Vorlesung Erkenntnistheorie (2. Sitzung, 22. 10. 2007) 1. Drei

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Vorlesung „Erkenntistheorie“ (Voigt; Wintersemester 2007/2008)
02. Einführung: Was ist Wissen?
(22. Oktober 2007)
1. Drei Bedeutungen von ‚wissen’:
propositional – praktisch – Kenntnis bzw. Vertrautheit
Ausdrücke wie ‚wissen’ bzw. ‚to know’ sind offenbar mehrdeutig, z.B.:
(a*)
(b*)
(c*)
Sam Chizo weiß, dass Paris die Hauptstadt von Frankreich ist.
Sam Chizo weiß, wie man sich bei Nacht in Paris zurechtfindet.
Sam Chizo kennt Paris Hilton. (engl.: Sam Chizo knows Paris Hilton.)
Dementsprechend lassen sich drei Typen des Wissens unterscheiden:
(a)
Propositionales Wissen (auch: Überzeugungswissen, Faktenwissen):
Wissen, dass … (etwas der Fall ist)
Praktisches Wissen (auch: „Know-How“, Regelwissen):
Wissen, wie … (etwas zu tun ist)
Wissen als Kenntnis bzw. Vertrautheit (engl.: knowledge by acquaintance)
Wissen, wie … (jemand oder etwas ist)
(b)
(c)
Propositionales Wissen äußert sich in wahren Aussagen über einen bestimmten Sachverhalt.
Praktisches Wissen äußert sich dagegen in richtigen oder falschen Handlungen oder in der richtigen
oder falschen Bewertung von Handlungen; Wissen als Kenntnis bzw. Vertrautheit muss sich nicht
notwendigerweise in Aussagen oder Handlungen äußern. Da philosophische Diskussionen sich um die
Wahrheit bzw. Falschheit bestimmter Aussagen drehen, beschränkt sich die Erkenntnistheorie
weitgehend auf propositionales Wissen.
Vgl. W. Detel 2007, S. 48f.; N. Lemos 2007, S. 2-5.
2. Typen des propositionalen Wissens: a priori – a posteriori; analytisch – synthetisch
(a*)
(b*)
(c*)
(d*)
Sam Chizo weiß, dass eine Hauptstadt der politische Mittelpunkt eines Landes ist.
Phyllis Renia weiß (unabhängig von Erfahrung), dass jedem Ereignis eine Ursache vorhergeht.
Egon Pilepsi weiß (nach empirischen Studien), dass ‚Angeber’ heute nicht mehr ‚Denunziant’
bedeutet.
Ben Lemmert weiß (nach Benutzung einer Waage), dass Paris Hilton 65 kg schwer ist.
In der philosophischen Tradition (z.B. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft) finden sich zwei
Typisierungen des propositionalen Wissens (in der Folge kurz: des Wissens), nach denen sich
folgende Gegensatzpaare unterscheiden lassen: a priori und a posteriori (epistemische Kategorien);
analytisch und synthetisch (semantische Kategorien).




Apriorisches Wissen ist vorgängig zur Erfahrung.
Aposteriorisches Wissen beruht dagegen auf Erfahrung.
Analytisches Wissen besteht darin, aus einem gegebenen Begriff (Subjekt einer Prädikation)
einen darin enthaltenen Begriff (Prädikat) hervorzuheben.
Synthetisches Wissen fügt dagegen einem gegebenen Begriff einen darin nicht enthaltenen
hinzu.
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Daraus ergeben sich vier Kombinationsmöglichkeiten:
(a)
apriorisches analytisches Wissen (aus der von Erfahrung unabhängigen Analyse eines
Begriffs)
(b)
apriorisches synthetisches Wissen (aus einer von der Erfahrung unabhängigen Erkenntnis)
(c)
aposteriorisches analytisches Wissen (aus der von Erfahrung abhängigen Analyse eines
Begriffs)
(d)
aposteriorisches synthetisches Wissen (von der Erfahrung abhängige Verknüpfung von
Begriffen)
Die Erkenntnistheorie befasst sich vorwiegend mit zwei dieser Typen:
 apriorischem analytischem Wissen als Ergebnis der Formalwissenschaften (z.B. Mathematik)
 aposteriorischem synthetischem Wissen als Ergebnis der empirischen Realwissenschaften
(z.B. Physik, Chemie).
