ein menschenwürdiges, der persönlichen
Lebensgeschichte angepasstes und vom pathologischen Stress befreites Leben, trotz der
zunehmenden Adaptationsstörungen an ihre Umwelt, ermöglichen." (Wojnar, 2001c, S. 155).
Zusätzlich soll hierdurch die Belastung für die Betreuenden reduziert werden.
Praktische Umsetzung
Es lassen sich drei Kernelemente der Milieutherapie herausstellen:
1. Soziale Umgebung
Es wird ein einheitliches Konzept gefordert, an dessen Planung und Umsetzung sich alle Mitarbeiter
beteiligen. Eine enge Zusammenarbeit aller Berufsgruppen ist dabei Voraussetzung für ein günstiges
therapeutisches Milieu.
Ein weiterer Baustein der sozialen Umgebung ist die sogenannte "Beziehungskonstanz", womit feste
Bezugspersonen für die Betreuten gemeint sind. Es soll eine persönliche Beziehung zwischen
Demenzerkrankten und Mitarbeitern aufgebaut werden. Die Basis dafür ist die Grundhaltung dem
Erkrankten gegenüber (Respekt, Akzeptanz, Partnerschaftlichkeit, Kritikvermeidung, Bestätigung der
Realität des dementen Menschen). Der Umgang soll einfühlsam, geduldig und sensibel sein und
Biographiewissen wird für einen positiven Umgang und das Verständnis gefordert. "Wenn das Wissen
um die ganze Person mit den wesentlichen Lebensereignissen beim Pflegepersonal präsent ist, dann
besteht eher die Möglichkeit, vom stereotypen Fremdbild ‚dement, abgebaut, kommunikationsunfähig,
schwerstpflegebedürftig' abzukommen." (Lind, 2001, Kap. 1.5).
Die Kommunikation soll dem Kommunikationsstil von dementen Menschen angepasst sein. Dies
betrifft die verbale Ausdrucksweise (deutlich, langsam, einfache Sätze) genauso wie den Einsatz
nonverbaler Kommunikationsmittel (Blickkontakt, Berührungen, Gesten) (vgl. Egidius, 1997, Kap. V.
2.3.1). Lind betont in diesem Zusammenhang die Wichtigkeit der Kommunikation während der
Pflegehandlungen, d.h. die Einbeziehung des dementen Menschen in die Pflegeprozedur (vgl. Lind,
2001, Kap. 1.3).Obwohl als Gestaltungsprinzipien Stetigkeit, Beständigkeit und Kontinuität als die
wichtigsten herausgestellt werden, so ist es gleichzeitig die Flexibilität in der ständigen Anpassung der
Handlungen an die Bedürfnisse des Einzelnen, die eine Über- oder Unterforderung vermeiden hilft
(vgl. Lind, 2001. Kap. 2 u. 3).
Eine weitere Voraussetzung für eine optimale soziale Umgebung ist das Wohlbefinden und die
Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter, da sich ein schlechtes Arbeitsmilieu negativ auf das Lebensmilieu
und somit auf das Wohlbefinden der dementen Menschen auswirkt. "In der Kongruenz beider
Teilbereiche liegt der Schlüssel für ein Optimum an Pflegeleistungen u.a. in Gestalt der Zufriedenheit
der Bewohner und der Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter, denn zwischen Lebens- und Arbeitsmilieu
besteht ein striktes Interdependenzverhältnis." (Lind, 2001, Kap. 1.1). Die Arbeitszufriedenheit ist u.a.
abhängig vom Grad der Mitgestaltung und Mitbestimmung des Pflegepersonals, dem
Personalschlüssel, Fortbildungsangeboten und Supervision, sowie einer geringen Fluktuation des
Personalstammes (vgl. Wojnar, 2001c, S. 159).
Ebenfalls in die Betreuung mit einbezogen werden sollen die Angehörigen der Betreuten. Kontakte
sollen gefördert werden, damit für die dementen Menschen kein Bruch in ihrem Beziehungsgefüge
entsteht. In einem beiderseitigen Lernprozess sollen Angehörige und professionelle Betreuer zu
einem besseren Verständnis des Betreuten kommen (vgl. Lind, 2001, Kap. 1.5).
2. Tagesstrukturierung
Infolge der gestörten räumlichen, zeitlichen und personellen Orientierung ist es für demente Menschen
schwer, ihren Tag eigenständig zu strukturieren oder sich sinnvoll zu beschäftigen. Aus diesem Grund
gehört zu einer Optimierung des "Milieus" auch eine fest vorgegebene Tagesstruktur, in der sich
Aktivitäten und Ruhephasen abwechseln (Intervallkonzept). Dabei sollte jeder Tag gleich strukturiert
sein, um ein Sicherheitsgefühl zu vermitteln. Eine weitere Zielsetzung der Tagesstrukturierung ist die
Vermittlung des Gefühls der Bestätigung, die Steigerung des Selbstwertgefühls und des
Wohlbefindens (vgl. Lind, 2001, Kap. 1.4).
Die dementengerechten Angebote im Tagesprogramm sollen vor allem die niedrige
Konzentrationsfähigkeit, besonders bei Demenzerkrankten im fortgeschrittenem Stadium, und die
Kompetenzen des Einzelnen berücksichtigen. Die aktivierenden Angebote können sowohl vertraute
(z.B. Wäsche bügeln) als auch unvertraute Handlungen (z.B. das Sortieren von Gegenständen)
beinhalten. Zu beachten ist hier, dass es zu keiner Überforderung durch eine Reizüberflutung, aber
auch zu keiner Unterforderung aufgrund einer fehlenden Stimulierung von außen kommt. Lind
empfiehlt deshalb eine Vorgehensweise, die dem Intervallkonzept folgt. "In der Praxis hat sich das
Intervallkonzept Aktivierungsphase mit anschließender Beruhigungsphase als sehr effektiv und
milieufördernd herausgestellt." (Lind, 2001, Kap. 1.4).
Zum strukturierten Tagesablauf gehört auch das regelmässige Treffen von Gruppen. Hier sollen
Bedürfnisse nach sozialen Kontakten befriedigt und sozialer Isolation entgegengewirkt werden.
Wichtig ist das Gefühl, Teil einer Gruppe zu sein, die allerdings möglichst klein sein sollte, da sonst
eher Überforderung die Folge der Gruppenarbeit ist, die z.B. Aktivitäten wie Singen, Spielen,
Bastelarbeiten oder auch Spaziergänge beinhalten kann (vgl. Lind, 2001, Kap. 1.4).
Trotz des relativ festen Rahmens im Tagesablauf soll der Spontaneität und den Wünschen der
dementen Personen keine zu feste Begrenzung gesetzt werden, was auch als "Milieu à la Carte"
bezeichnet wird. Außerdem sollte den dementen Menschen die Teilnahme an Aktivitätsangeboten
freigestellt sein (vgl. Wojnar, 2001c, S. 159).
3. Architektonisch-räumliche Umgebung
Eine dementengerechte räumliche Umgebung muss primär die Funktionen "Schutz" und "Aktivierung"
erfüllen. Gelingt die Umsetzung, hat dies sowohl positive Auswirkungen auf die dementen Menschen
als auch auf die betreuenden Personen, die von der Überschaubarkeit der Räume und einer höheren
Kontaktdichte zwischen Personal und Betreuten profitieren kann (vgl. Lind, 2001, Kap. 1.6).
Eine optimierte Raumstruktur beinhaltet daher überschaubare Räumlichkeiten, was z.B. auch durch
Glaswände oder Glastüren erreicht werden kann. Weiterhin soll die Raumstruktur möglichst
barrierefreie Wege bieten, um dem Bewegungsdrang dementer Menschen entgegenzukommen. Als
wichtig wird hier z.B. die Vermeidung von Flurenden (Sackgassen) angesehen, die durch die
Bewegungseinschränkung zu Unsicherheit oder Überforderung und damit auch zu unangemessenem
Verhalten führen können. Positiv im Sinne der Barrierefreiheit sind beispielsweise Endlosflure und
Rundwege (vgl. Heeg, 2001, S. 111). Selbstverständlich erfolgt eine Kontrolle über die Ein- und
Ausgänge der Station, dabei sollten die Ein- und Ausgänge allerdings zur psychosozialen Entlastung
der Bewohner möglichst versteckt sein (vgl. Lind, 2001, Kap. 1.6). Zusätzlich sorgt eine individuelle
und wohnliche Gestaltung durch kleine Wohneinheiten, alte Möbel (auch von zu Hause) oder
persönliche Gebrauchsgegenstände für eine vertraute, heimische (und nicht Heim-) Atmosphäre (vgl.
Lind, 2001, Kap. 2.4). Ausreichende Beleuchtung verhindert die Entstehung von illusionären
Verkennungen und optischen Halluzinationen und durch eindeutige Helligkeit zur Tagzeit wird die
Normalisierung des Schlaf-Wach-Rhythmus gefördert (vgl. Wojnar, 2001c, S. 157f.). Ebenso wichtig
ist ein niedriger Geräuschpegel, bzw. auch unaufdringliche Musik. Verschiedene gleichzeitig
auftretende akustische Signale sollten vermieden werden. Insgesamt kann festgehalten werden, dass
eine visuelle und akustische Überreizung vermieden werden soll (vgl. Wojnar, 2001c, S. 157).
Durch die Stimulierung mittels des räumlichen Milieus soll eine Anregung zur Eigen- oder
Gruppenbeschäftigung erfolgen. Dies kann auf unterschiedlichste Weise erreicht werden. Beispiele
sind leicht zugängliche Regale mit Wäsche oder Küchenutensilien, Haustiere, aber auch ein
interessanter Fensterausblick oder Bilder u.ä. (vgl. Egidius, 1997, Kap. V. 2.3.4).
Der Zugang zu einem Garten oder Freigelände wird kontrovers beurteilt. Während hier einerseits eine
bedrohliche Wirkung durch Verlassen des Schutzraums eventuell gefördert wird, kann aber
andererseits auch positives Erleben (Naturbezug, Freiheit) gefördert werden (vgl. Egidius, 1997, Kap.
V. 2.3.4).
5.3 Validation
Das Konzept der Validation wurde von Naomi Feil zwischen 1963 und 1980 entwickelt. Sie arbeitete
als Sozialarbeiterin in den USA und gibt als Grund für die Entwicklung ihres Konzepts ihre negativen
Erfahrungen mit dem ROT an: "Ich gab das Ziel der Orientierung auf die Realität auf, als ich bemerkte,
dass die Gruppenmitglieder sich immer dann zurückzogen oder zunehmend feindselig wurden, wenn
ich sie mit der unerträglichen Realität der Gegenwart zu konfrontieren versuchte." (Feil, 2000, S. 9).
Das Betreuungskonzept besteht im besonderen aus Kommunikationstechniken, die in der Betreuung
von dementen Menschen angewendet werden sollen. Der Schlüssel zu einer adäquaten
Kommunikation mit ihnen ist dabei die Validation (von lat. validus = kräftig; engl.: valid = gültig), also
das "Für-Gültig-Erklären" der Erfahrung und der subjektiven Wirklichkeit eines anderen Menschen. Die
Kommunikation bezieht sich durch das aktive Anerkenn en der Emotionen des dementen Menschen
stark auf die Gefühlsebene. Voraussetzung für den damit verbundenen Versuch, den gesamten
Bezugsrahmen einer Person zu verstehen, ist ein hohes Maß an Empathie (vgl. Baier, 2001, S. 393;
Kitwood, 2000, S. 88). "Es handelt sich dabei eher um Umgangsprinzipien mit dem Erkrankten als um
ein Therapieverfahren." (Bernhardt, o.J.). Die persönliche Sichtweise des Demenzerkrankten wird
dabei in den Mittelpunkt der Therapie gestellt, wobei wichtige Verhaltensregeln für den zu
Betreuenden einzuhalten sind. So soll z. B. die subjektive Realität des Betroffenen nicht korrigiert oder
in Frage gestellt werden (vgl. Baier, 2001, S. 393).
Zur besseren Erläuterung des Konzepts sollen im Folgenden die wichtigsten Punkte zur Validation aus
der Sicht von Naomi Feil dargestellt werden. Die Seitenangaben beziehen sich auf ihr Buch
"Validation. Ein Weg zum Verständnis verwirrter alter Menschen" (Feil, 2000).
Grundprinzipien
Validieren bedeutet, die Gefühle eines Menschen anzuerkennen und für wahr zu erklären. Durch ein
gutes Einfühlungsvermögen soll versucht werden, in die innere Erlebniswelt des desorientierten
Menschen vorzudringen, "in den Schuhen des anderen [zu] gehen" (S. 11). Dabei kommt es zum
Aufbau von Vertrauen, Sicherheit, Stärke und Selbstwertgefühl. Verbale und nonverbale Signale der
Erkrankten sollen aufgenommen und in Worten wiedergegeben werden (vgl. S. 11).
Anwendung der Technik "Validation"
Feil definiert die Validationstechnik und die Validationsziele folgendermaßen (S. 11):
"Validation ist:
· eine Entwicklungstheorie für sehr alte, mangelhaft/unglücklich orientierte und desorientierte
Menschen
· eine Methode, ihr Verhalten einzuschätzen
· eine spezifische Technik, die diesen Menschen hilft, durch individuelle Validation und
Validationsgruppen ihre Würde wiederzugewinnen"
"Validationsziele sind:
· Wiederherstellen des Selbstwertgefühls
· Reduktion von Stress
· Rechtfertigung des gelebten Lebens
· Lösen der unausgetragenen Konflikte aus der Vergangenheit
· Reduktion chemischer und physischer Zwangsmittel
· Verbesserung der verbalen und nonverbalen Kommunikation
· Verhindern eines Rückzugs in das Vegetieren
· Verbesserung des Gehvermögens und des körperlichen Wohlbefindens" (S. 11).
Theoretischer Hintergrund
Der Validation liegen verschiedene Prinzipien aus dem Bereich der Psychologie zugrunde. Hier
werden u. a. Carl Rogers ("Akzeptieren Sie Ihren Patienten, ohne ihn zu beurteilen") und C. G. Jung
("Gefühle, die ausgedrückt und dann von einem vertrauten Zuhörer bestätigt und validiert wurden,
werden schwächer, ignorierte oder geleugnete Gefühle stärker") genannt (S. 12).
