4. Die Zukunft der Lissabon-Strategie - Friedrich-Ebert

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Günther Schmid
Die deutsche Arbeitsmarktpolitik im Lichte der Lissabon-Strategie1
Einleitung
Der Titel, der mir vorgegeben wurde, erinnert an den altbekannten Witz, bei dem
ein Trunkener gefragt wird, was er denn unter der Straßenlaterne suche. Antwort:
‚Meinen Hausschlüssel.’ Auf die Frage, ob er denn den Schlüssel hier verloren
habe, antwortet er: ‚Nein, aber ich suche hier, weil Licht ist.’ Das führt mich
gleich zur Kernthese:
Der Schlüssel zur Lösung der Beschäftigungskrise liegt nicht allein in der Lissabon-Strategie, denn sie weist zwar in die richtige Richtung, reicht aber nicht aus.
Sowohl die Lissabon-Strategie im Allgemeinen als auch die deutsche Arbeitsmarktpolitik im Besonderen legen zu wenig Gewicht auf präventive
Arbeitsmarktpolitik durch Bildung, kontinuierliche Qualifizierung und soziale
Sicherung von Risiken im Lebenslauf. Außerdem ist die offene Methode der Koordinierung noch verbesserungs- und ergänzungsbedürftig.
Ich möchte diese These durch die Beantwortung folgender vier Fragen ausführen:
-
Was sind die zentralen Herausforderungen in den Bereichen Beschäftigung, Bildung und soziale Sicherung?
-
Wie könnten geeignete Strategien für eine bildungsbezogene Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik aussehen?
-
Was kann für den so genannten Niedriglohnsektor getan werden, d.h. für
diejenigen, für die Bildungsinvestitionen nicht ausreichen oder zu spät
kommen?
-
Wie ist die Lissabon-Strategie im Hinblick auf die zentralen Herausforderungen und skizzierten Lösungsstrategien zu beurteilen?2
Bevor ich zum ersten Punkt komme, möchte ich kurz an die beschäftigungspolitischen Konfigurationen der europäischen Sozialstaaten erinnern:
1
2
Vortrag auf der Tagung „Die Lissabon-Strategie auf dem Prüfstand – Perspektiven für die deutsche
Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik“, gemeinsam veranstaltet von der Friedrich Ebert Stiftung (FES), dem
Berufsbildungsforschungsinstitut (BiBB) und dem Arbeitskreis Sozialwissenschaftliche Arbeitsmarktforschung (SAMF) in Berlin am 9. März 2006. Ich danke Achim Kemmerling und Janine Leschke für
hilfreiche Kommentare sowie Dorit Griga und Jutta Höhne für ausgezeichnete Assistenz bei der Erstellung der Grafiken.
Zur Geschichte der Lissabon-Strategie, insbesondere zur Wirkungsweise der ‚Offenen Methode der
Koordinierung’ und zum Bericht der Europäischen Taskforce (Kok 2004a) vgl. Schmid und Kull (2004);
zur sozialen Sicherung von Lebenslaufrisiken vgl. Schmid (2006).
Beschäftigungspolitische Konfigurationen europäischer Sozialstaaten
Regulierungsmodi
Typen
Kündigungsschutz
aktive
AM-Politik
Alo-Versicherung
Staat
als AG
Lohnflexibilität
Kontinental
hoch
mittel
hoch
gering/mittel
gering/mittel
Angelsächs.
niedrig
niedrig
niedrig
gering/mittel
hoch
Skandinav.
gering/mittel
hoch
hoch
sehr hoch
niedrig
Mediterran
sehr hoch
niedrig
niedrig
mittel
gering/mittel
Osteuropa
mittel
niedrig
niedrig
mittel
mittel
Diese Typologie orientiert sich an Esping-Andersen (1990). Ich stelle sie aus zwei
Gründen voran: Erstens möchte ich ins Gedächtnis rufen, dass die institutionellen
Strukturen der Arbeitsmarktregulierung in den EU-Mitgliedstaaten – abgesehen
von ganz unterschiedlichen ökonomischen Ausgangslagen – sehr verschieden
sind, angefangen vom Kündigungsschutz, der Bedeutung der so genannten passiven und aktiven Arbeitsmarktpolitik, der Rolle des Staates als Arbeitgeber bis zur
Lohnbildung. Außerdem stehen diese Regelsysteme in einem Ergänzungsverhältnis. Wir können deshalb nicht aus jedem Land das Beste herauspicken und aus der
Summe dieser besten Praktiken die ideale Europäische Beschäftigungsstrategie
zimmern. Wir können z. B. nicht auf das angeblich freie Heuern und Feuern in
Dänemark hinweisen, aber ganz verschweigen, dass es sich Dänemark nach wie
vor leistet, zusammengenommen 4,5 Prozent des Bruttosozialprodukts einzusetzen, um Arbeitslose zu alimentieren oder zu fördern, im Gegensatz etwa zu nur
knapp 3,5 Prozent in Deutschland – obwohl die deutsche Arbeitslosenquote doppelt so hoch ist wie die dänische. Deshalb ist die Annahme vieler Vertreter der
Lissabon-Strategie, man müsse nur gute Praktiken identifizieren und könne dann
von ihnen lernen oder sie gar adaptieren, naiv und unrealistisch. Wir müssen stärker in funktionalen Äquivalenten denken und die guten Praktiken in ihren
Kontexten analysieren. Daraus folgt, dass wir die Lissabon-Strategie nicht so sehr
als das Lernen voneinander verstehen sollten, sondern eher als ein Lernen miteinander. Zweitens möchte ich mit dieser Typologie in die Struktur der
Abbildungen einführen, die in der nun folgenden Analyse eine zentrale Rolle spielen.
1. Die zentralen arbeitsmarktpolitischen Herausforderungen
Was sind die zentralen Herausforderungen in den Bereichen Beschäftigung, Bildung und soziale Sicherung? Im folgenden Schaubild sind die
Beschäftigungsquoten von gering und hoch Qualifizierten in ausgewählten Ländern nach „Regimetypen“ gegliedert (Abb. 1).
2
Abbildung 1: Beschäftigungsquoten (25-64 Jahre) nach Qualifikation, 2003
Germany
50.2
83.0
France
59.0
Netherlands
58.7
Denmark
81.9
87.1
60.7
Finland
85.2
58.1
Ireland
56.6
Great Britain
54.0
85.1
67.5
85.8
2010: 70 %
Sweden
86.1
low skill
88.0
high skill
Italy
49.8
Spain
82.2
56.5
81.6
Portugal
72.2
Czech Republic
43.9
Poland
86.5
38.2
Hungary
82.6
37.4
0.0
10.0
20.0
30.0
40.0
87.3
82.7
50.0
60.0
70.0
80.0
90.0
100.0
Niederlande und Italien 2002
Quelle: OECD Employment Outlook 2005, Tabelle D
Dazu zählen die so genannten konservativen kontinentaleuropäischen Regimes
mit Deutschland, Frankreich und den Niederlanden, dann folgt der skandinavische
Regimetyp, des Weiteren die Länder mit liberaler Tradition wie Irland und Großbritannien, darauf der mediterrane Block und abschließend die drei größten neuen
osteuropäischen Beitrittsländer Polen, Tschechien und Ungarn. Die Balken geben
die Beschäftigungsquoten der gering Qualifizierten wieder, die Dreiecke markieren die Beschäftigungsquoten der hoch Qualifizierten mit Universitäts- oder
Fachhochschulabschluss. Die senkrechte Achse ist die Lissabon-Messlatte – eine
Beschäftigungsquote von 70 Prozent bis zum Jahr 2010.