Vgl. W. Detel 2007b, S. 54f.; L. Pojman 2001, S. 18-20.
3. Propositionales Wissen als wahre gerechtfertigte Überzeugung
Drei Problemfälle:
(a*)
(b*)
(c*)
S. Chizo behauptet zu wissen, dass Paris die Hauptstadt von Frankreich ist; er ist aber nicht
davon überzeugt, dass Paris die Hauptstadt von Frankreich ist.
Ph. Renia behauptet zu wissen, dass Hilton die Hauptstadt von Frankreich ist.
B. Lemmert behauptet, aufgrund eines Münzwurfes zu wissen, dass Paris und nicht Hilton die
Hauptstadt von Frankreich ist.
In diesen drei Fällen liegt nach gebräuchlichem Verständnis kein propositionales Wissen über Paris als
die Hauptstadt von Frankreich vor.
Was bedeutet es demgegenüber, etwas propositional zu wissen? Anspruch auf solches Wissen zu
erheben impliziert:
(a)
(b)
(c)
dass diejenige, die ihn erhebt, vom betreffenden Sachverhalt überzeugt ist,
dass diese Überzeugung wahr und
dass diese Überzeugung gerechtfertigt ist.
Die Standarddefinition propositionalen Wissens lautet daher: wahre gerechtfertigte Überzeugung.
Vgl. W. Detel 2007b, S. 39f.; N. Lemos 2007, S. 5-7.
Zu den einzelnen Elementen dieser Bestimmung:
4. Überzeugung
(a*)
(b*)
(c*)
S. Chizo spielt mit dem Gedanken, dass Paris die Hauptstadt von Frankreich ist.
Ph. Renia fragt, ob Hilton die Hauptstadt von Frankreich ist.
E. Pilepsi hält es für wahr, dass Castrop-Rauxel die Hauptstadt von Frankreich ist.
Nur im Fall (c*) kann von einer Überzeugung gesprochen werden. Eine Überzeugung ist diejenige
kognitive Einstellung, die darin besteht, einen bestimmten Sachverhalt für wahr zu halten. (Dies muss
nicht implizieren, dass dieser Sachverhalt auch wahr ist.)
Vgl. N. Lemos 2007, S. 7-9.
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5. Wahrheit
(a*)
(b*)
(c*)
S. Chizo: „Meine Überzeugung mit dem Inhalt ‚Paris ist die Hauptstadt von Frankreich.’ ist
wahr, weil sie mit der Tatsache übereinstimmt, dass Castrop-Rauxel die Hauptstadt von
Frankreich ist.“
Ph. Renia: „Meine Überzeugung mit dem Inhalt ‚Hilton ist die Hauptstadt von Frankreich’ ist
wahr, weil sich alle darüber einig sind bzw. darüber einigen könnten.“
E. Pilepsi: „Meine Überzeugung mit dem Inhalt ‚Castrop-Rauxel ist die Hauptstadt von
Frankreich’ ist wahr, weil es bei der Verfolgung meiner Ziele nützlich ist, dies anzunehmen.“
In der philosophischen Diskussion werden derzeit mehrere Wahrheitstheorien vertreten bzw. kritisiert,
unter anderem:
(a)
die Korrespondenztheorie der Wahrheit: Wahrheit besteht in der Übereinstimmung
zwischen der Behauptung und dem Sachverhalt, auf den sich die Behauptung bezieht.
Einwand: Ein Sachverhalt kann nicht unabhängig von einer auf ihn bezogenen Behauptung
identifiziert werden; dies müsste aber geschehen, um eine Übereinstimmung zwischen
Behauptung und Sachverhalt feststellen zu können; also kann die Übereinstimmung zwischen
einer Behauptung und einem Sachverhalt überhaupt nicht festgestellt werden.