Theoretischer Schwerpunkt der Validation als Betreuungskonzept ist die von dem Psychologen Erik
Erikson entwickelte Theorie der Lebensstadien und Aufgaben:
Erikson unterteilt den menschlichen Lebenszyklus in acht Entwicklungsstufen mit spezifischen
Entwicklungsaufgaben oder Krisen, wobei sich die Aufgaben mit dem Alter ändern. Ob bestimmte
Lebensaufgaben gelöst werden, hängt davon ab, wie die Aufgaben in früheren Lebensabschnitten
bewältigt wurden. Im letzten Lebensabschnitt "Alter" lautet die Lebensaufgabe: Leben resümieren.
Die erfolgreiche Bewältigung besteht in der Wahrung der persönlichen Integrität. "Integrität im Alter
heißt, seine Stärken trotz seiner Schwächen zu erkennen." (S. 18).
Bestehen unbewältigte Aufgaben aus früheren Lebensabschnitten, so ist die Wahrscheinlichkeit, diese
Aufgabe zu lösen, gering, und es ist keine positive Lebensbilanz möglich. Die Folge ist Verzweiflung
und das Hervortreten lebenslang unterdrückter Gefühle. "Mit einer Last, die unerträglich wird, gehen
wir ins hohe Alter." (S.19). Daraus resultieren Niedergeschlagenheit und Depression, das Leben wird
nicht mehr als lebenswert empfunden (vgl. S. 13-20).
Feil fügt diesem Stadienmodell von Erikson einen weiteren Lebensabschnitt "hohes Alter" hinzu, da
die Lebenserwartung gestiegen ist. Dies ist das "Stadium jenseits der Integrität", in dem die
spezifische Lebensaufgabe "Vergangenheit aufarbeiten" lautet. Personen, die im Lebensstadium
"Alter" (nach Erikson) die Lebensaufgabe "Leben resümieren" durch "Wahrung ihrer Integrität"
erfolgreich lösten, haben im "Stadium jenseits der Integrität" keinen Bedarf an der Aufarbeitung ihrer
Vergangenheit und damit die Voraussetzung, in Frieden zu sterben. Ist dies bei desorientierten oder
verwirrten Personen nicht der Fall, so kehren sie in die Vergangenheit zurück, um ungelöste
Aufgaben, bzw. ungelöste Gefühle des bisherigen Lebens, aufzuarbeiten. Dieser
Aufarbeitungsprozess kann nur mit Unterstützung von außen, mit Validation, erfolgreich verlaufen. Ziel
ist eine validierende Begleitung des Aufarbeitungsprozesses, denn "wenn diese verschiedenen
Gefühle jedoch bestätigt und validiert werden, zerstreuen sie sich" (S. 21) Erfolgt diese Stimulierung
von außen nicht, "werden sie zu den lebenden Toten in unseren Pflegeheimen" (S.21), d.h. sie ziehen
sich in das Stadium des Vegetierens zurück.
Unterformen im "Stadium jenseits der Integrität"
Feil definiert vier Unterformen, wobei jede einem weiteren Rückzug aus der Realität entspricht. Eine
Person kann innerhalb von Minuten das "Unterstadium" wechseln, befindet sich jedoch überwiegend
in demselben (vgl. S. 49).
Unterstadium der mangelhaft/unglücklichen Orientierung:
Hier sind kognitive Fähigkeiten weitestgehend intakt, die Betroffenen sind sich ihrer gelegentlichen
Verwirrung bewusst. Sie leugnen Gefühle und Erinnerungslücken und suchen die Schuld für Verluste
bei anderen, dabei projizieren sie Konflikte aus der Vergangenheit auf Personen der Gegenwart. Die
Angst vor weiteren Verlusten führt zu Verhaltensweisen wie "Hamstern" und "Horten" (z.B.
Nahrungsmittel, Zeitungen, Servietten). Demente Menschen in diesem Stadium klammern sich an die
Realität und halten an ihren gesellschaftlich vorgeschriebenen Rollen fest. Sie sind verletzlich, lehnen
Berührungen und Blickkontakt ab und zeigen eine angespannte körperliche Haltung (vgl. S. 52-54).
Unterstadium der Zeitverwirrtheit:
Dieses Stadium ist geprägt durch die Zunahme an körperlichen und sozialen Verlusten, die nicht mehr
geleugnet werden. Vielmehr versuchen die Betroffenen, sich in die Vergangenheit zurückzuziehen
und orientieren sich nicht mehr an der Realität. Auf der Gefühlsebene bedeutet dies eine Rückkehr zu
universellen Gefühlen wie Liebe, Hass, Trauer, Angst u.a. und den Versuch, angenehme Emotionen
aus der Vergangenheit wachzurufen.
Demente Menschen in diesem Stadium drücken ihre Gefühle direkt aus. Sie verlieren die Fähigkeit,
ihrer gesellschaftlichen Rolle zu entsprechen, und die Fähigkeit zur verbalen Kommunikation ist
eingeschränkt. Die Betroffenen zeigen eine entspannte Körperhaltung und reagieren positiv auf
Körper- und Blickkontakt (vgl. S. 54-57).
Unterstadium "Sich-wiederholende-Bewegungen":
Hier erfolgt ein Rückzug in vorsprachliche Bewegungen und Klänge. "Körperteile werden zu
Symbolen. Bewegungen ersetzen Worte." (S. 57).
Die Sprache wird unverständlich und der Gebrauch von "frühen Sprachformen" und Bewegungen
dient als Transportmedium in die Vergangenheit. "Die Person ist nicht mehr allein, mit den
Bewegungen des Säuglings, der sprechen lernt, hat sie ihre Mutter wieder zu sich geholt." (S. 58)
Gegenstände, Körperteile und Personen gewinnen immer stärkeren Symbolcharakter für
Vergangenes. Die Betroffenen ziehen sich in Isolation und Eigenstimulanz, z.B. in Form von sich
wiederholenden Bewegungen oder Klangäußerungen, zurück. Sie sind inkontinent und
kommunizieren nur bei Blickkontakt und Körpernähe (vgl. S. 57-60).
Unterstadium des Vegetierens:
In diesem Stadium "verschließt sich der Mensch völlig vor der Außenwelt und gibt das Streben, sein
Leben zu verarbeiten, auf." (S. 60). Es besteht ein minimaler Eigenantrieb, der gerade zum Überleben
ausreicht. Die Betroffenen zeigen kaum Gefühle, kaum wahrnehmbare Bewegungen und halten die
Augen meist geschlossen (vgl. S. 60f.).
Zielgruppe für Validation
Die Zielgruppe sind desorientierte, sehr alte Menschen (über 80 Jahre), die sich in einem der vier
Unterstadien des Lebensabschnitts "Jenseits der Integrität" befinden, welches Feil auch als Stadium
"Aufarbeiten oder Vegetieren" bezeichnet (vgl. S. 29-31).
Feil wendet sich gegen eine einheitliche Bezeichnung "Demenz" oder "Alzheimer-Demenz". Ihrer
Meinung nach ist die senile Demenz im Gegensatz zur präsenilen Demenz keine eindeutige
Erkrankung, da Neurofibrillen und Plaques im Alter normal seien. Zudem sei das gezeigte Verhalten
beider Gruppen auch im Hinblick auf die Reaktion auf Validation unterschiedlich. "Senile Demente ...
sind jene, die ich als desorientierte, sehr alte Menschen bezeichne." (S. 34). Dies ist die Gruppe, die
der Validation zugänglich ist (vgl. S. 31-35).
Praktische Umsetzung von Validation
a) Validationsanwender
Die Einstellung gegenüber dementen Menschen ist für die Anwendung von Validation wichtiger als die
konkreten Techniken. Es muss akzeptiert werden, dass der Rückzug in die Vergangenheit eine
Methode des Überlebens bedeuten kann. "Validations-Anwender, kurz VA genannt, urteilen nicht, sie
akzeptieren und achten die Weisheit der alten Menschen." (S. 35).
Aufgabe des VA ist die Hilfestellung bei der Erfüllung der letzten Lebensaufgabe. Er soll
vertrauensvoll zuhören, Gefühle bestätigen und ernstnehmen, diese aber nicht analysieren. Er soll
Gefühle teilen können, und es soll ihm möglich sein "in das Leben des anderen [zu] schlüpfen, weil wir
selbst schon viele Verluste erlitten haben." (S. 37). "Ein idealer VA ist jemand, der nach Erikson
Erwachsenen-Intimität erlangt hat, Identität besitzt, sich von der elterlichen Autorität abgenabelt hat
und sich ohne die Furcht, abgelehnt zu werden, ausdrücken kann." ( S. 37).
Feil betont, dass nicht jeder für die Anwendung von Validationstechniken geeignet ist. "Ein VA ist ein
‚Übermensch für 3 Minuten', denn er bringt für sehr alte, desorientierte Menschen Empathie auf und
achtet ihre Gefühle als echte, ohne zu wissen, warum der alte Mensch sich so verhält." (S. 38).
b) Individuelle Validation
Diese erfolgt in den drei Schritten "Sammeln von Informationen", "Bestimmung des Stadiums" und
"Anwendung von Validationstechniken".
Im ersten Schritt werden über mindestens zwei Wochen Informationen über die betreffende Person,
ihr vergangenes Leben, die gegenwärtige Situation und ihre Zukunftsvorstellungen gesammelt. Dies
kann durch das Gespräch mit Desorientierten, das Befragen von Angehörigen und das Beobachten
der betroffenen Person geschehen. Im Gespräch soll darauf geachtet werden, dass Fragen keine
Angst erzeugen. Dies wären z.B. Fragen nach Zeitspannen. Statt dessen sollen allgemeine
Formulierungen verwendet werden. Feil unterscheidet "Hier und Jetzt"-Fragen, die sich auf die
aktuelle Situation beziehen, (z.B. "Fühlen sie sich manchmal alleine?") von "Damals und Dort"-Fragen.
Dies sind Fragen zur Vergangenheit, die sich auf Bewältigungsmechanismen bei schwierigen
Situationen (z.B. "Wie überstanden Sie schwierige Zeiten?") und auf unbewältigte Lebensaufgaben
(z.B. "Haben Sie eine gute Ehe geführt?") beziehen (vgl. S. 62-65).
Durch Beobachten sollen physische Charakteristika (die Art sich zu bewegen, Lachfalten,
Sorgenfalten usw.) und nonverbaler Ausdruck (wie z.B. die Körperhaltung und Augenausrichtung)
erkannt werden. Ein Ziel ist dabei das Herausfinden des bevorzugten Sinnesorgans (vgl. S. 65-67).
Im zweiten Schritt erfolgt die Bestimmung des Stadiums durch die Informationen, die zur Person
gesammelt wurden. Da sich die Auswahl der Validationstechnik nach den einzelnen Unterstadien
richtet, ist die richtige Zuordnung der desorientierten Person in das entsprechende Unterstadium von
ausschlaggebender Bedeutung (vgl. S. 67).
Darauf aufbauend erfolgt im dritten Schritt die Anwendung von Validationstechniken, die auf das
Unterstadium abgestimmt sind.
Prinzipiell kann die individuelle Validation von unterschiedlichen VA praktiziert werden und an allen
Orten mit Privatsphäre stattfinden, die ein vertrauliches Gespräch ermöglichen. "Die Putzfrau in einem
Heim kann validieren, während sie das Zimmer aufräumt; die Pflegehelferin, wenn sie den alten
Patienten zur Toilette bringt; die Schwester beim Austeilen der Medikamente; der Haustechniker,
wenn er die Glühbirne auswechselt; der Gärtner beim Grasmähen; Angehörige bei einem Besuch." (S.
68). Die Dauer der Validierung ist abhängig von der Konzentrationsfähigkeit der desorientierten
Person. Feil empfiehlt Kontaktzeiten bis maximal fünfzehn Minuten, je nach Stadium der
Desorientierung. Die Interaktion sollte jedoch spätestens dann beendet werden, wenn sichtbare
Zeichen verminderter Angst zu beobachten sind, z.B. regelmäßiger Atem, Lächeln, Abnahme sich
wiederholenden Verhaltens (vgl. S. 67-69).
Im Folgenden werden Techniken vorgestellt, die Möglichkeiten zur Anwendung von Validation
aufzeigen. "Es gibt keine Universalformel, da jeder Mensch anders ist. Alle VA müssen ihre eigene
Methode finden, auf sehr alte, desorientierte Menschen einzugehen." (S. 69).
Feil legt dem VA nahe, vor der Validation eine Atemübung zur Konzentrationssteigerung
durchzuführen, die sie als "Zentrieren" bezeichnet. Sie soll helfen, sich ganz auf eine andere Person
einzulassen und die eigenen Gefühle auszublenden (vgl. S. 45, 116).
Außerdem betont sie, dass die körperlichen Charakteristika und Gefühlsäußerungen der verwirrten
Person während der Validationsanwendung beobachtet werden sollen. Diese kann der VA mit
unerfüllten Grundbedürfnissen (Liebe, Geborgenheit, nützlich sein, tiefe Gefühle ausdrücken)
assoziieren (vgl. S. 116).
Einen großen Komplex der individuellen Validationsmethode bilden die verbalen
Kommunikationstechniken. Feil gibt dazu folgende Empfehlungen (S. 116):
"Achten Sie auf die Wortwahl."
"Fragen Sie: wer, was, wo, wann, wie. (Vermeiden Sie warum)"
"Wiederholen Sie Schlüsselworte, umschreiben Sie sie, fassen Sie sie zusammen."
"Fragen Sie nach dem Extrem (Wie schlimm? Schlimmer? Am besten? ...)"
"Verwenden Sie mehrdeutige Pronomen (er, sie, es, jemand, der etc.), wenn sie [sic !] das
Wortgestammel nicht begreifen."
"Rufen Sie in Erinnerung (Wie war es früher?)"
"Versuchen Sie das Gegenteil vorstellbar zu machen. (Wann war es besser? Gab es eine Zeit, wo das
und das nicht passierte?)"
"Können wir gemeinsam eine kreative Lösung finden? Was taten Sie als das früher passierte? Finden
Sie eine Methode heraus, die damals funktionierte."
"Sprechen Sie die Emotion laut und gefühlvoll aus. Spiegeln Sie das Gefühl."
"Singen Sie vertraute Lieder, die gefühlsmäßig passen."
Zusätzlich wird vorgeschlagen, Worte zu verwenden, die das bevorzugte Sinnesorgan der verwirrten
Person ansprechen (z.B. visuelle Wörter, wie schauen, Bild, wahrnehmen, klar).
