Bildung und Unterricht - ein Plädoyer für die traditionelle Schule bei Hermann Giesecke Hartmut v. Hentig sagt: "Alles bildet" und gibt damit die Vorstellung von einem verbindlichen Bildungskanon preis - also einer Auflistung von Fächern und innerhalb dieser Fächer von Inhalten - der Gegenstand von schulischem Lernen sein soll. In seiner „Schule als Lebensraum" ist für alles Platz. Unter seinen Anlässen lässt sich alles und nichts unterbringen und mit den "Maßstäben" setzt er zwar keine engen Definitionen von dem was er mit Bildung meint, umreißt aber doch eine Vorstellung, quasi ein Idealbild, vom gebildeten Menschen. Der Bildungsbegriff erhält so normative Implikationen, die ihm aber – so Giesecke - nicht zukommen. Wenn im Humboldtschen Sinne Bildung die Herstellung der eigenen Individualität fast im Sinne der Herstellung eines Kunstwerks meint, dann sind solche Festlegungen aber kontraproduktiv, da außengeleitet, fremdbestimmt. Hier knüpft Giesecke 1 an und meint, dass Bildung per se kein Anspruch auf Gutmenschentum (v. Hentig: Abwehr und Abscheu von Unmenschlichkeit) zukommt. Die Idee von Bildung entwickelt sich mit dem allmählichen Niedergang ständischer Gesellschaftsmuster im Laufe des 18. Jh.'s. In der frühen Zeit des deutschen Idealismus bzw. in der Klassik der Goethe, Herder, Fichte tritt an die Stelle ständischer Identitätsvorgaben die Idee der Individualität, die den Menschen nicht von seinen täglichen Anforderungen her definiert, in ihm mehr sieht als was seine standesmäßigen Pflichten von ihm verlangen (Utilitarismus). Dies gipfelt dann bei Humboldt mit der Trias von Individualität, Totalität und Universalität, also der Förderung aller menschlichen Fähigkeiten (Totalität) zu dieser je besonderen inneren geistigen Struktur (Individualität) anhand entsprechend ausgewählter (universeller) Inhalte. Dies kann von außen nur angeregt werden. Geleistet werden muss es von jedem Menschen selber: Bildung ist Selbstbildung. Wenn oben in der Reihe illustrer Namen Fichte genannt wurde, dann soll dies Hinweis darauf sein, das trotz aller Individualität über einen gemeinsamen Bestand an Inhalten - also einem Kanon – auch die politische Dimension der Nationbildung besonders im Kampf gegen Napoleon in diese Bildungsvorstellung mit hineingetragen wird. Zunächst bei Schiller und Goethe war sie Ausdruck eines Lebensgefühls. 1 Giesecke, 1998. Hermann: Pädagogische Illusionen -Lehren aus 30 Jahren Bildungspolitik. Stuttgart Natürlich war diese Vorstellung von Bildung zur Zeit ihrer Entstehung an Inhaltsbereiche bzw. Fächer geknüpft, die wir heute anders gewichten. Die Betonung der alten Sprachen in ihrer im utilitaristischen Sinne "Nutzlosigkeit" war geradezu prototypisch für diesen Ansatz. Die Beschäftigung mit der Antike insgesamt entsprach dem Zeitgeist. Insgesamt also ein eher formales Bildungsdenken. Von daher also nicht die Beliebigkeit von "irgendetwas" sondern schon eine begründete Auswahl von "Bildungsgütern" die wir heute anders treffen. Wichtig ist aber, dass dem Subjekt die Objektseite des Lebens in ihrer ganzen Sperrigkeit, Widerständigkeit, Eigengesetzlichkeit, Nicht-Beliebigkeit quasi unausweichlich gegenübergestellt wird. Es müssen dicke Bretter gebohrt werden, ob man will oder nicht. Nur auf diese mittelbare Weise impliziert Bildung immer auch Erziehung. Durch dieses SichAbarbeiten an der Sperrigkeit der fremdgesetzten und nicht selbstgewählten Gegenstände entsteht -kann entstehen -Disziplin, Ausdauer, Fleiß aber auch Zusammenarbeit, Sich-ein- und unterordnen, Kooperation, Sich-nicht-so-wichtig-sehen, Toleranz gegenüber anderen Meinungen. Wie gesagt, der bessere Mensch entsteht so nicht aber der fehlbare Mensch wird so immer wieder mit den Anforderungen der Objektseite von WELT konfrontiert und insofern diese Objektseite auch die kulturelle Welt umfasst, ergibt sich auch die Auseinandersetzung mit Zusammenleben, mit Moral und Ethik. Was letztlich daraus im Menschen entsteht, was in ihm bewirkt wird -besser: welche geistige Struktur sich bildet, die letztlich