Günther Schmid Die deutsche Arbeitsmarktpolitik im Lichte der Lissabon-Strategie1 Einleitung Der Titel, der mir vorgegeben wurde, erinnert an den altbekannten Witz, bei dem ein Trunkener gefragt wird, was er denn unter der Straßenlaterne suche. Antwort: ‚Meinen Hausschlüssel.’ Auf die Frage, ob er denn den Schlüssel hier verloren habe, antwortet er: ‚Nein, aber ich suche hier, weil Licht ist.’ Das führt mich gleich zur Kernthese: Der Schlüssel zur Lösung der Beschäftigungskrise liegt nicht allein in der Lissabon-Strategie, denn sie weist zwar in die richtige Richtung, reicht aber nicht aus. Sowohl die Lissabon-Strategie im Allgemeinen als auch die deutsche Arbeitsmarktpolitik im Besonderen legen zu wenig Gewicht auf präventive Arbeitsmarktpolitik durch Bildung, kontinuierliche Qualifizierung und soziale Sicherung von Risiken im Lebenslauf. Außerdem ist die offene Methode der Koordinierung noch verbesserungs- und ergänzungsbedürftig. Ich möchte diese These durch die Beantwortung folgender vier Fragen ausführen: - Was sind die zentralen Herausforderungen in den Bereichen Beschäftigung, Bildung und soziale Sicherung? - Wie könnten geeignete Strategien für eine bildungsbezogene Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik aussehen? - Was kann für den so genannten Niedriglohnsektor getan werden, d.h. für diejenigen, für die Bildungsinvestitionen nicht ausreichen oder zu spät kommen? - Wie ist die Lissabon-Strategie im Hinblick auf die zentralen Herausforderungen und skizzierten Lösungsstrategien zu beurteilen?2 Bevor ich zum ersten Punkt komme, möchte ich kurz an die beschäftigungspolitischen Konfigurationen der europäischen Sozialstaaten erinnern: 1 2 Vortrag auf der Tagung „Die Lissabon-Strategie auf dem Prüfstand – Perspektiven für die deutsche Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik“, gemeinsam veranstaltet von der Friedrich Ebert Stiftung (FES), dem Berufsbildungsforschungsinstitut (BiBB) und dem Arbeitskreis Sozialwissenschaftliche Arbeitsmarktforschung (SAMF) in Berlin am 9. März 2006. Ich danke Achim Kemmerling und Janine Leschke für hilfreiche Kommentare sowie Dorit Griga und Jutta Höhne für ausgezeichnete Assistenz bei der Erstellung der Grafiken. Zur Geschichte der Lissabon-Strategie, insbesondere zur Wirkungsweise der ‚Offenen Methode der Koordinierung’ und zum Bericht der Europäischen Taskforce (Kok 2004a) vgl. Schmid und Kull (2004); zur sozialen Sicherung von Lebenslaufrisiken vgl. Schmid (2006). Beschäftigungspolitische Konfigurationen europäischer Sozialstaaten Regulierungsmodi Typen Kündigungsschutz aktive AM-Politik Alo-Versicherung Staat als AG Lohnflexibilität Kontinental hoch mittel hoch gering/mittel gering/mittel Angelsächs. niedrig niedrig niedrig gering/mittel hoch Skandinav. gering/mittel hoch hoch sehr hoch niedrig Mediterran sehr hoch niedrig niedrig mittel gering/mittel Osteuropa mittel niedrig niedrig mittel mittel Diese Typologie orientiert sich an Esping-Andersen (1990). Ich stelle sie aus zwei Gründen voran: Erstens möchte ich ins Gedächtnis rufen, dass die institutionellen Strukturen der Arbeitsmarktregulierung in den EU-Mitgliedstaaten – abgesehen von ganz unterschiedlichen ökonomischen Ausgangslagen – sehr verschieden sind, angefangen vom Kündigungsschutz, der Bedeutung der so genannten passiven und aktiven Arbeitsmarktpolitik, der Rolle des Staates als Arbeitgeber bis zur Lohnbildung. Außerdem stehen diese Regelsysteme in einem Ergänzungsverhältnis. Wir können deshalb nicht aus jedem Land das Beste herauspicken und aus der Summe dieser besten Praktiken die ideale Europäische Beschäftigungsstrategie zimmern. Wir können z. B. nicht auf das angeblich freie Heuern und Feuern in Dänemark hinweisen, aber ganz verschweigen, dass es sich Dänemark nach wie vor leistet, zusammengenommen 4,5 Prozent des Bruttosozialprodukts einzusetzen, um Arbeitslose zu alimentieren oder zu fördern, im Gegensatz etwa zu nur knapp 3,5 Prozent in Deutschland – obwohl die deutsche Arbeitslosenquote doppelt so hoch ist wie die dänische. Deshalb ist die Annahme vieler Vertreter der Lissabon-Strategie, man müsse nur gute Praktiken identifizieren und könne dann von ihnen lernen oder sie gar adaptieren, naiv und unrealistisch. Wir müssen stärker in funktionalen Äquivalenten denken und die guten Praktiken in ihren Kontexten analysieren. Daraus folgt, dass wir die Lissabon-Strategie nicht so sehr als das Lernen voneinander verstehen sollten, sondern eher als ein Lernen miteinander. Zweitens möchte ich mit dieser Typologie in die Struktur der Abbildungen einführen, die in der nun folgenden Analyse eine zentrale Rolle spielen. 1. Die zentralen arbeitsmarktpolitischen Herausforderungen Was sind die zentralen Herausforderungen in den Bereichen Beschäftigung, Bildung und soziale Sicherung? Im folgenden Schaubild sind die Beschäftigungsquoten von gering und hoch Qualifizierten in ausgewählten Ländern nach „Regimetypen“ gegliedert (Abb. 1). 2 Abbildung 1: Beschäftigungsquoten (25-64 Jahre) nach Qualifikation, 2003 Germany 50.2 83.0 France 59.0 Netherlands 58.7 Denmark 81.9 87.1 60.7 Finland 85.2 58.1 Ireland 56.6 Great Britain 54.0 85.1 67.5 85.8 2010: 70 % Sweden 86.1 low skill 88.0 high skill Italy 49.8 Spain 82.2 56.5 81.6 Portugal 72.2 Czech Republic 43.9 Poland 86.5 38.2 Hungary 82.6 37.4 0.0 10.0 20.0 30.0 40.0 87.3 82.7 50.0 60.0 70.0 80.0 90.0 100.0 Niederlande und Italien 2002 Quelle: OECD Employment Outlook 2005, Tabelle D Dazu zählen die so genannten konservativen kontinentaleuropäischen Regimes mit Deutschland, Frankreich und den Niederlanden, dann folgt der skandinavische Regimetyp, des Weiteren die Länder mit liberaler Tradition wie Irland und Großbritannien, darauf der mediterrane Block und abschließend die drei größten neuen osteuropäischen Beitrittsländer Polen, Tschechien und Ungarn. Die Balken geben die Beschäftigungsquoten der gering Qualifizierten wieder, die Dreiecke markieren die Beschäftigungsquoten der hoch Qualifizierten mit Universitäts- oder Fachhochschulabschluss. Die senkrechte Achse ist die Lissabon-Messlatte – eine Beschäftigungsquote von 70 Prozent bis zum Jahr 2010. Nahezu unabhängig vom Wohlfahrtsregime liegt die Bandbreite der Beschäftigungsquoten hoch qualifizierter, d.h. akademisch gebildeter Personen zwischen 82 und 88 Prozent. Das zentrale Problem ist der niedrige Beschäftigungsgrad gering Qualifizierter: Mit Ausnahme von Portugal und Schweden sind alle Länder weit vom Lissabon-Ziel entfernt, am weitesten die neuen Beitrittsländer. In Deutschland beträgt die Differenz der Beschäftigungsquoten zwischen hoch und gering qualifizierten Personen mehr als 30 Prozentpunkte. Nur gut die Hälfte der gering qualifizierten erwerbsfähigen Personen in Deutschland ist beschäftigt! Der Rest befindet sich in Arbeitslosigkeit, Inaktivität, informeller oder gar illegaler Beschäftigung. Aufmerksamkeit verdient auch eine leider selten zu sehende Differenzierung des ‚Vollbeschäftigungsziels’ von Lissabon. Das folgende Schaubild zeigt die Beschäftigungsquote der Frauen nach niedriger und hoher Qualifikation. 