In der Validation von desorientierten Menschen im Stadium "mangelhafte/unglückliche Orientierung"
kommen vor allem verbale Kommunikationstechniken zur Anwendung. In den Stadien
"Zeitverwirrtheit" und "Sich-wiederholende-Bewegungen" werden, je nach verbaler
Kommunikationsfähigkeit der betroffenen Person, immer mehr nonverbale Kommunikationstechniken
eingesetzt. Im Stadium "Vegetieren" findet die Kommunikation fast ausschließlich auf der nonverbalen
Ebene statt (vgl. S. 69-80).
In Bezug auf die nonverbalen Kommunikationstechniken macht Feil folgende Vorschläge (S. 116):
"Spiegeln Sie die Bewegung. Atmen Sie im gleichen Rhythmus."
"Berühren Sie: die Wangen, den Hinterkopf, die Kieferlinie, Schultern, Oberarme etc."
"Halten Sie echten Blickkontakt."
c) Validation in Gruppen
Eine Validation in Gruppen ist für Personen im Stadium "Zeitverwirrtheit" und "Sich-wiederholendeBewegungen" geeignet. Diese "haben wenig Energie und Konzentrationsvermögen für Gespräche
unter vier Augen." (S. 86)
Für Personen im Stadium "Mangelhafte/unglückliche Orientiertheit" ist eine Validationsgruppe weniger
geeignet. "Der/die VA müßte eine solche verwirrte Person, die oft weint, klagt oder andere
Gruppenmitglieder für ihre Fehler verantwortlich macht, in die Schranken weisen." (S. 86) Aufgrund
der extrem reduzierten Kommunikationsfähigkeit kommen auch Betroffene im Stadium "Vegetieren"
nicht für eine Gruppenvalidation in Frage.
Die Validation soll mindestens einmal wöchentlich zur gleichen Zeit und am gleichen Ort durchgeführt
werden. Sie dauert ca. zwanzig bis sechzig Minuten. Voraussetzung sind eine Atmosphäre der
Geborgenheit und ein Ort mit Privatsphäre, d.h. ein psychologisch sicherer Ort, an dem Menschen
einander nicht verletzen können.
Ziel der Gruppenvalidation ist die Aktivierung von Fähigkeiten, die die Kommunikation und die soziale
Integration verbessern. Die Betroffenen teilen in der Gruppe gleiche Probleme und können sich
eventuell gegenseitig bei Konfliktlösungen unterstützen, sie validieren sich sozusagen gegenseitig.
Die Einrichtung einer Validationsgruppe umfasst sieben Schritte (vgl. S. 85-98):
1) Kennen lernen
Hier werden Informationen über die desorientierten Personen gesammelt (wie bei Individueller
Validation).
2) Auswahl der Mitglieder
Eine Gruppe hat fünf bis zehn Mitglieder, von denen höchstens zwei im Stadium "Sich-wiederholende-
Bewegungen" sind. Idealerweise sollten unterschiedliche soziale Rollen vertreten sein.
3) Wahl der sozialen Rolle
Jedem Gruppenmitglied wird eine soziale Rolle zugeteilt, die der Persönlichkeit der Person
entgegenkommt. Dies gibt dem Treffen Struktur und bewirkt, dass alle Teilnehmer mit einbezogen
werden. Dabei werden alte Verhaltensmuster stimuliert und das Selbstwertgefühl gesteigert. Mögliche
Rollen sind beispielsweise der Vorsänger, der Gastgeber oder der Vorleser.
4) Einbeziehung des gesamten Personals
Während individuelle Validation von Einzelpersonen durchgeführt werden kann, wird bei der
Gruppenvalidation die Unterstützung der Verwaltung und der Kollegen gebraucht (fester Raum,
ungestörte Zeit, Informationen vom Personal über Einzelpersonen und aktuelle Ereignisse, z.B. Streit).
5) Angebote
Der Ablauf eines Gruppentreffens ist jedes Mal gleich strukturiert. Der ritualisierte Ablauf vermittelt das
Gefühl der Geborgenheit. Hauptkomponenten des Angebots sind:
Musik: Das Gruppentreffen sollte mit einem Lied eröffnet und geschlossen werden (stimuliert
Interaktion, Wohlbehagen).
Gespräch: Bei jedem Treffen wird ein bestimmtes Diskussionsthema gewählt. Bevorzugt werden
Themen, die sich auf Gefühle beziehen wie z.B. Liebe, Ärger oder "auf den Kampf um die eigene
Meinung und um die eigene Identität." (S. 91)
Bewegung: Hier kommt beispielsweise tanzen oder Gymnastik in Frage. Gefördert werden das
Gemeinschaftsgefühl, Energie und Spaß. Möglich ist aber auch "Arbeiten mit den Händen" (Gefühle
ausdrücken, z.B. Teig kneten).
Essen: Steht für Fürsorge und soll soziales und selbständiges Verhalten auslösen.
6) Vorbereitung des Treffens
Vor dem Treffen sollte der Leiter des Treffens die Inhalte und die Struktur wie Sitzordnung oder Ablauf
festlegen. Zusätzlich gehört dazu das "Zentrieren", also das innere Sammeln und fokussieren des VA
auf seine Aufgabe.
7) Das Treffen
Ein Treffen soll sich immer aus einer Eröffnung (Einstimmung der Teilnehmer), einem Hauptteil
(Gespräch), dem Ende (Wir-Gefühl herstellen, positiver Ausklang) und der Vorbereitung auf das
nächste Treffen (z.B. durch Dokumentation von Entwicklungen und Fortschritten der Teilnehmer)
zusammensetzen.
5.4 Integrative Validation
Nicole Richard (Diplom-Pädagogin, Diplom-Psychogerontologin) aus Kassel propagiert seit 1994 in
Deutschland eine Abwandlung der Validationsmethode nach Feil. Die von ihr als "Integrative
Validation" (IVA) benannte Methode verfolgt einen sogenannten "ressourcenorientierten Ansatz". Die
Validation konzentriert sich hierbei vor allem auf verbliebene Fähigkeiten und Kompetenzen des
Demenzerkrankten. Diese "Ressourcen" sollen aktiviert und in die Pflege und Betreuung von
dementen Menschen integriert werden. "Ressourcen sind Bodenschätze, Goldadern, nach denen man
suchen muß." (Richard, 2001a, S. 57). Richard stellt dabei die zwei zentralen Ressourcen "Antrieb"
und "Gefühle" heraus.
"Antrieb" bezeichnet früherlernte Normgefühle einer Generation, die eine lebensgeschichtliche
Herleitung beinhalten. Sie sind Motiv und Triebfeder des Handelns und erfahren eine persönliche
Ausprägung und Gestaltung, z.B. Ordnungssinn oder Fürsorglichkeit (vgl. Richard, 2001a, S. 57).
"Gefühle" sind Ausdruck der momentanen Befindlichkeit und beinhalten eine Reaktion auf die Umwelt.
Sie stehen oft in Verknüpfung mit der inneren Erlebenswelt und werden von Demenzerkrankten direkt
zum Ausdruck gebracht, wie z. B. Angst oder Ärger (vgl. Richard, 2001a, S. 57).
Richard kritisiert an anderen Betreuungskonzepten, wie z.B. dem ROT, dass sie sich auf den Versuch
konzentrieren, nicht mehr vorhandene oder stark eingeschränkte Fähigkeiten von dementen
Menschen zu fördern. Diese von ihr als "defizitärer Ansatz" bezeichnete Konzeption führt ihrer
Meinung nach zu Ohnmachtsgefühlen und Hilflosigkeit der betreuenden Personen und stellt ein
"hoffnungs-, sinn- und würdeloses Unterfangen" dar (Richard, o.J., S. 3f.). Primär sollte ihrer Ansicht
nach das Sicherheitsbedürfnis des dementen Menschen in den Mittelpunkt aller Bemühungen gestellt
werden. Dies erfolgt über die Aktivierung von vorhandenen Ressourcen, wodurch das Wohlbefinden
des dementen Menschen und die Motivation der Betreuungsperson gefördert werden.
Um diese Ressourcen aufzudecken, ist es nötig, sich in die "Zeit- und Erlebnisebene" des Dementen
einzufühlen und seine "innere Realität", "seine persönliche Lichtung im Nebel" anzuerkennen
(Richard, 1996, S. 219). Antriebe und Gefühle können so wahrgenommen und wertschätzend
wiedergegeben werden. "Wir sind das Echo, wir können oftmals isolierten Äußerungsformen
Demenzerkrankter eine Sprache geben." (Richard, 2001a, S. 58). Auf diese Weise können negative
Gefühle aufgelöst und positive lebendiger erlebt werden. Der Betreute wird emotional aufgefangen
und fühlt sich verstanden, da die von ihm geäußerten Gefühle in einer Atmosphäre des Vertrauens
ernstgenommen und wertgeschätzt werden. Um Gefühlsmomente, die hinter Äußerungen oder
Verhaltensweisen einer dementen Person stehen, richtig einordnen zu können, sind Biographiewissen
und Kenntnisse von Symbolen entscheidend und die Voraussetzung für eine dementengerechte
Kommunikationsweise (vgl. Richard, 2001a, S. 57f.).
Die Kommunikation erfolgt grundsätzlich auf drei Ebenen: Verbal (Sprache), nonverbal
(Körpersprache) und paraverbal (Betonung). Richard bemerkt, dass die Kommunikation keine
Diskrepanz zwischen diesen drei Ebenen aufweisen darf, da dies zur Verwirrung des dementen
Menschen führen kann. Der Schwerpunkt der IVA liegt primär auf der sprachlichen Ebene und ist
deshalb vorrangig für Demenzerkrankte im Anfangsstadium sinnvoll. Die Sprache sollte aus kurzen,
eindeutig formulierten Sätzen bestehen. Wichtig ist außerdem die Verwendung von Zeitgeistwörtern,
d.h. die Wortwahl soll an das Alter der dementen Person angepasst sein. Es sollen Wörter verwendet
werden, die der demente Mensch in Kindheit, Jugend und jüngeren Erwachsenenjahren gebraucht hat
(z.B. Kummer, Kavalier, versprochen-sein). Günstig ist auch die Verwendung von Metaphern (z.B. mir
fällt ein Stein vom Herzen, um den Finger wickeln) oder von Sprichwörtern. Ebenfalls hilfreich ist der
Einsatz von Ritualen. Dabei können sowohl alte Rituale erkannt und gepflegt als auch neue
geschaffen werden (z.B. Gespräch immer mit den gleichen Startsätzen beginnen).
Biographieabhängige Themen und Beschäftigungen erleichtern ebenfalls den Zugang zur "inneren
Realität" des dementen Menschen und verbessern so die Kommunikation (vgl. Richard, 2001a, S. 58;
Richard, o.J.).
Wichtige Effekte, die aus der IVA für die dementen Menschen entstehen, sind Gefühle der Sicherheit
und der Zugehörigkeit, ein gesteigertes Selbstwertgefühl und die Verminderung von Angst und Stress.
Dies geht mit einer Reduktion von unkontrollierten Gefühlsausbrüchen einher und fördert so die
soziale Kontaktaufnahme (vgl. Richard, 2001a, S. 59).
Für die Betreuungskräfte ermöglicht der Einsatz der IVA ein strukturierteres Handeln, insbesondere in
Bezug auf die Teamarbeit. Eine leichtere Einschätzung von dementen Menschen macht den Umgang
miteinander einfacher, da weniger Berührungsängste existieren. Das sehr personenbezogene
Arbeiten führt zu einer hohen Zufriedenheit mit der eigenen Arbeitsleistung und dem Gefühl, eine
sinnvolle Arbeit zu leisten (vgl. Richard, 1996, S. 222).
5.5 Biographiearbeit
Das Biographiewissen ist ein essentieller Bestandteil in allen vorgestellten Betreuungskonzepten für
demente Menschen. Biographiewissen wird durch Biographiearbeit (synonym: Erinnerungsarbeit,
Erinnerungspflege, Reminiszieren) erarbeitet bzw. erhalten und kann in die Pflege und Betreuung
dementer Menschen integriert werden. Sowohl die Betreuten als auch die Betreuer können vom
Einsatz der Biographiearbeit profitieren.
Für demente Menschen stellt die Erinnerung an ihre Vergangenheit eine wichtige Ressource dar, weil
das Kurzzeitgedächtnis eingeschränkt ist, das Langzeitgedächtnis, in dem sehr gut memorierte und
meist lange zurück liegende Informationen gespeichert sind, jedoch häufig noch lange während des
Krankheitsfortschritts relativ intakt bleibt (vgl. Kitwood, 2000, S. 88). Typisch für die
Demenzerkrankung ist zudem eine eingeschränkte Kommunikationsfähigkeit und das Leben "in einer
traumähnlichen Welt der Erinnerungen" (Wojnar, 2001a, S. 40). Dies bedingt, dass demente
Menschen mit Hilfe von Erlebnissen der Vergangenheit in der Jetztzeit kommunizieren. "Es scheint,
als böten Erinnerungen den Menschen oft metaphorische Ressourcen, über ihre aktuelle Lage in einer
für sie handhabbaren Weise zu sprechen." (Kitwood, 2000, S. 88). Verfügen Betreuungspersonen
über kein Biographiewissen, können sie Verhaltensweisen und Äußerungen, die mit der
Lebensgeschichte einer dementen Person in Zusammenhang stehen, nicht richtig deuten, und die
Kommunikationsversuche des Demenzerkrankten werden fehlinterpretiert. Die Folge davon ist, dass
der Betreute sich unverstanden fühlt und seine Bedürfnisse oft unbefriedigt bleiben. Er stellt seine
Kommunikationsversuche schließlich ein, und die Erinnerung an sein vergangenes Leben, aus der er
sein Selbstwissen und seine Identität bezieht, verblasst zunehmend (vgl. Trilling, 2001, S. 40).
Biographiearbeit zielt darauf ab, das Identitätsgefühl des dementen Menschen zu erhalten. Durch
geteilte Erinnerungen kann ein Gemeinschaftsgefühl und eine Atmosphäre des Vertrauens entstehen.
Außerdem werden die Kommunikation und die soziale Kontaktaufnahme gefördert und die
Rückbesinnung auf Erfolge und Leistungen im vergangenen Leben kann die Selbstachtung stärken
(vgl. Trilling, 2001, S. 42f.).
In der stationären Betreuung spielt die Biographiearbeit eine besonders wichtige Rolle, da durch den
Einzug in eine Institution die Zahl wichtiger Repräsentanzen des vergangenen Lebens, die zum Erhalt
der Identität beitragen, stark reduziert wird. Es besteht die Gefahr, dass der demente Heimbewohner
mit seinen Erinnerungen alleine bleibt und sein Identitätsgefühl abnimmt (vgl. Blimlinger, 1996, S. 3).