auch Haltungen und Einstellungen trägt, unterliegt immer dem Prinzip Hoffnung. Keine Lernzielvorgabe, kein anzustrebender Maßstab und kein Anlass, keine Friedens und keine Sozialerziehung - auch ein Aspekt der Objektseite - gibt die Garantie für den guten Menschen. Der ursprüngliche Grundsatz, "dass Bildung nur in Distanz zu den unmittelbaren Lebensaufgaben zu erreichen sei" (Giesecke S. 23) war bei den Utilitaristen nicht vorhanden und in der Berufsbildungstheorie der Spranger und Kerschensteiner umgedreht worden: Grundbildung -Berufsbildung -Allgemeinbildung als Resultat hieraus heißt deren Formel und heute wollen wir alles "praxisnah", "lebensnah", "kindgerecht", "entwicklungsgerecht", "viabel", "srtukturell koppelungsfähig" haben was im Zweifel immer die subjektive Befindlichkeit, ja das subjektive Wohlbefinden in den Vordergrund rückt. Schule muss "spielerisches", "selbstbestimmtes", "authentisches" Lernen ermöglichen bzw. hierzu Lerngelegenheiten bereitstellen. Arbeit ist ein Terminus, der sehr verpönt ist im Sprachschatz neoreformpädagogischer Bestrebungen. Folgen wir noch einmal Giesecke (S.24f): Bildung und Erziehung sind zwei verschiedene Dinge. Erziehung hat es mit der Norm- und Regelhaftigkeit unseres Zusammenlebens zu tun, mit der "Sitte" wie Eugen Fink formulierte. Sie muss zweifellos immer sein und im "gemeinsamen Beraten der Generationen" (Fink) war sie quasi selbstverständlich, naturwüchsig immer schon gegeben. Heute reden wir da von Sozialisation. "Bildung aber, insbesondere Bildung für alle, ist eine Zutat, die sich eine Gesellschaft erst einmal leisten können muss und will" (S.25). Dies wäre heutzutage allerdings zu ergänzen. Ohne diesen "Luxus" (aus der Sicht einer vorindustriellen, vorwissenschaftlichen Gesellschaft) kann sie sich diesen Luxus nicht leisten, selbst wenn sie will. Die Formel „Bildung ist Produktionsfaktor" löst diese Tautologie auf. Zum zweiten: Bildung ist der Prozess der Auseinandersetzung des Individuums mit der objektiven WELT (natürliche, geistige, soziale, politische, ästhetische, virtuelle Welt und entfaltet sich "nicht aus der psychischen Innerlichkeit heraus" (S.25) sondern nur in der Konfrontation mit der Objektseite von Welt. Nur so entsteht Individualität. Die Fächer und Inhalte sind hierzu immer nur Angebot. Wie sie in die eigene innere geistige Struktur eingebaut werden, bleibt dem Lehrer verborgen, und dass hieraus "erziehlich-moralische Wirkungen" entstehen bleibt zu hoffen. Überprüfbar ist daran lediglich Wissen, Können, Fähigkeiten und Fertigkeiten als allerdings notwendige Voraussetzungen von Bildung. Diese Bemerkung ist wichtig, da die Wissensbasis häufig als unwichtig abgetan wird. Im Unterricht entsteht so immer nur die Bedingung der Möglichkeit von Bildung, nicht diese selbst. Im Unterricht im traditionellen Sinne -ein Lehrer gibt seine überlegenen Möglichkeiten weiter (natürlich so aufbereitet, dass sie übernommen werden können - . bleibt daher immer die Sache im Vordergrund, nicht die Methode. Natürlich muss dieses Prinzip altersstufengemäß und schulartgemäß interpretiert werden. Im Kern gilt es überall. So gesehen war Individualisierung "lange bevor unsere Soziologen dies als generelles gesellschaftliches Phänomen entdeckt haben" ..."im Begriff der Bildung als einer Form der Selbsterziehung schon entwickelt". ... "Gemessen an der Humboldtschen Vorstellung ist das reformpädagogische Eingehen auf die Subjektivität des Kindes nur ein müder Abklatsch der Konsumwerbungsstrategie" (S.26). Und drittens - immer noch Giesecke - muss nochmals betont werden, wie Bildung die "Distanz zu den unmittelbaren Interessen und Bedürfnissen braucht" (S. 26). Etwas salopp formuliert kann das Sich-Suhlen in der je eigenen Befindlichkeit -Spaß muss sein, nur ja keine externen Ansprüche setzen und an sich heranlassen - eben genau nicht Bildung und damit Individualität entwickeln, sondern nur mehr oder weniger ausgeprägte Egozentriker hervorbringen. Distanz, bei Humboldt durch Beschäftigung mit den alten Sprachen, heutzutage