3 Abbildung 2: Beschäftigungsquoten von Frauen (25–64 Jahre) nach Qualifikation, 2003 Germany 43.2 France 78.2 50.9 Netherlands 78.0 45.0 82.1 50.9 Denmark 82.9 55.4 Finland Sweden 83.3 60.2 Ireland 85.7 38.1 Great Britain 81.1 47.2 low skill 85.5 high skill 76.8 30.0 Italy Spain 36.2 76.0 62.5 Czech Republic 2010: 60 % Portugal 40.2 31.9 Poland 32.7 Hungary 0.0 10.0 20.0 30.0 40.0 85.9 79.1 80.6 78.9 50.0 60.0 70.0 80.0 90.0 100.0 Niederlande und Italien 2002 Quelle: OECD Employment Outlook 2005, Tabelle D Hier hat der Lissabon-Gipfel bekanntlich die Messlatte auf 60 Prozent gelegt. Es ist nicht unwichtig zu sehen, dass sich das Grundmuster bei den Frauen wiederholt: Die hoch Qualifizierten haben – auch hier nahezu unabhängig vom Beschäftigungssystem – diese Messlatte längst überschritten und liegen nicht weit von den Männern entfernt. Es sind auch hier – und das ist von Bedeutung – in noch schärferem Maße die gering qualifizierten Frauen, die in vielen Mitgliedstaaten noch weit von der 60 Prozent-Marke entfernt sind. Und noch wichtiger für die deutsche Arbeitsmarktpolitik: die Differenz zwischen gering und hoch Qualifizierten ist in Deutschland neben Irland, Italien und den neuen Beitrittsländern besonders stark ausgeprägt. 4 Abbildung 3: Arbeitslosenquoten (25-64 Jahre) nach Qualifikation, 2003 2010: 5 % Germany 18.0 5.2 6.1 France Netherlands 3.8 2.1 Denmark 4.7 Finland 4.3 Sweden Ireland 7.2 11.1 6.1 3.9 6.3 2.6 Great Britain 12.1 6.9 2.4 Italy 5.3 Spain 9.0 7.7 Portugal Czech Republic low skill 11.2 5.7 4.9 high skill 19.8 2.0 6.6 Poland 25.9 1.4 Hungary 0.0 10.6 5.0 10.0 15.0 20.0 25.0 30.0 Niederlande und Italien 2002 Quelle: OECD Employment Outlook 2005, Tabelle D Die Arbeitslosigkeit nach Qualifikation ist – nicht unerwartet – fast ein Spiegelbild zur Beschäftigungsquote: Hätte der Europäische Rat in Lissabon auch das Ziel der Halbierung der Arbeitslosenquote bis zum Jahr 2010 gesetzt (von einem solchen Ziel ist, nebenbei gesagt, leider nicht die Rede), dann wäre dieses Ziel für die hoch Qualifizierten in den meisten Mitgliedstaaten schon erreicht, für die gering Qualifizierten jedoch fast hoffnungslos außer Reichweite. Die Schlussfolgerung für die Lissabon-Strategie kann aber nun nicht lauten, einen riesigen Niedriglohnsektor zu schaffen. Im Gegenteil: Die Grundidee des Europäischen Sozialmodells – nämlich Effizienz (offizieller Sprachgebrauch: Wettbewerbsfähigkeit) und soziale Gerechtigkeit (soziale Kohäsion) in Übereinstimmung zu bringen – fordert in erster Linie eine massive Qualifizierungsoffensive, in zweiter Linie erst einen kompensatorischen öffentlich geförderten Sektor oder die Entlastung des Niedriglohnsektors von Steuer- und Sozialabgaben. Ich komme darauf zurück. 5 Abbildung 4: Entwicklung befristeter Arbeitsverträge, 1985 und 2003 Germany 12.2 10.0 4.7 France 12.9 7.5 Netherlands Denmark 14.6 12.3 9.3 10.4 Finland 10.0 Sweden Ireland Great Britain 6.1 7.3 7.0 4.8 Italy 16.3 15.1 16.8 9.9 15.8 Spain 30.6 13.8 Portugal 6.7 Czech Republic 6.6 Hungary 0.0 5.0 1985 9.2 4.8 Poland 2003 21.1 19.4 7.5 10.0 15.0 20.0 25.0 30.0 35.0 Ungarn und Polen 1997, Tschechische Republik 1998; Schweden 1990 Quelle: Employment in Europe 2000, 2004 Die zweite große Herausforderung ist die Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Neben riskanter neuer Selbständigkeit und Minijobs sind es vor allem befristete Arbeitsverhältnisse, die das Beschäftigungsrisiko einseitig und ungerecht auf einen Teil der Beschäftigten übertragen. In fast allen Ländern haben befristete Arbeitsverhältnisse zugenommen, zum Teil drastisch. Es gibt zwei interessante und typische Ausnahmen: Dänemark und Großbritannien. Beiden Ländern scheint es – wenn auch aus ganz verschiedenen Gründen und mit unterschiedlichen Konsequenzen für die Einkommensverteilung – gelungen zu sein, trotz eines schwachen de jure Kündigungsschutzes die de facto Beschäftigungssicherheit zu verbessern. In allen anderen Ländern sind es besonders Jugendliche und junge Erwachsene, die dieses Risiko der Beschäftigungsunsicherheit zu tragen haben. Viele, nicht nur junge Frauen, sondern auch junge Männer veranlasst diese Unsicherheit, auf die Gründung einer Familie mit Kindern zu verzichten. Sicherlich gibt es noch andere wichtige Gründe für oder gegen eine Familiengründung mit Kindern, aber der Zusammenhang von unsicheren Beschäftigungsverhältnissen und geringen Geburtenraten ist auch statistisch gesichert. Soweit Flexibilität für die Wettbewerbsfähigkeit nötig sein sollte (auch das ist im Detail umstritten und von Land zu Land verschieden), stellt sich als zweite Herausforderung für die Lissabon-Strategie die Frage, wie diese Flexibilität durch neue Sicherheiten verbunden werden kann, um vor allem jugendlichen Erwachsenen eine Perspektive zu bieten. 