(b)
die Konsenstheorie der Wahrheit: Wahrheit ist dasjenige, worauf sich die Experten zu einem
bestimmten Gegenstand in freier Diskussion einigen (können).
Einwand: Experten haben sich in freier Diskussion schon häufig auf Überzeugungen geeinigt,
die im Rückblick als falsch gelten, z.B. auf die Überzeugung von der Richtigkeit des
geozentrisches Weltsystems oder des Bohrschen Atommodells.
(c)
die pragmatische Theorie der Wahrheit: Die Wahrheit einer Überzeugung besteht in ihrem
Nutzen für den Kreis der Personen, welche diese Überzeugung haben.
Einwand: Die Überzeugung ‚Sam Chizo wird an einer langen und qualvollen Krankheit
sterben’ könnte wahr sein, obwohl es für Sam Chizo keinesfalls nützlich sein muss, sie zu
haben.
Ergebnis: Es gibt gegenwärtig keine unumstrittene philosophische Wahrheitstheorie.
Vgl. W. Detel 2007a, S. 34-38; N. Lemos 2007, S. 9-13.
6. Rechtfertigung
(a*)
(b*)
S. Chizo: „Meine Überzeugung ‚Paris ist die Hauptstadt von Frankreich.’ ist gerechtfertigt,
weil sie mit der Überzeugungen ‚In Lexika werden die Hauptstädte von Ländern korrekt
verzeichnet.’ und ‚In allen mir bekannten Lexika wird Paris als die Hauptstadt von Frankreich
genannt.’ zusammenhängt.“
Ph. Renia: „Meine Überzeugung ‚Hilton ist die Hauptstadt von Frankreich.’ beruht auf
bestimmten grundlegenden Überzeugungen, die selbst gerechtfertigt sind und keiner weiteren
Rechtfertigung bedürfen.“
Eine Überzeugung ist nicht nur zufällig bzw. kontingenterweise wahr – siehe das Münzwurf-Beispiel
3c* –, sondern gerechtfertigt, wenn es gute Gründe gibt, auf die sich das Für-wahr-halten dieser
Überzeugung stützen kann. Die Rechtfertigung im Sinne des Gerechtfertigtseins einer Überzeugung
darf nicht mit dem dorthin führenden Prozess verwechselt werden: So ist es für Ph. Renia durchaus
gerechtfertigt anzunehmen, dass die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum ca. 299 792 458 m/s beträgt,
auch wenn sie dies nicht selbst experimentell beweisen kann.
Es gibt zwei wichtige philosophische Theorien darüber, worin das Gerechtfertigtsein einer
Überzeugung besteht:
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(a)
(b)
die Kohärenztheorie: Überzeugungen sind gerechtfertigt, wenn sie mit anderen, ebenfalls
gerechtfertigen Überzeugungen zusammenhängen (siehe nächste Sitzung), und
den „Fundamentalismus“: Überzeugungen sind gerechtfertigt, wenn sie auf anderen, in sich
gerechtfertigen und selbst keiner weiteren Rechtfertigung bedürftigen Überzeugungen beruhen
(siehe übernächste Sitzung).
Vgl. W. Detel 2007b, S. 50-53; N. Lemos 2007, S. 13-17.
7. Entkräften der Rechtfertigung einer Überzeugung
(a*)
(b*)
S. Chizo ist davon überzeugt, dass ein vor ihm stehender Tisch rot ist, weil er ihn als rot
wahrnimmt. Er gibt diese Überzeugung auf, nachdem er erfährt, dass der Tisch unter einer
Rotlichtlampe steht.
Ph. Renia ist davon überzeugt, dass der im Regal ganz vorne stehende Computer funktioniert,
weil sie weiß, dass 99,99 % der 25000 Computer in dem Geschäft funktionieren, in dem sie
sich gerade befindet. Sie gibt diese Überzeugung auf, nachdem sie erfährt, dass ganz vorne im
Regal stets das einzige defekte Geräte steht.