Biographiearbeit hat zudem eine positive Auswirkung auf die Betreuungspersonen. Mit Hilfe von
Biographiewissen finden betreuende Personen leichter Zugang zu einer dementen Person, deren
verbales Ausdrucksvermögen eingeschränkt ist. Da auf diese Weise ein Kennen- und Schätzenlernen
erleichtert wird, kann sich schneller eine persönliche Beziehung zwischen Betreuer und Betreuten
entwickeln. Auch die Kommunikation mit dementen Menschen, die im Pflegealltag oft nur aus
Standardfragen und Standardantworten besteht, profitiert von der Biographiearbeit. Gesprächsthemen
können sich auf die individuelle Vergangenheit einer Person beziehen und den betreuenden Personen
fällt es leichter, Verhaltensweisen und Äußerungen dieser Person zu interpretieren, auf Bedürfnisse
einzugehen und Beschäftigungsangebote zu machen, die den Interessen des Demenzerkrankten
entsprechen. Insgesamt betrachtet, reduziert Biographiewissen in der Betreuung dementer Menschen
die Frustration der Betreuungspersonen und steigert ihre Arbeitszufriedenheit (vgl. Trilling, 2001, S.
40-42; Gereben, 1998, S. 17-26).
Formen der Biographiearbeit
Gereben unterscheidet zwei Formen der Biographiearbeit: die gesprächsorientierte Biographiearbeit
und die aktivitätsorientierte Biographiearbeit (vgl. Gereben, 1998, Kap. 4).
Zur gesprächsorientierten Biographiearbeit zählen Einzel- und Gruppengespräche, die zu
vorgegebenen Themen angeboten werden. Solche Themen sind z.B.: Familienleben, Schulzeit,
Kinderspiele, Feste und Feiertage.
Die aktivitätsorientierte Biographiearbeit zeichnet sich durch die Integration der Biographiearbeit in
eine Tätigkeit aus. Dies kann beispielsweise ein Museumsbesuch, aber auch das Anfertigen einer
Collage, das Singen von Liedern oder das Ausführen von Alltagshandlungen (z.B. Tisch decken) sein.
Bei beiden Formen gilt, dass sich das Miteinbeziehen von Angehörigen und eine dementengerechte
Kommunikation sehr positiv auf die Erfolgsmöglichkeiten der Biographiearbeit auswirken. Trilling
schlägt für die dementengerechte Kommunikation vor, nur einen Sachverhalt im Gespräch gleichzeitig
anzusprechen, eine einfache Sprache zu verwenden und vertraute Redewendungen oder
Sprichwörter zu benutzen. Weiterhin gehört das aktive Zuhören dazu, bei dem Aufmerksamkeit auch
durch nonverbale Mittel ausgedrückt wird, im verbalen Bereich Paraphrasen verwendet und
Gesprächspausen zugelassen werden. Beachtet werden muss auch, dass insbesondere Fragen an
demente Menschen nicht auf eine absolute Antwort abzielen sollten (z.B. Fragen, die mit "wann",
"wer", "wo" beginnen), da die Unmöglichkeit, sie zu beantworten, für demente Menschen sehr
belastend sein kann. Eine Frage sollte immer auch den Ausweg einer nicht allzu konkreten Antwort
anbieten. In der Biographiearbeit mit dementen Menschen ist es außerdem hilfreich, die Sinne (z.B.
Geruchs-, Geschmacks-, Tastsinn) durch Trigger (Erinnerungsschlüssel) anzusprechen. Als Trigger
können beispielsweise Gegenstände, Photos, Speisen und Getränke oder Musik eingesetzt werden
(vgl. Trilling, 2001, S. 50-61).
In Bezug auf die stationäre Biographiearbeit gibt es einige zusätzliche Komponenten, die
berücksichtigt werden sollten. Bei der stationären Aufnahme sollte ein "Biographiebogen" erstellt
werden, der zentrale persönliche Daten und wichtige Informationen aus dem Leben des dementen
Menschen enthält. Dazu wird möglichst auf die Hilfe der Angehörigen zurückgegriffen. Trilling
empfiehlt, Lebenserinnerungen in Form eines Lebensbildes, Lebensbuches oder einer Lebenskiste,
also plastisch bzw. mit Hilfe von "Reliquien", die sie als "Erinnerungsobjekte" bezeichnet, darzustellen.
Diese sollen sich nach Möglichkeit gut sichtbar im Zimmer des Heimbewohners befinden, so dass in
der Alltagskommunikation darauf Bezug genommen werden kann und so die Verständigung erleichtert
wird. Zusätzlich soll die Einrichtung der Zimmer möglichst aus vertrautem Mobiliar bestehen, und es
sollen besondere "Erinnerungsecken" o.ä. eingerichtet werden (vgl. Trilling, 2001, S. 118-121).
Ein Betreuungskonzept, welches sich sehr stark auf Biographiewissen stützt, ist die Selbst-ErhaltungsTherapie, die vor allem die Ziele der Biographiearbeit weiter ausformuliert (vgl. Kap. 5.6).
5.6 Selbst-Erhaltungs-Therapie
Die Selbst-Erhaltungs-Therapie (SET) wurde Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts
insbesondere von Barbara Romero, entwickelt. Das übergeordnete Ziel dieses Betreuungskonzepts ist
die Erhaltung des personalen Selbst. Das "Selbst" ist in diesem Zusammenhang als zentrales
kognitives Schema zu sehen, welches Informationen über die eigene Person und die Umgebung
aufnimmt, verarbeitet und aufrechterhält. Es schafft die Voraussetzungen, um "Entwicklungen von
Situationen vorauszusagen, Entscheidungen zu fällen, Einstellungen und Haltungen einzunehmen
und sich zu orientieren" (Romero, 1997, Kap. 1). Es ist abhängig von Selbstwert, Selbstsicherheit und
Selbständigkeit der eigenen Person. Ein stabiles "Selbst" hat positiven Einfluss auf das
Selbstwertgefühl und die Identität und bedingt so auch die Stimmung und die Effizienz des Verhaltens
von Menschen. Erfahrungen, die das "Selbst" verletzen (z.B. Konflikte, Misserfolge, Erlebnisarmut),
lösen somit negative Gefühle (Angst, Scham, Aggression, Depression) aus, welche in störenden
Verhaltensweisen (z.B. Aggressionsausbrüche, starke Unruhe, Tendenz zum Weglaufen) ihren
Ausdruck finden können (vgl. Romero, 1997, Kap. 1).
Ziel der SET ist der Erhalt dieses personalen "Selbst", damit in der Folge die Effizienz des Verhaltens
gefördert und psychischem Leiden entgegengewirkt werden kann. Als Resultat kommt es dann zu
einer Reduktion von störendem Verhalten (vgl. Romero, 1997, Kap. 1).
Im Verlauf einer Demenzerkrankung ist der Erhalt des stabilen "Selbst" stark bedroht: Veränderte
Lebensumstände führen zu Gefühlen des Kontinuitätsverlusts, und erlebnisarme Lebensbedingungen,
Verlust von Welt- und Selbstwissen, ein beeinträchtigter Kohärenzsinn und
Persönlichkeitsveränderungen bedrohen zudem das Identitätsgefühl.
Gelingt es, diesen negativen Einflüssen auf das "Selbst" entgegenzuwirken, so lassen sich auch das
Ausmaß psychischer Leiden und die Ausprägung des störenden Verhaltens verändern. Eine adäquate
Unterstützung des "Selbst" fördert so die Effektivität des alltäglichen Verhaltens, hat einen günstigen
Effekt auf den Verlauf der Krankheit und reduziert auch das Leid der Angehörigen (vgl. Romero, 1997,
Kap. 2).
Mittel zur verlängerten Erhaltung des Selbst sind die Betreuungsform, psychotherapeutische
Interventionen und kognitive Übungsprogramme. Zusätzlich sollten psychotische Symptome
medikamentös behandelt werden. Im Folgenden werden Inhalte und Ziele der Maßnahmen zur
Selbsterhaltung erläutert.
1. Bewahren der Kontinuität
Einfach zusammengefasst, bedeutet dies, "vermeidbare Veränderungen zu vermeiden" (Romero,
1998). Auf das Umfeld bezogen, bedeutet Kontinuität, dass sowohl die räumliche Umgebung und die
"Dingwelt" (z.B. Möbel) als auch die personelle Umgebung (Bezugspersonen) möglichst konstant sein
sollen.
Im sozialen und kulturellen Leben sollen angemessene soziale Umgangsformen herrschen, wobei "es
sich oft nur um eine gute, unterstützende, nicht verletzende Ausdrucksweise" (Romero, 1997) und den
früheren Interessen des Einzelnen entsprechende Beschäftigungsangebote handelt (vgl. Romero,
1997, Kap. 3.1).
2. Bewahren des Identitätsgefühls
Besondere Erlebnisse, wie z.B. die körperliche Erschöpfung nach einer Wanderung, der Besuch beim
Friseur oder ein Geschenk fördern das Identitätsgefühl. Insgesamt betrachtet, sind identitätsfördernde
Erlebnisse solche, "die mit dem Gefühl, 'sich ganz nahe zu sein' verbunden" sind und die der
Erlebnisarmut entgegenwirken (Romero, 1997, Kap. 3.2).
3. Bewahren des Kohärenzsinnes
"Kohärenzsinn" ist ein von A. Antonovsky eingeführter Begriff und beschreibt Eigenschaften, die einen
Menschen befähigen, trotz großer Belastungen psychisch gesund zu bleiben. Er ist bei
Demenzerkrankten durch "kognitive, emotionale und motivationelle Veränderungen primärer und
sekundärer Art sowohl beeinträchtigt, als auch besonders gefordert." (Romero, 1997, Kap. 2.2). Der
Kohärenzsinn besteht aus drei Komponenten: Verstehen, Zuversicht und Sinn.
Das Verstehen
Das Verstehen bezieht sich auf Maßnahmen, die es dem dementen Menschen erleichtern,
Alltagsabläufe zu verstehen, sie vorauszusagen und nachzuvollziehen. Dazu gehört z.B. die
Strukturierung der Umwelt und des Tagesablaufes. Dies ist besonders bei beginnender Demenz sehr
wichtig, da hier Beeinträchtigungen bewusst erlebt werden und beunruhigend wirken. Zum Verstehen
gehört auch die Aufklärung des dementen Menschen über die Diagnose "Demenz", damit die
Veränderungen, die ihm widerfahren, als Krankheit und nicht als persönliches Versagen eingeordnet
werden können. Dies schützt die Betroffenen vor Schuldgefühlen und Überforderung.
Kommunikationstechniken bilden einen weiteren Teil des Verstehens. Diese sind an die
Validationsmethode nach Feil angelehnt, verzichten aber auf die zur Validation gehörende Bewertung.
"Psychodynamische Interpretationen der Konflikte und die so begründeten Interventionen, die das
Validationskonzept miteinschließt, halten wir allerdings für Alzheimer-Kranke für ungeeignet."
(Romero, 1997, Kap. 3.3.1).
Die Zuversicht
Ziel ist es hier, dem Erkrankten zu vermitteln, dass er trotz Demenz mit den Lebensanforderungen
zurechtkommen kann. Dies hängt zu einem großen Teil von der psychosozialen Unterstützung der
Betreuungspersonen ab. Die Betreuenden sollen aus diesem Grund auf dementengerechte
Umgangsformen vorbereitet werden, damit in der Betreuung des dementen Menschen
Überforderungs- und Unterforderungssituationen vermieden werden können und der Betroffene ein
Gefühl der Zuversicht und der Sicherheit erfahren kann (vgl. Romero, 1997, Kap. 3.3.2).
Der Sinn
Ein weiteres Grundelement des Kohärenzsinns ist der Erhalt des Sinngefühls, in Bezug auf das Leben
mit einer Demenzerkrankung. In der SET wird deshalb betont, dass der "weise Umgang" mit der
Krankheit, die Weiterführung eines "normalen Lebens" und die Hervorhebung von Lebenszielen, die
trotz Krankheit unverändert bleiben (z.B. das Familienleben), entscheidend sind (vgl. Romero, 1997,
Kap. 3.3.3).
4. Bewahren des Selbst-nahen Wissens
Der SET liegt die Annahme zugrunde, dass das Üben von biographischem, selbstbezogenem Wissen
zum Erhalt und zur Reaktivierung dieses Wissens beiträgt. Die erste Phase in der praktischen
Umsetzung bildet die "Selbstdiagnose". In Form von regelmäßig stattfindenden Therapiesitzungen
wird der Demenzerkrankte zum freien Erzählen motiviert. Geschichten und Themen, die über einen
längeren Zeitraum wiederholt erzählt werden, bezeichnet Romero als "Erinnerungsfiguren". Sie
werden mit Hilfe von Videoaufzeichnungen festgehalten. In der zweiten Phase, dem "Aufbau eines
externen Gedächtnisses", werden die Videoaufzeichnungen durch halbstrukturierte Erzählungen zu
ausgewählten Themen (z.B. "Elternhaus", "Beruf") erweitert. Neben den Videoaufzeichnungen kann
das "externe Gedächtnis" durch andere Dinge, wie alte Photos, Lieder oder Gedichte ergänzt werden.
In den Therapiesitzungen der Folgezeit (Phase "Erhalten des Selbst-nahen Wissens") wird die
demente Person erneut zum "freien Erzählen" angeregt. Das "externe Gedächtnis" kann in dieser
letzten Phase zur Stimulation oder als Gedächtnisstütze eingesetzt werden. Neben dem Erhalt des
Selbst-nahen Wissens hat das Erinnern noch weitere positive Auswirkungen auf den
Demenzerkrankten. Es kann z.B. ein gesteigertes Wohlbefinden und Selbstwertgefühl erreicht werden
(vgl. Romero, 1997, Kap. 3.4).
Durchgeführt wurde die SET bisher in der ambulanten, teilstationären und stationären Betreuung von
dementen Menschen.