6 Abbildung 5: Beschäftigungsquoten Älterer (55-64 Jahre), 2004 und 1983 Germany 39.2 38.1 France 39.9 37.1 30.6 Netherlands 44.6 50.6 Denmark 47.3 Finland 61.8 51.0 65.5 Sweden 43.5 Ireland 49.5 47.5 Great Britain 30.5 Italy 69.5 56.2 2004 34.1 1983 41.3 41.3 49.1 32.1 Czech Republic 42.6 34.4 28.0 Poland 17.1 Hungary 0.0 10.0 50.3 2010: 50 % Spain Portugal 31.1 20.0 30.0 40.0 50.0 60.0 70.0 80.0 Frankreich 2002 Quelle: OECD Employment Outlook 2005, Table C Eine dritte Herausforderung ist die Beschäftigung Älterer. Mit Ausnahme der skandinavischen und liberalen Beschäftigungssysteme und mit Ausnahme von Portugal liegen die meisten europäischen Staaten noch weit hinter dem von Lissabon gesteckten Ziel, die Beschäftigungsquote bis 2010 mindestens bis auf 50 Prozent zu erhöhen. Das hat sehr viel mit der vor allem auf Männer gerichteten Frühverrentungspolitik der letzten beiden Jahrzehnte zu tun. Auch hier ist der Grundgedanke des Europäischen Sozialmodells verletzt worden, nämlich Effizienz und nachhaltige soziale Sicherheit in Übereinstimmung zu bringen. Statt in Beschäftigungsfähigkeit zu investieren, etwa durch massive Weiterbildung für Erwachsene, wurden viele Ältere frühzeitig aus dem Erwerbsleben ausgegliedert, obwohl sie noch voll produktiv waren. Der Glaube, damit Arbeitsplätze für Jugendliche zu schaffen, war einer der kostspieligsten Irrtümer der letzten Jahre. Die Generationengerechtigkeit kann so nicht gelöst werden. In einer Situation, wo Jugendliche immer später ins Erwerbsleben eintreten, obwohl sie immer kleiner an der Zahl werden, und Ältere immer früher aus dem Erwerbsleben austreten, obwohl sie immer größer an der Zahl werden, erfordert das (zu entwickelnde) Europäische Sozialmodell einen neuen Generationenvertrag, der nicht auf einer weiteren Verkürzung und Verdichtung, sondern auf einer Verlängerung und Entzerrung des Arbeitslebens basiert. Schauen wir genauer hin, dann sehen wir, dass die Erhöhung der Beschäftigungsquote auch ein Problem der Frauen ist. Wieder mit Ausnahme Skandinaviens, ist die Beschäftigungsquote älterer Frauen sogar noch weiter vom Lissabon-Ziel entfernt als die der Männer. 7 Abbildung 6: Beschäftigungsquoten von Frauen (55-64 Jahre), 2004 und 1983 24.0 Germany 29.8 30.4 France 32.5 12.5 Netherlands 32.5 39.1 Denmark 54.2 44.1 Finland 50.4 57.4 Sweden 18.9 Ireland 67.4 34.0 33.4 Great Britain 47.3 2004 1983 14.6 19.6 19.7 Spain 24.6 31.8 Portugal 19.1 Czech Republic 29.4 21.0 Poland Hungary 10.0 26.8 25.0 9.2 0.0 42.5 2010: 50 % Italy 20.0 30.0 40.0 50.0 60.0 70.0 80.0 Tschechische Republik und Polen 1994, Ungarn 1995, Großbritannien1984 Quelle: OECD Employment Outlook 1997, 2005: Tabelle C Damit ist ein anderes Gerechtigkeitsproblem angesprochen, das Problem der Geschlechtergerechtigkeit. Auch wenn – wie beispielweise die steigenden Erwerbsquoten der Frauen zeigen – Fortschritte in der Gleichstellung der Geschlechter auf dem Arbeitsmarkt unverkennbar sind, ist ein neuer Geschlechtervertrag ins Visier zu nehmen, der den Frauen und Männern – auch den älteren Erwachsenen – die Möglichkeit gibt, Erwerbstätigkeit und die Betreuung von Kindern und pflegebedürftigen Eltern in Übereinstimmung zu bringen. Dass der neue Geschlechter- und Generationenvertrag nicht so aussehen sollte wie in folgender Karikatur, versteht sich von selbst. 8 2. Wie könnten geeignete Strategien für eine bildungsbezogene Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik aussehen? Der Forschungsstand zur Schnittstelle Bildung und Beschäftigung und die Erfahrungen guter Praktiken aus der Lissabon-Strategie legen vier Ansatzpunkte für eine bildungsorientierte Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik nahe: - Zeitgerecht wären erstens mehr Investitionen in den primären Bildungsbereich, - sachgerecht wären zweitens mehr Investitionen in den tertiären Bildungsbereich, - sozial- und sachgerecht wären drittens mehr Investitionen in die berufliche Weiterbildung, vor allem Älterer, - und sozialgerecht wäre eine stärker arbeitsplatzbezogene Weiterbildung für gering qualifizierte Arbeitslose. (1) Zeitgerecht wäre es, mehr in den primären Bildungsbereich zu investieren. Hier muss zunächst das Stichwort PISA genügen. Der Schock für Deutschland war nicht so sehr das mittelmäßige Abschneiden im internationalen Vergleich, sondern die Erkenntnis, dass die Bildung unserer Kinder vom Geldbeutel ihrer Eltern abhängt. Geringe Bildung wird also gewissermaßen vererbt. Neben der sozialen Ungerechtigkeit werden damit ungeheure Bildungspotentiale – und damit auch Wachstumspotentiale! – nicht ausgeschöpft. Weist man darüber hinaus die ungeheuerliche Vorstellung zurück, dass Begabung mit Status, Einkommen und ethnischer oder gar rassischer Herkunft zusammenhängt entschieden zurück, dann bedeutet das gleichzeitig, dass in unserem System dauerhaft das Menschenrecht auf gleiche Bildungsausstattung verletzt wird. In skandinavischen Ländern spielt die soziale Herkunft dagegen kaum eine Rolle für das Bildungsniveau der Kinder, und Lehrer genießen z.B. in Finnland einen weit höheren Status in der Gesellschaft als bei uns. Zweitens ist sich die Bildungsforschung einig: ‚Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr’ – z.B. Fremdsprachen, soziale Kompetenzen, Abstraktionsvermögen – kurz, das Lernen zu lernen. Diagnose und Therapie dürfen also nicht erst am Arbeitsmarkt ansetzen. Sie müssen schon im Vorschulalter beginnen. Drittens geht es weniger um mehr Geld für Bildung im Vorschulalter. Das auch. Vielmehr geht es darum, den Ertrag von schon getätigten Bildungsinvestitionen auszuschöpfen und den immer besser gebildeten jungen Erwachsenen (vor allem Frauen) die Möglichkeit zu geben, Familie, Beruf und Karriere in Übereinstimmung zu bringen. Das setzt bezahlbare Betreuungsdienstleistungen oder öffentliche Kinderbetreuungseinrichtungen und Vorschulen voraus. Zwei Zahlen zeigen die Größenordnungen, um die es geht: Für Dänemark wurde berechnet, wie viel der Staat gewinnt, wenn er einer jungen Mutter oder einem jungen Vater mit zwei Kindern durch umfassende Kinderbetreuung erlaubt, fünf Jahre voll beschäftigt zu bleiben, anstatt fünf Jahre gänzlich aus dem Erwerbsleben 9 auszusteigen. Es sind 260 000 Dänische Kronen, also etwa 35 000 Euro (EspingAndersen 2005). In Deutschland hat das Ifo-Institut berechnet, dass der Staat aus der Lebenslaufperspektive betrachtet an einem Kind etwa 77 000 Euro verdient. Aber anstatt diese so genannten positiven fiskalischen externen Effekte in Bildungsinfrastruktur zu investieren, findet eine gigantische Umverteilung von kinderreichen zu kinderarmen oder gar kinderlosen Familien statt (Biedenkopf 2005). (2) Sachgerecht wäre es, mehr in den tertiären Bildungsbereich zu investieren. Zunächst zeigen uns hier die Statistiken, dass ein Großteil der beschäftigungspolitisch erfolgreichen Länder wesentlich mehr Absolventen mit akademischem Abschluss aufweisen als beschäftigungspolitisch weniger erfolgreiche Länder. In Dänemark sind es 35 Prozent, in Finnland und Schweden 40 Prozent, in Großbritannien 33 und in den USA 39 Prozent