Ist so Versöhnung...? Die Gemeinsame Erklärung zur

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Ist so Versöhnung…?
– Die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre
I. Einführung: Zur Geschichte und Intention der GE
Die Herausforderung
Die Bedeutung der GE war und bleibt umstritten. Dies zeigen einerseits die unterschiedlichen Bewertungen unmittelbar vor und nach der Unterzeichnung der Offiziellen Feststellung der GE zur Rechtfertigungslehre, andererseits die deutlichen Worte
hochrangiger Vertreter der römisch-katholischen Kirche angesichts der Dekade des
Reformationsjubiläums. So äußert sich Kurienkardinal Walter Kasper „’enttäuscht’
darüber, dass die ’Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre’ von 1999 in dem
EKD-Papier ’mit keinem Wort auch nur erwähnt’ werde, so der Kardinal. Dies sei
nicht nur eine ’Absage an den katholischen Partner’, sondern ebenso an den Lutherischen Weltbund, dessen unterzeichnender Präsident damals zudem noch ein deutscher Landesbischof gewesen sei. Kasper verwies darauf, dass der Lutherische
Weltbund die Erklärung in einer gemeinsamen Stellungnahme mit dem vatikanischen
Einheitsrat zum Reformationsjubiläum im vergangenen Jahr "nochmals ausführlich
positiv gewürdigt" habe. Der Kardinal forderte eine Überwindung von "nationalkirchlicher konfessionalistischer Eigenbrötelei". Es gelte, zusammen "der im Guten wie im
Schlechten gemeinsamen Geschichte der letzten 500 Jahre nachzugehen, um uns
gemeinsam den gemeinsamen heutigen Herausforderungen zu stellen."
(http://www.domradio.de/print/themen/oekumene/2014-06-24/kasper-kritisiert-ekd-papier-zureformationsjubilaeum)
M1
„In Augsburg geschieht heute, genau in dieser Stunde, ein Ereignis von großer Bedeutung. Die Repräsentanten der katholischen Kirche und des Lutherischen Weltbundes unterzeichnen eine Gemeinsame Erklärung zu einer der wichtigsten Fragen,
die Katholiken und Lutheraner in Gegensatz zueinander gebracht hat: Die Lehre der
Rechtfertigung durch den Glauben.
Es handelt sich um einen Meilenstein auf dem nicht einfachen Weg zur Wiederherstellung der vollen Einheit unter den Christen, und es ist sehr bedeutsam, dass er gerade in jener Stadt gesetzt wird, in der im Jahre 1530 mit der "Confessio Augustana"
eine entscheidende Seite der Reformation geschrieben wurde.
Dieses Dokument bildet eine sichere Grundlage für die weitere ökumenische theologische Forschung, aber auch dafür, die noch verbleibenden Schwierigkeiten mit begründeter Hoffnung auf eine künftige Lösung anzugehen. Es ist außerdem ein wertvoller Beitrag zur Reinigung des historischen Gedächtnisses und zum gemeinsamen
Zeugnis“.
(Papst Johannes Paul II, Angelus-Gebet am 31.10.1999 Rom)
M2
„Wenngleich die SELBSTÄNDIGE EVANGELISCH-LUTHERISCHE KIRCHE auf
verbleibende Unterschiede und zu klärende grundlegende Sachverhalte mit dieser
Stellungnahme aufmerksam machen will, gibt sie der Hoffnung Ausdruck, daß die
grundlegenden biblischen Aussagen über die Rechtfertigung des Sünders vor Gott in
allen Kirchen Mittelpunkt des theologischen Denkens und des kirchlichen Handelns
werden und bleiben“.
(Stellungnahme der SELK, September 1999)
M3
„Da die GOF [Gemeinsame Offizielle Feststellung zur Rechtfertigungslehre] in ihren
inhaltlichen Aussagen die lutherische Rechtfertigungslehre von Grund auf in Frage
stellt, eine ökumenische Zielvorstellung voraussetzt, die mit reformatorischen Kriterien unvereinbar ist, nicht die Zustimmung der für Lehrfragen verantwortlichen Instanzen gefunden hat und keine praktischen Konsequenzen für das ökumenische
Miteinander vor Ort erbringt, sehen sich die unterzeichnenden theologischen Hochschullehrer veranlaßt, ihre schwerwiegenden Bedenken gegen die GOF zum Ausdruck zu bringen und vor ihrer Unterzeichnung zu warnen“.
(Stellungnahme theologischer Hochschullehrer zur geplanten Unterzeichnung der
Gemeinsamen Offiziellen Feststellung zur Rechtfertigungslehre
Zur Geschichte
Am 31.Oktober 1999 wurde in Augsburg von Vertretern der lutherischen und der römisch-katholischen Kirche die „Gemeinsame Offizielle Feststellung“ der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ unterzeichnet.
Damit kam ein fast 20-jähriger Prozess zu einem wichtigen Zwischenergebnis, das
mit der Gründung einer „Gemeinsamen Ökumenischen Kommission“ nach dem Besuch von Papst Johannes Paul II begann. Diese beauftragte einem seit langen Jahren bewährten ökumenischen Arbeitskreis den Auftrag, zu überprüfen, ob die Lehrverurteilungen des 16: Jahrhunderts nach wie vor Bestand haben müssten. Eine erste Einigung erfolgte bei der Frage der Rechtfertigung, für die festgestellt wurde, dass
sie nicht mehr trennend sein. Das entsprechende Dokument wurde in verschiedene
Sprachen übersetzt. Die Lutherischen Kirchen in den USA regten 1993 an, nicht nur
festzustellen, dass die Rechtfertigungslehre nicht mehr trennend sein, sondern auch
einen Grundkonsens zu formulieren. Nach drei jeweils ausführlich diskutierten Entwürfen (Genfer Text, Würzburger Text I und II) erfolgte 1997 die Verschickung an die
beteiligten Kirchen, die von einer heftigen Diskussion begleitet wurde, bei der es in
einzigartiger Weise zu einer öffentlichen Unterschriftenaktion zahlreicher evangelischer Theologieprofessoren kam. Nachdem die meisten Mitgliedskirchen des Lutherischen Weltbundes bis Mitte Juni 1998 ihre Zustimmung erklärt hatten, kam es in
unmittelbarem Anschluss zu massiven Änderungswünschen der römischkatholischen Kirche. Den Durchbruch zur Einigung brachte der Entwurf von Zusatztexten („Annex“), der die Bedenken der römisch-katholischen Kirche ausräumen
konnte und zugleich zu einer breiteren Zustimmung der Kritiker aus der evangelischen Professorenschaft führte.