Der ambulante Einsatz der SET wurde bislang primär in der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und
Psychotherapie in München erprobt. Die regelmäßig stattfindenden Therapiesitzungen (einmal
wöchentlich) sollten dabei die Dauer von jeweils 1,5 Stunden nicht überschreiten, sich insgesamt
jedoch über einen sehr langen Zeitraum erstrecken (mehrere Jahre). Die Vorgehensweise der
ambulanten psychologischen Behandlung nach dem Konzept der SET kann verschiedene
Komponenten beinhalten, wie z.B. den Durchlauf der Therapiephasen "Selbst-Diagnose", "Aufbau
eines externen Gedächtnisses" und "Erhalten des Selbst-nahen Wissens", das Herausfinden von
individuell geeigneten Beschäftigungsaufgaben im Alltag und in der Freizeit oder die Förderung des
Krankheitsverständnisses. Der Erfolg der ambulanten Therapie ist besonders von der Unterstützung
durch Familienangehörige und Betreuungspersonen abhängig. Aus diesem Grund sind
Beratungsgespräche mit dieser Personengruppe unerlässlich (vgl. Romero, 1997, Kap. 4.2).
In der teilstationären Betreuung dementer Menschen, wurde das Konzept der SET z.B. in der
Tagesstätte "Münchner Altenwohnstift e.V." eingeführt. Romero betont, dass die Einführung der SET
unter psychologischer Supervision der Mitarbeiter stattfinden soll. Im teilstationären Bereich kommen
verschiedene Selbst-erhaltende Maßnahmen zum Einsatz. Dies sind z.B. biographieorientierte
Gespräche mit den dementen Menschen und ihren Angehörigen, Raumgestaltung (z.B. Photo-Ecke,
vertraute Gegenstände von zu Hause) oder Beschäftigungsangebote, die den individuellen Interessen
des Einzelnen entsprechen und nicht so wirken, als wären sie "Programmen für Kinder- bzw.
Jugendgruppen entnommen" (Romero, 1997, Kap. 4.1).
Stationär wird die SET in dem 1999 gegründeten Alzheimer Therapiezentrum der Neurologischen
Klinik Bad Aibling unter der Leitung von B. Romero praktiziert. Das stationäre Behandlungsprogramm
erstreckt sich über vier Wochen und sieht die Aufnahme des Demenzerkrankten und der ihn
betreuenden Person vor. Im Mittelpunkt der Behandlung stehen die Diagnoseüberprüfung, die
medikamentöse Therapie und die SET. Hier werden täglich, innerhalb eines Zeitrahmens von fünf
Stunden, Einzel- und Gruppentherapien angeboten (u.a. Therapie zur Erhaltung von biographischem
Wissen, Kunsttherapie, Sport, Alltags- und Freizeitaktivitäten). Ergänzt werden diese Angebote durch
Beratungsgespräche, die z.B. Themen wie die individuelle Planung der Alltagsbeschäftigungen und
der Lebensgestaltung zu Hause oder die Möglichkeiten von externen Hilfen (z.B. ambulante Pflege,
Tagespflegeeinrichtungen, Selbsthilfegruppen) aufgreifen (vgl. Jahresbericht 1999).
Die praktische Umsetzung der SET befindet sich noch in der Probephase, die Weiterentwicklung des
Konzepts wird jedoch angestrebt. Um die Anwendung in Institutionen (stationäre und teilstationäre)
und in der familiären Betreuung auszudehnen, sollen zukünftig die Schulungs- und
Beratungsangebote für die Vermittlung der Betreuungsprinzipien der SET verbessert werden.
Außerdem ist der Einsatz von Multimedia-PCs als Träger des "externen Gedächtnisses" geplant, um
den Zeitaufwand der Erstellung zu reduzieren. Gleichzeitig soll die Bedienung des
Computerprogramms so unkompliziert sein, dass die regelmäßige Anwendung des SET-Programms
für den dementen Menschen auch zu Hause möglich wird (vgl. Romero, 1997, Kap. 5).
5.7 Personenzentrierter Ansatz
5.7.1 Theoretischer Hintergrund
Der personenzentrierte Ansatz wurde von Tom Kitwood, einem englischen Sozialpsychologen, in den
Jahren 1987 bis 1995 entwickelt. Da sich dieses Konzept auf ein etwas anderes theoretisches Modell
stützt als die vorgenanntenKonzepte, sollen zuerst die zentralen Aussagen Kitwoods vorgestellt
werden. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht ganz eindeutig der demente Mensch als Person. Im
Gegensatz zu vielen anderenKonzepten ist Kitwoods Auffassung einer optimalen Betreuung weniger
vom Versuch beherrscht, in irgendeiner Weise auf den Betreuten einzuwirken. Optimale Betreuung in
seinem Sinne zeigt eher die Tendenz, das komplette "Rundherum", insbesondere die
Pflegebeziehung, so auf den Betreuten auszurichten, dass dieser möglichst wenig durch sein
"Betreutwerden" beeinträchtigt und das Wohlbefinden der Betreuten und der Betreuenden gesteigert
wird.
Das Konzept baut auf drei Hauptaussagen auf, die im Folgenden erläutert werden.
1) Depersonalisierung als Abwehrmechanismus
Hauptthema im personenzentrierten Ansatz Kitwoods ist das "Personsein": "Es ist ein Stand oder
Status, der dem einzelnen Menschen im Kontext von Beziehung und sozialem Sein von anderen
verliehen wird. Er impliziert Anerkennung, Respekt und Vertrauen." (Kitwood, 2000, S. 27). Nach
Kitwood hat sich heute infolge des Einflusses der Individualisierung das Personsein auf zwei Kriterien
reduziert: Autonomie und Rationalität. Menschen, die diese Kriterien nicht erfüllen, werden aus dem
Kreis der "Personen" ausgeschlossen. Das betrifft insbesondere Menschen mit seelischen oder
schweren körperlichen Behinderungen, zu denen in besonderem Maße gerade Demenzerkrankte
gehören. Noch dazu sind demente Menschen alte Menschen, die von vornherein als gesellschaftliche
Last gelten, abgewertet werden und Diskriminierungen ausgesetzt sind. Dies führt dazu, dass sie sehr
rigoros aus dem Kreis der "Personen" ausgeschlossen werden, ein Vorgang, den Kitwood als
Depersonalisierung bezeichnet (vgl. Kitwood, 2000, S. 25-34).
In diesem Zusammenhang spielt die Tatsache, dass "Demenz" ein Angstthema ist, welches
unzureichend geschulte Betreuer zu inadäquaten Verhaltensweisen veranlassen kann, eine große
Rolle. Zweierlei Ängste können vom Thema Demenz ausgelöst werden:
Erstens die Angst vor Gebrechlichkeit und damit verbundener Abhängigkeit, vor einem langen
Sterbeprozess und allgemein vor dem Tod.
Zweitens die Angst vor geistiger Instabilität, vor dem Wahnsinnigwerden (vgl. Kitwood, 2000, S. 34).
Diese Ängste fördern in Verbindung mit dem Wissen, dass jeder an Demenz erkranken kann und dass
die Zahl der Neuerkrankungen zunimmt, spezifische Abwehrreaktionen, die einer dementengerechten
Betreuung abträglich sind. Diese Abwehrreaktion (Depersonalisierung) bedeutet, dass die Betroffenen
nicht mehr als "Personen" gesehen und damit aus der Wahrnehmung ausgeblendet werden. Sie
erscheinen dann nicht mehr als dem eigenen Personenkreis zugehörig, was die Bedrohung durch die
Krankheit Demenz subjektiv reduziert.
Kitwood nennt solche entpersonalisierenden Tendenzen im Pflegealltag "maligne, bösartige
Sozialpsychologie". Aufgrund von dokumentierten Vorkommnissen im Pflegealltag ordnet er solche
Verhaltensweisen in 17 verschiedene Kategorien ein, zu denen beispielsweise zählt:
· das Einschüchtern: "durch Drohungen oder körperliche Gewalt bei jemanden Furcht hervorrufen."
(Kitwood, 2000, S. 75).
· das Entwerten: "die subjektive Realität des Erlebens und vor allem die Gefühle einer Person nicht
anerkennen." (Kitwood, 2000, S. 76).
· das Ignorieren: "in jemandes Anwesenheit einfach in einer Unterhaltung oder Handlung fortfahren,
als sei der bzw. die Betreffende nicht vorhanden." (Kitwood, 2000, S. 76).
Mit der Depersonalisierung geht meistens eine Vernachlässigung einher: "Belege aus vielen Studien
zeigen, dass Menschen mit Demenz in Heimpflege typischerweise sehr lange Zeiten ohne
menschlichen Kontakt zubringen." (Kitwood, 2000, S.79). Eine Studie von Tessa Perrin (1997) belegt
beispielsweise, dass demente Menschen in stationären Einrichtungen etwa 50% des Tages ohne
direkten menschlichen Kontakt zubringen und Interaktionen überwiegend sehr kurz und oberflächlich
sind (vgl. Perrin, 1997, S. 937f.).
2) Standardparadigma
Unter Standardparadigma versteht Kitwood "das gesamte Rahmenwerk, in das Forschungsergebnisse
gewöhnlich eingeordnet werden" (Kitwood, 2000, S. 63) und das von der Psychiatrie und anderen
wissenschaftlichen Disziplinen in Bezug auf Neuropathologie, Biochemie und Genetik der Demenz
geschaffen wurde.
Kitwood kritisiert vor allem, dass im allgemeinen nur neurologische, nicht aber auch
sozialpsychologische Veränderungen beleuchtet werden. So beinhaltet die Stadieneinteilung für den
Schweregrad von Demenz zwangsläufig eine Verschlechterung aufgrund neuropathologischer
Befunde, obwohl nicht unbedingt ein Zusammenhang zwischen Symptomen einer Demenz und
neuropathologischen Veränderungen bestehen muss. "Es können beträchtliche neuropathologische
Zustände ohne Demenz vorliegen, und es kann eine Demenz ohne signifikante Neuropathologie
bestehen." (Kitwood, 2000, S.61). Vor allem beanstandet Kitwood, dass dabei die Einzigartigkeit der
Person, nämlich wie sich Demenz individuell äußert, verschleiert wird. Er geht sogar noch einen
Schritt weiter, indem er die Möglichkeiten, Demenz zu diagnostizieren, prinzipiell in Frage stellt. Seiner
Ansicht nach kann mit den bestehenden Diagnosemethoden gar keine klare Diagnose gestellt
werden. Zur Diagnostik eingesetzte Tests, wie z.B. der MMSE, geben lediglich Auskunft über die
kognitive Leistungsfähigkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt (vgl. Kitwood, 2000, S. 42-52).
Problematische Merkmale des Standardparadigmas entstehen aus der technischen
Herangehensweise, bei der nicht die Person mit Demenz im Mittelpunkt steht, sondern das
Krankheitsbild. Gefördert wird hierdurch eine negative, deterministische Sichtweise, nach der eine
Verbesserung nur durch einen medizinischen Durchbruch erzielt werden kann und der Beitrag des
Pflegeprozesses und die Qualität der Betreuung zweitrangig wird. Eine ähnliche Problematik erwächst
nach Kitwood aus den geltenden Vorstellungen über die organische Grundlage von Demenz. Die
Theorie der Verursachung (genetische Grundursache) ist seiner Meinung nach unsolide: "In gewissem
Sinne ‚verursachen' Gene nichts; sie sind einfach nur ein Hintergrund, vor dem andere Ursachen
operieren." (Kitwood, 2000, S. 62).
Kitwood geht davon aus, dass alle Ereignisse im Erleben einer Person ihr Gegenstück in der
Hirnaktivität haben und dass der Prozess der Demenz daher ein dialektisches Wechselspiel zwischen
Faktoren der Neuropathologie und solchen der Sozialpsychologie ist. Während die neurologische
Beeinträchtigung und die "maligne, bösartige Sozialpsychologie" das Personsein untergraben, kann
seiner Meinung nach gute Pflege eine bessere Nervenfunktion fördern und eventuell sogar eine
Nervenregeneration ermöglichen (vgl. Kitwood, 2000, S. 79-84). Medizinische Forschungsergebnisse
belegen Kitwoods These, dass die Pflegepraxis, beziehungsweise das psychosoziale Umfeld, das
neuronale Wachstum beeinflussen kann. Zu diesen Ergebnissen kommen u.a. Forschungsgruppen
aus Schweden, wie Karlsson et al. (1988) oder Brane et al. (1989) (vgl. Kitwood, 2000, S. 96).
3) Organisationsstil
Neben dem "Standardparadigma" trägt auch die Struktur der "für- und versorgenden Organisationen"
dazu bei, die depersonalisierenden Tendenzen in der Demenzpflege zu untermauern. Kitwood geht
davon aus, dass die Situation der Mitarbeiter einer Pflegeeinrichtung einen großen Einfluss auf die
Situation der Betreuten hat. "Werden Angestellte alleingelassen und mißbraucht, so werden es die
Klienten vielleicht auch." (Kitwood, 2000, S. 151).
Die Arbeitssituation wird stark von der Struktur und dem Stil der versorgenden Organisation geprägt.
Weist die Organisation ein hohes Machtgefälle zwischen den unterschiedlichen Mitarbeitergruppen
(Manager, leitende Pflegekräfte, Pflegepersonal) auf, so wirkt sich diese stark hierarchische Struktur
auf die zu Betreuenden, die den niedrigsten Status innehaben, aus. "Diese Unterteilungen erzeugen
eine Schranke zwischen dem Personal und den Klienten, welche leicht zu Fremden oder Unpersonen
gemacht werden." (Kitwood, 2000, S. 153). Eine solche Organisationsstruktur behindert eine
befriedigende Kommunikation sowohl unter den Mitarbeitern als auch zwischen dem Pflegepersonal
und den dementen Personen. Die Kommunikation kann lediglich auf einem unpersönlichen,
emotionslosen Weg ablaufen und demenztypisches Problemverhalten wird nicht als
Kommunikationsversuch oder Ausdruck unbefriedigter Bedürfnisse gesehen, sondern rein technisch,
in Form der medikamentösen Therapie, behandelt (vgl. Kitwood, 2000, S. 152-155).
Ein weiterer Faktor, der die Arbeitssituation von Betreuungspersonen in der Demenzpflege
beeinflusst, bildet die Unterstützung der Mitarbeiter durch organisatorische Maßnahmen. Dazu
gehören nach Kitwood u.a. eine angemessene Bezahlung, eine gute Einarbeitung, das Angebot von
Supervision und Fortbildungen, die Förderung der Teamarbeit, die Möglichkeit der beruflichen
Beförderung und eine effiziente Qualitätssicherung in der Pflegeplanung, d.h. Pflegekräfte sollen an
der Pflegeplanung und -weiterentwicklung mitwirken (vgl. Kitwood, 2000, S. 159-163).
Das Fehlen von Unterstützungsmaßnahmen dieser Art hat negative Auswirkungen auf das
Wohlbefinden der betreuenden Personen. Die Arbeit wird als belastender wahrgenommen, und die
Arbeitszufriedenheit ist insgesamt gering. In diesem Zusammenhang steigt die Gefahr des Burn-out.