der 25-34jährigen, die einen tertiären Bildungsabschluss aufweisen gegenüber nur 22 Prozent in Deutschland. In Finnland und Schweden treten etwa drei Viertel der jungen Erwachsenen in einen tertiären Studiengang ein, in Deutschland sind es gut ein Drittel (37,5 Prozent in 2004). Laut Nationales Reformprogramm Deutschland vom Dezember 2005 sollen es bis 2010 40 Prozent werden (Bundesregierung 2005, OECD 2005, S. 37 und 242). Solche Statistiken besagen – zweitens – freilich noch wenig, zumal sie im Bildungsbereich schwer vergleichbar sind. Aber auch die Theorie der Wissensgesellschaft, soweit man von einer solchen sprechen kann, weist einmütig auf die wachsende Bedeutung des theoretischen Wissens, der kommunikativen Fähigkeiten und der Problemlösungskompetenzen hin. Das duale Ausbildungssystem ist zwar im engeren handwerklichen Bereich hochwertig und weltweit Spitze. Es sollte daher auch weiter gepflegt werden. Aber für die modernen Dienstleistungsberufe im Bereich Information und Kommunikation, wie auch für viele personenbezogene Dienstleistungen ist das duale System nur noch begrenzt zukunftsfähig. Rund 1,36 Mio. erwachsene Jugendliche zwischen 20 und 29 Jahren (fast 15 Prozent) sind ohne Ausbildung (Mikrozensus 2003), und etwa ein Fünftel der Ausbildungsverträge wird frühzeitig wieder gelöst. Es scheint auch – von Ausnahmen abgesehen – nicht geeignet, bildungsferne und junge Migranten zu integrieren: 37 Prozent der Jugendlichen ausländischer Herkunft haben keine Ausbildung (Berufsbildungsbericht 2005). Drittens sprechen die Berufsbildungsforscher von einer Renaissance der berufsfachlichen und professionellen Arbeitsmärkte, d.h. von einer Abkehr betriebsspezifischer Qualifizierungsprozesse in internen Arbeitsmärkten. Die Globalisierung von Arbeitsmärkten sowie die neuen Informationstechnologien setzen hohe Mobilität voraus und die Möglichkeit von Quereinstiegen auf allen Bildungsstufen. Das gilt, viertens, um so mehr für den europäischen Arbeitsmarkt: Dessen Integration setzt Transparenz von Bildungsabschlüssen sowie hohe und einheitliche Qualitätsstandards voraus (Mytzek und Schömann 2004). 10 (3) Sachgerecht und sozialgerecht wäre es, mehr in die berufliche Weiterbildung von Älteren zu investieren. Zunächst ein kurzer Blick auf die Statistik: Abbildung 7: Weiterbildungsbeteiligung der Beschäftigten, 2003 Germany 9.0 14.0 France 14.0 Belgium 14.0 23.0 22.0 Denmark 39.0 46.0 39.0 44.0 Finland Sweden 43.0 Ireland 45.0 14.0 10.0 Great Britain 25.0 34.0 Total 6.0 Italy 4.0 Spain 4.0 9.0 Portugal 4.0 9.0 Czech Republic 12.0 Poland Hungary 55-64 14.0 8.0 12.0 4.0 0.0 5.0 10.0 20.0 30.0 40.0 50.0 60.0 Quelle: OECD 2005, Tabelle C6.4 Diese zeigt uns eine große Varianz in der Weiterbildungsbeteiligung von Älteren zwischen den europäischen Ländern.3 Sie korreliert zum Teil mit den Sozialstaatstypen: Weit an der Spitze – und zwar gemeinsam – stehen die skandinavischen Länder. Deutschland scheint – wie auch die ‚Frühverrentungsländer’ Frankreich, Belgien und Italien – die Älteren bei der Weiterbildung abgeschrieben zu haben. Das Nationale Reformprogramm Deutschland 2005 berichtet zwar, dass die Weiterbildungskosten für ältere Beschäftigte bis Ende 2006 übernommen werden können, die Fakten sind jedoch alles andere als ermutigend: 3 - Drei Viertel aller Kleinbetriebe mit ein bis neun Beschäftigten (die insgesamt etwa fünf Millionen Arbeitplätze vertreten) bieten ihren Mitarbeitern keine Weiterbildung an. - Die Weiterbildungsangebote des Job-Aqtiv Gesetzes werden nicht angenommen: Im Jahr 2004 wurden gerade mal 1 740 Eintritte in Jobrotation gezählt, 1 060 Eintritte in geförderte Weiterbildung von ungelernten Beschäftigten und von 2002 bis 2004 160 Weiterbildungseintritte von älteren Beschäftigten in KMU-Betrieben (Adamy 2006). Es handelt sich um „nicht-formalisierte“ (aber, im Gegensatz zu „informeller“ Weiterbildung, um organisierte und systematische Weiterbildung innerhalb oder außerhalb der Betriebe) und um arbeitsplatzbezogene (nicht um die Dauer gewichtete) Weiterbildungsbeteiligung; die Vergleichbarkeit der Daten ist daher nur sehr begrenzt; ‚total’ bezieht sich auf die Altersgruppe 25-64. Das Muster verändert sich kaum, wenn formalisierte Weiterbildungsgänge hinzugenommen werden; diese sind allerdings nicht nach Altersgruppen ausgewiesen. 11 Woran liegt das? An der Weiterbildungsfinanzierung allein kann es nicht liegen. Bietet Schweden mit 43 Prozent Weiterbildungsbeteiligung von Älteren gegenüber nur neun Prozent in Deutschland eine Erklärung? Ich sehe vier Anhaltspunkte, deren genauere Prüfung sich lohnen würde: Erstens die geringen Anreize zur Frühverrentung in Schweden. Betriebe und Menschen, die einen Erwartungshorizont der Beschäftigung bis mindestens zur Mitte des sechzigsten Lebensalters haben, investieren auch mehr in Bildung. Es ist zu erwarten, dass mit dem Abbau der Frühverrentung auch in Deutschland die Weiterbildungszahlen für Ältere steigen werden. Zweitens investieren die Schweden auch viel mehr in die Anpassung der Arbeitsplätze oder der Arbeitsorganisation, um mögliche Handicaps und Leistungsminderungen von Älteren auszugleichen. Drittens erzielte Schweden einen großartigen Erfolg mit einem riesigen Programm der „Wissensanhebung“ (‚kunshaftsliftet’): Von 1997 bis 2002 investierte die schwedische Regierung jährlich etwa 350 Millionen Euro für die Weiterbildung von gering qualifizierten Erwachsenen, und zwar nicht nur von Arbeitslosen, sondern auch von Beschäftigten. Auf deutsche Maßstäbe umgerechnet wären das jährlich etwa 3,5 Milliarden Euro und zusätzlich etwa 900.000 Teilnehmer in Weiterbildungsmaßnahmen. Der deutschen Arbeitsmarktpolitik ist dagegen das ‚Kunststück’ gelungen, seit Beginn der Lissabon-Strategie den jahresdurchschnittlichen Teilnehmerbestand von Arbeitslosen in Weiterbildung von 425.000 (1997) auf 130.000 (2005) herunterzuschrauben. Bei der berechtigten Bemühung um mehr Effektivität und Effizienz besteht die Gefahr, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Vor allem aber wurde die Zielgruppe der noch beschäftigten, aber von Arbeitslosigkeit bedrohten gering qualifizierten älteren Erwachsenen strategisch noch nicht in das Visier genommen. Viertens setzen mehr Bildungsinvestitionen in Ältere auch erwachsenengerechte Formen der beruflichen Weiterbildung