Manuskript zum Vortrag „Kopfgelenke und Nackenmuskeln beim

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Manuskript zum Vortrag „Kopfgelenke
Neugeborenen und Erwachsenen“
und
Nackenmuskeln
beim
Dissertation bei Herrn Univ.-Prof. Dr. med. Jürgen Koebke, Anatomisches Institut II,
Medizinische Fakultät der Universität zu Köln
Dr. med. Christina Matyssek, Ärztin, Kinderklinik der Ruhr-Universität Bochum
Die
Dissertationsschrift
„Funktionell-anatomische Analyse
der
kurzen,
tiefen
Nackenmuskulatur des Neugeborenen im Vergleich zum Erwachsenen“ stellt eine
Ausarbeitung über die Lage der Muskeln im Raum mit ihren jeweiligen Winkeln und
Drehmomenten dar.
Der Nackenbereich mit den ersten beiden Halswirbeln, Atlas und Axis, sowie den
umgebenen Weichteilen, wie Muskeln, Nerven, Faszien, Blutgefäßen und der
Schädelbasis bilden die Kopfgelenke. Sie sind ein wichtiges Reflexzentrum, weil sie
die Spannung der Haltemuskulatur steuern und damit die Stellung des Kopfes im
Raum und zum Körper entscheidend beeinflussen. Das Sehzentrum, das
Hörzentrum und das Gleichgewichtsorgan sind mit diesem Reflexzentrum verbunden
und werden durch es beeinflusst. Es ist anzunehmen, dass die Primitivreflexe beim
Neugeborenen durch die ungestörte Halswirbelsäulenfunktion mitbestimmt werden.
Bei der Kopfgelenk-Induzierten-Symmetrie-Störung, dem sog. KISS-Syndrom, kommt
es zu einer Blockade des Kopfgelenkes und folglich zu einer Muskelverspannung.
Die Folge ist eine Steuerungsstörung im Nackenbereich. Die Kinder entwickeln
häufig einen Schiefhals, eine extreme Durchbiegung der Wirbelsäule, eine
Gesichtsasymmetrie sowie eine asymmetrische Benutzung der Extremitäten. KISSKinder weisen zusätzlich zu ihrer Zwangs- bzw. Schonhaltung eine verzögerte
motorische Entwicklung auf [11].
Es wurde daher die Nackenmuskulatur von Neugeborenenpräparaten mit der von
Erwachsenenpräparaten
verglichen,
um
festzustellen,
ob
es
entscheidende
Unterschiede bezüglich der Raumwinkel und der Drehmomente gibt. Diese sollen
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dazu beitragen, einen Erklärungsansatz für die oben beschriebene Fehlfunktion der
Halswirbelsäule bei vielen Säuglingen zu finden.
Die kurze tiefe Nackenmuskulatur entspringt an den Wirbelfortsätzen der oberen
Halswirbelsäule und dem Hinterhaupt. Atlas und Axis bilden untereinander und mit
dem Hinterhaupt die so genannten Kopfgelenke, in denen die wesentlichen Drehund Nickbewegungen des Kopfes ausgeführt werden [9].
Die oberen Kopfgelenke bestehen aus vier Gelenkkörpern. Den kranialen Anteil des
oberen Kopfgelenkes bilden die Condyli occipitales, die zur Schädelbasis gehören.
Sie haben eine konvexe Oberfläche. Der kaudale Anteil besteht aus den Fovae
articulares superiores des Atlas, die eine längsovale und gelegentlich bohnenförmige
Gestalt mit einer konkaven Oberfläche aufweisen [4]. Der Atlas besitzt anstelle eines
Wirbelkörpers nur einen vorderen Bogen. An der Innenseite befindet sich eine
Gelenkfläche für den Dens axis. Ein Dornfortsatz fehlt. Er ist durch das Tuberculum
posterius nur angedeutet [9]. Im hinteren Atlasbogen befindet sich ein tiefer Sulcus
arteriae vertebralis, in dem die gleichnamige Arterie zum Foramen magnum des Os
occipitale verläuft [9]. Auf dem Körper des zweiten Halswirbels, des Axis, sitzt kranial
der runde Dens axis. Er steht in Gelenkverbindung mit dem vorderen Atlasbogen und
einem ihn dorsal umfassenden Ligamentum transversum atlantis. Seine oberen
Gelenkfacetten bilden, entsprechend den unteren Gelenkfacetten des Atlas, Teile
einer Kegelmantelfläche [9].
