Kybernetische Achsenzeiten1 Die Entwicklung der Volkskirche im 19. und 20. Jahrhundert Ralph Kunz 1 Volkskirche und Kirchenvolk 1.1 Von volkstümlich bis völkisch Die reformierten Kirchen der Schweiz haben ihre Wurzeln in der Reformation, die in den Städten der alten Orte der Eidgenossenschaft – vorab in Zürich, Bern, Basel, Schaffhausen und St. Gallen – je eigene Landeskirchen ausbildete. Aus diesen Landeskirchen wurden später Kantonalkirchen bzw. öffentlich-rechtliche Körperschaften, die je nach Ort mehr oder weniger lose mit dem Staat verbunden blieben. Der Begriff „Volkskirche“ muss vor diesem grösseren historischen Hintergrund gesehen werden, ist aber mit dem Hinweis auf die Geschichte der Kirche im Vis-à-vis zum Staat nicht hinreichend beschrieben. Volkskirche steht für einen Komplex, der weiter reicht und tiefer greift als die Rechtsgestalt der Landeskirchen.2 Tatsächlich deckt die geschichtliche Erbschaft der Verbindung von Ort, Kirche und Bekenntnisstand nur einen Teil dessen ab, was mit ‚Volkskirche‘ gemeint ist. Als im 19. Jahrhundert aus dem Kirchenvolk eine __ 1 2 Erscheint 2015 im TVZ im Band Plüss e.a. (Hg.), Volkskirche. Bitte diesen Text nicht weiterleiten oder verbreiten. Zum geschichtlichen Hintergrund vgl. Rudolf Pfister, Kirchengeschichte der Schweiz. Von 1720 bis 1950; Bd. 3, Zürich 1985. In Kapitel 2. und 3. dieses Beitrags sind Textteile übernommen und überarbeitet aus: Ralph Kunz, Kybernetik, in: Christian Grethlein/Helmut Schwier (Hg.), Praktische Theologie. Eine Theorie- und Problemgeschichte, Gütersloh 2007, 607–684. 2 Volkskirche wurde, boomte das Volkstümliche. Vom Arbeitervolk über Volksmärchen und Volkskunde bis zur Volksmusik und Volkswohlfahrt wurde ‚Volk‘ zur Chiffre und zum Platzhalter einer Sozial-, Macht- und Kulturgrösse, die im 19. Jahrhundert Hoffnungen und Ängste auf sich geladen hatte. Im Strudel der kommunistischen und nationalsozialistischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts avancierte das Volk zum Kampfbegriff: sei es in Gestalt des internationalen Proletariats, sei es als vaterländische oder völkische Nation. Die romantische Aufladung, die sozialistischen Signale an die Völker und die ideologische Instrumentalisierung des Völkischen sind auch an den Deutschschweizer Kirchen nicht spurlos vorbei gegangen. Die Kirchen wirkten in den grossen Umbrüchen als Treibende oder Getriebene, mitunter auch als hintertreibende und umtriebige Akteure mit. 1.2 Scheineinheit Die Ablösung von Staat und Kirche, die in den Umwälzungen der Französischen Revolution begonnen hatte, setzte sich in den liberalen Revolutionen Mitte des 19. Jahrhunderts fort. Schon bei einer flüchtigen Betrachtung der Zeit zwischen 1850 und 1950 lässt sich beobachten, wie zerspalten und zerrissen das ‚Volk‘ war. Auch die Volkskirche stand für eine Einheit, die mehr Wunsch als Wirklichkeit benannte. Näher auf diese theologischen, kulturellen und gesellschaftlichen Wechselwirkungen einzugehen, die sich in der Geschichte der Richtungen zeigt, würde nur schon für die Zürcher Landeskirche den Rahmen dieses Beitrags sprengen. 3 Es geht darum, den grossen Bogen zu sehen und sich auf die 3 „kybernetischen Achsenzeiten“ zwischen 1850 bis 1950 zu konzentrieren. Diese 100 Jahre lassen sich in Phasen unterteilen. 