Nahezu unabhängig vom Wohlfahrtsregime liegt die Bandbreite der Beschäftigungsquoten hoch qualifizierter, d.h. akademisch gebildeter Personen zwischen
82 und 88 Prozent. Das zentrale Problem ist der niedrige Beschäftigungsgrad
gering Qualifizierter: Mit Ausnahme von Portugal und Schweden sind alle Länder
weit vom Lissabon-Ziel entfernt, am weitesten die neuen Beitrittsländer. In
Deutschland beträgt die Differenz der Beschäftigungsquoten zwischen hoch und
gering qualifizierten Personen mehr als 30 Prozentpunkte. Nur gut die Hälfte der
gering qualifizierten erwerbsfähigen Personen in Deutschland ist beschäftigt! Der
Rest befindet sich in Arbeitslosigkeit, Inaktivität, informeller oder gar illegaler
Beschäftigung.
Aufmerksamkeit verdient auch eine leider selten zu sehende Differenzierung des
‚Vollbeschäftigungsziels’ von Lissabon. Das folgende Schaubild zeigt die Beschäftigungsquote der Frauen nach niedriger und hoher Qualifikation.
3
Abbildung 2: Beschäftigungsquoten von Frauen (25–64 Jahre)
nach Qualifikation, 2003
Germany
43.2
France
78.2
50.9
Netherlands
78.0
45.0
82.1
50.9
Denmark
82.9
55.4
Finland
Sweden
83.3
60.2
Ireland
85.7
38.1
Great Britain
81.1
47.2
low skill
85.5
high skill
76.8
30.0
Italy
Spain
36.2
76.0
62.5
Czech Republic
2010: 60 %
Portugal
40.2
31.9
Poland
32.7
Hungary
0.0
10.0
20.0
30.0
40.0
85.9
79.1
80.6
78.9
50.0
60.0
70.0
80.0
90.0
100.0
Niederlande und Italien 2002
Quelle: OECD Employment Outlook 2005, Tabelle D
Hier hat der Lissabon-Gipfel bekanntlich die Messlatte auf 60 Prozent gelegt. Es
ist nicht unwichtig zu sehen, dass sich das Grundmuster bei den Frauen wiederholt: Die hoch Qualifizierten haben – auch hier nahezu unabhängig vom
Beschäftigungssystem – diese Messlatte längst überschritten und liegen nicht weit
von den Männern entfernt. Es sind auch hier – und das ist von Bedeutung – in
noch schärferem Maße die gering qualifizierten Frauen, die in vielen Mitgliedstaaten noch weit von der 60 Prozent-Marke entfernt sind. Und noch wichtiger für
die deutsche Arbeitsmarktpolitik: die Differenz zwischen gering und hoch Qualifizierten ist in Deutschland neben Irland, Italien und den neuen Beitrittsländern
besonders stark ausgeprägt.
4
Abbildung 3: Arbeitslosenquoten (25-64 Jahre) nach Qualifikation, 2003
2010: 5 %
Germany
18.0
5.2
6.1
France
Netherlands
3.8
2.1
Denmark
4.7
Finland
4.3
Sweden
Ireland
7.2
11.1
6.1
3.9
6.3
2.6
Great Britain
12.1
6.9
2.4
Italy
5.3
Spain
9.0
7.7
Portugal
Czech Republic
low skill
11.2
5.7
4.9
high skill
19.8
2.0
6.6
Poland
25.9
1.4
Hungary
0.0
10.6
5.0
10.0
15.0
20.0
25.0
30.0
Niederlande und Italien 2002
Quelle: OECD Employment Outlook 2005, Tabelle D
Die Arbeitslosigkeit nach Qualifikation ist – nicht unerwartet – fast ein Spiegelbild zur Beschäftigungsquote: Hätte der Europäische Rat in Lissabon auch das
Ziel der Halbierung der Arbeitslosenquote bis zum Jahr 2010 gesetzt (von einem
solchen Ziel ist, nebenbei gesagt, leider nicht die Rede), dann wäre dieses Ziel für
die hoch Qualifizierten in den meisten Mitgliedstaaten schon erreicht, für die gering Qualifizierten jedoch fast hoffnungslos außer Reichweite.
Die Schlussfolgerung für die Lissabon-Strategie kann aber nun nicht lauten, einen
riesigen Niedriglohnsektor zu schaffen. Im Gegenteil: Die Grundidee des Europäischen Sozialmodells – nämlich Effizienz (offizieller Sprachgebrauch:
Wettbewerbsfähigkeit) und soziale Gerechtigkeit (soziale Kohäsion) in Übereinstimmung zu bringen – fordert in erster Linie eine massive
Qualifizierungsoffensive, in zweiter Linie erst einen kompensatorischen öffentlich
geförderten Sektor oder die Entlastung des Niedriglohnsektors von Steuer- und
Sozialabgaben. Ich komme darauf zurück.
5
Abbildung 4: Entwicklung befristeter Arbeitsverträge, 1985 und 2003
Germany
12.2
10.0
4.7
France
12.9
7.5
Netherlands
Denmark
14.6
12.3
9.3
10.4
Finland
10.0
Sweden
Ireland
Great Britain
6.1
7.3
7.0
4.8
Italy
16.3
15.1
16.8
9.9
15.8
Spain
30.6
13.8
Portugal
6.7
Czech Republic
6.6
Hungary
0.0
5.0
1985
9.2
4.8
Poland
2003
21.1
19.4
7.5
10.0
15.0
20.0
25.0
30.0
35.0
Ungarn und Polen 1997, Tschechische Republik 1998; Schweden 1990
Quelle: Employment in Europe 2000, 2004
Die zweite große Herausforderung ist die Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Neben riskanter neuer Selbständigkeit und Minijobs sind es vor allem
befristete Arbeitsverhältnisse, die das Beschäftigungsrisiko einseitig und ungerecht auf einen Teil der Beschäftigten übertragen. In fast allen Ländern haben
befristete Arbeitsverhältnisse zugenommen, zum Teil drastisch. Es gibt zwei interessante und typische Ausnahmen: Dänemark und Großbritannien. Beiden
Ländern scheint es – wenn auch aus ganz verschiedenen Gründen und mit unterschiedlichen Konsequenzen für die Einkommensverteilung – gelungen zu sein,
trotz eines schwachen de jure Kündigungsschutzes die de facto Beschäftigungssicherheit zu verbessern.
In allen anderen Ländern sind es besonders Jugendliche und junge Erwachsene,
die dieses Risiko der Beschäftigungsunsicherheit zu tragen haben. Viele, nicht nur
junge Frauen, sondern auch junge Männer veranlasst diese Unsicherheit, auf die
Gründung einer Familie mit Kindern zu verzichten. Sicherlich gibt es noch andere
wichtige Gründe für oder gegen eine Familiengründung mit Kindern, aber der
Zusammenhang von unsicheren Beschäftigungsverhältnissen und geringen Geburtenraten ist auch statistisch gesichert. Soweit Flexibilität für die
Wettbewerbsfähigkeit nötig sein sollte (auch das ist im Detail umstritten und von
Land zu Land verschieden), stellt sich als zweite Herausforderung für die Lissabon-Strategie die Frage, wie diese Flexibilität durch neue Sicherheiten verbunden
werden kann, um vor allem jugendlichen Erwachsenen eine Perspektive zu bieten.