Die Rechtfertigung einer Überzeugung kann auf zwei Weisen entkräftet werden:
(a)
(b)
direkte Widerlegung der angenommenen guten Gründe (engl.: „defeat“);
Anführen von guten Gründen, die es verbieten, die zunächst zugunsten der Überzeugung
angenommenen guten Gründen für diese in Anspruch zu nehmen (engl.: „override“).
Vgl. N. Lemos 2007, S. 19-21.
8. Ein Einwand gegen die Standarddefinition des Wissens: Gettier-Fälle
(a*)
(b*)
Die Uhr im Erdgeschoss des Marcushauses ist so stehen geblieben, dass der große Zeiger auf
die 12 und der kleine auf die 5 weist. Punkt 17 Uhr blickt Uwe Voigt auf diese Uhr und ist nun
davon überzeugt, dass es 17 Uhr ist.
S. Chizo ist davon überzeugt, dass Ph. Renia derzeit einen alten Volkswagen fährt, weil er
weiß, dass sie immer schon einen solchen besessen hat, und weil sie ihm glaubhaft versichert,
dass es sich nach wie vor so verhält. In Wirklichkeit musste Ph. Renia ihren alten Volkswagen
verkaufen und hat S. Chizo belogen, um ihre finanziellen Schwierigkeiten zu vertuschen. Sie
fährt allerdings derzeit den alten Volkswagen, den ihre Großmutter ihr geliehen hat.
Gegen die Standarddefinition des Wissens als wahre gerechtfertigte Überzeugung werden in
Anschluss an Edmund L. Gettier III. sogenannte „Gettier-Fälle“ angeführt. Diese beziehen sich auf
Überzeugungen, die zwar wahr und gerechtfertigt sind, deren Rechtfertigung jedoch auf anderen
Gründen beruht, als die Person annimmt, die diese Überzeugungen hat. In solchen Fällen ist es
offenbar nicht angebracht, von Wissen zu sprechen. Die Standarddefinition scheint demnach nicht
ausreichend zu sein. Sie wurde bislang jedoch noch nicht auf eine allgemein anerkannte Weise
berichtigt oder ersetzt.
Vgl. N. Lemos 2007, S. 22-43; W. Detel 2007b, S. 59f.
Literatur:
Detel, Wolfgang 2007a: Grundkurs Philosophie. Bd. 1: Logik. Stuttgart
-- 2007b: Grundkurs Philosophie. Bd. 2: Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Stuttgart
Lemos, Noah 2007: An Introduction to the Theory of Knowledge. Cambridge etc.
Pojman, Louis P. 22001: What Can We Know? An Introduction to the Theory of Knowledge.
Belmont, CA etc.
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Aufgaben zur Vertiefung:
1. S. Chizo behauptet: „Wir wissen nichts über das Wissen! Unsere Standarddefinition des Wissens
gestattet uns nämlich keine gesicherten Aussagen, da ihre wichtigsten Elemente umstritten sind: Wir
haben weder einen allgemein anerkannten Begriff der Wahrheit noch eine allgemein anerkannte
Theorie der Rechtfertigung!“ Nehmen Sie zu dieser Aussage Stellung und berücksichtigen Sie dabei
insbesondere Punkt 1 in diesem Handout!
2. Ph. Renia ist davon überzeugt, dass Castrop-Rauxel der lateinische Name für Wanne-Eickel ist, und
führt als Rechtfertigung für diese Überzeugung an, dass sie dies in einem von B. Lemmert
herausgegebenen Lexikon gelesen hat. Auf welche beiden Weisen könnte diese Überzeugung
entkräftet werden?
3. Konstruieren Sie je einen Gettier-Fall zu folgenden Überzeugungen:
a)
b)
c)
Die Erde kreist um die Sonne.
Die freie Marktwirtschaft ist dem Sozialismus überlegen.
Diejenige Person, die von ihrem Ehepartner bzw. ihrer Ehepartnerin betrogen worden ist, wird
die nächsten Präsidentschaftswahlen in den USA gewinnen.
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