4 Ihr Abschreiten lässt jenen Prozess besser verstehen, der zur Gestalt der Volkskirche, wie wir sie heute kennen, geführt hat. Für das 19. Jahrhundert sind diese Phasen mit den Namen von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Carl Immanuel Nitzsch und Friedrich Niebergall verbunden (2). Für das 20. Jahrhundert lassen sich weitere Entwicklungsphasen mit den Namen Karl Barth und Emil Brunner verbinden (3). Der Beitrag schliesst mit einer kurzen Diskussion der ungelösten Aufgaben der Volkskirche, wie sie sich im Lichte einer Betrachtung ihrer Achsenzeiten geschichtlich und theologisch erschliessen lassen (4). 2. Kirche und Kybernetik im 19. Jahrhundert 2.1 Am Anfang war die Revolution Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher vollzog als erster die „theologische Wende zur sozialkulturellen Lebenswelt christlicher Religion“, wie dies Volker Drehsen auf den Punkt brachte. 5 Sein Beitrag zur Idee der Volkskirche lässt sich nur recht nachvollziehen, wenn man sein Verständnis von Kirchenleitung berücksichtigt. Den Hintergrund bildete der grosse Umsturz Ende des 18. Jahrhunderts – die Revolution. __ 3 Vgl. dazu Paul Schweizer, Freisinnig-Positiv-Religiössozial. Ein Beitrag zur Geschichte der Richtungen im Schweizerischen Protestantismus, Zürich 1972. 4 Den Begriff „Achsenzeit“ verwende ich bildlich, im Plural und nicht analytisch. Er spielt an auf den geschichtsphilosophischen Ordnungsbegriff von Karl Jaspers an. Er verstand darunter die Zeitspanne von 800 bis 200 v. Chr. – eine Phase, in der in unterschiedlichen Kulturen epochale geistige Entwicklungen stattgefunden haben. 4 Schleiermacher wurde rund zwanzig Jahre vor der Französischen Revolution geboren und starb 1834, kurz vor der (in Deutschland) gescheiterten bürgerlichen Revolution.6 Er erlebte also die Revolution als junger Mann und hielt sie für die „erhabenste That des Universums“ und wünschte sich auch die Kirche als eine „vollkommene Republik“ 7. Tatsächlich begann Anfang des 19. Jahrhunderts eine Zivil- und Bürgergesellschaft Konturen anzunehmen. Schleiermacher widmete sein Leben dem Anliegen, den epochalen gesellschaftlichen Umbruch als Chance für eine Kirchenreform zu nutzen. Politisch und kirchenpolitisch ging es ihm um das Recht der Mitbestimmung. Wie die Bürger im Staat sollen die Gläubigen in der Kirche mitreden. Wenn die Kirche nicht mehr länger durch den Staat regiert wird, stellt sich die Frage, wie das Kirchenregiment neu organisiert werden konnte. Schleiermacher ist zwar von der Utopie einer staatsunabhängigen Kirche im Laufe der Zeit abgekommen, aber das Anliegen, auch in der Kirche die Ideale der Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit zu realisieren, ist geblieben. Er setzte sich gegenüber dem preussischen König für eine Presbyterial-Synodalverfassung der Kirche ein. Diese Reformen blieben zwar in den Anfängen stecken, aber die Saat war gesät.8 Die Kirche im Staat soll im profilierten Sinne des Wortes Volkskirche werden.9 __ 5 6 7 8 Vgl. Volker Drehsen, Neuzeitliche Konstitutionsbedingungen der praktischen Theologie. Aspekte der theologischen Wende zur sozialkulturellen Lebenswelt christlicher Religion, 2 Bde., Gütersloh 1988, 93. Wilhelm Gräb, Praktische Theologie als Theorie der Kirchenleitung: F. Schleiermacher, in: Christian Grethlein/Michael Meyer-Blanck (Hg.): Geschichte der Praktischen Theologie. Dargestellt anhand ihrer Klassiker, APTh Bd. 12, Leipzig 1999, 67-110, 68 