auch durch "wissenschaftliche bzw. wissenschaftsorientierte Betrachtung der Welt, ist nur eine Seite des Lebens. Im Leben selbst gibt es genügend Möglichkeiten, sich engagiert auf die Sachen und Umstände einzulassen. Deswegen darf Schule sich auch im Leben der jungen Menschen nicht allzu breit machen (Ganztagsschule, lange Schulzeit), da sonst "Erfahrungsmöglichkeiten" abgeschnitten werden. Der Erfahrungsraum Schule bleibt auch mit noch so vielen Tieren im Streichelzoo und noch so vielen Labors, Schulküchen und Werkstätten und Schulgärten immer nur ein künstlicher und beschränkter. Immer wacht da doch der "big brother" schon aus rechtlichen Gründen der Aufsicht, die in dem "besonderen Gewaltverhältnis" wie die Juristen das nennen immer gewährleistet sein muss. Schule und Leben sind zwei verschiedene Dinge und "diese Disparatheit in der Schule als einheitlichem 'Lebensraum' zu 'integrieren' sind daran gemessen (an der klassischen Idee, diese Widersprüchlichkeit von Welt und Leben zur Voraussetzung der Gewinnung von Individualität zu machen) geradezu hinterwäldlerisch unmodern" (S. 27). "Unterricht ist nicht altmodisch" (S. 33). Unterricht ist die Hauptaufgabe von Schule. Darauf beharrt Giesecke trotz aller Rede von Lebensraum, Reparaturbetrieb für alle gesellschaftlichen Probleme, Sozialpädagogisierung und was sonst noch der Schule auferlegt wird. Unterricht als eine Weise, Wirklichkeit zu strukturieren und aufzubereiten, wie es "im Leben" eben nirgendwo vorkommt. Das ist auch der Ausgangspunkt bei John Dewey. Zunächst bietet das Leben die nötigen Lernmöglichkeiten. Mit einer komplexer werdenden Wirklichkeit kann dies aber nicht schritt halten und es entsteht Schule als eine Institution mit dem genuinen Auftrag, losgelöst vom Leben die als notwendig erachteten Wissensgehalte zu vermitteln, also in Distanz zum Leben. Diese Schule entwickelt aber eine Eigendynamik, wird zur lebensfernen Schule wie das ursprünglich nicht gedacht war und deshalb soll über Projekte das Leben wieder in die Schule zurückgeholt werden. Aber die Schule ist bei Dewey nur ein Faktor im Leben der jungen Menschen. Später wendet er sich vehement gegen eine Überbetonung der "progressive education" die nur noch Projektlernen veranstalten möchte, weil so eben nicht die nötige umfassende Strukturierung von Wirklichkeit erfolgen kann wie auch er sie für unabdingbar hält. Nur in übersteigerten reformpädagogischen Konzepten wird systematischer lehrerzentrierter Unterricht zugunsten von Projekten, fächerübergreifenden Ansätzen u. ä. aufgegeben. Jeder Unterricht muss an Erfahrungen anknüpfen aber er darf eben nicht dabei stehen bleiben. Ausgehend hiervon muss er weitere Perspektiven eröffnen und Lehrer können hier viel mehr als Lernprozesse moderieren oder arrangieren, sie können ihren Vorsprung an andere weitergeben und komplizierte Sachverhalte vereinfachen (dabei aber nicht verfälschen !) so das sie Schritt für Schritt verstanden werden können. "Erst die Erfindung von Unterricht ...bringt die komplexe Gleichzeitigkeit der Wirklichkeit in ein didaktisch-logisches Nacheinander" (S.39) das es uns ermöglicht, diese Komplexität zu verstehen. "Der Unterricht schlägt Schneisen in die Wirklichkeit auf denen wir uns bewegen und von denen aus wir uns dem zuwenden können, was wir noch nicht können" (S.39f). Zum Kanonproblem Die Frage, über welche Inhalte dies nun erfolgen soll, ist nicht ein für allemal zu beantworten. Einiges ist selbstverständlich (wenn es auch nicht immer so war). Die Kulturtechniken als elementares Werkzeug sind kein Bildungswissen sondern schlichte Voraussetzung und Selbstverständlichkeit im Sinne der Bewältigung von alltäglicher Lebenspraxis. Doch schon in der Grundschule gehen wir weit über dies hinaus wenn wir im Sachkundeunterricht darüber nachdenken, ob der Strom aus der Steckdose kommt, warum ein Flugzeug fliegt und warum wir eine Schulordnung brauchen. Man kann / muss vom Menschen ausgehen, also von einer Anthropologie um zu erkennen, welches die Dinge sind die Not tun. Humboldt unterscheidet