Literatur zur Geschichte der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre
-Otto Hermann Pesch, Die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ vom
31.10.1999. Probleme und Aufgaben; http://www.uniheidelberg.de/md/fakultaeten/theologie/oek/forum/13.2.pdf
Zum Anspruch und zur Bewertung der GE
M4
„Die Rechtfertigungslehre ist Maßstab und Prüfstein des christlichen Glaubens. Keine
Lehre darf diesem Kriterium widersprechen. In diesem Sinn ist die Rechtfertigungslehre ein ’unverzichtbares Kriterium, das die gesamte Lehre und Praxis der Kirche
unablässig auf Christus hin orientieren will’ (GE 18)“
(Anhang zur gemeinsamen offiziellen Feststellung der Gemeinsamen Erklärung)
M5
„Wenn die katholische Kirche und die lutherischen Kirchen die Spaltung des 16.
Jahrhunderts durch Lehrverständigung überwinden wollten, mussten sie zwangsläufig (aus historischen wie aus theologischen Gründen) bei Luthers Einsicht ansetzen –
zugespitzt eben in der ’Rechtfertigungslehre’. Und sie müssten sich diese entweder
gemeinsam zu eigen machen oder sie gemeinsam um ihre radikale Pointe bringen.
Das eine kann, wie die Verhandlungen um die ’Gemeinsame Erklärung zeigten’, Rom
(noch) nicht, denn dies hätte umwälzende Folgen für das römische Kirchenverständnis; derzeit erkennt der Vatikan die Kirchen der Reformation ja nicht einmal als Kirchen an, was auch, ziemlich befremdlich, die ’Gemeinsame Erklärung’ dokumentiert.
Das andere, die Nivellierung der lutherischen Theologie können die lutherischen Kirchen nicht zulassen, wenn sie ihren grundlegenden Bekenntnissen nicht untreu werden wollen“.
(Robert Leicht, Der Lutherische Weltbund geht auf den Vatikan zu und riskiert die
Pointe der Reformation;
http://www.ekd.de/international/oekumene/vortraege/luther1.html)
M6
„GE 18 zeigt, dass in Bezug auf die Funktion der Rechtfertigung als Kriterium für
Lehre und Praxis der Kirche keine volle Übereinstimmung zwischen Lutheranern und
Katholiken besteht…. Die wichtigste in GE 18 ausgesprochene Gemeinsamkeit ist,
dass die Rechtfertigungslehre als ’ein unverzichtbares Kriterium’ verstanden wird.
Das heißt: Es darf keine Lehre und keine Praxis in der christlichen Kirche geben, die
in Widerspruch zur Rechtfertigungslehre, wie sie in der GE dargelegt ist, steht. Sollte
dies gleichwohl der Fall sein, dann ist diese Lehre oder Praxis als illegitim erwiesen.
Ein Kriterium, das unverzichtbar ist, kann nicht einmal angewandt und ein andermal
nicht angewandt werden. Es kann, weil unverzichtbar, auch nicht durch andere Kriterien außer Kraft gesetzt werden. Darum ist diese Gemeinsamkeit nicht bedroht, wenn
die Katholiken von mehreren Kriterien sprechen“
(Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre. Ein Kommentar des Instituts für
Ökumenische Forschung, Straßburg 1997)
M7
„Der lutherische Weltbund (LWB) hat sich eine Verfassung gegeben, die ihn als
weltweite Gemeinschaft von Kirchen dazu aufruft und verpflichtet, nach christlicher
Einsicht zu streben. Im Artikel über Wesen und Auftrag des LWB heißt es: Er ‘bekennt die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche und will der Einheit der
Christenheit dienen‘ (Artikel III)… Das Leitbild für die Einheit der Christen ist dabei
nicht die Einheitlichkeit in Lehre und Leben, sondern eine Einheit, die bei Übereinstimmung in Grundwahrheiten Unterschiede in versöhnter Verschiedenheit anerkennt
und mitträgt…
Worin besteht nun das Ziel der GE? Was kann denn erreicht werden? Wenn die lutherischen Kirchen und die römisch-katholische Kirche ihr im Grundsatz zustimmen,
wird verbindlich festgestellt werden: Die Lehrverurteilungen der Reformationszeit treffe den heutigen Partner nicht. Mit dieser Erklärung wird die Kirchenspaltung nicht
aufgehoben… Die grundlegende Übereinstimmung in der Rechtfertigungslehre begründet ein neues Miteinander… Niemand wird sich dann künftig darauf berufen
können, wir könnten nicht auf dem Weg zur Kirchengemeinschaft vorangehen, weil
dieses Hindernis im Wege liegt“.