ff. Ebd., 71f. Erst 1919, in der Weimarer Reichsverfassung, sollte die evangelische Kirche in Deutschland als „Körperschaft des öffentlichen Rechtes“ ihre äussere Gestalt 5 2.2 Die Gestaltung des Gottesbewusstseins Entscheidend für die Volkskirchentheologie war die religiöse Begründung ihrer Leitung. Die Notwendigkeit der Kirchenleitung ergibt sich nämlich aus der Aufgabe der Gestaltung des Gottesbewusstseins und nicht aus einem politischen Mandat. Dieses Bewusstsein hat sich nach Schleiermacher in der Geschichte manifestiert. Es ist für ihn freilich das allgemein religiöse und allen gemeinsame Bewusstsein. Das unverwechselbare Eigene des evangelischen Glaubens kommt durch Bildung dazu. Was sich nach theologischen Spitzfindigkeiten anhört, ist wichtig für die Begründung der volkskirchlichen Frömmigkeit. Das Religiöse und nicht das Christliche im Sinne einer Lehre ist ihre Voraussetzung. Kirchenleitung ist bei Schleiermacher sehr weit gefasst: einerseits ist damit modern gesagt die Steuerung der Organisation und andererseits sind die leitenden Tätigkeiten in den einzelnen Gemeinden im Blick, also Liturgie, Predigt, Unterricht und Seelsorge. Die institutionell gebundenen und durch das Amt definiert Formen der Leitung werden Kirchenregiment und Kirchendienst genannt. Neben den gebundenen gibt es auch die ungebundenen Formen der Einwirkungen. Nicht nur das Amt, sondern auch die einzelnen Mitglieder sind als freie Gläubige dazu berufen, __ 9 und Leitung in eigener Kompetenz verantworten. Vgl. dazu Steffen Flessa/ Traugott Jähnichen, Auf dem Weg zu einer ‚Kirchenbetriebslehre’. Impulse für eine Weiterentwicklung der Organisations- und Verwaltungsstrukturen kirchlichen Handelns, in: PTh 94, 2005, 196-216, 197. Zu Schleiermachers Volkskirchen-Ekklesiologie vgl. Eberhard Hübner, Theologie und Empirie. Prolegomena zur Praktischen Theologie, Neukirchen-Vluyn 1985, 23 ff. 6 mitzubestimmen. Laien und Theologen unterscheiden sich nicht durch Rang oder Grad, sondern durch ihre Funktion. Theologen zeichnen sich lediglich durch grössere Methodenkenntnisse aus. Für Schleiermacher ist das „Priestertum aller Gläubigen“ ein Leitprinzip des Christentums. Das „kybernetische Charisma“ Schleiermachers erschliesst sich aber über die Leitformel seiner Praktischen Theologie, der „lebendigen Circulation des religiösen Interesses“. 10 Ihr Ausgangspunkt ist im Gegensatz zwischen Produktiven und Rezeptiven in der Gemeinde gegeben. Allerdings wird klerikale und pastorale Profession um der Leitung des „Priestertums aller Gläubigen“ willen in seine Grenzen eingewiesen.11 Kommunikation Kirchendienst. Schleiermacher wird kann so zum insofern „Leitbild“ als für Begründer den einer pastoralen Kybernetik gelten, als er aus der „Rumpelkammer aller möglichen Amtserfahrungen und Amtsvorschriften […] ein vornehmer Organismus innerlich verbundener Handlungsweisen aus dem Prinzip der evangelischen Heilsgemeinde“12 geschaffen hat. Das Anliegen, die Leitung religiös zu begründen, legte das Fundament für die Praktische Theologie. 13 2.3 Carl Immanuel Nitzsch als Schüler und Kritiker Schleiermachers __ 10 Vgl. Christian Möller, Lehre vom Gemeindeaufbau, 2 Bd., Göttingen 1990, 18 ff. Gerhard Rau, Pastoraltheologie. Untersuchungen zur Geschichte und Struktur einer Gattung praktischer Theologie (SPTh Bd. 8), Gütersloh 1970, 189 ff. 12 So das Urteil von Otto Baumgarten, Art. Praktische Theologie, in: RGG Bd. 4 (1. Auflage), Tübingen 1913, 1720-1722, 1722. 