"In der Praxistradition, die wir geerbt haben, in der das Personal bei seiner Arbeit sehr wenig
Unterstützung und Hilfe bekam, war die Mehrzahl derer, die dies überlebt haben, möglicherweise in
einen chronischen Zustand des Burn-out auf niedrigem Level gelangt." (Kitwood, 2000, S. 158). Diese
Problematik hat zur Folge, dass die unbefriedigende Situation der Mitarbeiter Auswirkungen auf das
Wohlbefinden der dementen Personen hat. Aus Gründen des Selbstschutzes vor
Arbeitsüberforderung wird die Betreuung Demenzerkrankter auf ein Minimum reduziert, d.h. die
Versorgung beschränkt sich im Wesentlichen auf die Körperpflege und die Befriedigung von
Grundbedürfnissen, wie z.B. Ernährung und Kleidung (vgl. Kitwood, 2000, S. 156-159). Vor diesem
Hintergrund können leicht depersonalisierende Tendenzen in den Pflegealltag integriert und durch die
"kollektive Anwendung" des Pflegepersonals besonders verfestigt werden.
Aus den genannten Aspekten resultiert eine Pflegepraxis, die Kitwood als "alte Pflegekultur", "eine
Kultur des Sich-Abwendens und der Entfremdung" (Kitwood, 2000, S. 196) bezeichnet. Dieser Begriff
steht für eine inadäquate Betreuung dementer Menschen, die das Personsein ignoriert und das
Wohlbefinden sowohl der Betreuten als auch der Betreuenden negativ beeinflusst.
5.7.2 Personenzentrierte Pflege
Kitwood stellt die Hypothese auf, dass eine personenzentrierte Pflege den Prozess einer
Demenzerkrankung positiv beeinflussen kann. "In einem optimalen Kontext von Pflege und Fürsorge
wird jedes Fortschreiten der neurologischen Beeinträchtigung ... , das bei einer nichtunterstützenden
Sozialpsychologie potentiell extrem schädigend sein kann, durch positive Arbeit an der Person ...
kompensiert." (Kitwood, 2000, S. 103). Der Erhalt des Personseins stellt für ihn das oberste Ziel einer
qualitativ hochwertigen Demenzpflege dar.
Eine Grundvoraussetzung dafür ist die Befriedigung von Bedürfnissen dementer Menschen, da "ein
Mensch ohne dessen Befriedigung nicht einmal minimal als Person funktionieren kann." (Kitwood,
2000, S. 121). Unter die demenzspezifischen Bedürfnisse fasst er eine Gruppe von Bedürfnissen, die
sich nicht klar voneinander trennen lassen, sondern kooperativ funktionieren. Das Bedürfnis nach
Liebe stellt dabei ein allumfassendes Bedürfnis dar, welches von dementen Menschen deutlich zum
Ausdruck gebracht wird. Demenzerkrankte zeigen "oft ein unverhülltes und beinahe kindliches
Verlangen nach Liebe." (Kitwood, 2000, S. 121). Ein zweites Bedürfnis ist das Bedürfnis nach Trost,
das infolge von starken Verlusten, z.B. der Verlust von Fähigkeiten oder des bisherigen Lebensstils,
bei dementen Menschen besonders stark ausgeprägt ist. Die Demenzerkrankung löst außerdem
Gefühle der Angst und der Unsicherheit bei der betroffenen Person aus. Um ein Sicherheitsgefühl zu
erhalten, ist das Bedürfnis nach einer primären Bindung bedeutend. Als viertes Bedürfnis nennt
Kitwood das Bedürfnis nach Einbeziehung. Darunter versteht er das Bestreben der dementen Person,
sich als Teil einer Gruppe zu fühlen, das sich z.B. in "aufmerksamkeitheischendem Verhalten", wie
Unruhe oder Schreien, äußert. Ein weiteres Bedürfnis ist das nach Beschäftigung, d.h. danach, etwas
Sinnvolles zu tun, "eine Art von Projekt zu haben." (Kitwood, 2000, S. 124). Ausdruck findet dieses
Bedürfnis beispielsweise in Form von Hilfsbereitschaft oder Aktivität der dementen Menschen. Das
sechste Bedürfnis dementer Menschen ist das nach Identität. Durch die Krankheit Demenz wird das
Identitätsgefühl stark bedroht, so dass der Wunsch nach identitätserhaltenden Maßnahmen
besonders ausgeprägt ist. Die Befriedigung der genannten Bedürfnisse ermöglicht es dem dementen
Menschen, sich als Person wahrzunehmen und positive Gefühle (sich wertvoll und geschätzt zu
fühlen) zu erleben (vgl. Kitwood, 2000, S. 121-125).
Laut Kitwood hängt die Pflegequalität in der Demenzbetreuung primär von der Qualität der
Pflegebeziehung und der Interaktionsfähigkeit des Pflegepersonals ab. Positive Interaktion ist in
seinen Augen "die wahrhaft heilende Komponente der Pflege." (Kitwood, 2000, S. 195). Kitwood führt
unterschiedliche Arten der positiven Interaktion auf, die im Folgenden dargestellt werden (vgl.
Kitwood, 2000, S. 133-137):
· Anerkennen: Der demente Mensch wird als Person anerkannt, dies kann verbal (z.B. jemanden
grüßen) oder nonverbal (z.B. durch Blickkontakt) zum Ausdruck gebracht werden.
· Verhandeln: Der demente Mensch wird direkt nach seinen Wünschen und Bedürfnissen gefragt und
diese werden im Betreuungsalltag berücksichtigt.
· Zusammenarbeiten: Der demente Mensch erhält die Möglichkeit, sich aktiv an der Pflege und
Alltagsbeschäftigungen zu beteiligen (z.B. Haushaltsarbeiten, Körperpflege).
· Spielen: Der demente Mensch hat die Möglichkeit, an nicht zielgerichteten Aktivitäten teilzunehmen,
die die Spontaneität und den Selbstausdruck fördern.
· Timalation: Interaktionen mit Hilfe von Aktivitäten, welche die Sinne ansprechen (z.B. Massage,
Aromatherapie).
· Feiern: Interaktion, bei der in geselliger Stimmung ein Gefühl der Nähe und Gleichheit zwischen
Betreuten und Betreuern aufkommt.
· Entspannen: Demente Menschen können oft nur in Gesellschaft oder bei Körperkontakt entspannen.
Drei weitere Interaktionsformen sind psychotherapeutisch ausgerichtet. Dazu zählen:
· Validation: Die subjektive Realität und die Gefühle einer Person werden anerkannt und die
Kommunikation findet auf der Gefühlsebene statt.
· Halten: Das Schaffen einer Atmosphäre, die einer Person den Halt und die Sicherheit bietet, auch
negative Emotionen auszudrücken.
· Erleichtern: Handlungen einer dementen Person unterstützen, aber nur soweit, wie es notwendig ist.
Die folgenden Interaktionsarten sind Beispiele für Interaktionen, die von dem dementen Menschen
ausgehen:
· Schöpferisch sein: Die demente Person bietet spontan eine Interaktion an (z.B. singen, tanzen).
· Geben: Die demente Person bringt ihre persönliche Beziehung zu einer Betreuungskraft zum
Ausdruck (z.B. Zuneigung, Dankbarkeit).
Die Umsetzung der oben genannten positiven Interaktionsarten hängt überwiegend von den äußeren
Arbeitsbedingungen der versorgenden Organisation, welche das Wohlbefinden der Pflegekraft
beeinflussen (siehe oben) und von der Person selbst ab. Kitwood ist der Auffassung, dass nicht jeder
für die Betreuung dementer Menschen geeignet ist. Das wichtigste Kriterium stellt für ihn die
grundlegende Einstellung und Haltung einer Person dar.
Des weiteren spielt die Interaktionsfähigkeit einer Pflegeperson eine entscheidende Rolle. Diese ist
stark von der Fähigkeit der Person geprägt, dem Betreuten "freie Aufmerksamkeit" zu schenken, d.h.
"für eine andere Person ohne Ablenkung von außen und Störung von innen präsent zu sein und den
anderen mit weitaus weniger Verzerrung, Projektionen und von Vorurteilen getragenen Reaktionen,
wie sie echte Begegnungen oft hemmen, wahrzunehmen." (Kitwood, 2000, S. 172). Dies kann erst
dann gelingen, wenn eine Auseinandersetzung mit den eigenen emotionalen Belastungen und dem
eigenen Lebenskonzept, worunter er die Entwicklung von Verhaltensmustern seit der Kindheit fasst,
stattgefunden hat. Außerdem muss sich die Betreuungsperson selbst wohlfühlen, offen und flexibel
sein und nicht als "kontrollierend-kritisches Elternteil" gegenüber dem dementen Menschen agieren
(Kitwood, 2000, S. 174). Die Fähigkeit zur Empathie gehört ebenfalls zu den Voraussetzungen einer
positiven Interaktion. Empathie bedeutet für Kitwood nicht die Fähigkeit, das zu fühlen, was eine
andere Person fühlt, sondern ein Verständnis für das Erleben und Leben eines dementen Menschen
zu haben. Das Bewusstsein von eigenen demenzartigen Erfahrungen, wie z.B. das Gefühl des
Verlassenseins oder der Machtlosigkeit, erleichtern es der Pflegekraft, die Gefühle einer dementen
Person zu verstehen.
Der von Kitwood entwickelte Ansatz der personenzentrierten Pflege stellt die Einzigartigkeit der
Person in den Mittelpunkt, und der Erhalt und die Stärkung des Personseins ist sein oberstes Ziel in
der Betreuung dementer Menschen. Die aus diesem Konzept resultierende Grundhaltung gegenüber
Demenz und dementen Menschen und die "positive Arbeit an der Person" bilden die Basis für den
Wandel der "alten" in eine "neue" Pflegekultur (vgl. Kap. 6.1).
Ein weiterer elementarer Bestandteil des personenzentrierten Ansatzes ist das von Kitwood
entwickelte Dementia Care Mapping-Verfahren.
5.7.3 Dementia Care Mapping
Das Verfahren des "Dementia Care Mapping" (DCM) wurde von Tom Kitwood und einer Arbeitsgruppe
zur Qualitätssicherung in der Demenzpflege an der Universität Bradford entwickelt. Es bestimmt
anhand standardisierter Parameter das relative Wohlbefinden, bzw. das Unwohlsein
Demenzerkrankter, da sich diese Personen darüber selbst nicht gut äußern können. DCM dient
"diesem Personenkreis sozusagen als Sprachrohr" (Strunk-Richter, 2001). Dabei soll der
Pflegeprozess möglichst detailliert erfasst und eine "landkartenähnliche Darstellung des Verhaltens
von Menschen mit Demenz" (Strunk-Richter, 2001) erstellt werden. Die gesammelten Daten geben
dann Auskunft über Wohlbefinden und Zufriedenheit der dementen Menschen. Anwendung findet
dieses Verfahren in stationären und teilstationären Einrichtungen der Altenhilfe. Als
Evaluierungsinstrument der Pflegepraxis dient es einerseits dazu, den Ist-Zustand festzustellen, es
eignet sich bei wiederholtem Einsatz andererseits aber auch sehr gut dazu, Änderungen zu
dokumentieren und zu evaluieren (vgl. Strunk-Richter, 2001).
Ziel des DCM ist die Steigerung des Wohlbefindens dementer Menschen durch die Verbesserung der
Pflegequalität, da die Messung durch ihre Möglichkeit, den Pflegeprozess gezielt und kontinuierlich zu
beobachten, Anhaltspunkte gibt, wie die Pflege verbessert werden kann. Dahinter steht die
Grundhypothese, dass Pflegequalität über das Wohlbefinden der Betreuten indirekt gemessen werden
kann. "Wenn es dem Menschen mit Demenz relativ gut geht, dann ist dies ein wesentliches Kriterium
für eine gute Pflegequalität." (Müller-Hergl, 2001b)
Personen, die DCM durchführen, werden "Mapper" (Abbildner) genannt. Sie beobachten eine
demente Person, bzw. Personen und den Pflegeablauf in einer Einrichtung der Altenhilfe kontinuierlich
für mindestens sechs Stunden. Als Mapper kommen Personen mit unterschiedlicher Ausbildung, z.B.
Pflegekräfte (jedoch nicht von der Einrichtung, die "gemappt" wird), in Frage. Sie sollten die formale
Qualifikation zum Mapper durch Ausbildung bzw. Schulung erlangt haben, als noch wichtiger wird
aber "Kommunikationsfähigkeit, Gruppengespür, Bereitschaft, sich auseinanderzusetzen" erachtet,
denn "wenn die Mapper sich nicht um die Pflegenden kümmern, dann kümmern sich die Pflegenden
auch nicht um die Daten des Mappers." (Müller-Hergl, 2001b).
Praktische Anwendung
Alle fünf Minuten wird das Verhalten der beobachteten Personen (jede Person separat) vom Mapper
nach einem bestimmten System kodiert. Dieses Kodierungssystem umfasst 24 Kategorien, die
Wohlbefinden oder Unwohlsein spiegeln, wie beispielsweise
· C (cool): Sozial unbeteiligt, in sich gekehrt
· E (expression): Kreativ beschäftigt, Selbstausdruck
· L (labour): Mitarbeiten
· U (unresponded to): Kommunikationsversuch ohne Antwort
Jeder Verhaltenskategorie wird ein Wert (+5, +3, +1, -1, -3, -5) zugeordnet, wobei der Wert +5 ein
hohes Wohlbefinden und der Wert -5 ein hohes Unwohlsein ausdrückt
Ergänzt wird die Datensammlung durch Beobachtungen von "Personal Detractions", d.h.
Verhaltensweisen von Betreuungspersonen, die das Personsein eines dementen Menschen
untergraben und sich negativ auf dessen Wohlbefinden auswirken. Diese entsprechen den 17
depersonalisierenden Tendenzen, die in Kapitel 5.7.1 näher erläutert wurden. Sie werden vom
Mapper bewertet (mild, mäßig, schwer, sehr schwer) und notiert. Daneben werden auch besonders
positive Ereignisse (z.B. Interaktionen, die das Wohlbefinden sichtbar steigern) schriftlich festgehalten
(vgl. Strunk-Richter, 2001).