(Christoph Stier, Rechtfertigung aus Gnade allein. Eine Einführung in die „Gemeinsame Erklä
rung zur Rechtfertigungslehre“; in: Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre, erarbeitet von einer Arbeitsgruppe der Römisch-katholischen Kirche und des Lutherischen Weltbundes: Drei Vorträge von der 9.Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes in Hong Kong im
Juli 1997, hg. v. Evang. Oberkirchenrat Stuttgart und Bischöfliches Ordinariat Rottenburg)
M8
„Wie bedeutsam wird es für Lutheraner und Katholiken sein, wenn wir vor der Welt
gemeinsam bekräftigen können, dass wir im Blick auf die Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben das gleiche Verständnis haben! Es wird zunächst bedeuten, dass wir Jesus Christus die Ehre gegeben haben… Es wird bedeuten, dass wir
uns im Blick auf diese zentrale Frage in einer tiefen Weise dem Gebet Christi verbunden haben… (Joh 17,21)…
Gleichzeitig müssen wir bedenken, dass das von uns erreichte Ergebnis im Blick auf
die Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben nicht für sich allein steht. Es
darf weder unterbewertet noch überbewertet werden. Es ist Teil eines umfassenderen Prozesses, einer bleibenden Herausforderung, wenn wir uns um Versöhnung
und Einheit zwischen Lutheranern und Katholiken bemühen…
Der Prozess, in dem wir stehen, fordert uns auf vielerlei Weise heraus: noch verbleibende theologische Probleme auf dem Wege des Dialogs zu lösen, bittere Erfahrungen aus früheren Jahrhunderten zu heilen, um einander in einem neuen Licht zu sehenb… Aber das, was wir durch unsere Übereinstimmung in der Lehre der Rechtfertigung durch den Glauben erreicht haben, spielt in diesem Prozess eine entscheidende Rolle“
(Edward Idris Kardinal Cassidy, Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre. Auswirkungen im pastoralen Bereich; in: Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre, erarbeitet
von einer Arbeitsgruppe der Römisch-katholischen Kirche und des Lutherischen Weltbundes:
Drei Vorträge von der 9.Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes in Hong Kong im Juli
1997, hg. v. Evang. Oberkirchenrat Stuttgart und Bischöfliches Ordinariat Rottenburg)
M9
„Es wäre einfacher gewesen, die ganze Frage liegen zu lassen und nicht zu versuchen eine neue gemeinsame Erklärung zu formulieren. Doch der Lohn der Anstrengung überwiegt die Risiken. Beim Umgang mit der traditionellen Sprache, mit traditionellen Denkmustern und traditionellen Zusammenhängen sind wir gezwungen, hinter die simplen Wiederholungen früherer Erklärungen zurückzugehen und ihren zentralen Gehalt zu ergründen. Dabei versuchen wir, ihr Bekenntnis des Glaubens aufzunehmen und es uns soweit wie möglich zu eigen zu machen, so dass es mit neuen
Worten neu formuliert werden kann. Wenn aus dieser beträchtlichen Aufgabe eine
gemeinsame Erklärung hervorgeht, hat sich das Risiko gelohnt. Die Gemeinsame
Erklärung ermöglicht lutherische und römisch-katholischen Christen, gemeinsam
über zentrale Glaubensfragen zu einer Welt zu sprechen, die unbedingt die gute Botschaft des einen Gottes hören sollte, der alles neu macht“.
(H. George Anderson, Rechtfertigung heute?, in: Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre, erarbeitet von einer Arbeitsgruppe der Römisch-katholischen Kirche und des Lutherischen Weltbundes: Drei Vorträge von der 9.Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes in
Hong Kong im Juli 1997, hg. v. Evang. Oberkirchenrat Stuttgart und Bischöfliches Ordinariat
Rottenburg)
II. Einordnung: Der Begriff „Rechtfertigung“ – damals und heute
Rechtfertigung – Begriffs- und Bedeutungs-Assoziationen
-Sammeln Sie in einer Spalte unterschiedliche Zusammenhänge, in denen im Alltag
das Wortfeld „Rechtfertigung“, „sich rechtfertigen“ vorkommt, in einer zweiten Spalte
die Bibelstellen und theologischen Bestimmungen dazu. Wie verhalten sich die Verständnisse von „Rechtfertigung“ mit der Vorstellung von „Gerechtigkeit“ zueinander?
-Vergleichen Sie die Bedeutungsgehalte der beiden Spalten und formulieren Sie in
eigenen Worten den Kern des reformatorischen Verständnisses von Rechtfertigung.
-Versuchen Sie eine Bestimmung, welche Bedeutung und Lebensrelevanz das biblisch-reformatorische Verständnis von Rechtfertigung in der Gegenwart hat.
Martin Luther berichtet zu seiner großen Entdeckung in der Beschäftigung mit Röm
1,16f:
(M 10)
„Tag und Nacht dachte ich darüber nach, bis ich dank Gottes Erbarmen auf den Zusammenhang der Worte aufmerksam wurde, nämlich: ’Gottes Gerechtigkeit wird offenbart, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus Glauben’. Da begann ich die
Gerechtigkeit Gottes zu verstehen als die, durch die als durch Gottes Geschenk der
Gerechte lebt, nämlich aus Glauben, und dass dies der Sinn sei: Durch das Evangelium wurde Gottes Gerechtigkeit offenbart, nämlich die passive, durch die uns der
barmherzige Gott gerecht macht durch den Glauben, wie geschrieben steht: ’Der Gerechte lebt aus Glauben’…
Wie sehr ich vorher die Worte ’Gerechtigkeit Gottes’ hasste, so pries ich sie nun mit
entsprechend großer Liebe als das mir süßeste Wort. So ist mir dieses Paulus-Stelle
wahrhaftig das Tor zum Paradies gewesen“.
Literatur zu Verstehenshindernissen und Einwänden der Rechtfertigung:
-Die Rechtfertigung des Menschen vor Gott. Erklärung der Bischofskonferenz der
VELKD vom 2.Juni 2008 (www.ekd.de)
-W.Härle, Rechtfertigung heute; in: ders., Spurensuche nach Gott. Studien zur Fundamentaltheologie und Gotteslehre, Berlin 2008, 184-201
-R. Leicht, Der Lutherische Weltbund geht auf den Vatikan zu und riskiert die Pointe
der Reformation. Dabei ist Luther aktueller denn je – auch für die Religionslosen;
http://www.ekd.de/international/oekumene/vortraege/luther1.html
III. Erarbeitung: Einig? Zu Inhalt und Methode der GE
Rechtfertigung – die entscheidende Grundüberzeugung der Kirche
Die Lehre von der Rechtfertigung des Menschen allein aus Glauben durch Christus
gilt in reformatorischer Tradition als der alles entscheidende Glaubensartikel, mit dem
die Kirche steht und fällt, und als der Maßstab christlicher Glaubenslehre überhaupt.