6
Abbildung 5: Beschäftigungsquoten Älterer (55-64 Jahre), 2004 und 1983
Germany
39.2
38.1
France
39.9
37.1
30.6
Netherlands
44.6
50.6
Denmark
47.3
Finland
61.8
51.0
65.5
Sweden
43.5
Ireland
49.5
47.5
Great Britain
30.5
Italy
69.5
56.2
2004
34.1
1983
41.3 41.3
49.1
32.1
Czech Republic
42.6
34.4
28.0
Poland
17.1
Hungary
0.0
10.0
50.3
2010: 50 %
Spain
Portugal
31.1
20.0
30.0
40.0
50.0
60.0
70.0
80.0
Frankreich 2002
Quelle: OECD Employment Outlook 2005, Table C
Eine dritte Herausforderung ist die Beschäftigung Älterer. Mit Ausnahme der
skandinavischen und liberalen Beschäftigungssysteme und mit Ausnahme von
Portugal liegen die meisten europäischen Staaten noch weit hinter dem von Lissabon gesteckten Ziel, die Beschäftigungsquote bis 2010 mindestens bis auf 50
Prozent zu erhöhen. Das hat sehr viel mit der vor allem auf Männer gerichteten
Frühverrentungspolitik der letzten beiden Jahrzehnte zu tun. Auch hier ist der
Grundgedanke des Europäischen Sozialmodells verletzt worden, nämlich Effizienz und nachhaltige soziale Sicherheit in Übereinstimmung zu bringen. Statt in
Beschäftigungsfähigkeit zu investieren, etwa durch massive Weiterbildung für
Erwachsene, wurden viele Ältere frühzeitig aus dem Erwerbsleben ausgegliedert,
obwohl sie noch voll produktiv waren. Der Glaube, damit Arbeitsplätze für Jugendliche zu schaffen, war einer der kostspieligsten Irrtümer der letzten Jahre. Die
Generationengerechtigkeit kann so nicht gelöst werden. In einer Situation, wo
Jugendliche immer später ins Erwerbsleben eintreten, obwohl sie immer kleiner
an der Zahl werden, und Ältere immer früher aus dem Erwerbsleben austreten,
obwohl sie immer größer an der Zahl werden, erfordert das (zu entwickelnde)
Europäische Sozialmodell einen neuen Generationenvertrag, der nicht auf einer
weiteren Verkürzung und Verdichtung, sondern auf einer Verlängerung und Entzerrung des Arbeitslebens basiert.
Schauen wir genauer hin, dann sehen wir, dass die Erhöhung der Beschäftigungsquote auch ein Problem der Frauen ist. Wieder mit Ausnahme Skandinaviens, ist
die Beschäftigungsquote älterer Frauen sogar noch weiter vom Lissabon-Ziel entfernt als die der Männer.
7
Abbildung 6: Beschäftigungsquoten von Frauen (55-64 Jahre), 2004 und 1983
24.0
Germany
29.8
30.4
France
32.5
12.5
Netherlands
32.5
39.1
Denmark
54.2
44.1
Finland
50.4
57.4
Sweden
18.9
Ireland
67.4
34.0
33.4
Great Britain
47.3
2004
1983
14.6
19.6
19.7
Spain
24.6
31.8
Portugal
19.1
Czech Republic
29.4
21.0
Poland
Hungary
10.0
26.8
25.0
9.2
0.0
42.5
2010: 50 %
Italy
20.0
30.0
40.0
50.0
60.0
70.0
80.0
Tschechische Republik und Polen 1994, Ungarn 1995, Großbritannien1984
Quelle: OECD Employment Outlook 1997, 2005: Tabelle C
Damit ist ein anderes Gerechtigkeitsproblem angesprochen, das Problem der Geschlechtergerechtigkeit. Auch wenn – wie beispielweise die steigenden
Erwerbsquoten der Frauen zeigen – Fortschritte in der Gleichstellung der Geschlechter auf dem Arbeitsmarkt unverkennbar sind, ist ein neuer
Geschlechtervertrag ins Visier zu nehmen, der den Frauen und Männern – auch
den älteren Erwachsenen – die Möglichkeit gibt, Erwerbstätigkeit und die Betreuung von Kindern und pflegebedürftigen Eltern in Übereinstimmung zu bringen.
Dass der neue Geschlechter- und Generationenvertrag nicht so aussehen sollte wie
in folgender Karikatur, versteht sich von selbst.
8
2. Wie könnten geeignete Strategien für eine bildungsbezogene
Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik aussehen?
Der Forschungsstand zur Schnittstelle Bildung und Beschäftigung und die Erfahrungen guter Praktiken aus der Lissabon-Strategie legen vier Ansatzpunkte für
eine bildungsorientierte Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik nahe:
-
Zeitgerecht wären erstens mehr Investitionen in den primären Bildungsbereich,
-
sachgerecht wären zweitens mehr Investitionen in den tertiären Bildungsbereich,
-
sozial- und sachgerecht wären drittens mehr Investitionen in die berufliche
Weiterbildung, vor allem Älterer,
-
und sozialgerecht wäre eine stärker arbeitsplatzbezogene Weiterbildung
für gering qualifizierte Arbeitslose.
(1) Zeitgerecht wäre es, mehr in den primären Bildungsbereich zu investieren.
Hier muss zunächst das Stichwort PISA genügen. Der Schock für Deutschland
war nicht so sehr das mittelmäßige Abschneiden im internationalen Vergleich,
sondern die Erkenntnis, dass die Bildung unserer Kinder vom Geldbeutel ihrer
Eltern abhängt. Geringe Bildung wird also gewissermaßen vererbt. Neben der
sozialen Ungerechtigkeit werden damit ungeheure Bildungspotentiale – und damit
auch Wachstumspotentiale! – nicht ausgeschöpft. Weist man darüber hinaus die
ungeheuerliche Vorstellung zurück, dass Begabung mit Status, Einkommen und
ethnischer oder gar rassischer Herkunft zusammenhängt entschieden zurück, dann
bedeutet das gleichzeitig, dass in unserem System dauerhaft das Menschenrecht
auf gleiche Bildungsausstattung verletzt wird. In skandinavischen Ländern spielt
die soziale Herkunft dagegen kaum eine Rolle für das Bildungsniveau der Kinder,
und Lehrer genießen z.B. in Finnland einen weit höheren Status in der Gesellschaft als bei uns.
Zweitens ist sich die Bildungsforschung einig: ‚Was Hänschen nicht lernt, lernt
Hans nimmermehr’ – z.B. Fremdsprachen, soziale Kompetenzen, Abstraktionsvermögen – kurz, das Lernen zu lernen. Diagnose und Therapie dürfen also nicht
erst am Arbeitsmarkt ansetzen. Sie müssen schon im Vorschulalter beginnen.
Drittens geht es weniger um mehr Geld für Bildung im Vorschulalter. Das auch.
Vielmehr geht es darum, den Ertrag von schon getätigten Bildungsinvestitionen
auszuschöpfen und den immer besser gebildeten jungen Erwachsenen (vor allem
Frauen) die Möglichkeit zu geben, Familie, Beruf und Karriere in Übereinstimmung zu bringen. Das setzt bezahlbare Betreuungsdienstleistungen oder
öffentliche Kinderbetreuungseinrichtungen und Vorschulen voraus. Zwei Zahlen
zeigen die Größenordnungen, um die es geht: Für Dänemark wurde berechnet,
wie viel der Staat gewinnt, wenn er einer jungen Mutter oder einem jungen Vater
mit zwei Kindern durch umfassende Kinderbetreuung erlaubt, fünf Jahre voll beschäftigt zu bleiben, anstatt fünf Jahre gänzlich aus dem Erwerbsleben
9
auszusteigen. Es sind 260 000 Dänische Kronen, also etwa 35 000 Euro (EspingAndersen 2005). In Deutschland hat das Ifo-Institut berechnet, dass der Staat aus
der Lebenslaufperspektive betrachtet an einem Kind etwa 77 000 Euro verdient.