voraus, insbesondere modulare und zertifizierungsfähige Kurse. Für Betriebe, insbesondere Klein- und Mittelbetriebe, ist es wichtig, in Phasen der arbeitsplatzfernen Weiterbildung ihrer Beschäftigten passende Stellvertreter zu finden. Das setzt intelligente Formen der Arbeitsorganisation voraus sowie finanzielle und organisatorische Unterstützung von außen. Die Skandinavier haben dafür u.a. das System der Jobrotation (Oschmiansky u.a. 2001) erfunden – also die Gleichzeitigkeit der Weiterbildung von Beschäftigten und der Einstellung von Arbeitslosen als Stellvertreter. Seit Beginn dieses Jahres erhalten die schwedischen Betriebe im öffentlichen Sektor einen Erlass von Lohnnebenkosten bis zu 400 Euro im Monat, wenn sie für einen Arbeiternehmer in Weiterbildung einen Stellvertreter aus dem Arbeitslosenpool einstellen. (4) Sozialgerecht wäre eine stärker arbeitsplatzbezogene Weiterbildung für gering qualifizierte Arbeitslose. Die bisherigen Erfahrungen der Lissabon-Strategie lassen sich in vier stilisierten Fakten zusammenfassen: 12 - Gering Qualifizierte sind erstens überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit betroffen, - zweitens bildungsfern in dem Sinne, dass sie nicht gewohnt sind zu lernen, - drittens in der Regel aber motiviert, Erfahrungen am Arbeitsplatz zu sammeln und durch Zusatzqualifikationen in Form modularer Bausteine anzureichern, - und weisen viertens auch ein nachweisbar geringeres Risiko auf, wieder arbeitslos zu werden, wenn sie Gelegenheit zu systematischer Weiterbildung am Arbeitsplatz haben. Daraus lässt sich der Schluss ziehen: Es wäre eine sinnvolle beschäftigungspolitische Strategie, gering qualifizierten Arbeitslosen erst einen Job anzubieten und dann alles zu tun, damit sie sich auf diesen Jobs weiterbilden können. Es sollte also nicht nur Arbeitsvermittlung gehen, sondern um Arbeitsvermittlung plus Förderung der Beschäftigungsfähigkeit. 3. Strategien für oder gegen den Niedriglohnsektor Was kann nun für den so genannten Niedriglohnsektor getan werden, d.h. für diejenigen, für die Bildungsinvestitionen nicht ausreichen oder zu spät kommen? Mit drei stilisierten Fakten möchte ich zunächst die Rahmenbedingungen einer ‚Strategie des Niedriglohnsektors’ aufzeigen (Abb. 8): 13 Abbildung 8: Zusammenhang zwischen Gesamt-Abgabenbelastung und Beschäftigung im privaten Sektor, 1997-98 70 Beschäftigungsquote privat (1998) r = -0,68 CH JAP 65 USA 60 UK AUS CAN 55 N NZL 50 DK NL D IRL A FL S B 45 F I 40 25 30 35 40 45 50 55 Steuern + Sozialabgaben als % des BIP (1998) Quelle: Scharpf und Schmidt (2000: Statistical appendix) Erstens ist der Zusammenhang zwischen der gesamten Abgabenbelastung durch Steuern und Sozialabgaben und der Beschäftigung im privaten Sektor deutlich negativ: Je höher die Gesamtbelastung, desto niedriger die Beschäftigungsquote im privaten Sektor. Die Belastung des Faktors Arbeit durch Abgaben geht – lehrbuchgemäß – auf Kosten des Beschäftigungsniveaus. Deutschland weist gegenüber dem Extremfall Schweden eine mittlere Gesamtabgabenbelastung auf, aber zugleich unterdurchschnittliche Beschäftigungsquoten im privaten Sektor, was auf zusätzlich belastende Faktoren hinweist. 14 Abbildung 9: Zusammenhang von Lohnsteuern und Sozialabgaben bei zwei Dritteln des Durchschnittslohns und Beschäftigung im Handel, Gaststätten- und Hotelgewerbe Beschäftigungsquote ISIC 6 (1998) 18 JAP AUS r = -0,82 CAN USA CH 16 NZ N 14 UK IRL NL A DK 12 D S 10 F I FL B 8 15 20 25 30 35 40 45 50 Lohnsteuer und Sozialabgaben bei 2/3 des Durchschnittslohns in % (1998) 55 Quelle: OECD Statistical Compendium Die Theorie sagt weiter voraus, dass die negativen Beschäftigungswirkungen der lohnbezogenen Abgaben (also Lohnsteuer und Sozialabgaben) vor allem die arbeitsintensiven Dienstleistungen betreffen, darunter besonders solche, die einfache und auf dem Arbeitsmarkt weithin verfügbare Qualifikationen voraussetzen. Entsprechend deutlicher ist der negative Zusammenhang von Abgabenbelastung und Beschäftigung für Dienstleistungen im Einzel- und Großhandel sowie Gaststätten- und Hotelgewerbe, in denen Arbeitsplätze mit geringem Qualifikationsniveau vorherrschen. Deutschland und Schweden liegen hier einträchtig zusammen, während es beispielsweise den Niederlanden durch Integration der Sozialabgaben in das Steuersystem gelungen ist, die Belastung im Niedriglohnsektor zu verringern mit entsprechend höheren Beschäftigungsquoten. Aber warum haben dann die skandinavischen Länder Finnland, Schweden und Dänemark kein ausgeprägtes Problem des Niedriglohnsektors? Das dritte stilisierte Fakt gibt den Hinweis: Offensichtlich gleichen diese Länder das Beschäftigungsdefizit im privaten Sektor durch einen ausgebauten öffentlichen Sektor aus. Dieser ist in Deutschland sogar noch etwas geringer ausgeprägt als in den Vereinigten Staaten, wie dem folgenden Schaubild zu entnehmen ist. 15 Abbildung 10: Zusammenhang von Steuern und Sozialabgaben und Beschäftigung im öffentlichen Sektor 25 Beschäftigungsquote Staat (1998) N r = 0,69 DK S 20 F 15 A CAN FL CH USA B IRL 10 AUS UK NZL D NL I JAP 5 25 30 35 40 45 50 55 Steuern + Sozialabgaben als % des BIP (1998) Quelle: Scharpf und Schmidt (2000: Statistical appendix) Was folgt daraus? Es gibt starke Anhaltspunkte, dass die geringe Beschäftigungsdynamik in Deutschland, insbesondere im Bereich der gering qualifizierten Dienstleistungen, nicht generell wegen einer hohen Abgabenquote zustande kommt, sondern wegen der besonderen Struktur der Finanzierung des Sozialsystems und dem politischen Willen, die Rolle des Staates als Dienstleistungsarbeitgeber in engen Grenzen zu halten. Es sind vor allem die hohen lohnbezogenen Sozialabgaben für gering Qualifizierte, welche die Beschäftigungsdynamik bremsen, und es ist fragwürdig, ob hohe undifferenzierte Mehrwertsteuern – die hierzulande geplant sind – dieses Boot wieder flott machen. Jedenfalls belegt auch hier die Statistik, dass OECD-Länder mit hoher Mehrwertsteuerbelastung (bezogen auf das Bruttoinlandprodukt) beispielsweise geringere Beschäftigungsquoten im Groß- und Einzelhandel sowie im Hotel- und Gaststättengewerbe aufweisen als Länder mit geringer Mehrwertsteuerbelastung. Was sind die Alternativen? Die erste nahe liegende Möglichkeit, den öffentlichen Dienstleistungsbereich – an Skandinavien orientiert – weiter