M 11
„Der Artikel von der Rechtfertigung ist Meister und Fürst, Herr, Lenker und Richter
über alle Arten von Lehre. Er erhält und regiert jede kirchliche Lehre und richtet unser
Gewissen auf Gott aus. Ohne diesen Artikel ist die Welt durch und durch Tod und
Finsternis… Wenn dieser Artikel steht, steht die Kirche, fällt er, dann fällt die Kirche“
(WA 39 I, 205).
Die Lehre von der Rechtfertigung ist der „höchste fürnehmste Artikel der ganzen
christlichen Lehre“ (Apol. CA IV,2; …)
-Skizzieren Sie, worin die fundamentale Bedeutung der Rechtfertigungslehre aus
Sicht der Reformation besteht.
„Für die Beurteilung der GE ist es von Gewicht, zwischen biblischer Rechtfertigungsbotschaft und kirchlicher Rechtfertigungslehre zu unterscheiden. Die Rechtfertigungsbotschaft ist durch die Offenbarung des dreieinigen Gottes in Jesus Christus
unumstößlich vorgegeben. Jede Rechtfertigungslehre findet im Zeugnis der Heiligen
Schrift ihren Grund und ihr Maß“ (Christoph Stier)
-Ist die Unterscheidung zwischen „Rechtfertigungsbotschaft“ und „Rechtfertigungslehre“ hilfreich? Entspricht sie der reformatorischen Überzeugung?
Zum Begriff „Konsens in Grundwahrheiten“ und dessen Methode
-Beurteilen Sie, inwiefern Ihrer Meinung nach die Methode des sogenannten „differenzierten Konsenses“ und der festgestellte „Konsens in Grundwahrheiten“ tragfähig
sind.
M 12
„In der GE geht es ausschließlich um die Rechtfertigungslehre. Die lutherischen Bekenntnisschriften enthalten auch andere Lehrverurteilungen, die z.B. die Sakramente
und das kirchliche Amt betreffen. Ferner richten sich manche Stellungnahmen des
Konzils von Trient gegen Äußerungen Luthers, die nicht in den Bekenntnisschriften
zu finden sind. Die römisch-katholischen Lehrverurteilungen bilden die Canones 1-33
im Dekret über die Rechtfertigung des Konzils von Trient (1547)…
Es ist die Absicht des Dokuments einen solchen Konsens in Grundwahrheiten der
Rechtfertigung vorzulegen, der von den alten Lehrverurteilungen nicht getroffen
wird…
Der Begriff der ‘Grundwahrheiten‘ (GE 5,13) bezieht sich auf eine solche inhaltliche
Übereinstimmung. Mit diesem Begriff wird weder die katholische Theorie der ‘Hierarchie der Wahrheiten‘ noch ein bloß erfahrungsgemäßer oder existentieller ‘Grund‘ im
Gegensatz zu seinem ‘Ausdruck‘ in der Lehre gemeint. Die ‘Grundwahrheiten‘ sind
Glaubenssätze, die Lutheraner und Katholiken gemeinsam sagen können; in der GE
werden sie normalerweise mit den Worten ‘Wir bekennen gemeinsam…‘ eingeführt.
Der Begriff der Grundwahrheiten erlaubt anzunehmen, dass über das gemeinsame
Bekenntnis hinaus verschiedene konfessionelle Entfaltungen existieren, dass diese
aber die Übereinstimmung im Grundlegenden nicht gefährden. Diese unterschiedlichen Entfaltungen werden in der GE als spezifisch katholische bzw. lutherische Auffassungen ausdrücklich angeführt. Dies geschieht oft in der Form: ‘Wenn die eine
Seite dieses oder jenes betont, verneint sie nicht, was der anderen Seite wichtig
ist‘“…
Die GE beabsichtigt also, die vorhandene Übereinstimmung zu ‘bezeugen‘ und sie
zu dokumentieren. Der vorhandene Grundkonsens bezieht sich auf ‘die grundlegende Wahrheit‘ aufgrund deren die Lehrverurteilungen als den heutigen Partner nicht
treffend erklärt werden können, obwohl durchaus Meinungsunterschiede im Bereich
der konfessionsspezifischen Auffassungen bleiben‘“.
(Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre. Ein Kommentar des Instituts für
Ökumenische Forschung, Straßburg, 18f)
M 13
„Methodisch wendet man die… Regel an: Unterschiedliche Formulierungen und
lehrmäßige Auslegungen sind dann nicht kirchentrennend, wenn beiderseits nicht
behauptet und bestritten wird, was die jeweils andere Seite aus Gewissensgründen
bestreiten und festhalten muss. Dann können die Akzente verschieden gesetzt, Worte verschieden gebraucht, Zusammenhänge verschieden erläutert werden, denn sie
heben den Boden des ’Grundkonsenses’ nicht auf, sind im Gegenteil für die jeweiligen Anliegen der anderen Seite offen, bleiben diesseits des Widersprichs, sind ’tragbar’, so dass sie ’den Konsens in den Grundwahrheiten nicht wieder aufheben’ (Nr.
40). Für diese Art der Übereinstimmung hat sich der Ausdruck ’differenzierter Konsens’ eingebürgert: Man stellt fest, was man gemeinsam sagen kann, was ausreicht
für Kirchengemeinschaft, und was trotzdem Raum lässt für unterschiedlichen ge-
dankliche Ausarbeitungen und Schwerpunktsetzungen in der Auslegung, die nicht
miteinander harmonisiert werden können, aber auch nicht müssen...