13 Vgl. Gerhard Ebeling, Studium der Theologie, Tübingen 1977, 129. 11 7 Carl Immanuel Nitzsch kann als wichtigster Schüler und Kritiker Schleiermacher gelten.14: Schleiermachers Werk sei „ein Grundriss, der beinahe in jedem Satze Räthsel der Vergangenheit löset und neue der Zukunft aufgibt.“15 Um das vermutete theoretische Defizit Schleiermachers auszugleichen, müsse die Praktische Theologie es selbst unternehmen, „auf dem Grund der Idee der christlichen Kirche und des kirchlichen Lebens durch Verständnis und Würdigung des gegebenen Zustandes zum leitenden Gedanken aller kirchlichen Amtstätigkeiten zu gelangen.“ 16 Hier wird eine entscheidende Weichenstellung vorgenommen: Während bei Schleiermacher die Einheit der theologischen Praxis in Bezug auf „eine bestimmte Glaubensweise durch die Beziehung auf das Christentum“ gegeben ist, betont Nitzsch die vermittelnde Rolle Kirche für den Glauben. Denn „[s]o wie das Reich Gottes sich in Christus zur Kirche und durch diese vermittelt, vermittelt sich christliches Leben zum kirchlichen durch dasselbe. Die kirchliche Ausübung ist diejenige, durch welche sich der christliche Glaube in und an der Menschenwelt bestätigt.“17 Die wichtigste Konsequenz dieser Grundlegung ist die stärkere Stellung der Kirche vor dem religiösem Individuum. „Das Subjekt der kirchlichen Ausübung des Christentums ist der ersten Potenz nach weder der einzelne Christ als solcher noch der Kleriker, sondern eben die Kirche.“ 18 Die __ 14 Vgl. Alfred Jäger, Konzepte der Kirchenleitung für die Zukunft. Wirtschaftsethische Analysen und theologische Perspektiven, Gütersloh 1993, 107. 15 Carl Immanuel Nitzsch,: Praktische Theologie, Bd. 1: Einleitung und erstes Buch. Allgemeine Theorie des kirchlichen Lebens, Bonn 1847, 30. 16 Ebd., 31. 17 Ebd., 12 f. 18 Ebd., 22. 8 Modifikation von Schleiermachers Konzept lässt sich anhand seines Aufrisses der Praktischen Theologie gut ersehen. Das Fundament bildet die praktisch-theologische Kirchentheorie. Ein zweiter Teil führt die Regeln der Tätigkeitsbereiche gemeindefördernder in der Erbauung Kirche und auf, in dem zwischen gemeindeleitender Ordnung unterschieden wird. Zur Erbauung gehören didaktisch fundierend die Predigt und der Unterricht, feierlich fundierend der Gottesdienst und konservierend die Seelsorge. 2.4 Kirche als eine Sozialgestalt sui generis Nitzsch forderte in seiner Praktischen Theologie, dass man die Kirche als selbständig handelnde Einheit nicht aus der philosophischen Theologie ableiten könne. Denn wie Religion niemals nur eine Idee sein kann, so müsse das Christentum als „die vollendete Thatsache der Religion“ angesehen werden. Nitzsch schliesst weiter, „so muss sie auch Kirche werden, und nur aus dem Grunde kann sich ein selbständiges Dasein und ein wirklicher Organismus der Theologie ergeben.“ 19 Für Nitzsch ist entsprechend klar, dass Kirche als einzig mögliches Mittel der Konkretisierung des Reiches Gottes bekannt sein muss. Denn „[d]as Reich Gottes hat in dieser Welt keine andre Pforte des Eingangs und des Zugangs als die Kirche selbst […] und keinen anderen Weg als die wesentliche Selbstbewegung und Selbstbethätigung der christlichen Gemeine.“ 20 Die Verbindung mit dem Reich Gottes lässt erahnen, welche Konsequenz die spätere, konsequente Vermittlungstheorie aus diesem __ 19 Ebd., 4 (herv. RK). 