Das Atlantookzipitalgelenk und die Atlantoaxialgelenke werden unter dem Begriff der
Kopfgelenke zusammengefasst [9]. Im oberen Kopfgelenk kann eine Reklinationsund Inklinationsbewegung ausgeführt werden und im unteren Kopfgelenk eine
Rotationsbewegung.
Wesentliche Bedeutung für die differenzierte Bewegung in den Kopfgelenken
besitzen die kurzen tiefen Nackenmuskeln, die vom N. suboccipitalis motorisch
innerviert werden [9].
Der M. rectus capitis posterior major hat seinen Ursprung am Proc. spinosus des
Axis und setzt am mittleren Drittel der Linea nuchalis inferior am Os occipitale an.
Der M. rectus capitis posterior minor zieht von seinem Ursprung am Tuberculum
posterius atlantis bis zu seinem Ansatz am inneren Drittel der Linea nuchalis inferior.
Der M. obliquus capitis superior verläuft vom Proc. transversus des Atlas bis
oberhalb der Ansatzzone des M. rectus capitis posterior major, während der M.
obliquus capitis inferior vom Proc. spinosus des Axis zum Proc. transversus des Atlas
verläuft [10]. Der M. rectus capitis posterior major, der M. rectus capitis posterior
minor und der M. obliquus capitis superior bewirken bei beidseitiger Kontraktion eine
Reklinationsbewegung im oberen Kopfgelenk. Der M. obliquus capitis inferior bewirkt
bei einseitiger Kontraktion eine Rotationsbewegung im unteren Kopfgelenk. Diese
beiden Bewegungen wurden in der Analyse betrachtet.
Um die Entstehung der Symptome beim KISS-Syndrom zu erläutern, wird zunächst
ein kurzer Überblick über die Phylogenese und die Embryologie der Nackenregion
gegeben. Bei den noch im Wasser lebenden Vertebraten war die Wirbelsäule mit der
Chorda dorsalis noch fest mit dem Kopf verbunden. Kopf und Rumpf bildeten eine
funktionelle Einheit, die vom Kopf aus gesteuert werden konnte. Im Laufe der
Phylogenese bildete sich eine gelenkige Verbindung zwischen Kopf und Rumpf aus.
Daher wurde es notwendig die Übergangsregion von Kopf und Rumpf so zu
gestalten, dass sie viele propriozeptive Informationen bezüglich der KopfKörperstellung schnell und exakt dem Zentralnervensystem mitteilen kann. Daher
wurde die kurze, tiefe Nackenmuskulatur mit vielen Muskelspindeln ausgestattet, die
selbst kleinste Bewegungen erkennen und weiterleiten können. Die kranio-zervikale
Übergangsregion steuert Anlagematerial für die Entwicklung des Magen-DarmTraktes, der Herzanlage und des Urogenitaltraktes bei und entläßt den N.vagus [7].
Außerdem sind die Afferenzen des Nackenrezeptorenfeldes in die Steuerung der
Stützmotorik eingebettet. Dies macht die kranio-zervikale Übergangsregion zu einer
motorischen Steuerungszentrale, die eine wichtige Rolle bei der Koordination der
Kopf-Körperstellung einnimmt. Wenn das Steuerungssystem im Nackenbereich durch
eine Kopfgelenksblockade gestört ist, kommt es zu einer motorischen Retardierung.
Auch die geistige Entwicklung des Säuglings und Kleinkindes hängt während der
ersten 18 Monate entscheidend von der Fähigkeit ab, sich normal bewegen zu
können [5]. Störungen der Kopfgelenke beeinflussen die Entwicklung der
Kopfkontrolle und der Nackenstellreflexe ungünstig [1]. Diese Dysfunktionen und
Bewegungsstörungen,
die
beim
Erwachsenen
am
ehesten
den
Kopfgelenksblockaden entsprechen, sind ontogenetisch in den ersten drei Monaten
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am bedeutsamsten, da sie in dieser Zeit die Entwicklung der Kopfbeherrschung am
stärksten stören [1].