Aus den so gesammelten Daten werden verschiedene Summenwerte errechnet. Für jede
Einzelperson ein "individual care score", für die beobachtete Gruppe ein "group care score" und ein
Quotient für die Demenzpflege (DCQ), der die Pflegebeziehung zwischen Betreuten und Betreuern
abbildet (vgl. Perrin, 1997, S. 935). "Die Analyse der Daten ist wie ein Fingerabdruck: Stärken und
Schwächen im Prozess werden offenbar, Bevorzugungen bestimmter Bewohner oder
Vernachlässigung anderer manifest, der Erfolg von Maßnahmen wird transparent und der
Zusammenhang von Tagesstruktur und Wohlbefinden analysierbar." (Müller-Hergl, 2001b).
Zusätzlich erfolgt ein Feedbackgespräch, in dem die Messergebnisse dem Pflegeteam mitgeteilt
werden und ein Handlungsplan, der Strategien zur Optimierung der Pflegequalität beinhaltet,
gemeinsam erarbeitet wird. Nach einem gewissen Zeitabstand soll ein erneutes Mappen erfolgen, um
die Entwicklungsziele zu überprüfen. Außerdem soll ein DCM-Verfahren durch einen dreitägigen
Lehrgang für Betreuungspersonen ergänzt werden (vgl. Müller-Hergl, 2001b).
Während DCM in England weit verbreitet ist, beginnt die Einführung in Deutschland nur zögerlich.
Momentan wird ein Bundesmodellprojekt zur Verbesserung der Situation Demenzkranker in
Pflegeheimen durchgeführt. In diesem drei Jahre dauernden Projekt soll die Anwendung von DCM, die
praktische Erprobung und Analyse des Verfahrens erfolgen. Das Projekt startete im Januar 2002 im
Landkreis Marburg-Biedenkopf und dem Main-Kinzig Kreis und soll später in den Städten Aachen,
Münster und Brandenburg zur Anwendung kommen (vgl. Kap. 6.2).
5.8 Kritische Betrachtung der Betreuungskonzepte
In diesem Kapitel sollen die vorgestellten Betreuungskonzepte hinsichtlich ihrer grundsätzlichen
Unterschiede betrachtet werden. Dies soll aus verschiedenen Blickwinkeln geschehen. Zum einen soll
dargestellt werden, welche Effekte bestimmte Betreuungskonzepte in Bezug auf demente Menschen
erzielen. Zum anderen soll gezeigt werden, welche Rolle der betreuenden Person in
bestimmtenKonzepten zukommt. Außerdem soll die praktische Umsetzbarkeit einzelnerKonzepte
bewertet werden.
5.8.1 Betreuungsmaßnahmen und ihre Auswirkungen auf demente Menschen
Grundsätzlich lassen sich die Ziele der Betreuungsmaßnahmen, wie sie in den verschiedenen
theoretischen Betreuungskonzepten postuliert werden, zwei Gruppen zuordnen.
Auf der einen Seite steht das Lager der "Interventionisten". Ihre Betreuungskonzepte bauen darauf,
durch gezielte Maßnahmen auf Defizite und Ressourcen des dementen Menschen einzuwirken und
somit das Wohlbefinden dieses Personenkreises zu bewahren, bzw. zu steigern. Diese Form der
Demenzpflege steht für eine "dementengerechte Betreuung".
Auf der anderen Seite steht das Lager der "Interagierenden". Ihre Betreuungskonzepte verfolgen das
Ziel, durch spezielle Interaktionen primär auf das Wohlbefinden des dementen Menschen einzuwirken.
Das Wohlbefinden wirkt sich dann im zweiten Schritt positiv auf Symptome der Demenzerkrankung
aus. Bei der Demenzpflege nach "interagierenden"Konzepten handelt es sich also eher um eine
"demenzgerechte Begleitung".
Zu den "Interventionisten" zählen meiner Einschätzung nach die das Realitätsorientierungstraining, die
Milieutherapie, die Selbst-Erhaltungs-Therapie und die Biographiearbeit.
Realitätsorientierungstraining
Auf das Ziel, kognitive Fähigkeiten zu steigern und Orientierung (zeitliche, personelle, örtliche) zu
verbessern wirkt die Intervention "orientierungsunterstützende Maßnahmen" (vgl. Kap. 5.1) hin.
Das ROT war im Prinzip der erste klare Versuch der positiven Interaktion mit dementen Menschen
und Ausdruck dafür, "daß es die Mühe lohnt zu versuchen, sie zu einer 'normalen' Lebensweise
zurückzuführen" (Kitwood, 2000, S. 87). Mit der Entwicklung des ROT wird erstmals die Einzelperson
mit Demenz berücksichtigt und nicht nur die Krankheit Demenz gesehen. Nachteile sind, dass es
leicht zur Überforderung der Demenzerkrankten kommen kann, wenn sie mit Zwang aus ihrer
subjektiven Realität herausgerissen und mit ihren Defiziten konfrontiert werden. Unter anderem ist das
ROT aus diesem Grund recht umstritten.
Forschungsergebnisse zeigen letztlich kaum positive Auswirkungen des ROT. J. T. Dietch führt aus,
dass positive Effekte lediglich in Form einer gesteigerten verbalen Orientierung nachzuweisen sind
(vgl. Dietch, 1989, S. 974). "For those patients with dementia, the constant relearning of the material
necessary to remain oriented is a difficult task that can lead to frustration, anxiety, depression, and a
lowering of selfesteem." (Dietch, 1989, S. 974).
M. People fand in einem Vergleich der Auswirkungen von ROT und Validation in einem Pflegeheim
weder positive noch negative Auswirkungen durch die Anwendung von ROT (vgl. Feil 2000, S. 41).
Naomi Feil beschreibt negative Erfahrungen bei der Anwendung des ROT: "Ich gab das Ziel der
Orientierung auf die Realität auf, als ich bemerkte, daß die Gruppenmitglieder sich immer dann
zurückzogen oder zunehmend feindselig wurden, wenn ich sie mit der unerträglichen Realität der
Gegenwart zu konfrontieren versuchte." (Feil, 2000, S. 9)
Heute findet das ROT als alleiniges Konzept kaum noch Anwendung, da der korrigierende Ansatz sich
auf den dementen Menschen belastend auswirkt (vgl. Baier, 2001, S. 392).
Milieutherapie
Ziel der Milieutherapie ist die Kompensation von Defiziten durch die Intervention "Umweltanpassung"
(soziales Milieu, Tagesstrukturierung, räumliches Milieu). Dabei wird die Umgebung der
Demenzerkrankten entsprechend ihrer Defizite und Ressourcen gestaltet.
Die Milieutherapie stellt ein sehr umfassendes Konzept dar, welches viele Teilaspekte der Demenz
und des Individuums (biographieorientiert, kompetenzorientiert) berücksichtigt. Negativ kann der
primär defizitäre Ansatz eingestuft werden, der an der eingeschränkten Umweltkompetenz ansetzt.
Somit richtet sich das Augenmerk vor allem auf das, was der Betroffene nicht mehr kann und nicht auf
die Fähigkeiten, die ihm noch erhalten geblieben sind, was meiner Ansicht nach genau umgekehrt
sein sollte.
Die Milieutherapie ist in der praktischen Umsetzung oft nur ein Bestandteil in der Betreuung dementer
Menschen, das bedeutet, dass oft nur Teilbereiche der Milieutherapie in der Praxis berücksichtigt
werden. Für Untersuchungsergebnisse hat dies zur Folge, dass oft keine genauen Rückschlüsse auf
die ursächliche Wirkung der Milieutherapie hinsichtlich des Wohlbefindens der Demenzerkrankten
gezogen werden kann. So ist im Projekt "Seniorenheim Polle" und im "Hamburger Modellprojekt" die
Milieutherapie jeweils Teil des Gesamtkonzepts. In beiden Projekten wird eine allgemeine Steigerung
des Wohlbefindens der Betreuten beschrieben, der Anteil der Milieutherapie an diesem Effekt ist aber
nicht genau definierbar. Direkte Studien zur Milieutherapie belegen aber deren positive Auswirkungen
(mehr Aktivität, Kommunikation, weniger Unruhe, "Katastrophenreaktionen") (Heeg, 2001, S. 110).
Wenige Studien untersuchten die Auswirkungen des architektonisch-baulichen Milieus. Es konnte
aber der positive Effekt von Orientierungshilfen und "Szenarien mit Aufforderungscharakter", wie z.B.
Speisesaalmöblierung (positive Auswirkung auf Kommunikation und Essverhalten) oder
"dementengerechte" Beleuchtung (stimmungsaufhellend, aggressionsdämpfend) gezeigt werden
(Wojnar, 2001c, S. 156f.).
Selbst-Erhaltungs-Therapie und Biographiearbeit
Ziel beiderKonzepte ist es, die Identität, die durch die Erkrankung Demenz bedroht ist, zu erhalten.
Dazu werden sogenannte "identitätsstabilisierende" Interventionen eingesetzt, welche das Erhalten
des personalen Selbst anstreben.
BeidenKonzepten ist gemeinsam, dass man sie als ressourcenorientierte Ansätze einstufen kann,
wobei ein zentraler Aspekt die Stützung des Langzeitgedächtnisses ist. Insgesamt gesehen steht bei
beiden Modellen, die jeweils einen sehr umfassenden Ansatz darstellen, das Individuum im
Mittelpunkt.
Als negativ kann sich die Konfrontation der Betroffenen mit der Vergangenheit auswirken, da hieraus
eine Überforderung resultieren kann. Ähnliches gilt auch für die zur SET gehörende Konfrontation mit
der Diagnose "Demenz", da die Auswirkung dieses Vorgehens schwer kalkulierbar und sehr stark von
der Einfühlsamkeit des Anwenders abhängig ist. Zusätzlich wird bei der SET eine eher "künstliche"
Atmosphäre, besonders durch die Verwendung von Videoaufnahmen, geschaffen.
Die Effektivität beiderKonzepte ist stark sympathieabhängig, da die Betreuten über sich selbst
erzählen sollen und sie bedürfen intensiver Unterstützung durch die Angehörigen, insbesondere bei
Demenzerkrankten im fortgeschrittenen Stadium.
Zur Evaluation der SET liegen noch keine kontrolliert durchgeführten Studien vor. Es gibt aber den
Zwischenbericht einer Studie, in der die Erfahrungen beim stationären Einsatz der SET veröffentlicht
wurden. In dieser Untersuchung wurde die unmittelbare Wirkung von durchgeführten Behandlungen
durch eine Erhebung vor Beginn der Behandlung und vor der Entlassung (ca. 3 Wochen Zeitintervall)
ermittelt. Es wird über eine signifikante Verbesserung der Stimmung, signifikante Reduktion der
Depressivität und Abnahme von Verhaltensauffälligkeiten (Unruhe, Aggressivität, unkooperatives
Verhalten, Antriebsmangel) berichtet.
Die Erfahrungen, die im ambulanten Bereich mit der SET gemacht wurden, zeigen einen
verlangsamten Krankheitsverlauf, geringere Depressivität und die Zunahme der sozialen und
selbständigen Freizeitaktivitäten.
Biographiearbeit ist oft Bestandteil andererKonzepte, weshalb es schwierig ist, ihre direkten
Auswirkungen zu erfassen. Es zeigen sich aber positive Ergebnisse in Bezug auf die
Kommunikationsfähigkeit (vgl. Kitwood, 2000, S. 88).
Zu den "interagierenden" Betreuungskonzepten zählen meiner Ansicht nach die Validation, die
Integrative Validation und der personenzentrierte Ansatz nach Kitwood.
Validation
Ziel ist es, demente Menschen beim Lösen von unausgetragenen Konflikten aus ihrer Vergangenheit
zu begleiten, damit sie ihren "Seelenfrieden" erlangen können. Dies ist primär eine
Unterstützungsaufgabe, da davon ausgegangen wird, dass der demente Mensch weiß, was gut für ihn
ist (Weisheit des alten Menschen). Die Interaktionen findet über die direkte Kommunikation, das "InBeziehung-Treten" mit dem Demenzerkrankten, statt.
Positive Inhalte sind, dass der demente Mensch ernst genommen wird und sich die Interaktion an der
subjektiven Realität und den Bedürfnissen des Einzelnen orientiert. Die Grundhaltung gegenüber dem
Betreuten ist geprägt von Achtung, Würde, Empathie, Respekt und Ehrlichkeit.
Negativ fällt vor allem das schwache theoretische Gerüst, auf dem das Konzept der Validation
aufbaut, ins Gewicht: "Wie bei der Realitätsorientierung fällt es auch bei Feils Arbeit leicht, sie
lächerlich zu machen." (Kitwood, 2000, S. 88). Dies betrifft sowohl die einseitige Interpretation von
Verhalten und Gefühlen dementer Menschen, als auch die aus psychoanalytischen Modellen
entlehnten, in diesem Zusammenhang eher fragwürdigen Interpretationen von Symbolen (z.B.: Socke
= Kind, mächtiger Sessel = Penis, Mann, Ehemann, Sex).
Einschränkungen erfährt die Validation durch die Definition der Zielgruppe, da nur über 80jährige
berücksichtigt werden und auch die abwertende Haltung gegenüber medizinischen Diagnosen
erschwert die Akzeptanz der Methode. Zusätzlich wird durch die Einstellung gegenüber der präsenilen
Demenz, die nach Feil nicht positiv beeinflusst werden kann, die Größe der Zielgruppe noch einmal
reduziert.
Obwohl sich das Konzept eigentlich auf das eigenständige Individuum konzentriert und Hilfestellung
beim Lösen von "Lebensaufgaben" geben soll, kann es durch die einseitige und einheitliche
Interpretation von Desorientierung, Gefühlen und Verhaltensweisen Demenzerkrankter schnell dazu
kommen, dass Umweltfaktoren und die aktuelle Situation des dementen Menschen weitestgehend
unberücksichtigt bleiben. Die recht strikte Stadieneinteilung unterbindet bei konsequenter Umsetzung
ebenfalls den Individualitätsanspruch der Betreuten. Es fehlt außerdem die Förderung von
alltagsnahen Kompetenzen und somit der Selbständigkeit.
Zur Validation liegen kaum Forschungsergebnisse vor. Einige wenige empirische Untersuchungen
berichten über Erfolge durch ihre Anwendung. Naomi Feil beruft sich hauptsächlich auf ihre eigenen
Erfahrungen in der praktischen Anwendung von Validation und auf eine von ihr 1971 durchgeführte
Untersuchung, die folgende Ergebnisse in Bezug auf desorientierte Menschen hatte: "Sie wurden
weniger inkontinent, das störende Verhalten (schreien, schlagen) nahm ab, das positive (lächeln,
sprechen, anderen helfen) nahm zu; sie wurden sich ihrer Außenwelt bewusster, sprachen auch
außerhalb von Gruppentreffen miteinander und waren zufriedener." (Feil, 2000, S. 40).