Es folgt abschließend eine Erwägung über ’Die Bedeutung und Tragweite des erreichten Konsenses’. Jeder einzelne Abschnitt… ist gemäß der gewählten Methode
so aufgebaut, dass zunächst festgehalten wird: ’Wir bekennen gemeinsam, dass…’
Dann folgt regelmäßig: ’Das verstehen die Lutheraner so…’ ’Das verstehen die Katholiken so…’ ’Der Gegensatz ist tragbar…, hebt den Grundkonsens nicht auf’“.
(Otto Hermann Pesch, Die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ vom
31.10.1999. Probleme und Aufgaben)
Zur Bewertung der Gemeinsamen Erklärung
-Versuchen Sie sich anhand der folgenden Pressemeldungen ein eigenes Urteil über
die GE zu bilden. Welche Argumente überzeugen Sie, welche weniger, welche nicht?
M 14
148 Professoren sagen NEIN!
„I. Die Rechtfertigung des Sünders allein durch den Glauben ist nach evangelischer
Lehre die grundlegende Wirklichkeit des Lebens der Christen wie der Kirche. Von ihr
aus sind Lehre, Ordnung und Praxis der Kirche zu bestimmen und zu beurteilen. In
der ’Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre’ (GE) kann es folglich nicht
um einen Einzelaspekt der Theologie gehen, vielmehr geht es um das Grundlegende
und Ganze, um den Artikel, von dem man ’nichts weichen oder nachgeben kann’ (Luther, Schmalkaldische Artikel), mit dem die Kirche steht und fällt. Ein Konsens in der
Rechtfertigungslehre muss daher 1.) die Wahrheit der Rechtfertigung allein durch
den Glauben unverkürzt zur Geltung bringen und 2.) sich unmittelbar niederschlagen
im Verhältnis der konsentierenden (die Übereinstimmung erklärenden) Kirchen zueinen, in ihrer gegenseitigen Anerkennung als Kirche Jesu Christi und in der Aberkennung ihres die Rechtfertigung öffentlich verkündigenden Amtes.
II. Weil es in der Rechtfertigungslehre um das Grundlegende und Ganze der christlichen Wahrheit geht, wenden wir uns an die Synoden und Kirchenleitungen der lutherischen Kirchen Deutschlands, die z.Zt. über die ’Gemeinsame Erklärung’ beraten.
Die GE beansprucht, einen ’Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre’
zwischen den evangelisch-lutherischen Kirchen und der römisch-katholischen Kirche
darzulegen. Alle verbleibenden Differenzen in dieser Lehre seien nur ’Unterschiede
in der Sprache, der theologischen Ausgestaltung und der Akzentsetzung’. Einen solchen Konsens bietet die GE jedoch nicht: Kein Konsens wurde erreicht über die für
die lutherischen Kirchen entscheidende Einsicht, dass die Rechtfertigung aus Glauben erst dann recht verkündigt wird, wenn dabei zur Geltung kommt, dass der allein
aus Gnade am Sünder handelnde Gott 1.) allein durch sein Wort und die diesem
Wort gemäß gereichten Sakramente (CA 7) den Sünder rechtfertigt und 2.) der Sünder allein durch den Glauben gerecht wird. Kein Konsens wurde erreicht über die für
die reformatorischen Kirchen entscheidende Einsicht, dass Glaube Heilsgewissheit
ist. Kein Konsens wurde erreicht über das Sündersein des Gerechtfertigten. Kein
Konsens wurde erreicht über die Bedeutung der guten Werke für das Heil. Ein nur
unzureichender Konsens wurde erreicht über das Verhältnis von Gesetz und Evangelium. Völlig unzureichend ist die mangelnde Berücksichtigung des Alten Testamentes in der GE. Die Auffassung der Reformatoren, dass das Evangelium von der
Rechtfertigung des Sünders auch im Alten Testament klar bezeugt wird, kommt nirgends zur Sprache. Der Eindruck des Gegenteils wird erzeugt. Kein Konsens wurde
erreicht über die Funktion der Rechtfertigungslehre als Kriterium für Lehre und Leben
der Kirche. Die Feststellungen der GE, dass ’Lutheraner die Einzigartigkeit dieses
Kriteriums betonen’ und dass ’Katholiken sich von mehreren Kriterien in die Pflicht
genommen sehen’, schließen sich einander aus“.
(idea spektrum 6/1998)
M 15
epd- Wochenspiegel
„Tübingen (epd). Der Streit um die geplante Erklärung zur Rechtfertigungslehre zwischen Vatikan und Lutherischem Weltbund (LWB) spitzt sich zu. In einem Votum fordern mehr als 140 Theologieprofessoren die lutherischen Bischöfe, Kirchenleitungen
und Synodalen dazu auf, die Gemeinsame Erklärung in der vorliegenden Form abzulehnen. Es gebe keinen darin festgestellten ’Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre’ zwischen den evangelisch-lutherischen und der römisch-katholischen
Kirche. Der am 29. Januar offiziell in Tübingen veröffentlichte Text war bereits Anfang vergangener Woche bekannt geworden.
Einmalig im Protestantismus
Nach Einschätzung von Kirchenhistorikern ist es in der Geschichte des Protestantismus einmalig, dass sich eine derart hohe Zahl von Hochschullehrern gemeinsam mit
einem Dokument an die Kirchenleitung richten. Das Papier trägt unter anderem die
Unterschriften von Gerhard Ebeling (Zürich), Carl Heinz Ratschow (Marburg), Karin
Bornkamm (Bielefeld),Wilfried Härle (Heidelberg) und Jürgen Moltmann (Tübingen).
Darüber hinaus hätten zahlreiche weitere Professoren ihre Zustimmung zu dem Papier signalisiert, sagte der Tübinger Privatdozent Albrecht Beutel gegenüber epd.