Betrachtet man die Entwicklung vom Neugeborenen zum Erwachsenen ist die
unterschiedliche Wachstumsgeschwindigkeit von Kopf, Rumpf und Extremitäten
bedeutsam. Beim Neugeborenen beträgt das Verhältnis von Körperlänge zu
Kopfhöhe 4:1, während es beim Erwachsenen 8:1 beträgt [13]. Hinzu kommt, dass
die
kindliche
Halswirbelsäule
auf
Druckbelastungen
ausgelegt
ist.
Die
Halswirbelsäulenlordose ist bei der Geburt nur angedeutet und bildet sich erst im
Laufe
der
ersten
vier
Lebensjahre
aus.
Aufgrund
dessen
sind
die
Wirbelgelenkflächen steiler gestellt [9]. Dies bewirkt, dass Druckbelastungen, wie sie
während des Geburtsvorganges auftreten, gut kompensiert werden können. Zugoder Fehlbelastungen hingegen können die noch zarten Kopfgelenke schädigen [11].
SCHÜNKE, Michael; SCHULTE, Erik; SCHUMACHER, Udo 2005. PROMETHEUS LernAtlas der Anatomie. Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. Stuttgart, New York: Georg Thieme Verlag
Erst im Laufe der weiteren Entwicklung entsteht die charakteristische doppelt-Sförmig gekrümmte Wirbelsäule des Erwachsenen.
Der menschliche Körper wird in die Frontalebene, die Transversalebene und die
Sagittalebene eingeteilt. Aus diesen drei Ebenen lässt sich ein dreidimensionales
Koordinatensystem erstellen, in dem die Ursprungs- und Ansatzpunkte der kurzen
tiefen Nackenmuskeln dargestellt werden können.
Für die Analyse wurden zwei Röntgenbilder angefertigt. Ein seitliches Röntgenbild,
das im Folgenden als 90°-Aufnahme bezeichnet wird und ein posterior-anteriores
Röntgenbild, das im Folgenden als 0°-Aufnahme bezeichnet wird. Auf der 90°Aufnahme kann man zwei Achsen erkennen. Die Frontalachse wird im Folgenden als
x-Achse und die Sagittalachse als y-Achse bezeichnet. Auf der 0°-Aufnahme sind die
Frontalachse und die Transversalachse dargestellt. Letztere wird im Folgenden als zAchse bezeichnet.
Die Darstellung der Kopfgelenke auf den Röntgenbildern ist für die spätere
Berechnung von Bedeutung.
Daher wurden zwei Beispielaufnahmen angefertigt. Eine Beispielaufnahme wurde bei
einem Neugeborenen und die andere bei einem Erwachsenen gemacht. Dazu
wurden bei den beiden Präparaten die kurzen tiefen Nackenmuskeln abpräpariert
und die Gelenkkapseln des oberen und unteren Kopfgelenkes eröffnet.
Bei
dem
Neugeborenenpräparat
wurden
Bleimarkierungen
zwischen
die
Gelenkflächen gelegt. Daraufhin wurde eine 90°-Aufnahme angefertigt. Die absolute
Übereinstimmung der Bleimarkierungen in den rechten und linken Gelenkflächen
beweist, dass das Kind absolut gerade gelegen hat. Oberhalb des oberen
Kopfgelenkes sind die Condyli occipitales zu erkennen, wobei sich hier der rechte
und der linke Condylus occipitalis übereinander projizieren.
Bei dem Erwachsenenpräparat wurde ebenfalls eine Bleimarkierung in das linke
obere Kopfgelenk eingefügt. Eine Bleimarkierung im rechten oberen Kopfgelenk
sowie in den unteren Kopfgelenken war technisch nicht möglich Die Bleimarkierung
ist elastisch und kann sich daher der Form der Gelenkfläche anpassen. Dadurch
erhält man einen Anhaltspunkt für die Lage der Condyli occipitales.