Feil führt weitere Untersuchungen an, welche die Erfolge der Validation belegen, geht jedoch nicht
näher auf einzelne Untersuchungsmethoden ein. Sie nennt unter anderem Stan Alprin (1980), Paul A.
Fritz (1986), Jean Prentczynski (1991), James T. Dietch (1989) und Colin Sharp (1989) (vgl. Feil,
2000, S. 40-42). Allerdings sind die überprüften "Studien" methodisch eher zweifelhaft, so besteht
beispielsweise die Untersuchung von J. T. Dietch nur aus einem case-report mit drei Beispielen, und
die "Schlussfolgerungen" sind äußerst vage formuliert: "Despite positive anecdotal reports, there is still
no controlled research assessing the efficacy of VT [Validation Therapy]." (Dietch, 1989, S. 976).
Integrative Validation
Das Ziel der von Nicole Richard entwickelten IVA ist es, Ressourcen dementer Menschen zu
aktivieren, mit ihnen in Kontakt zu treten und die Kommunikation zu fördern. Die Interaktion
konzentriert sich daher auf die Anwendung adäquater Kommunikationstechniken.
Die IVA, die aus dem Konzept von Naomi Feil weiterentwickelt wurde, ähnelt diesem in vielen
Aspekten. Dies betrifft vor allem die Grundhaltung (Ernstnehmen, Wertschätzung, Akzeptieren)
gegenüber Demenzerkrankten und den biographieorientierten individuellen Zugang. Das Konzept hebt
sich aber meiner Meinung nach durch einige Änderungen sehr positiv von der Validationsmethode
nach Feil ab. Grundsätzlich anders ist der Ansatz, der in diesem Fall ressourcenorientiert ist und der
Verzicht auf eine strenge Stadieneinteilung, wodurch ein individueller Zugang tatsächlich möglich wird.
Die Validation ist sich zwar in beiden Ansätzen sehr ähnlich, bei der IVA wird jedoch im Unterschied
zu Feil auf eine ständige Interpretation des Verhaltens vor dem Hintergrund der Biographie verzichtet.
Eine deutliche Einschränkung erfährt das Konzept durch den Schwerpunkt auf der
Kommunikationstechnik, da es aus diesem Grund nur für Demenzerkrankte im Anfangsstadium
geeignet ist, mit denen eine ausreichende verbale Kommunikation möglich ist.
Forschungsergebnisse, die nicht von Nicole Richard stammen, sind in der einschlägigen Literatur nicht
zu finden. Sie selbst berichtet über positive Erfahrungen, z. B. veränderte Verhaltens- und
Äußerungsformen (weniger Stress, kontaktfähiger, zufriedener) (vgl. Richard, 2001a, S. 59).
Personenzentrierter Ansatz
Die Förderung des Wohlbefindens dementer Menschen durch Erhalt des Personseins ist das Ziel des
personenzentrierten Ansatzes, der von Tom Kitwood entwickelt wurde. Die Interaktion dient sowohl
der Bedürfnisbefriedigung als auch einer Verbesserung der Pflegebeziehung.
Positiv kann bewertet werden, dass in diesem Konzept die einzigartige Person und nicht die
Krankheitssymptomatik im Mittelpunkt steht. Trotz einer eher kritischen Einstellung zum
"medizinischen Blickwinkel" wird dieser aber nicht grundsätzlich abgelehnt. Zusätzlich ist dieses
Konzept das einzige, welches die Erkrankung Demenz auch als gesellschaftliches Problem betrachtet
und daher einen sehr umfassenden Ansatz bietet.
Als Schwerpunkt lässt sich das "In-Beziehung-Treten" mit einer dementen Person herausstellen,
gleichzeitig kann aber als negativ gewertet werden, dass andere Aspekte der Betreuung (z.B.
räumliche Gestaltung) kaum angesprochen werden.
Nach Kitwood selbst ist der Forschungsstand zum personenzentrierten Ansatz bisher unzureichend.
Es gibt jedoch Studien, die positive Auswirkungen der personenzentrierten Pflege belegen. Dazu
zählen zum Beispiel Publikationen von Janet Bell und Iain McGregor (1991, 1995), die über Stabilität
im Krankheitsverlauf und hohe Grade des Wohlbefindens berichten, sowie eine Untersuchung von
Ann Netten (1993), die eine signifikant bessere örtliche Orientiertheit, geringere soziale Gestörtheit
und geringere Grade an Apathie fand. Die Bradford Dementia Group wies 1995 in einer
Querschnittstudie in 26 Pflegeheimen und 51 Einrichtungen für betreutes Wohnen hohe Grade an
Wohlbefinden beim Einsatz dieses Konzepts nach.
Karlson et al. (1988) und Brane et al. (1989) konnten signifikant positive Veränderungen bei
psychologischen und neurochemischen Variablen nachweisen. Kitwood selbst führte eine
retrospektive Studie durch, in der er positive Auswirkungen der personenzentrierten Pflege auf das
Wohlbefinden dementer Heimbewohner betont (vgl. Kitwood, 2000, S. 95-98).
5.8.2 Die Rolle der betreuenden Personen
Es besteht ein grundsätzlicher Unterschied zwischen den verschiedenenKonzepten, wenn sie unter
dem Gesichtspunkt betrachtet werden, welche Rolle die betreuende Person (und ihr Wohlbefinden)
als Voraussetzung für eine adäquate Dementenpflege spielt.
So existieren Betreuungskonzepte, die ihre Umsetzung stark an die Betreuungsperson koppeln.
DieseKonzepte konzentrieren sich auf den Betreuer, der Wohlbefinden nur an demente Menschen
"vermitteln" kann, wenn auch sein eigenes Wohlbefinden berücksichtigt wird.
Im Gegensatz dazu stehen die Betreuungskonzepte, in denen die Betreuungsperson eher eine
Nebenrolle spielt. DieseKonzepte konzentrieren sich primär auf die Demenzerkrankten, und eine
höhere Arbeitszufriedenheit des Personals ist eher ein Nebeneffekt der Umsetzung des Konzepts.
Zu denKonzepten, in denen der Betreuer die Hauptrolle zugewiesen bekommt, gehören meines
Erachtens die Validation und die personenzentrierte Pflege.
Im Prinzip ist bei der Validation die spezielle Technik nachrangig, als wichtig werden vor allem Haltung
und Eigenschaften von Validationsanwendern, wie Ehrlichkeit, Respekt vor der "Weisheit der alten
Menschen" (Feil, 2000, S. 35), Empathie (in das Leben des anderen schlüpfen) angesehen. Naomi
Feil nennt als beste Voraussetzungen des VA beispielsweise, selbst schon demenzähnliche Zustände
erlebt zu haben (z.B. Verlusterlebnisse). Für die zentrale Rolle des Betreuers spricht auch, dass Feil
ganz klar formuliert, dass nicht jeder als VA geeignet ist.
Studien zeigen, dass aus der Anwendung von Validation eine geringere Fluktuation des Personals
(vgl. Feil, 2000, S. 41f.) resultiert, was an der prominenten Rolle liegen kann, die dem Pflegepersonal
bei diesem Konzept zugewiesen wird.
Beim personenzentrierten Ansatz wird von vorneherein als Grundvoraussetzung gefordert, dass sich
die Betreuungsperson wohlfühlt und ihr eigenes Lebenskonzept aufgearbeitet hat, um mit dementen
Personen eine zwischenmenschliche Beziehung aufbauen und Empathie zeigen zu können. Betont
wird außerdem, dass das Wohlbefinden der Mitarbeiter stark von der Unterstützung der "für- und
versorgenden Organisation" abhängt (vgl. Kap. 5.7.1).
Eine Folge dieser Maßnahmen und Bedingungen ist eine hohe Arbeitszufriedenheit von Betreuern, die
nach dem personenzentrierten Ansatz arbeiten.
Zu denKonzepten, in denen das betreuende Personal eher die "Nebenrolle" zugeschrieben bekommt,
beziehungsweise "Medium" zur Umsetzung des Konzepts ist, gehören meiner Auffassung nach das
Realitätsorientierungstraining, die Milieutherapie, und die Selbst-Erhaltungs-Therapie (bzw. die
Biographiearbeit).
Für die praktische Umsetzung des ROT ist ein sogenanntes Einstellungstraining des Personals
ausschlaggebend (vgl. Kap. 5.1). Daraus soll sich eine höhere Arbeitszufriedenheit der Betreuer
ergeben. "In fact, one of the original purposes of RO[T] was to give staff a sense of 'doing something'
with patients that have bleak futures." (Dietch, 1989, S. 974). Andererseits zielen diese Maßnahmen
aber nicht auf den Betreuer direkt ab, sie sollen ihn aber dazu bringen, den Umgang mit den
Betreuten zu verbessern.
Voraussetzung für die Umsetzung der Milieutherapie ist ein gutes Arbeitsmilieu, da nur so die
Schaffung eines dementengerechten Milieus möglich ist. Biographiewissen, räumliches Milieu und
Beziehungspflege sind Anforderungen an den Betreuer zur Verbesserung der Pflege. Auf den
Betreuer bezogene Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz wie bewältigbare Pflege- und
Betreuungsaufgaben, pflegerische Gestaltungsautonomie, fachbezogene Weiterbildung und
praxisnahe Fallbesprechung dienen zwar dem Betreuer, ihr Ziel ist aber weniger dessen persönliches
Wohlbefinden, sondern eher die Sicherstellung der Arbeitsleistung. Kempe et al. (1992, 1993)
beschreiben in diesem Zusammenhang, dass die Arbeit mit Dementen psychisch sehr belastend sei
und diese Belastung auf Dauer nicht bewältigt werden könne. Daher müsse die Möglichkeit des
Berufswechsels gegeben sein (vgl. Lind, 2001, Kap. 2.2).
Dies spricht nicht unbedingt für eine optimale Unterstützung der Mitarbeiter.
In der SET ist die Aufgabe des Betreuers die Unterstützung des Betreuten. Im Konzept finden sich
keine Aussagen über professionelle SET-Anwender. Arbeitsbedingungen oder Voraussetzungen
werden nicht erwähnt. Es wird lediglich bemerkt, dass bei der Einführung von SET in teilstationäre
Einrichtungen eine Supervision erfolgen soll.
Die IVA stellt gewissermaßen den Mittelweg dar. Einerseits ist die Anwendung von IVA für den
Anwender sehr effektiv. Durch die Verbesserung des Umgangs mit dementen Menschen und ein
personenbezogeneres Arbeiten kommt er in eine persönlichere, individuelle Beziehung zu den
Betreuten, was seinen Stellenwert in der Betreuung erhöht. Für die prominentere Rolle des Betreuers
sorgen auch die aus der Validation übernommenen Grundlagen, beispielsweise dass die
Grundhaltung zum dementen Menschen wichtig ist. Andererseits berücksichtigt die IVA, insbesondere
im Vergleich zur Validation, stärker die konkreten Bedürfnisse der Betreuten. Insgesamt ist die IVA ein
sehr teamorientiertes Konzept mit "Werkstattcharakter", d.h. ihre Umsetzung richtet sich nach
Ressourcen des Teams und den äußeren Rahmenbedingungen der Einrichtungen (z.B. Förderung
der Teamarbeit, Biographiearbeit, Einbindung in Dokumentation, Weiterführung und Begleitung der
Mitarbeiter) (vgl. Richard, 2001a, S. 60).
Meiner Meinung nach wird dieses Konzept momentan Betreuten und Betreuern gleichermaßen
gerecht und bietet eine gute Mischung der Anforderungen für beide Gruppen.
5.8.3 Umsetzbarkeit
Zum Schluss soll in aller Kürze herausgestellt werden, wie es um die praktische Umsetzbarkeit der
einzelnenKonzepte bestellt ist.
Da bei dem ROT das gesamte Personal das Konzept anwenden sollte, ist eine umfangreiche
Vorbereitung (Schulung des Personals) unumgänglich. Das stellt für die praktische Umsetzung eine
große Hürde dar.
Wenig aufwändig ist im Gegensatz dazu das 24-Stunden-ROT (Orientierungshilfen, z.B. große Uhren,
Kalender, Namensschilder und "realitätsorientierende Kommunikation" während der normalen Pflege),
das bezogen auf Zeit, Personal und Kosten in der Umsetzung sehr sparsam ist.
Für die Milieutherapie ist wegen des geforderten Zusammenwirkens aller Umweltkomponenten (Bau,
psychosoziales Milieu, Organisation) bei konsequenter Einführung mit einem maximalen Aufwand und
maximalen Kosten, besonders durch die baulichen Maßnahmen, zu rechnen. Aus diesem Grund ist
eine konzeptgerechte Umsetzung nicht zu erwarten.
Die SET fordert das spezialisierteste Personal und ist daher vor allem von Personal bzw.
Personalkosten abhängig, zu denen sich Schulungen und Supervision addieren.
Ebenso wie bei ROT und Milieutherapie ist die flächendeckende bzw. konzeptgetreue Einführung
dieser Betreuungsmaßnahmen momentan wie auch in Zukunft nicht vorstellbar.
Im genauen Gegensatz dazu steht die individuelle Validation nach Feil. Sie selbst beschreibt, dass
jeder, der geeignet sei, bei seiner Arbeit validieren könne, wenn er mit dementen Menschen in Kontakt
kommt. Dies könne auch die Putzfrau sein, die das Zimmer säubert oder der Gärtner, wenn er den
Rasen mäht. Dazu kommt, dass der VA nicht von äußeren Ressourcen abhängig sind, mit Ausnahme
der Validation in Gruppen. Die Anwendung des Konzepts ist daher zu jedem Zeitpunkt und ohne
finanziellen Aufwand möglich.
Aufwändiger sind die Integrative Validation und der personenzentrierte Ansatz. Hier dürften Kosten vor
allem im Bereich der Ausbildung von Personal anfallen. Positiv ist jedoch, dass dieseKonzepte in
einem Heim auch für Teilbereiche eingeführt werden können und dass die Möglichkeit einer
stufenweisen Einführung besteht, so dass sich die Umsetzung an die äußeren Gegebenheiten
anpassen lässt. BeideKonzepte haben aus diesem Grund meiner Meinung nach die besten Chancen,
aus dem Stadium des Modellversuchs herauszukommen und eine weitere Verbreitung zu finden, wie
dies beim personenzentrierten Ansatz im Prinzip in England schon der Fall ist.
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