In ihren Votum beklagen die Professoren, dass aus der Gemeinsamen Erklärung
keinerlei praktische Konsequenzen für die Ökumene folgten. Mit der Vereinbarung
werde die katholische Kirche weder die lutherischen Kirchen als ’Kirche Jesu Christi’
anerkennen, noch einer Abendmahlsgemeinschaft zustimmen. Es sei weiter zu befürchten, dass mit der Erklärung ein ’Programm’ verfolgt werde, das auf die ’Integration auch der evangelischen Amtsträger in das Gefüge der römisch-katholischen Hierarchie’ hinauslaufe. Würde die Erklärung unterzeichnet, drohe auch die Gemeinschaft mit nicht lutherischen Kirchen zu zerbrechen, waren die Theologen.
Der Marburger Systematische Theologe und Religionsphilosoph Hans-Martin Barth
verteidigter dagegen das Ökumene-Papier. Evangelische Theologie dringe damit ’ins
Herz des Katholizismus vor’, so der Präsident des Evangelischen Bundes. Die Kritik
seiner Kollegen sein kontraproduktiv für den ökumenischen Dialog, da hier nach der
Devise ’alles oder nichts’ verfahren werde.
Auch der Schweizerische Evangelische Kirchenbund kann den Grundaussagen der
Gemeinsamen Erklärung inhaltlich zustimmen. Sie sei ein Schritt auf dem Weg weiterer ökumenischer Zusammenarbeit, müsse aber eher als ’Symbol’ verstanden werden.
Nach Ansicht des Leitenden Bischofs der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD), Horst Hirschler, ist die Gemeinsame Erklärung ’theologische, kirchlich und ökumenisch vertretbar’. Der hannoversche Landesbischof wertete
das Papier als einen wichtigen Schritt zur vertieften Kirchengemeinschaft zwischen
der Kirchen der Reformation und der römisch-katholischen Kirche.
Die VELKD-Generalsynode und die bayerische Landeskirche haben der ’Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre’ im Oktober und November vergangenen
Jahres zugestimmt. Bisher haben sich noch nicht alle Mitgliedskirchen angeschlossen.
Die Mitgliedskirchen des Lutherischen Weltbundes müssen bis zum 1. Mai erklären,
ob sie der Vorlage der Erklärung zustimmen. Einige, darunter die EvangelischLutherische Kirche in den USA, haben dies bereits getan.
‚Rezeptionsprozess’
Der Lutherische Weltbund (LWB) bezeichnete das Votum der Professoren als Teil
der Diskussionen, wie sie derzeit in vielen LWB-Mitgliedskirchen geführt würden. Um
diesen wichtigen ’Rezeptionsprozess’ in den verschiedenen Regionen nicht zu beeinflussen, werde sich der LWB zu den einzelnen Diskussionsbeiträgen aus den Kirchen
nicht äußern, sagte eine Sprecherin auf epd-Anfrage in Genf. ’Der LWB erwartet
vielmehr mit Spannung die Beschlüsse aus den einzelnen LWB-Mitgliedskirchen’,
sagte sie.
Die Lehre von der Rechtfertigung, im Sinne von ’gerecht vor Gott werden’, ist ein
Zentralbegriff protestantischer Theologie. Luther nahm damit eine alte theologische
Diskussion auf und formulierte sie zur Kernthese der Reformation. Danach ist Gerechtigkeit keine Eigenschaft des Menschen, sondern Geschenk Gottes. Die christliche Heilsbotschaft, so die Reformatoren, ist die Botschaft von der Rechtfertigung,
beziehungsweise Versöhnung durch Jesus Christus.
(epd-Wochenspiegel Südwest 6/1998)
M 16
Zur Kontroverse: Otto Hermann Pesch (Auszüge)
-Suchen Sie die entsprechenden Textpassagen der GE und vergleichen Sie Ihre eigene Interpretation mit den Einschätzungen des Autors Otto Hermann Pesch
„Ich war und bin ein überzeugter Befürworter der GE. Eben deshalb will ich aber
exemplarisch auch auf einige Schwachstellen hinweisen, wo die GE hätte mutiger
sein können…“
Die erste Schwachstelle: „aus Glauben allein“ (GE 25-27)
„Bekanntlich steht und fällt das lutherische Verständnis von der Rechtfertigung des
Sünders mit der Formulierung, sie geschehe ’aus Glauben allein’: Nie wird ein Lutheraner auf diese Formel verzichten. Aber in dem gemeinsamen Text zu diesem
Thema steht diese Formel nicht – die katholische Seite hat sie nicht gewagt. Versagt
hier schon der Grundkonsens? In der Tat wird die Formel als Spezialität der lutherischen ’Lehrgestalt’ hingestellt. Die katholische ’Lehrgestalt’ bleibt bei der auf dem
Konzil von Trient bekräftigten Formel aus 1 Kor 13,13: Glaube, Hoffnung und Liebe –
und versteht unter ’Glaube’ die Zustimmung des Verstandes zur Wahrheit des Wortes Gottes. Die GE benennt die Gründe für den katholischen Widerstand: die traditionelle katholische Sorge, Luthers Formel führe dazu, ethisches Bemühen (’gute Werke’), Kirche und festes Bekenntnis für unwichtig zu halten. Barer Unsinn für alle, die
sich auskennen – aber damals bis heute einaktenkundiges Missverständnis.
Wenn freilich Luther und lutherische Theologen ’Glaube’ sagen, verstehen sie darunter die volle vertrauensvolle Selbstauslieferung an den barmherzigen Gott, die die
Aspekte der Hoffnung und der Liebe einschließen und den Aspekt der Zustimmung
des Verstandes zur Wahrheit des Wortes Gottes dabei ja gar nicht ausblenden können. Was soll dann, so verstanden, zur Rechtfertigung aus Glauben allein noch hinzukommen müssen? Soll man noch auf etwas anderes vertrauen als auf Gott allein?