In diese Röntgenbilder wird ein Koordinatensystem gelegt. Als Koordinatenursprung
dient der Drehpunkt des oberen Kopfgelenkes. Der im Röntgenbild dargestellte
Condylus occipitalis wird mit einer kreisbogenförmigen Linie markiert. Mithilfe eines
Zirkels wird diese Linie zu einem Kreis vervollständigt. Der Mittelpunkt dieses Kreises
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ist der Drehpunkt des oberen Kopfgelenkes. Der Mittelpunkt des dreidimensionalen
Koordinatensystems liegt im Schnittpunkt der drei Achsen. Auf der Seitaufnahme sind
die Frontalachse als x-Achse und die Sagittalachse als y-Achse dargestellt.
In der posterior-anterioren Röntgenaufnahme sind die Transversalachse als z-Achse
und die Frontalachse als x-Achse dargestellt.
Mithilfe des Koordinatensystems kann die Lage der kurzen tiefen Nackenmuskeln im
dreidimensionalen
Raum
bestimmt
werden.
Dadurch
kann
die
Lage
der
Muskelvektoren beim Neugeborenen mit der Lage beim Erwachsenen verglichen
werden.
Zur Bestimmung der Muskelvektoren werden zwei Winkel berechnet. Durch den
Muskelansatz wird eine Frontalebene gelegt. Der Winkel Alpha beschreibt die
Abweichung des Muskelursprungs nach ventral oder dorsal von dieser Ebene.
Zur Bestimmung des Winkels ß wird durch den Muskelansatz eine Sagittalebene
gelegt. Der Winkel ß beschreibt die Abweichung des Muskelursprungs nach medial
oder lateral von dieser Ebene. Dabei werden der Muskelansatz und der
Muskelursprung in der Frontalebene auf die gleiche Ebene projiziert.
Bei der Auswertung des α-Winkel des M. rectus capitis posterior major der
Erwachsenen und der Neugeborenen auf der rechten und linken Seite tendieren die
Werte, trotz einiger Abweichungen, dazu, sich während der Entwicklung des Kindes
zum Erwachsenen vom negativen in den positiven Bereich zu verschieben. Dies
könnte durch die unterschiedliche Wachstumsgeschwindigkeit von Kopf, Rumpf und
Extremitäten bedingt sein. Beim Neugeborenen beträgt das Verhältnis von
Körperlänge zu Kopfhöhe 4:1, während es beim Erwachsenen 8:1 beträgt [13]. Das
verstärkte Wachstum des Rumpfes und damit auch der Wirbelsäule könnte erklären,
warum der Muskelursprung am Proc. spinosus des Axis, im Laufe der Entwicklung
weiter nach dorsal wandert. Das Wachstum des Kopfes hingegen ist weniger
ausgeprägt. Dies zeigt sich dadurch, dass der Muskelansatz am mittleren Drittel der
Linea nuchalis inferior, seine Position weniger stark verändert. Insgesamt könnte
man also von einem vergleichsweise stärkeren Wachstum der Wirbelsäule und
insbesondere des Proc. spinosus des Axis ausgehen.
Balkendiagramm des α-Winkels des M. rectus capitis posterior major der linken Seite bei Neugeborenen und Erwachsenen
Der M. rectus capitis posterior minor und der M. obliquus capitis superior zeigen nur
geringe Veränderungen des α-Winkels. Tendenziell sind die α-Winkel der
Erwachsenen des M. obliquus capitis inferior im Durchschnitt um 8-10° positiver als
bei den Neugeborenen. Die Winkel befinden sich alle im positiven Bereich.
Balkendiagramm des α-Winkels des M. obliquus capitis inferior der linken Seite bei Neugeborenen und Erwachsenen
Da der M. obliquus capitis inferior vom Proc. spinosus des Axis zum Proc.
transversus des Atlas verläuft, könnte diese Winkelvergrößerung wiederum auf ein
stärkeres Wachstum der Wirbelsäule und insbesondere des Proc. spinosus des Axis
nach dorsal hindeuten.
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Die β-Winkel des M. rectus capitis posterior major, des M. rectus capitis posterior
minor und des M. obliquus capitis inferior verändern sich während der Entwicklung
vom Neugeborenen zum Erwachsenen kaum. Es ist also von einem relativ
gleichmäßigen Wachstum in der Frontalebene auszugehen.