Aber anstatt diese so genannten positiven fiskalischen externen Effekte in Bildungsinfrastruktur zu investieren, findet eine gigantische Umverteilung von
kinderreichen zu kinderarmen oder gar kinderlosen Familien statt (Biedenkopf
2005).
(2) Sachgerecht wäre es, mehr in den tertiären Bildungsbereich zu investieren.
Zunächst zeigen uns hier die Statistiken, dass ein Großteil der beschäftigungspolitisch erfolgreichen Länder wesentlich mehr Absolventen mit akademischem
Abschluss aufweisen als beschäftigungspolitisch weniger erfolgreiche Länder. In
Dänemark sind es 35 Prozent, in Finnland und Schweden 40 Prozent, in Großbritannien 33 und in den USA 39 Prozent der 25-34jährigen, die einen tertiären
Bildungsabschluss aufweisen gegenüber nur 22 Prozent in Deutschland. In Finnland und Schweden treten etwa drei Viertel der jungen Erwachsenen in einen
tertiären Studiengang ein, in Deutschland sind es gut ein Drittel (37,5 Prozent in
2004). Laut Nationales Reformprogramm Deutschland vom Dezember 2005 sollen es bis 2010 40 Prozent werden (Bundesregierung 2005, OECD 2005, S. 37
und 242).
Solche Statistiken besagen – zweitens – freilich noch wenig, zumal sie im Bildungsbereich schwer vergleichbar sind. Aber auch die Theorie der
Wissensgesellschaft, soweit man von einer solchen sprechen kann, weist einmütig
auf die wachsende Bedeutung des theoretischen Wissens, der kommunikativen
Fähigkeiten und der Problemlösungskompetenzen hin. Das duale Ausbildungssystem ist zwar im engeren handwerklichen Bereich hochwertig und weltweit Spitze.
Es sollte daher auch weiter gepflegt werden. Aber für die modernen Dienstleistungsberufe im Bereich Information und Kommunikation, wie auch für viele
personenbezogene Dienstleistungen ist das duale System nur noch begrenzt zukunftsfähig. Rund 1,36 Mio. erwachsene Jugendliche zwischen 20 und 29 Jahren
(fast 15 Prozent) sind ohne Ausbildung (Mikrozensus 2003), und etwa ein Fünftel
der Ausbildungsverträge wird frühzeitig wieder gelöst. Es scheint auch – von
Ausnahmen abgesehen – nicht geeignet, bildungsferne und junge Migranten zu
integrieren: 37 Prozent der Jugendlichen ausländischer Herkunft haben keine
Ausbildung (Berufsbildungsbericht 2005).
Drittens sprechen die Berufsbildungsforscher von einer Renaissance der berufsfachlichen und professionellen Arbeitsmärkte, d.h. von einer Abkehr
betriebsspezifischer Qualifizierungsprozesse in internen Arbeitsmärkten. Die
Globalisierung von Arbeitsmärkten sowie die neuen Informationstechnologien
setzen hohe Mobilität voraus und die Möglichkeit von Quereinstiegen auf allen
Bildungsstufen.
Das gilt, viertens, um so mehr für den europäischen Arbeitsmarkt: Dessen Integration setzt Transparenz von Bildungsabschlüssen sowie hohe und einheitliche
Qualitätsstandards voraus (Mytzek und Schömann 2004).
10
(3) Sachgerecht und sozialgerecht wäre es, mehr in die berufliche Weiterbildung
von Älteren zu investieren. Zunächst ein kurzer Blick auf die Statistik:
Abbildung 7: Weiterbildungsbeteiligung der Beschäftigten, 2003
Germany
9.0
14.0
France
14.0
Belgium
14.0
23.0
22.0
Denmark
39.0
46.0
39.0 44.0
Finland
Sweden
43.0
Ireland
45.0
14.0
10.0
Great Britain
25.0
34.0
Total
6.0
Italy
4.0
Spain
4.0
9.0
Portugal
4.0
9.0
Czech Republic
12.0
Poland
Hungary
55-64
14.0
8.0 12.0
4.0
0.0
5.0
10.0
20.0
30.0
40.0
50.0
60.0
Quelle: OECD 2005, Tabelle C6.4
Diese zeigt uns eine große Varianz in der Weiterbildungsbeteiligung von Älteren
zwischen den europäischen Ländern.3 Sie korreliert zum Teil mit den Sozialstaatstypen: Weit an der Spitze – und zwar gemeinsam – stehen die skandinavischen
Länder. Deutschland scheint – wie auch die ‚Frühverrentungsländer’ Frankreich,
Belgien und Italien – die Älteren bei der Weiterbildung abgeschrieben zu haben.
Das Nationale Reformprogramm Deutschland 2005 berichtet zwar, dass die Weiterbildungskosten für ältere Beschäftigte bis Ende 2006 übernommen werden
können, die Fakten sind jedoch alles andere als ermutigend:
3
-
Drei Viertel aller Kleinbetriebe mit ein bis neun Beschäftigten (die insgesamt etwa fünf Millionen Arbeitplätze vertreten) bieten ihren Mitarbeitern
keine Weiterbildung an.
-
Die Weiterbildungsangebote des Job-Aqtiv Gesetzes werden nicht angenommen: Im Jahr 2004 wurden gerade mal 1 740 Eintritte in Jobrotation
gezählt, 1 060 Eintritte in geförderte Weiterbildung von ungelernten Beschäftigten und von 2002 bis 2004 160 Weiterbildungseintritte von älteren
Beschäftigten in KMU-Betrieben (Adamy 2006).
Es handelt sich um „nicht-formalisierte“ (aber, im Gegensatz zu „informeller“ Weiterbildung, um organisierte und systematische Weiterbildung innerhalb oder außerhalb der Betriebe) und um
arbeitsplatzbezogene (nicht um die Dauer gewichtete) Weiterbildungsbeteiligung; die Vergleichbarkeit
der Daten ist daher nur sehr begrenzt; ‚total’ bezieht sich auf die Altersgruppe 25-64. Das Muster verändert sich kaum, wenn formalisierte Weiterbildungsgänge hinzugenommen werden; diese sind allerdings
nicht nach Altersgruppen ausgewiesen.
11
Woran liegt das? An der Weiterbildungsfinanzierung allein kann es nicht liegen.
Bietet Schweden mit 43 Prozent Weiterbildungsbeteiligung von Älteren gegenüber nur neun Prozent in Deutschland eine Erklärung? Ich sehe vier
Anhaltspunkte, deren genauere Prüfung sich lohnen würde:
Erstens die geringen Anreize zur Frühverrentung in Schweden. Betriebe und
Menschen, die einen Erwartungshorizont der Beschäftigung bis mindestens zur
Mitte des sechzigsten Lebensalters haben, investieren auch mehr in Bildung. Es
ist zu erwarten, dass mit dem Abbau der Frühverrentung auch in Deutschland die
Weiterbildungszahlen für Ältere steigen werden.
Zweitens investieren die Schweden auch viel mehr in die Anpassung der Arbeitsplätze oder der Arbeitsorganisation, um mögliche Handicaps und
Leistungsminderungen von Älteren auszugleichen.