auszubauen, erwähne ich nur en passant. Ihre Umsetzung bedürfte eines politischen Paradigmenwechsels, für den derzeit kaum Chancen bestehen. Hier möchte ich – gestützt auf Erfahrungen mit Leistungsvergleichen von Beschäftigungssystemen mit anderen Ländern (u.a. Scharpf und Schmidt 2000, Schmid 2002) – vier Punkte in die Debatte werfen, die mit den derzeitigen institutionellen Rahmenbedingungen kompatibel sind: 16 Erstens kann die Möglichkeit geschaffen werden, zum Sozialgeld oder Arbeitslosengeld zusätzliche Einkünfte zu erwerben oder Steuerkredite für Geringverdiener zu gewähren. Solche Kombilöhne – die es im Übrigen, von Steuerkrediten abgesehen, auch bei uns schon gibt – sind jedoch nur unter zwei Bedingungen sinnvoll: bei Menschen mit eingeschränkten Produktivitätspotentialen (also den nicht mehr bildungsfähigen Menschen) oder mit eingeschränkten Arbeitskapazitäten (etwa den Alleinerziehenden oder aus gesundheitlichen Gründen Leistungseingeschränkten) und unter der Voraussetzung eines effektiven Mindestlohns. Dass ein anständiger Mindestlohn die Beschäftigungsdynamik abwürgt, wie gegenwärtig von vielen Ökonomen oder Arbeitgebern behauptet, wird vom britischen Experiment widerlegt (Bosch und Weinkopf 2006). Anstelle der Krücke von Kombilöhnen, die nur selektiv einen Sinn machen, erscheinen zweitens Freibeträge auf Sozialabgaben (also für Arbeitnehmer wie Arbeitgeber) im unteren Einkommensbereich sinnvoller. Dafür gibt es zwei substantielle theoretische Gründe: Erstens gleichen sie auf der Angebotseite das geringere Produktivitätspotential der Bezieher niedriger Einkommen aus. Zweitens berücksichtigen sie auf der Nachfrageseite das geringere Potential der Produktivitätssteigerung vor allem in personenbezogenen Dienstleistungen. Drittens gäbe es die Möglichkeit einer Lohnversicherung, um bei einem Übergang in eine Beschäftigung mit niedrigeren Löhnen den Einkommensverlust zumindest zeitweise durch einen Lohnergänzung auszugleichen. So zahlt z. B. die Schweiz für ein bis zwei Jahre einen „Zwischenverdienst“ für die Differenz zwischen altem und neuem Gehalt. Diese Erweiterung der Arbeitslosenversicherung zu einer Lohnversicherung hat sich in der Schweiz nach strengen wissenschaftlichen Evaluationen als eines der effizientesten arbeitsmarktpolitischen Instrumente erwiesen (Lechner et al. 2004). Die deutsche Entgeltsicherung für Ältere weist dagegen sowohl Defizite im Programmdesign als auch in der Implementation auf (Leschke et al. 2006). Eine vierte Option ist die Beibehaltung oder gar Verstärkung der Progression in der Einkommensbesteuerung, insbesondere der Besteuerung von nicht investiertem Vermögen und von Erbschaften, eventuell auch eine Progression bei den Sozialabgaben. Auch dafür gibt es gute theoretische Gründe: Zum einen steigt mit höheren Einkommen die Zufallskomponente gegenüber der Leistungskomponente, zum anderen sinkt der marginale Nutzen in der Verwendung. 4. Die Zukunft der Lissabon-Strategie Wie ist nun die Lissabon-Strategie im Hinblick auf die zentralen Herausforderungen und skizzierten Lösungsstrategien zu beurteilen? Ich halte die LissabonStrategie in zweierlei Hinsicht für verbesserungsbedürftig: Zum einen kann der Prozess der „Offenen Methode der Koordinierung“ selbst noch erheblich verbessert werden und zum anderen bedarf er wesentlicher Ergänzungen. 17 (1) Erstens muss die qualitative Dimension der Zielindikatoren verbessert werden, beispielsweise durch eine Verknüpfung der quantitativen Beschäftigungsziele mit qualitativen Indikatoren wie Angaben der Vollzeitäquivalente (relevant vor allem für Frauen) oder effektive Beschäftigungszeiten. So liegt, um nur ein Beispiel zu geben, Schweden mit einer Beschäftigungsquote von 73,5 Prozent (2004) deutlich über der Lissabon-Messlatte. Die effektive Beschäftigungsquote, d.h. die Zahl der Personen, die in einer normalen Woche auch tatsächlich am Arbeitsplatz sind, beträgt in Schweden jedoch nur – je nach Berechnung – 61,2 oder 64,5 Prozent. Die Ursachen dafür sind, auf der positiven Seite, Eltern- und Bildungszeiten, auf der negativen Seite aber auch der im internationalen Vergleich überdurchschnittlich hohe Krankenstand in Schweden. Aufschlussreich ist auch eine Zerlegung der Beschäftigungsdynamik in ihre Komponenten, beispielsweise die Zerlegung der Beschäftigungsdynamik in die Komponenten Arbeitszeit, demografische Entwicklung und Veränderung des Erwerbsverhaltens, oder die Zerlegung der ökonomischen Wohlfahrtsdynamik gemessen als Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts in ihre vier Komponenten Arbeitsproduktivität, Arbeitszeit pro Beschäftigte, Erwerbsbeteiligung und erwerbsfähige Wohnbevölkerung (vgl. Kapitel 2 in Schmid 2002). Solche Differenzierungen zeigen, dass nicht nur die Beschäftigungs- und Wachstumsziele mit unterschiedlichen Strategien erreicht werden, sondern auch die kulturellen Präferenzen – etwa die Wahl zwischen Freizeit und Geld – verschieden sein können. Wichtige qualitative Aspekte sind auch die Dynamik der Arbeitsbedingungen (z.B. Aufstiegs- und Abstiegsmobilität, Armutsrisiko und Weiterbildungspotential von Arbeitsplätzen) und nicht zuletzt die Lohnstrukturen im Vergleich zur Produktivität. Die Mitgliedstaaten sollten auch die Möglichkeit einer eigenständigen Prioritätensetzung sowohl im Bereich der quantitativen als auch der qualitativen Dimension haben. Leistungsvergleiche sollten deshalb eher zwischen vergleichbaren Gruppen innerhalb der Mitgliedstaaten als über eine einzige – alle Länder über einen Kamm scherende – Messlatte erfolgen. Die derzeitig quantifizierten Ziele (etwa die Zielmarke von 70 Prozent Beschäftigungsquote) sind – vor allem mit Rücksicht auf mögliche Zielkonflikte (Qualität bzw. Nachhaltigkeit versus Quantität der Jobs) – immer wieder begründungsbedürftig. Eine höchstmögliche Beschäftigungsquote ist – wie uns die sozialistisch-kommunistischen Länder vorführten – kein erstrebenswertes Vollbeschäftigungsziel. Es besteht ansonsten die Gefahr, dass vor allem die im europäischen Sozialmodell so hoch gehaltenen Zielsetzungen des sozialen Ausgleichs, der universellen Anwendung sozialpolitischer Standards sowie nachhaltiger Qualitätsstandards den (meist kurzfristigen) Prioritäten fiskalpolitischer Konsolidierung oder den durchsetzungsfähigsten Wirtschaftsinteressen geopfert werden. (2) Zweitens