Balkendiagramm des ß-Winkels des M. obliquus capitis superior der linken Seite bei Neugeborenen und Erwachsenen
Der M. obliquus capitis superior ist der einzige Muskel, bei dem nennenswerte
Unterschiede zwischen den β-Winkeln der Neugeborenen und der Erwachsenen
auftreten. Dies könnte sich durch ein verstärktes Wachstum des Proc. transversus
atlantis erklären. Dieser ist bei den Neugeborenen im Vergleich zum Kopf sehr klein.
Daher ziehen die Muskeln vom Proc. transversus atlantis nach lateral Richtung
Muskelansatz. Bei der Hälfte der Erwachsenen ist er jedoch so stark ausgeprägt,
dass die Muskeln vom Proc. transversus atlantis nach medial Richtung Muskelansatz
ziehen müssen. Diese Entwicklung ist anatomisch sinnvoll, da der M. obliquus capitis
inferior am Proc. transversus atlantis ansetzt. Durch das verstärkte Wachstum des
Muskelansatzes nach lateral ist der Muskel in der Lage, ein größeres Drehmoment
für die Rotationsbewegung zu erzeugen.
Wenn ein Muskel kontrahiert, so treten unterschiedlich starke Kräfte in drei
Raumrichtungen auf. Diese Kräfte werden mit dem Buchstaben F gekennzeichnet.
Darstellung der Kraftverteilung
Als Zusatz erhalten sie die Bezeichnungen x, y oder z, entsprechend der
Raumrichtung, in die sie zeigen. Beim M. rectus capitis posterior major, beim M.
rectus capitis posterior minor und beim M. obliquus capitis superior sind die
Kraftanteile Fx und Fy diejenigen, die die Reklinationsbewegung auslösen. Der M.
obliquus capitis inferior führt eine Rotationsbewegung mithilfe der Kraftanteile F y und
Fz aus. Auch der M. rectus capitis posterior major ist in gewissem Maße zu einer
Rotationsbewegung mittels der Kraftanteile Fy und Fz fähig, wenn auch mit einem
geringeren Drehmoment als der M. obliquus capitis inferior.
Als Moment bezeichnet man das Produkt aus Kraft mal Hebelarm [9]. Das
Drehmoment findet man an den Gelenken, die durch Muskelmomente bewegt
werden. Dabei ist die Wirklinie die mittlere Kraftlinie des Muskels und der Hebelarm
ist das von der Wirklinie auf das Drehzentrum gefällte Lot. Wenn die Wirklinie, die auf
den bewegten Körperteil wirkende Kraft, das Drehzentrum oder die Drehachse nicht
schneidet, entsteht ein Drehmoment. Wird dieses Drehmoment nicht oder nicht
vollständig durch ein gegensinniges Muskelmoment kompensiert, so findet eine
Bewegung statt, deren Art durch die Freiheitsgrade des Gelenkes bestimmt wird. Die
Bewegungen werden durch Muskelkräfte ausgeführt und normalerweise durch
antagonistische Muskeln gebremst. Diese Kontrolle sorgt dafür, dass die Weichteile,
die das Gelenk umgeben, durch die beschleunigte Masse nicht übermäßig belastet
werden [9]. Bei der folgenden Untersuchung der Drehmomente wird von einem
reibungsfreien Bewegungsablauf in den Gelenken ausgegangen [9]. Der elastische
Gelenkknorpel mit seiner glatten Oberfläche und die Gelenkschmierung durch die
Synovialflüssigkeit sorgen für einen so kleinen Reibungskoeffizienten, dass dieser für
die makroskopisch-funktionelle Untersuchung vernachlässigt werden darf [9].
Im Folgenden werden zwei Bewegungsabläufe, nämlich die Kopfreklination und die
Kopfrotation, untersucht. Aufgrund der ermittelten x-, y-, und z-Werte und der
Kraftverteilungen können die Drehmomente errechnet werden.
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Graphische Darstellung der Reklinationsbewegung eines Muskels in einem zweidimensionalen Koordinatensystem
Mithilfe der errechneten x-, y- und z-Werte sowie der Kraftverteilungen können
Formeln zur Berechnung einer Kippmomentskurve für die Reklinationsbewegung und
einer Drehmomentskurve für die Rotationsbewegung erstellt werden.