im Litauischen Schulplan eine gymnastische, ästhetische und didaktische Hauptfunktion menschlichen Wesens 2. Dies ist nicht ganz übereinstimmend mit unserem heutigen Gebrauch dieser Begriffe. Das Gymnastische ist das Körperliche und Naturhafte, das Ästhetische betrifft Empfinden, Einbildungskraft, das Didaktische bezieht sich auf die Wirkungsfelder der Geisteskraft, in denen Vernunft, Verstand, Wissen und Handeln zum Tragen kommen. Man könnte auch von den Koexistentialien Eugen Finks ausgehen, also von der phänomenologisch gewonnenen Einsicht, dass sich der Mensch in Arbeit, Herrschaft, Spiel, Liebe und Tod erfährt. 2 Ausführlich dargestellt Krefeld 1990. S. 398 f in Heldmann, Werner: Kultureller und gesellschaftlicher Auftrag von Schule. Giesecke setzt schlichter an, wenn er von Bereichen der Teilhabe spricht, die dem Menschen durch Unterricht und Fächer und Gegenstände ermöglicht werden soll. Dies sind der Bereich des Beruflichen, des Politischen und Kulturellen. Auf die berufliche Teilhabe kann in der Schule nur durch allgemeinbildende Inhalte vorbereitet werden. Sie kann nicht die speziellen Dinge vorbereiten, die an einem Arbeitsplatz verlangt werden. Teamarbeit ist in der Schule etwas anderes als auf einer Baustelle oder in einer Werkstatt. Aber Konzentration, Aufmerksamkeit, Fleiß, wie sie der am Inhaltlichen orientierte Unterricht zwangsläufig erfordern und herausbildet sind hervorragende Möglichkeiten auf den Beruf vorzubereiten. Der Bereich des Politischen liegt dem Schulunterricht schon erheblich näher. Aber hier darf man nicht im "kindgemäßen" stecken bleiben (wie wählen wir unseren Klassensprecher). Die kulturelle Beteiligung lässt sich am ehesten schon in der Schule selbst verwirklichen, muss aber auch hier zu den entwickelten Formen führen. Von daher kommt er zu dem traditionellen Fächerkanon mit Deutsch, Englisch, Geschichte, Politik, Geographie, Mathematik, Biologie, Physik, Chemie, Kunst und Musik allerdings ohne Sport - da in der modernen Freizeitgesellschaft in vielfältiger anderer Weise, vor allem durch die Vereine, angeboten! - und ohne Religion, da die eigentliche Aufgabe dieses Faches, zu kirchenorientierter Teilhabe zu führen zugunsten von anderen Zielsetzungen aufgegeben worden ist, die in anderen Fächern zumindest teilweise enthalten sind (S.283). Es geht nicht darum, "ob ein Fach zu Selbstverwirklichung oder Emanzipation führt, sondern ob es einen Wirklichkeitsbereich vertritt ...dessen Fehlen die Teilhabemöglichkeiten entscheidend einschränkt" (S.282). Auch Dewey3 setzt sich ausgiebig mit dem bildenden Wert von Fächern bzw. Fächergruppen innerhalb eines Lehrplans auseinander. "Erdkunde und Geschichte sind die beiden großen Hilfsmittel, die der Schule für die Verbreiterung der Bedeutungen und Sinngehalte unmittelbarer persönlicher Erfahrung zur Verfügung stehen" (Dewey S. 288), die Naturwissenschaft leistet "die Befreiung der Erfahrung von örtlichen und zeitlichen Zufälligkeiten" (Dewey S. 305), oder allgemeiner formuliert, "der Lehrstoff besteht aus denjenigen Sinngehalten, die dem gegebenen Gemeinschaftsleben Bedeutung geben" (S.256). 3 Dewey, John: Demokratie und Erziehung" Weinheim 1993 (erste Auflage 1915 Auf Giesecke bezogen wird insgesamt klar, warum er die Denkschrift "Zukunft der Bildung Schule der Zukunft"4 , die Empfehlungen zur Neugestaltung der Primarschule5 und auch Klafkis bekannten "Entwurf einer neuen Allgemeinbildung" 6 wegen ihres "Kults der Subjektivität", der Lern und Lebensraumausrichtung, des Überbetonens von Erziehung gegenüber Bildung, der Überwindung fachlichen Lernens, der Umdefinition der Lehrerrolle (nicht mehr Wissensvermittler sondern Coach, Lernberater) und ähnlicher Devotionalien des pädagogischen Zeitgeistes, ganz ausgiebig aufs Korn nimmt. 4 Bildungskommission Nordrhein-Westfalen" Zukunft der Bildung -Schule der Zukunft. Neuwied 5 Faust-Siehl, Gabriele u.a.: Die Zukunft beginnt in der Grundschule. Rheinbeck 1996 6 Klafki, Wolfgang. Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Weinheim 19965.