Drittens erzielte Schweden einen großartigen Erfolg mit einem riesigen Programm
der „Wissensanhebung“ (‚kunshaftsliftet’): Von 1997 bis 2002 investierte die
schwedische Regierung jährlich etwa 350 Millionen Euro für die Weiterbildung
von gering qualifizierten Erwachsenen, und zwar nicht nur von Arbeitslosen, sondern auch von Beschäftigten. Auf deutsche Maßstäbe umgerechnet wären das
jährlich etwa 3,5 Milliarden Euro und zusätzlich etwa 900.000 Teilnehmer in
Weiterbildungsmaßnahmen. Der deutschen Arbeitsmarktpolitik ist dagegen das
‚Kunststück’ gelungen, seit Beginn der Lissabon-Strategie den jahresdurchschnittlichen Teilnehmerbestand von Arbeitslosen in Weiterbildung von 425.000 (1997)
auf 130.000 (2005) herunterzuschrauben. Bei der berechtigten Bemühung um
mehr Effektivität und Effizienz besteht die Gefahr, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Vor allem aber wurde die Zielgruppe der noch beschäftigten, aber von
Arbeitslosigkeit bedrohten gering qualifizierten älteren Erwachsenen strategisch
noch nicht in das Visier genommen.
Viertens setzen mehr Bildungsinvestitionen in Ältere auch erwachsenengerechte
Formen der beruflichen Weiterbildung voraus, insbesondere modulare und zertifizierungsfähige Kurse. Für Betriebe, insbesondere Klein- und Mittelbetriebe, ist es
wichtig, in Phasen der arbeitsplatzfernen Weiterbildung ihrer Beschäftigten passende Stellvertreter zu finden. Das setzt intelligente Formen der
Arbeitsorganisation voraus sowie finanzielle und organisatorische Unterstützung
von außen. Die Skandinavier haben dafür u.a. das System der Jobrotation (Oschmiansky u.a. 2001) erfunden – also die Gleichzeitigkeit der Weiterbildung von
Beschäftigten und der Einstellung von Arbeitslosen als Stellvertreter. Seit Beginn
dieses Jahres erhalten die schwedischen Betriebe im öffentlichen Sektor einen
Erlass von Lohnnebenkosten bis zu 400 Euro im Monat, wenn sie für einen Arbeiternehmer in Weiterbildung einen Stellvertreter aus dem Arbeitslosenpool
einstellen.
(4) Sozialgerecht wäre eine stärker arbeitsplatzbezogene Weiterbildung für gering qualifizierte Arbeitslose. Die bisherigen Erfahrungen der Lissabon-Strategie
lassen sich in vier stilisierten Fakten zusammenfassen:
12
-
Gering Qualifizierte sind erstens überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit
betroffen,
-
zweitens bildungsfern in dem Sinne, dass sie nicht gewohnt sind zu lernen,
-
drittens in der Regel aber motiviert, Erfahrungen am Arbeitsplatz zu sammeln und durch Zusatzqualifikationen in Form modularer Bausteine
anzureichern,
-
und weisen viertens auch ein nachweisbar geringeres Risiko auf, wieder
arbeitslos zu werden, wenn sie Gelegenheit zu systematischer Weiterbildung am Arbeitsplatz haben.
Daraus lässt sich der Schluss ziehen: Es wäre eine sinnvolle beschäftigungspolitische Strategie, gering qualifizierten Arbeitslosen erst einen Job anzubieten und
dann alles zu tun, damit sie sich auf diesen Jobs weiterbilden können. Es sollte
also nicht nur Arbeitsvermittlung gehen, sondern um Arbeitsvermittlung plus Förderung der Beschäftigungsfähigkeit.
3. Strategien für oder gegen den Niedriglohnsektor
Was kann nun für den so genannten Niedriglohnsektor getan werden, d.h. für diejenigen, für die Bildungsinvestitionen nicht ausreichen oder zu spät kommen? Mit
drei stilisierten Fakten möchte ich zunächst die Rahmenbedingungen einer ‚Strategie des Niedriglohnsektors’ aufzeigen (Abb. 8):
13
Abbildung 8: Zusammenhang zwischen Gesamt-Abgabenbelastung und
Beschäftigung im privaten Sektor, 1997-98
70
Beschäftigungsquote privat (1998)
r = -0,68
CH
JAP
65
USA
60
UK
AUS
CAN
55
N
NZL
50
DK
NL
D
IRL
A
FL
S
B
45
F
I
40
25
30
35
40
45
50
55
Steuern + Sozialabgaben als % des BIP (1998)
Quelle: Scharpf und Schmidt (2000: Statistical appendix)
Erstens ist der Zusammenhang zwischen der gesamten Abgabenbelastung durch
Steuern und Sozialabgaben und der Beschäftigung im privaten Sektor deutlich
negativ: Je höher die Gesamtbelastung, desto niedriger die Beschäftigungsquote
im privaten Sektor. Die Belastung des Faktors Arbeit durch Abgaben geht – lehrbuchgemäß – auf Kosten des Beschäftigungsniveaus. Deutschland weist
gegenüber dem Extremfall Schweden eine mittlere Gesamtabgabenbelastung auf,
aber zugleich unterdurchschnittliche Beschäftigungsquoten im privaten Sektor,
was auf zusätzlich belastende Faktoren hinweist.
14
Abbildung 9: Zusammenhang von Lohnsteuern und Sozialabgaben bei
zwei Dritteln des Durchschnittslohns und Beschäftigung
im Handel, Gaststätten- und Hotelgewerbe
Beschäftigungsquote ISIC 6 (1998)
18
JAP AUS
r = -0,82
CAN
USA
CH
16
NZ
N
14
UK
IRL
NL
A
DK
12
D
S
10
F
I
FL
B
8
15
20
25
30
35
40
45
50
Lohnsteuer und Sozialabgaben bei 2/3 des Durchschnittslohns in % (1998)
55
Quelle: OECD Statistical Compendium
Die Theorie sagt weiter voraus, dass die negativen Beschäftigungswirkungen der
lohnbezogenen Abgaben (also Lohnsteuer und Sozialabgaben) vor allem die arbeitsintensiven Dienstleistungen betreffen, darunter besonders solche, die
einfache und auf dem Arbeitsmarkt weithin verfügbare Qualifikationen voraussetzen. Entsprechend deutlicher ist der negative Zusammenhang von
Abgabenbelastung und Beschäftigung für Dienstleistungen im Einzel- und Großhandel sowie Gaststätten- und Hotelgewerbe, in denen Arbeitsplätze mit geringem
Qualifikationsniveau vorherrschen. Deutschland und Schweden liegen hier einträchtig zusammen, während es beispielsweise den Niederlanden durch
Integration der Sozialabgaben in das Steuersystem gelungen ist, die Belastung im
Niedriglohnsektor zu verringern mit entsprechend höheren Beschäftigungsquoten.
Aber warum haben dann die skandinavischen Länder Finnland, Schweden und
Dänemark kein ausgeprägtes Problem des Niedriglohnsektors? Das dritte stilisierte Fakt gibt den Hinweis: Offensichtlich gleichen diese Länder das
Beschäftigungsdefizit im privaten Sektor durch einen ausgebauten öffentlichen
Sektor aus. Dieser ist in Deutschland sogar noch etwas geringer ausgeprägt als in
den Vereinigten Staaten, wie dem folgenden Schaubild zu entnehmen ist.