Kippmomentskurven des M. rectus capitis posterior major der Erwachsenen und Neugeborenen auf der rechten und linken Seite
Mithilfe dieser Kurven kann eine Hypothese zur Feinregulation der oberen
Kopfgelenke bei der Fortbewegung aufgestellt werden.
Bei der folgenden Betrachtung wird davon ausgegangen, dass sich der
Massenschwerpunkt des Kopfes bei Erwachsenen kranial des oberen Kopfgelenkes
befindet und auf der y-Achse nach ventral versetzt ist. Da der Massenschwerpunkt
des Kopfes weiter ventral liegt, besteht beim aufrechten Stand ein Moment, das eine
Kopfinklination verursacht. Dieses Moment muss durch ein Gegenmoment der
Nackenmuskulatur ausgeglichen werden, um den Kopf in Position zu halten. Dies
erfordert eine ständige statische Belastung der kurzen tiefen Nackenmuskulatur.
Statische Belastung der kurzen tiefen Nackenmuskulatur
Macht ein Erwachsener einen Schritt nach vorne, wird der Kopf beschleunigt. Durch
die Massenträgheit des Kopfes will dieser zunächst in seiner Position verbleiben, das
heißt, dass der Kopf stehen bleibt, während sich das obere Kopfgelenk gemeinsam
mit dem Körper nach ventral bewegt. Der Kopf führt also eine leichte
Reklinationsbewegung
aus.
Daher
muss
ein
Moment
von
der
vorderen
Halsmuskulatur aufgebracht werden, das den Kopf in seiner Position hält. Dieses
Moment wird nur dann erforderlich, wenn das statische Moment in Normalstellung
kleiner ist als das dynamische Moment bei Beschleunigung nach ventral. Das
statische Moment in Normalstellung kann bis zu einer gewissen Beschleunigung den
Kopf halten. Dann ist der Einsatz der vorderen Halsmuskulatur nicht erforderlich.
Dynamisches Moment des Kopfes bei Vergrößerung der Geschwindigkeit
Wenn die Gehgeschwindigkeit reduziert wird, das heißt, wenn der Erwachsene den
Fuß aufsetzt und damit die Bewegung stoppt, wird durch die Massenträgheit des
Kopfes eine Kopfinklination verursacht.
Dynamisches Moment des Kopfes bei Verringerung der Geschwindigkeit
Diese leichte Kopfinklination bei der Stoppbewegung führt zu einer leichten Dehnung
des M. rectus capitis posterior major und des M. rectus capitis posterior minor. Diese
beiden Muskeln haben bei leichter Dehnung ihr größtes Drehmoment. Aufgrund
11
dieser veränderten Hebelverhältnisse können sie den Kopf in Position halten, ohne
die Muskelkraft zu erhöhen.
Je schneller die Stoppbewegung erfolgt, desto größer wird das dynamische Moment
(MN). Ab einer bestimmten negativen Beschleunigung reichen die veränderten
Hebelverhältnisse allein nicht mehr aus, sondern die Muskeln müssen zusätzlich eine
Kraft aufbringen, um den Kopf zu halten. Diese exakte Muskelsteuerung erreicht das
Gehirn durch die Zusammensetzung von Informationen des optischen Systems, des
Vestibularorgans sowie der zahlreichen Muskelspindeln in der kurzen tiefen
Nackenmuskulatur.
Mit
den
oben
beschriebenen
Erkenntnissen
wird
nun
versucht,
einen
Erklärungsansatz für die Entstehung und die Symptome des KISS-Syndroms zu
finden. Das obere Kopfgelenk kann aus der Normalstellung heraus um 8-13° nach
ventral und dorsal bewegt werden. Die oben beschriebene Feinregulation basiert auf
der Annahme, dass die Muskeln bei leichter Dehnung ein größeres Moment
aufweisen. Aufgrund dieser veränderten Hebelverhältnisse können sie den Kopf in
Position halten, ohne die Muskelkraft zu erhöhen.