So kann man das lutherische ’aus Glauben allein’ auch mit anderen Worten ausdrücken, wie es die GE an mehreren Stellen tut – wenn es etwa heißt, dass wir unser
Leben vor Gott ’allein [!] der vergebenden und neuschaffenden Barmherzigkeit Got-
tes verdanken, die wir uns nur schenken lassen, aber nie – in welcher Form auch
immer – verdienen können’ (Nr. 17; vgl. Nr. 15 und 25; Hervorhebung von OHP). Da
ist er – der ’Grundkonsens’. Und was noch wichtiger ist: So denken auch zahllose
Katholiken, wenn sie auch nur ein wenig nachdenken. Den ’Glauben’ als bloßes ‚Fürwahr-Halten’ von Lehre zu beschränken, das ist nur von einer abstrakten Betrachtungsweise möglich. Im gelebten Glauben weiß auch jeder Katholik: Vor Gott habe
ich niemals eine Rechung zu präsentieren, ich stehe immer mit leeren Händen vor
ihm und kann mich ’allein’ auf seine Barmherzigkeit wirklich verlassen.
Die GE hätte hier den ’Grundkonsens’ verstärken können, wenn sie auf diesen Wandel im katholischen Glaubensverständnis hingewiesen hätte. Sie hätte sogar auf das
Zweite Vatikanische Konzil verweisen können… (Konstitution über die göttliche Offenbarung, Art. 5)…“
Die zweite Schwachstelle: „gerecht und Sünder zugleich“ (GE 28-30)
„Einig sind sich beide Seiten, dass die Sünde diejenigen, die ’in Christus sind’ (Röm
8,1) nicht mehr von Gott trennt. Einig sind sie, Paulus folgend, auch darin, dass das
selbstsüchtige Begehren, die epithymía, die Konkupiszenz… auch in den Gerechtfertigten, in den Getauften bleibt, und dass sie gottwidrig ist.
Die Lutheraner wollen auf den Spuren Luthers diese Konkupiszenz mit dem ganzen
Gewicht des Wortes ’Sünde’ nennen und damit das Innere des Menschen als ’sündig’, von Gott abgekehrt, noch vor allen sündigen Taten – so dass der Gerechtfertigte
in vollem Ernst ’gerecht und Sünder zugleich’ ist, ’gerecht’ nur dadurch, dass Gott
ihm dieses sündige Begehren nicht anrechnet.
Die Katholiken wollen den Begriff der ’Sünde’ auf das frei entschiedene moralische
Versagen beschränken. Die Konkupiszenz ist nicht selbst Sünde, sondern im Getauften nur eine, allerdings sehr ernst zu nehmende Neigung zur Sünde, der der Christenmensch jederzeit, wenn er nicht dagegen ankämpft, zum Opfer fallen kann…
Die Lutheraner befürchten, die nach wie vor tief im Herzen wirksame Widersetzlichkeit gegen Gott werde verharmlost, wenn sie nach der Taufe nur eine ’Neigung’ zur
Sünde sei, der man nachgeben, aber auch erfolgreich widerstehen könne.
Die Katholiken befürchten, die Rede von der bleibenden Sünde nehme den radikalen
Unterschied zwischen der Situation des Sünders und der des Gerechtfertigten, des
Getauften nicht ernst – und können sich sogar auf Luthers Unterscheidung zwischen
der ’herrschenden’ und der ’beherrschten’ Sünde berufen (WA 8,96,17: 1521 in sogenannten Antilatomus).
Und so konnte man sich im gemeinsamen Bekenntnis nur auf gewundene Formulierungen einigen: ’[Der Gerechtfertigte] ist der immer noch andrängenden Macht der
Sünde nicht entzogen (Röm 6,12-14) und des lebenslangen Kampfes gegen die
Gottwidrigkeit des selbstsüchtigen Begehrens des alten Menschen nicht enthoben
(vgl. Gal 5,16; Röm 7,7.10). Auch der Gerechtfertigte muss wie im Vaterunser täglich
Gott um Vergebung bitten (Mt 6,12; 1 Joh 1,9), er ist immer wieder zu Umkehr und
Buße gerufen, und ihm wird immer wieder Vergebung gewährt’ (Nr. 28)…
Ehrlich wäre gewesen, wenn die Lutheraner aufgrund der Ergebnisse der Lutherforschung zugegeben hätten, dass Luther seine Formel ganz ’locker’ und in vielen Variationen bei verschiedensten Gelegenheiten einbringt, bei manchen, wo man es erwarten müsste, aber gerade nicht…
Ehrlich wäre gewesen, wenn die katholischen Partner aufgrund des Standes der
Paulusforschung zugegeben hätten, dass Paulus das ’Begehren’ keineswegs nur als
’Neigung’ zur Sünde versteht, sondern wirklich ’Sünde’ nennt.