15
Abbildung 10: Zusammenhang von Steuern und Sozialabgaben und Beschäftigung
im öffentlichen Sektor
25
Beschäftigungsquote Staat (1998)
N
r = 0,69
DK
S
20
F
15
A
CAN
FL
CH
USA
B
IRL
10
AUS
UK
NZL
D
NL
I
JAP
5
25
30
35
40
45
50
55
Steuern + Sozialabgaben als % des BIP (1998)
Quelle: Scharpf und Schmidt (2000: Statistical appendix)
Was folgt daraus? Es gibt starke Anhaltspunkte, dass die geringe Beschäftigungsdynamik in Deutschland, insbesondere im Bereich der gering qualifizierten
Dienstleistungen, nicht generell wegen einer hohen Abgabenquote zustande
kommt, sondern wegen der besonderen Struktur der Finanzierung des Sozialsystems und dem politischen Willen, die Rolle des Staates als
Dienstleistungsarbeitgeber in engen Grenzen zu halten. Es sind vor allem die hohen lohnbezogenen Sozialabgaben für gering Qualifizierte, welche die
Beschäftigungsdynamik bremsen, und es ist fragwürdig, ob hohe undifferenzierte
Mehrwertsteuern – die hierzulande geplant sind – dieses Boot wieder flott machen. Jedenfalls belegt auch hier die Statistik, dass OECD-Länder mit hoher
Mehrwertsteuerbelastung (bezogen auf das Bruttoinlandprodukt) beispielsweise
geringere Beschäftigungsquoten im Groß- und Einzelhandel sowie im Hotel- und
Gaststättengewerbe aufweisen als Länder mit geringer Mehrwertsteuerbelastung.
Was sind die Alternativen? Die erste nahe liegende Möglichkeit, den öffentlichen
Dienstleistungsbereich – an Skandinavien orientiert – weiter auszubauen, erwähne
ich nur en passant. Ihre Umsetzung bedürfte eines politischen Paradigmenwechsels, für den derzeit kaum Chancen bestehen. Hier möchte ich – gestützt auf
Erfahrungen mit Leistungsvergleichen von Beschäftigungssystemen mit anderen
Ländern (u.a. Scharpf und Schmidt 2000, Schmid 2002) – vier Punkte in die Debatte werfen, die mit den derzeitigen institutionellen Rahmenbedingungen
kompatibel sind:
16
Erstens kann die Möglichkeit geschaffen werden, zum Sozialgeld oder Arbeitslosengeld zusätzliche Einkünfte zu erwerben oder Steuerkredite für Geringverdiener
zu gewähren. Solche Kombilöhne – die es im Übrigen, von Steuerkrediten abgesehen, auch bei uns schon gibt – sind jedoch nur unter zwei Bedingungen
sinnvoll: bei Menschen mit eingeschränkten Produktivitätspotentialen (also den
nicht mehr bildungsfähigen Menschen) oder mit eingeschränkten Arbeitskapazitäten (etwa den Alleinerziehenden oder aus gesundheitlichen Gründen
Leistungseingeschränkten) und unter der Voraussetzung eines effektiven Mindestlohns. Dass ein anständiger Mindestlohn die Beschäftigungsdynamik abwürgt,
wie gegenwärtig von vielen Ökonomen oder Arbeitgebern behauptet, wird vom
britischen Experiment widerlegt (Bosch und Weinkopf 2006).
Anstelle der Krücke von Kombilöhnen, die nur selektiv einen Sinn machen, erscheinen zweitens Freibeträge auf Sozialabgaben (also für Arbeitnehmer wie
Arbeitgeber) im unteren Einkommensbereich sinnvoller. Dafür gibt es zwei substantielle theoretische Gründe: Erstens gleichen sie auf der Angebotseite das
geringere Produktivitätspotential der Bezieher niedriger Einkommen aus. Zweitens berücksichtigen sie auf der Nachfrageseite das geringere Potential der
Produktivitätssteigerung vor allem in personenbezogenen Dienstleistungen.
Drittens gäbe es die Möglichkeit einer Lohnversicherung, um bei einem Übergang
in eine Beschäftigung mit niedrigeren Löhnen den Einkommensverlust zumindest
zeitweise durch einen Lohnergänzung auszugleichen. So zahlt z. B. die Schweiz
für ein bis zwei Jahre einen „Zwischenverdienst“ für die Differenz zwischen altem und neuem Gehalt. Diese Erweiterung der Arbeitslosenversicherung zu einer
Lohnversicherung hat sich in der Schweiz nach strengen wissenschaftlichen Evaluationen als eines der effizientesten arbeitsmarktpolitischen Instrumente erwiesen
(Lechner et al. 2004). Die deutsche Entgeltsicherung für Ältere weist dagegen
sowohl Defizite im Programmdesign als auch in der Implementation auf (Leschke
et al. 2006).
Eine vierte Option ist die Beibehaltung oder gar Verstärkung der Progression in
der Einkommensbesteuerung, insbesondere der Besteuerung von nicht investiertem Vermögen und von Erbschaften, eventuell auch eine Progression bei den
Sozialabgaben. Auch dafür gibt es gute theoretische Gründe: Zum einen steigt mit
höheren Einkommen die Zufallskomponente gegenüber der Leistungskomponente, zum anderen sinkt der marginale Nutzen in der Verwendung.
4. Die Zukunft der Lissabon-Strategie
Wie ist nun die Lissabon-Strategie im Hinblick auf die zentralen Herausforderungen und skizzierten Lösungsstrategien zu beurteilen? Ich halte die LissabonStrategie in zweierlei Hinsicht für verbesserungsbedürftig: Zum einen kann der
Prozess der „Offenen Methode der Koordinierung“ selbst noch erheblich verbessert werden und zum anderen bedarf er wesentlicher Ergänzungen.
17
(1) Erstens muss die qualitative Dimension der Zielindikatoren verbessert werden, beispielsweise durch eine Verknüpfung der quantitativen Beschäftigungsziele
mit qualitativen Indikatoren wie Angaben der Vollzeitäquivalente (relevant vor
allem für Frauen) oder effektive Beschäftigungszeiten. So liegt, um nur ein Beispiel zu geben, Schweden mit einer Beschäftigungsquote von 73,5 Prozent (2004)
deutlich über der Lissabon-Messlatte. Die effektive Beschäftigungsquote, d.h. die
Zahl der Personen, die in einer normalen Woche auch tatsächlich am Arbeitsplatz
sind, beträgt in Schweden jedoch nur – je nach Berechnung – 61,2 oder 64,5 Prozent. Die Ursachen dafür sind, auf der positiven Seite, Eltern- und Bildungszeiten,
auf der negativen Seite aber auch der im internationalen Vergleich überdurchschnittlich hohe Krankenstand in Schweden.
Aufschlussreich ist auch eine Zerlegung der Beschäftigungsdynamik in ihre
Komponenten, beispielsweise die Zerlegung der Beschäftigungsdynamik in die
Komponenten Arbeitszeit, demografische Entwicklung und Veränderung des Erwerbsverhaltens, oder die Zerlegung der ökonomischen Wohlfahrtsdynamik
gemessen als Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts in ihre vier Komponenten
Arbeitsproduktivität, Arbeitszeit pro Beschäftigte, Erwerbsbeteiligung und erwerbsfähige Wohnbevölkerung (vgl. Kapitel 2 in Schmid 2002). Solche
Differenzierungen zeigen, dass nicht nur die Beschäftigungs- und Wachstumsziele
mit unterschiedlichen Strategien erreicht werden, sondern auch die kulturellen
Präferenzen – etwa die Wahl zwischen Freizeit und Geld – verschieden sein können.
Wichtige qualitative Aspekte sind auch die Dynamik der Arbeitsbedingungen
(z.B. Aufstiegs- und Abstiegsmobilität, Armutsrisiko und Weiterbildungspotential
von Arbeitsplätzen) und nicht zuletzt die Lohnstrukturen im Vergleich zur Produktivität.