Wenn nun eine Blockade im ventralen Anteil des oberen Kopfgelenkes besteht, wäre
diese Vordehnung der Muskeln nicht mehr möglich. Folglich wäre die kurze tiefe
Nackenmuskulatur nicht mehr in der Lage, die Kopfbewegungen bei Fortbewegung
des Körpers auszubalancieren. Dies könnte ein Erklärungsansatz dafür sein, dass
Kinder mit KISS-Syndrom häufig in ihrer motorischen Entwicklung retardiert sind und
viele von ihnen die Krabbelphase überspringen. Denn bei jedem Versuch der
Fortbewegung nach vorne, sei es mit den Armen oder mit den Beinen, stößt der Kopf
im oberen Kopfgelenk auf einen Widerstand. Dadurch kann keine Vordehnung der
kurzen, tiefen Nackenmuskeln erfolgen, die Feinregulation ist gestört und folglich
wird das Kind in seinem natürlichen Bewegungsmuster gehemmt.
Da man bei Kindern mit KISS-Syndrom häufig auch eine massive Durchbiegung der
Wirbelsäule nach dorsal findet, muss folglich der dorsale Anteil des oberen
Kopfgelenkes frei sein. Bei einer Blockade im dorsalen Kopfgelenksanteil wäre ein
solch starkes Durchstrecken der Wirbelsäule nicht möglich. Hinzu kommt, dass der
sagittale Kondylengelenkachsenwinkel beim Neugeborenen mit 35,5° viel stumpfer
verläuft als beim Erwachsenen mit 28° [12]. Dies besagt, dass sich der dorsale Anteil
des Gelenkes beim Neugeborenen weiter lateral befindet als beim Erwachsenen.
Eventuell
ermöglicht
die
steilere
Stellung
im
Erwachsenenalter
ein
komplikationsloseres Gleiten in den Gelenkflächen, während der stumpfe zulaufende
mediale Gelenkanteil im Kindesalter eher dazu neigen könnte, sich in der
Gelenkpfanne zu verhaken. Die knöchernen Abweichungen der anatomischen
Strukturen im Neugeborenenalter könnten dazu führen, dass sich eine oder beide
Occiputcondylen
in
der
Gelenkpfanne
verhaken
und
somit
zu
einer
Kopfgelenksblockade führen könnten. Da vielen Kindern mit KISS-Syndrom durch die
manualmedizinische Behandlung geholfen werden kann, bedeutet dies, dass das
obere Kopfgelenk keine bleibenden Schäden durch die Kopfgelenksblockade erlitten
haben
kann.
Daher muss die Ursache
in der Kopfgelenksanatomie des
Neugeborenen zu suchen sein.
Literaturverzeichnis der Dissertationsschrift
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Verlag.
2. - BENNER, Klaus-Ulrich 1991. Der Körper des Menschen. Das Wunderwerk des
menschlichen Körpers, Aufbau, Funktionen, Zusammenwirken, Abläufe und
Vorgänge. Augsburg: Weltbild Verlag GmbH.
3. - DEETJEN, P. + Speckmann, E.-J. + Hescheler, J. (eds.) 20054.Physiologie. München:
Elsevier GmbH, Urban & Fischer Verlag.
4. - DVOŘÁK, J. 1988. „Funktionelle Anatomie der oberen Halswirbelsäule unter besonderer
Berücksichtigung des Bandapparates.“ In: WOLFF, H.-D. (ed.). Die Sonderstellung des
Kopfgelenkbereichs. Grundlagen, Klinik, Begutachtung. Berlin: Springer-Verlag.
5. - FLEHMIG, Inge 20077.Normale Entwicklung des Säuglings und ihre Abweichungen.
Früherkennung und Frühbehandlung. Stuttgart: Georg Thieme Verlag.
6. - HARMS, Volker 1998. Biomathematik, Statistik und Dokumentation. Kiel: Harms Verlag
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der Halswirbelsäule.“ In: BIEDERMANN, Heiner (ed.). Manuelle Therapie bei Kindern.
Indikationen und Konzepte. München: Urban & Fischer Verlag.
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13. - SITZMANN, Friedrich Carl 2002. Pädiatrie. Stuttgart: Georg Thieme Verlag
13
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