bedarf es einer analytischen Unterfütterung der Beschäftigungsziele, z.B. Machbarkeitsstudien für einzelne Länder über einen realistischen Fahrplan der Zielereichung und entsprechend eigenständige Zielsetzungen. Die verglei- 18 chende Methodik von Wirkungsanalysen auf Länderebene ist weiter zu entwickeln, um endogene von exogenen Faktoren zu unterscheiden. Nur auf diese Weise kann geklärt werden, ob die Zielerreichung auf unterschiedliche Handlungsstrategien oder auf unterschiedliche und nicht beeinflussbare Herausforderungen zurückzuführen ist. Auch für die Lissabon-Strategie sind die Ergebnisse psychologischer Lernforschung zur Kenntnis zu nehmen: Lernen erfolgt nur, wenn die Akteure die für sie beeinflussbaren von unbeeinflussbaren Faktoren klar unterscheiden können. Die von der Kommission eingeführten „Thematischen Seminare“ wären ein geeignetes Vehikel dafür, vergleichende und praxisnahe Wirkungsforschung – durchaus auch länderübergreifend kompetitiv – laufend zu verbessern. Die Kommission könnte darauf achten, dass alle Länder Mindeststandards für belastbare Evaluationen (vor allem Kontrollgruppendesigns) einhalten. Die Erfahrungen zeigen, dass das wechselseitige Lernen von guten Praktiken vor allem daran scheitert, dass unklare Vorstellungen über die Nettowirkungen, die Kosten-Nutzen-Relationen und die Aufteilung der entsprechenden Risiken unter den Akteuren bestehen. Empfehlungen guter Praktiken der Kommission müssen daher mit nationalen Modellrechnungen konkreter Investitionsszenarien versehen werden. In anderen Worten: die Beweislast muss auf die Kritiker zurückgewälzt werden, welche die Finanzierung immer als Totschlagargument guter Praktiken verwenden. Zu guter Letzt gilt die Anforderung an Evaluationen mit methodischen Mindeststandards auch für die Arbeitsmarktprogramme auf europäischer Ebene. Jaap de Koning (2006) stellt allerdings resigniert fest, dass beispielsweise für die von der Kommission geförderten EQUAL-Programme keine Beispiele für rigorose Evaluationen bekannt sind, aus denen der Mehrwert dieser als Innovation gedachten Programme gegenüber tradierten Programmen herausgelesen werden könnte. (3) Drittens müssen die Prozessstrukturen des Miteinander-Lernens verbessert werden, etwa durch Verstärkung der Kommunikation zwischen Experten, um ‚epistemische Gemeinschaften’ (Haas 1992) entstehen zu lassen, also die Mitgliedstaaten übergreifende Professionsgemeinschaften, welche die gleiche Sprache sprechen und die gleiche Problemsicht (aber nicht notwendigerweise die gleiche Problemlösung) teilen. Auch die Präsentation von Leistungsvergleichen muss differenzierter als bisher erfolgen. So genannte Ranking-Listen sollten beispielsweise nur mit erklärendem Kontext und mit interpretierenden Begleitindikatoren veröffentlicht werden. Darüber hinaus muss die Öffentlichkeit, insbesondere die parlamentarische Öffentlichkeit, bei der Erstellung, Verabschiedung und Evaluierung der Nationalen Reformpläne eingezogen werden. Gemeinsame mittelfristige Schwerpunktsetzungen in diesen Plänen könnten die EU-weite Kommunikation und Aufmerksamkeit verbessern. Die OMK könnte schließlich auch reflexiv gewendet werden, d.h. das Verfahren könnte nicht nur auf europäisch-nationaler, sondern auch auf regionaler (Bündnisse für Arbeit), sektoraler (sozialer Dialog) und betrieblicher Ebene (Sozialbilanzen) angewendet werden. Als praktische Schlussfolgerung könnte sowohl auf der KommissionsEbene als auch auf der nationalen (eventuelle sogar auf der regionalen) Ebene ein aus Wissenschaftlern und Politikern zusammengesetztes Netzwerk von TaskforceEinheiten aufgebaut werden. 19 (4) Viertens besteht ein erheblicher Nachholbedarf in der verstärkten Einbeziehung der demokratischen Öffentlichkeit sowohl in die laufenden Ziel- und Strategiedebatten der Europäischen Beschäftigungsstrategie und der OMK, als auch in die Verbreitung der Ergebnisse. So kann z. B. das „naming and shaming“ anstelle harter Sanktionen nur dann wirksam sein, wenn die Medien entsprechende öffentliche Debatten schüren. Untersuchungen zeigen jedoch, dass die mediale Aufmerksamkeit für europäische Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik seit 1997 eher nachgelassen hat als dass sie verstärkt wurde (de la Porte und Pochet 2004). Aber auch die Grenzen des „weichen Rechts“ sind offenkundig geworden. Wolfgang Merkel (2006) spricht sogar – aus meiner Sicht allerdings weit überzogen – vom „sozialpolitischen Placebo“ der ‚Offenen Methode der Koordinierung’. Das Politikversagen, das hier konstatiert wird, hängt vor allem mit der mangelnden Berücksichtigung der Anreizstrukturen öffentlicher Güter zusammen. Wie Stefan Collignon (2006) feststellt, mag die weiche und Souveränität schonende Steuerung für ‚inklusive öffentliche Güter’ – bei denen Kostenträger und Nutznießer einigermaßen klar zu identifizieren sind – noch angehen, um Probleme der freiwilligen Kooperation (die sich aus dem Gefangenendilemma ergeben könnten) oder der Informationsasymmetrie zu lösen. Bei ‚exklusiven öffentlichen Gütern’, bei denen die Ressourcen begrenzt, die Akteure von den (positiven wie negativen) externen Effekten aber kaum auszuschließen sind,4 ist der Anreiz zum Trittbrettfahrerverhalten groß, wenn keine verbindlichen Regeln mit harten Sanktionen oder – ersatzweise – kein einheitlicher (zentraler) Akteur vorhanden sind. Die Relevanz dieser Konstellation ist derzeit stark umstritten.5 Wenn man jedoch, wie etwa Collignon, von starken externen Effekten auch der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik nationaler Staaten auf andere Länder (und das gilt besonders für die Eurozone mit einheitlicher Währung) ausgeht, dann liegt die Schlussfolgerung nahe, für sensitive Bereiche mit starken transnationalen Interdependenzen auch verbindlichere Koordinationsmechanismen als Ergänzung zur OMK zu fordern.6 (1) Erstens sollten im Falle zentraler Zielsetzungen, deren Nichteinhaltung unfairen oder ruinösen Wettbewerb hervorruft, Mindeststandards durch so genannte ‚harte’ Rahmenrichtlinien gesetzt werden. Im Falle der Beschäftigungspolitik sind die Arbeitsbedingungen bei Zeitarbeit, die Mindestbildungsausstattung für Jugendliche, die Weiterbildung für gering qualifizierte Erwachsene sowie die Integration der Migranten entsprechende wünschenswerte Regelungsfelder. 