Die Mitgliedstaaten sollten auch die Möglichkeit einer eigenständigen Prioritätensetzung sowohl im Bereich der quantitativen als auch der qualitativen Dimension
haben. Leistungsvergleiche sollten deshalb eher zwischen vergleichbaren Gruppen
innerhalb der Mitgliedstaaten als über eine einzige – alle Länder über einen
Kamm scherende – Messlatte erfolgen. Die derzeitig quantifizierten Ziele (etwa
die Zielmarke von 70 Prozent Beschäftigungsquote) sind – vor allem mit Rücksicht auf mögliche Zielkonflikte (Qualität bzw. Nachhaltigkeit versus Quantität
der Jobs) – immer wieder begründungsbedürftig. Eine höchstmögliche Beschäftigungsquote ist – wie uns die sozialistisch-kommunistischen Länder vorführten –
kein erstrebenswertes Vollbeschäftigungsziel. Es besteht ansonsten die Gefahr,
dass vor allem die im europäischen Sozialmodell so hoch gehaltenen Zielsetzungen des sozialen Ausgleichs, der universellen Anwendung sozialpolitischer
Standards sowie nachhaltiger Qualitätsstandards den (meist kurzfristigen) Prioritäten fiskalpolitischer Konsolidierung oder den durchsetzungsfähigsten
Wirtschaftsinteressen geopfert werden.
(2) Zweitens bedarf es einer analytischen Unterfütterung der Beschäftigungsziele,
z.B. Machbarkeitsstudien für einzelne Länder über einen realistischen Fahrplan
der Zielereichung und entsprechend eigenständige Zielsetzungen. Die verglei-
18
chende Methodik von Wirkungsanalysen auf Länderebene ist weiter zu entwickeln, um endogene von exogenen Faktoren zu unterscheiden. Nur auf diese
Weise kann geklärt werden, ob die Zielerreichung auf unterschiedliche Handlungsstrategien oder auf unterschiedliche und nicht beeinflussbare
Herausforderungen zurückzuführen ist. Auch für die Lissabon-Strategie sind die
Ergebnisse psychologischer Lernforschung zur Kenntnis zu nehmen: Lernen erfolgt nur, wenn die Akteure die für sie beeinflussbaren von unbeeinflussbaren
Faktoren klar unterscheiden können. Die von der Kommission eingeführten
„Thematischen Seminare“ wären ein geeignetes Vehikel dafür, vergleichende und
praxisnahe Wirkungsforschung – durchaus auch länderübergreifend kompetitiv –
laufend zu verbessern. Die Kommission könnte darauf achten, dass alle Länder
Mindeststandards für belastbare Evaluationen (vor allem Kontrollgruppendesigns)
einhalten. Die Erfahrungen zeigen, dass das wechselseitige Lernen von guten
Praktiken vor allem daran scheitert, dass unklare Vorstellungen über die Nettowirkungen, die Kosten-Nutzen-Relationen und die Aufteilung der entsprechenden
Risiken unter den Akteuren bestehen. Empfehlungen guter Praktiken der Kommission müssen daher mit nationalen Modellrechnungen konkreter
Investitionsszenarien versehen werden. In anderen Worten: die Beweislast muss
auf die Kritiker zurückgewälzt werden, welche die Finanzierung immer als Totschlagargument guter Praktiken verwenden.
Zu guter Letzt gilt die Anforderung an Evaluationen mit methodischen Mindeststandards auch für die Arbeitsmarktprogramme auf europäischer Ebene. Jaap de
Koning (2006) stellt allerdings resigniert fest, dass beispielsweise für die von der
Kommission geförderten EQUAL-Programme keine Beispiele für rigorose Evaluationen bekannt sind, aus denen der Mehrwert dieser als Innovation gedachten
Programme gegenüber tradierten Programmen herausgelesen werden könnte.
(3) Drittens müssen die Prozessstrukturen des Miteinander-Lernens verbessert
werden, etwa durch Verstärkung der Kommunikation zwischen Experten, um
‚epistemische Gemeinschaften’ (Haas 1992) entstehen zu lassen, also die Mitgliedstaaten übergreifende Professionsgemeinschaften, welche die gleiche
Sprache sprechen und die gleiche Problemsicht (aber nicht notwendigerweise die
gleiche Problemlösung) teilen. Auch die Präsentation von Leistungsvergleichen
muss differenzierter als bisher erfolgen. So genannte Ranking-Listen sollten beispielsweise nur mit erklärendem Kontext und mit interpretierenden
Begleitindikatoren veröffentlicht werden. Darüber hinaus muss die Öffentlichkeit,
insbesondere die parlamentarische Öffentlichkeit, bei der Erstellung, Verabschiedung und Evaluierung der Nationalen Reformpläne eingezogen werden.
Gemeinsame mittelfristige Schwerpunktsetzungen in diesen Plänen könnten die
EU-weite Kommunikation und Aufmerksamkeit verbessern. Die OMK könnte
schließlich auch reflexiv gewendet werden, d.h. das Verfahren könnte nicht nur
auf europäisch-nationaler, sondern auch auf regionaler (Bündnisse für Arbeit),
sektoraler (sozialer Dialog) und betrieblicher Ebene (Sozialbilanzen) angewendet
werden. Als praktische Schlussfolgerung könnte sowohl auf der KommissionsEbene als auch auf der nationalen (eventuelle sogar auf der regionalen) Ebene ein
aus Wissenschaftlern und Politikern zusammengesetztes Netzwerk von TaskforceEinheiten aufgebaut werden.
19
(4) Viertens besteht ein erheblicher Nachholbedarf in der verstärkten Einbeziehung der demokratischen Öffentlichkeit sowohl in die laufenden Ziel- und
Strategiedebatten der Europäischen Beschäftigungsstrategie und der OMK, als
auch in die Verbreitung der Ergebnisse. So kann z. B. das „naming and shaming“
anstelle harter Sanktionen nur dann wirksam sein, wenn die Medien entsprechende öffentliche Debatten schüren. Untersuchungen zeigen jedoch, dass die mediale
Aufmerksamkeit für europäische Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik seit
1997 eher nachgelassen hat als dass sie verstärkt wurde (de la Porte und Pochet
2004).
Aber auch die Grenzen des „weichen Rechts“ sind offenkundig geworden. Wolfgang Merkel (2006) spricht sogar – aus meiner Sicht allerdings weit überzogen –
vom „sozialpolitischen Placebo“ der ‚Offenen Methode der Koordinierung’. Das
Politikversagen, das hier konstatiert wird, hängt vor allem mit der mangelnden
Berücksichtigung der Anreizstrukturen öffentlicher Güter zusammen. Wie Stefan
Collignon (2006) feststellt, mag die weiche und Souveränität schonende Steuerung für ‚inklusive öffentliche Güter’ – bei denen Kostenträger und Nutznießer
einigermaßen klar zu identifizieren sind – noch angehen, um Probleme der freiwilligen Kooperation (die sich aus dem Gefangenendilemma ergeben könnten)
oder der Informationsasymmetrie zu lösen. Bei ‚exklusiven öffentlichen Gütern’,
bei denen die Ressourcen begrenzt, die Akteure von den (positiven wie negativen)
externen Effekten aber kaum auszuschließen sind,4 ist der Anreiz zum Trittbrettfahrerverhalten groß, wenn keine verbindlichen Regeln mit harten Sanktionen
oder – ersatzweise – kein einheitlicher (zentraler) Akteur vorhanden sind.