Ehrlich wäre gewesen, wenn beide Seiten zugegeben hätten, dass Paulus spannungsvoll argumentiert; dass es nach wie vor umstritten ist, ob er an den einschlägigen Stellen überhaupt vom Christen spricht und nicht vielmehr auf sein Leben vor
seiner Bekehrung zurückblickt…
Ehrlich wäre gewesen, wenn also beide Seiten eingeräumt hätten, dass hier nicht
einfach Paulus ins Treffen geführt werden kann, sondern beide Auffassungen Zuspitzungen, Anwendungen des paulinischen Zeugnisses auf neue Situationen des Christenlebens sind, die sich von der Situation des Paulus unterscheiden.“
Die dritte Schwachstelle: das Thema „Heilsgewissheit“ (GE 34-39)
„Bekanntlich wird bei diesem Thema das Trienter Konzil polemisch und spricht von
einem ’eitlen Vertrauensglauben der Häretiker’… Dahinter steckt die nicht auszurottende Vorstellung, nach lutherischer Lehre gründe die Gewissheit unseres Heils bei
Gott auf dem subjektiven Glauben, gerechtfertigt zu sein. In Wahrheit ist das genaue
Gegenteil der Fall. Luther beruft sich auf Mt 16,19b: Was du auf Erden lösen wirst,
wird auch im Himmel gelöst sein’ und folgert daraus: Wer daraufhin zweifelt, dass die
Lossprechung des Beichtvaters bedingungslos gilt, unabhängig von zu leistenden
’Genugtuungswerken’, der erklärt ja Christus zum Lügner! Luther verlässt sich also,
gegen alle Wahrnehmung seiner subjektiven Befindlichkeit, auf das Objektivste, was
es in der Kirche gibt: auf das Wort Christi. Wer sich im Glauben darauf verlässt, der
ist seines Heils gewiss…
Stattdessen [statt der in den Ursprungstexten der GE formulierten Wendung: ’Glaube
ist Heilsgewissheit’] steht [aufgrund des Einspruch der römischen Begutachter gegen
subjektivistische Missverständnisse] jetzt zwei Sätze, die in der Sache genau Luthers
wirkliche Meinung wiedergeben: ’Aber jeder kann in Sorge um sein Heil sein, wenn er
auf seine eigenen Schwächen und Mängel schaut. In allem Wissen um sein eigenes
Vertrauen darf der Glaubende dessen gewiss sein, dass Gott sein Heil will’ (Nr. 36;
Hervorhebung von OHP)...
Die römischen Probleme erweisen sich als Scheinprobleme. Man hätte auf vollen
Konsens erkennen können.“
Die vierte Schwachstelle: kriteriologische Funktion der Rechtfertigungslehre
(GE 14-18)
„Es geht um das viel zitierte ’Richteramt’ des Rechtfertigungsartikels. ’Lenker und
Richter über alle Stücke christlicher Lehre’, nennt Luther ihn, und die GE zitiert das in
der Einleitung. Die katholische Befürchtung damals und aktenkundig bis heute: Hier
wird eine dogmatische Einzellehre willkürlich zum Maßstab für alles andere gemacht…
Der [Grundkonsens] ist nicht dadurch aufgehoben, dass die katholische Theologie…
zögert, vom ’Richteramt’ des Rechtfertigungsartikels zu sprechen, zur Klärung von
Einzelfragen auf weitere ’Kriterien’ zurückgreift – wie die evangelische Theologie ja
auch, zum Beispiel bei der Frage nach der Stiftung der Sakramente. Die katholische
Theologie drückt sich darum lieber so aus: Kriterium, also ’Richter’ über alle kirchliche Lehre ist das Bekenntnis zum Dreieinigen Gott und zu unsrer Erlösung durch Jesus Christus… Alle Sachkundigen aber wissen doch, dass es genau das ist, was in
der an Paulus anknüpfenden Formelsprache der Rechtfertigungslehre festgehalten
werden soll. Nicht als Einzellehre, sondern in dieser Funktion als ’Mitte und Grenze’
der Verkündigung des Evangeliums, wie es vor Jahrzehnten [der evangelische Theologe] Ernst Wolf schon ausgedrückt hat, hat die Rechtfertigungslehre ihr ’Richteramt’.
Warum ist es nicht gelungen, das klarzustellen – zumal die GE in der Sache ja genau
so urteilt?“
(Otto Hermann Pesch, Die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ vom
31.10.1999. Probleme und Aufgaben)
Literatur zu Hintergründen der Formulierungen der GE
-Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre. Ein Kommentar des Instituts für
Ökumenische Forschung, Straßburg 1997
-Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche (SELK), Stellungnahme zur „Gemeinsamen offiziellen Feststellung des lutherischen Weltbundes und der römischkatholischen Kirche“ samt „Anhang“, Oberursel/Hannover 1999;
http://www.selk.de/download/stellungnahme%20GF.pdf
-Stellungnahme theologischer Hochschullehrer zur geplanten Unterzeichnung der
Gemeinsamen Offiziellen Feststellung zur Rechtfertigungslehre;
http://w-haerle.de/texte/Stellungnahme.pdf
-Papst Johannes Paul II, Ein ökumenischer Meilenstein. Ansprache des Papstes anlässlich der Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigung beim
Angelus-Gebet in Rom am 31. Oktober 1999;
http://www.stjosef.at/dokumente/papst_zur_rechtfertigungserklaerung.htm
IV. Ertrag: die eigene Einschätzung
-Versuchen Sie in Auseinandersetzung mit der folgenden Position ihre eigene Einschätzung zur GE zu formulieren.
Die Fragestellung des LWB zeigt: Es geht um eine allgemeine Zustimmung, nicht darum, dass die GE Wort für Wort als neues Glaubensbekenntnis anzunehmen sei. Der
Begriff der „Grundwahrheiten“ formuliert keine Theorie einer Hierarchie von Wahrheiten, sondern eine „fundamental meaning“.
Ziel der GE ist es, grundlegende Gemeinsamkeiten zu benennen, ohne dabei nach
wie vor bestehende Unterschiede zu verwischen. Deshalb werden mittels der Methode eines differenzierten Konsenses bei den formulierten Übereinstimmungen zunächst die gemeinsame Grundlage, danach die jeweiligen Unterschiede benannt, die
den eingangs formulierten grundsätzlichen Konsens jedoch nicht aufheben.
Die GE will weder eine organisatorische Kirchengemeinschaft schaffen noch ein abschließendes Ergebnis markieren. Sie versteht sich vielmehr als einen wichtigen
Schritt in einer zunehmend als plural wahrgenommenen Welt die grundsätzliche Einheit des christlichen Zeugnisses und damit trotz Verschiedenheit die Wahrheit in
Wahrheit und Liebe nach innen und nach außen sichtbar(er) werden zu lassen.
-Wie beurteilen Sie die eingangs erwähnte Kritik von Kurienkardinal Walter Kasper,
dass die GE in der Reformationsdekade bisher keine Erwähnung gefunden habe?
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