4 5 6 Collignons Terminologie ist ungewöhnlich und intuitiv etwas verwirrend, da er mit ‚exklusiven’ öffentlichen Gütern offenbar insgesamt erhebliche, aber nicht klar zuzuordnende externe Effekte meint, von denen Nutzer oder (negativ) Betroffene nicht ausgeschlossen werden können; er bezieht sich offenbar auf die Tatsache, dass sich potenzielle Nutzer oder Betroffene durch Freibeuterverhalten auf der Beitragsseite des öffentlichen Guts ausschließen können. Vgl. u.a. Casey (2005), Scharpf (2002), Schmid und Gazier (2002), Schmid und Kull (2004), Kaelble und Schmid (2004), Zohlnhöfer und Ostheim (2005), Falkner et al. (2005). Die daraus zu ziehende Schlussfolgerung einer weiteren Demokratisierung europäischer Entscheidungsprozesse, bis hin zu den „Vereinigten Staaten von Europa“ (Collignon 2006), kann hier nicht diskutiert werden. 20 (2) Zweitens könnte die Verbindlichkeit der Nationalen Reformpläne (NRP) durch Diskussion und Verabschiedung in den nationalen Parlamenten gestärkt werden; eine die zuständigen Ministerien übergreifende Taskforce könnte Koordinationsaufgaben und das laufende Monitoring übernehmen. Schließlich könnten die nicht ganz unbescheidenen Mittel des Europäischen Struktur- und Sozialfonds konditional stärker an die Verpflichtung auf die beschäftigungspolitischen Leitlinien sowie an die Voraussetzungen zu ihrer Einführung geknüpft werden. Das gilt insbesondere für die zehn Beitrittsländer, denen bestimmte Infrastrukturen zur Umsetzung der Leitlinien fehlen (z.B. industrielle Sozialpartnerschaft oder effiziente Vermittlungs- und Beratungsdienste). (3) Drittens steckt die – auch im Europäischen Verfassungsentwurf geforderte – Koordination von Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik noch in den Kinderschuhen. Zwischen den so genannten ‚Breiten ökonomischen Politikrichtlinien’, die das für Ökonomie und Finanzen zuständige Generaldirektorium formuliert, und den Beschäftigungspolitischen Leitlinien der Generaldirektion Beschäftigung und Soziales gibt es noch wenig Abstimmung. Die im März 2003 erstmalige Synchronisation der Verkündigung dieser beiden Leitlinien ist ein erster Schritt, reicht aber nicht aus. Die für die Umsetzung der Europäischen Wachstumsstrategie zuständigen Akteure (die EZB und die nationalen Zentralbanken, die Wirtschaftsund Finanzminister, die Arbeits- und Sozialminister, die für Lohnpolitik zuständigen Sozialpartner) sind kaum koordiniert, so dass gegebenenfalls Ressourcen und Handlungsstrategien für Staaten übergreifende und gemeinsam abgestimmte Infrastrukturprojekte nicht gepoolt bzw. abgestimmt werden. Warum soll jedoch ein Europäischer Beschäftigungspakt von vorneherein ausgeschlossen sein, der nicht nur die nationalen Politiken in der weichen OMK-Form koordiniert, sondern auch durch massive Investitionen in die Europäische Infrastruktur Arbeitsplätze schafft? In den Bereichen Energie, Wasser, Natur, Verkehrswege, Kommunikation und nicht zuletzt in Forschung und Bildung gäbe es genügend Handlungsfelder für einen derartigen Beschäftigungspakt, wie er schon von Jacques Delors im Europäischen Weißbuch von 1993 anvisiert war. Erst vor kurzem hat der für Europafragen zuständige italienische Minister Giorgio La Malfa den Vorschlag vorgetragen, eine Art europäischen Ministerrat für Wachstumsfragen einzurichten, um verbindlichere Absprachen für eine gemeinsame Wachstumsstrategie zu treffen. Auch der ehemalige dänische Ministerpräsident, Poul Rasmussen, jetzt Präsident der Sozialistischen Fraktion im Europäischen Parlament, hat mehrfach den Gedanken einer gemeinsamen Investitionsoffensive in Bildung und Wissenschaft vorgetragen. Er sieht vor allem in Deutschland als dem größten und wirtschaftsstärksten Mitgliedsstaat eine mögliche, wenn nicht gar notwendige Wachstumslokomotive. „Wenn jeder EU-Finanzminister in den nächsten vier Jahren nur ein Prozent seines Sozialproduktes zusätzlich für Bildung, Forschung, Arbeitsmarktpolitik und Kindertagesstätten ausgeben würde, hätte Deutschland mindestens einen halben Prozentpunkt mehr Wachstum. Und Europa gewänne bis zu viereinhalb Millionen Jobs, weil die Märkte so verflochten sind. Wir sollten die 21 ökonomische Abhängigkeit offensiv für mehr Wachstum nutzen“ (Rasmussen 2006). (4) Viertens ist im zweiten Kok-Bericht (Kok 2004b) wie auch in den jüngsten Leitlinien die soziale Kohäsion etwas in den Hintergrund geraten. Der jüngste Vorschlag der Europäischen Kommission, einen „Fonds zur Unterstützung der Arbeitnehmer“ einzurichten, kann nur ein erster Schritt sein. Mit diesem Fonds soll Beschäftigten bei der Arbeitsuche geholfen werden, die infolge von Betriebsverlagerungen oder anderen weltwirtschaftlichen Einflüssen ihre Arbeitsplätze verloren haben. Mit 500 Millionen Euro jährlich ist dieser sog. Globalisierungsfonds erstens zu mager ausgestattet, zweitens sind seine regulativen Voraussetzungen zu restriktiv. Er soll nur für Betriebsverlagerungen außerhalb Europas gelten; er soll erst ab einer Zahl von 1000 betroffenen Arbeitnehmern und einer über dem nationalen Durchschnitt liegenden regionalen Arbeitslosenquote zum Zuge kommen, und er soll nur bei nationaler Vor- und 50-prozentiger Kofinanzierung angezapft werden können. Während die letztere Einengung vernünftig ist, erscheint die Einengung auf außereuropäische Betriebsverlagerungen zu restriktiv. Außerdem ist der Fonds – um den Bogen zu meiner Ausgangthese zu spannen – wieder nur reaktiv und nicht präventiv ausgerichtet. Angesichts der Herausforderung der Weiterbildung vor allem gering qualifizierter Erwachsener erscheint ein „Europäischer Fonds der Wissensanhebung“ nach dem Muster des schwedischen Programms von 1997 bis 2002 diskussionswürdig. Mein Fazit lautet daher: Wenn die Lissabon-Strategie nicht einschlafen, sondern wieder erkennbar zum Leben erwachen soll, dann braucht sie eine von allen Mitgliedstaaten anerkannte gemeinsame Fluchtlinie. Und diese heißt: Bildung, Bildung, Bildung. Literatur Adamy, W. (2006), Bilanz und Perspektiven der Arbeitsmarkt-Finanzierung: Tiefstand bei Arbeitsförderung 2005, in: Soziale Sicherheit, 55 (1), 2-9. Biedenkopf, K. u.a. (2005), Starke Familie. Bericht der Kommission „Familie und demographischer Wandel“, im Auftrag der Robert Bosch Stiftung. Bosch, G. und C. 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