Die Relevanz dieser Konstellation ist derzeit stark umstritten.5 Wenn man jedoch,
wie etwa Collignon, von starken externen Effekten auch der Arbeitsmarkt- und
Beschäftigungspolitik nationaler Staaten auf andere Länder (und das gilt besonders für die Eurozone mit einheitlicher Währung) ausgeht, dann liegt die
Schlussfolgerung nahe, für sensitive Bereiche mit starken transnationalen Interdependenzen auch verbindlichere Koordinationsmechanismen als Ergänzung zur
OMK zu fordern.6
(1) Erstens sollten im Falle zentraler Zielsetzungen, deren Nichteinhaltung unfairen oder ruinösen Wettbewerb hervorruft, Mindeststandards durch so genannte
‚harte’ Rahmenrichtlinien gesetzt werden. Im Falle der Beschäftigungspolitik sind
die Arbeitsbedingungen bei Zeitarbeit, die Mindestbildungsausstattung für Jugendliche, die Weiterbildung für gering qualifizierte Erwachsene sowie die
Integration der Migranten entsprechende wünschenswerte Regelungsfelder.
4
5
6
Collignons Terminologie ist ungewöhnlich und intuitiv etwas verwirrend, da er mit ‚exklusiven’ öffentlichen Gütern offenbar insgesamt erhebliche, aber nicht klar zuzuordnende externe Effekte meint, von
denen Nutzer oder (negativ) Betroffene nicht ausgeschlossen werden können; er bezieht sich offenbar
auf die Tatsache, dass sich potenzielle Nutzer oder Betroffene durch Freibeuterverhalten auf der Beitragsseite des öffentlichen Guts ausschließen können.
Vgl. u.a. Casey (2005), Scharpf (2002), Schmid und Gazier (2002), Schmid und Kull (2004), Kaelble
und Schmid (2004), Zohlnhöfer und Ostheim (2005), Falkner et al. (2005).
Die daraus zu ziehende Schlussfolgerung einer weiteren Demokratisierung europäischer Entscheidungsprozesse, bis hin zu den „Vereinigten Staaten von Europa“ (Collignon 2006), kann hier nicht diskutiert
werden.
20
(2) Zweitens könnte die Verbindlichkeit der Nationalen Reformpläne (NRP)
durch Diskussion und Verabschiedung in den nationalen Parlamenten gestärkt
werden; eine die zuständigen Ministerien übergreifende Taskforce könnte Koordinationsaufgaben und das laufende Monitoring übernehmen. Schließlich könnten
die nicht ganz unbescheidenen Mittel des Europäischen Struktur- und Sozialfonds
konditional stärker an die Verpflichtung auf die beschäftigungspolitischen Leitlinien sowie an die Voraussetzungen zu ihrer Einführung geknüpft werden. Das gilt
insbesondere für die zehn Beitrittsländer, denen bestimmte Infrastrukturen zur
Umsetzung der Leitlinien fehlen (z.B. industrielle Sozialpartnerschaft oder effiziente Vermittlungs- und Beratungsdienste).
(3) Drittens steckt die – auch im Europäischen Verfassungsentwurf geforderte –
Koordination von Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik noch in den Kinderschuhen. Zwischen den so genannten ‚Breiten ökonomischen Politikrichtlinien’, die
das für Ökonomie und Finanzen zuständige Generaldirektorium formuliert, und
den Beschäftigungspolitischen Leitlinien der Generaldirektion Beschäftigung und
Soziales gibt es noch wenig Abstimmung. Die im März 2003 erstmalige Synchronisation der Verkündigung dieser beiden Leitlinien ist ein erster Schritt, reicht
aber nicht aus. Die für die Umsetzung der Europäischen Wachstumsstrategie zuständigen Akteure (die EZB und die nationalen Zentralbanken, die Wirtschaftsund Finanzminister, die Arbeits- und Sozialminister, die für Lohnpolitik zuständigen Sozialpartner) sind kaum koordiniert, so dass gegebenenfalls Ressourcen und
Handlungsstrategien für Staaten übergreifende und gemeinsam abgestimmte Infrastrukturprojekte nicht gepoolt bzw. abgestimmt werden.
Warum soll jedoch ein Europäischer Beschäftigungspakt von vorneherein ausgeschlossen sein, der nicht nur die nationalen Politiken in der weichen OMK-Form
koordiniert, sondern auch durch massive Investitionen in die Europäische Infrastruktur Arbeitsplätze schafft? In den Bereichen Energie, Wasser, Natur,
Verkehrswege, Kommunikation und nicht zuletzt in Forschung und Bildung gäbe
es genügend Handlungsfelder für einen derartigen Beschäftigungspakt, wie er
schon von Jacques Delors im Europäischen Weißbuch von 1993 anvisiert war.
Erst vor kurzem hat der für Europafragen zuständige italienische Minister Giorgio
La Malfa den Vorschlag vorgetragen, eine Art europäischen Ministerrat für
Wachstumsfragen einzurichten, um verbindlichere Absprachen für eine gemeinsame Wachstumsstrategie zu treffen.
Auch der ehemalige dänische Ministerpräsident, Poul Rasmussen, jetzt Präsident
der Sozialistischen Fraktion im Europäischen Parlament, hat mehrfach den Gedanken einer gemeinsamen Investitionsoffensive in Bildung und Wissenschaft
vorgetragen. Er sieht vor allem in Deutschland als dem größten und wirtschaftsstärksten Mitgliedsstaat eine mögliche, wenn nicht gar notwendige
Wachstumslokomotive. „Wenn jeder EU-Finanzminister in den nächsten vier
Jahren nur ein Prozent seines Sozialproduktes zusätzlich für Bildung, Forschung,
Arbeitsmarktpolitik und Kindertagesstätten ausgeben würde, hätte Deutschland
mindestens einen halben Prozentpunkt mehr Wachstum. Und Europa gewänne bis
zu viereinhalb Millionen Jobs, weil die Märkte so verflochten sind. Wir sollten die
21
ökonomische Abhängigkeit offensiv für mehr Wachstum nutzen“ (Rasmussen
2006).
(4) Viertens ist im zweiten Kok-Bericht (Kok 2004b) wie auch in den jüngsten
Leitlinien die soziale Kohäsion etwas in den Hintergrund geraten. Der jüngste
Vorschlag der Europäischen Kommission, einen „Fonds zur Unterstützung der
Arbeitnehmer“ einzurichten, kann nur ein erster Schritt sein. Mit diesem Fonds
soll Beschäftigten bei der Arbeitsuche geholfen werden, die infolge von Betriebsverlagerungen oder anderen weltwirtschaftlichen Einflüssen ihre Arbeitsplätze
verloren haben. Mit 500 Millionen Euro jährlich ist dieser sog. Globalisierungsfonds erstens zu mager ausgestattet, zweitens sind seine regulativen
Voraussetzungen zu restriktiv. Er soll nur für Betriebsverlagerungen außerhalb
Europas gelten; er soll erst ab einer Zahl von 1000 betroffenen Arbeitnehmern
und einer über dem nationalen Durchschnitt liegenden regionalen Arbeitslosenquote zum Zuge kommen, und er soll nur bei nationaler Vor- und 50-prozentiger
Kofinanzierung angezapft werden können. Während die letztere Einengung vernünftig ist, erscheint die Einengung auf außereuropäische Betriebsverlagerungen
zu restriktiv. Außerdem ist der Fonds – um den Bogen zu meiner Ausgangthese zu
spannen – wieder nur reaktiv und nicht präventiv ausgerichtet. Angesichts der
Herausforderung der Weiterbildung vor allem gering qualifizierter Erwachsener
erscheint ein „Europäischer Fonds der Wissensanhebung“ nach dem Muster des
schwedischen Programms von 1997 bis 2002 diskussionswürdig.
Mein Fazit lautet daher: Wenn die Lissabon-Strategie nicht einschlafen, sondern
wieder erkennbar zum Leben erwachen soll, dann braucht sie eine von allen Mitgliedstaaten anerkannte gemeinsame Fluchtlinie. Und diese heißt: Bildung,
Bildung, Bildung.
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