9 Gedanken ziehen konnte. So sieht Richard Rothe in der Kirche nur eine vorläufige Form christlich fundierter Sittlichkeit, eine Form, die sich in eine Gesellschaft von freien und mündigen Subjekten auflöst. Während bei Nitzsch die Verkirchlichung der Gesellschaft im Blick ist, sieht Rothe das Ziel in der Selbstauflösung der Kirche in die Gesellschaft. Es geht um das rechte Verhältnis dieser Grössen. Wenn die Kirche zwischen Reich Gottes und Christentum tritt, wird sie „actuoses Subject“. In dieser Zwischenstellung ist die Kirche weder identisch mit dem Reich Gottes noch mit Staat oder Gesellschaft, aber sie übernimmt die Rolle der Vermittlerin. „Je reiner sich die Kirche vom Reiche Gottes unterscheidet je inniger sie sich mit ihm als seinem Grunde und Zwecke vereinigt, desto weniger ist sie dem Staate, dem ganzen Cultur- und Naturleben gegenüber von tödlichen Trennungen und Mischungen bedroht.“21 Diese Zwischenstellung macht die Eigenart und Einzigartigkeit der Sozialform Kirche aus, die sie von anderen zivilgesellschaftlichen Akteure wie Beispiel Bewegungen, Vereinen oder Parteien unterscheidet. In der Frage, wie die Wirkung Nitzschs einzuschätzen ist, sind sich die Praktischen Theologen der Gegenwart nicht einig.22 Volker Drehsen sieht sehr viel Innovationspotential in Nitzschs Entwurf. 23 Er deutet Nitzschs Denkens als „Ausdruck eines innertheologischen Entideologisierungsprogramms“.24 Nicht ein dogmatisch eng gefasster __ 20 Ebd., 14. Ebd., 351. 22 Vgl. dazu Peter Bloth,: Praktische Theologie, Grundkurs 8. Bd. (hgg. v. Georg Strecker), Stuttgart/Berlin/Köln 1994, 30 ff. 23 Drehsen, Praktische Theologie, 136 ff. (Anm. 4) 24 Ebd., 141. 21 10 Kirchenbegriff, sondern der aktuelle Wirklichkeitsbezug seien die Kennzeichen dieses Ansatzes.25 Man kann Nitzschs Ansatz auch anders deuten. Wenn die Kirche ein Sozialgestalt sui generis ist, die sich weder aus einer allgemeinen oder staatlich verordneten Religiosität ableiten lässt, rückt das Volk als theologische Grösse in ein neues Licht. Zwischen dem Reich Gottes und dem Christentum ist Zwischenraum für das Volk Gottes. 2.5 Friedrich Niebergall und die Gemeindebewegung Die grossen gesellschaftlichen Umbrüche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts liessen stärker die Leitungs- und Entwicklungsaufgaben der Kirche in den Blick kommen. Dass ausgerechnet die Massen des Volkes im traditionelle Gemeindesystem nicht mehr erreicht werden konnten, machte die Frage der Organisation von Seelsorge und Erziehung immer drängender. Der Untertitel von Friedrich Niebergalls 1918 erschienenem Lehrbuch bringt dies deutlich zum Ausdruck. Er versteht Praktische Theologie als „Lehre von der kirchlichen Gemeindeerziehung auf religionswissenschaftlicher Grundlage“. Der Begriff Volkskirche gewinnt eine neue Bedeutung. Die neue Prominenz des Gemeindebegriffs ist symptomatisch. In seiner Lehre nimmt Niebergall Impulse der sogenannten Gemeindebewegung auf. Dies verdankt er ausdrücklich dem „begeisterten Propheten Sulze“, der „in einem langen gesegneten Leben“ das Ideal der Gemeinde __ 25 Ebd., 143. 11 verkündigt habe.26 Um es zu realisieren, müsse aber stärker von der gegebenen Gemeinde aus gedacht werden. Deshalb propagierte Niebergall den empirisch „religionswissenschaftlichen“ Ansatz. 27. Aus heutiger Sicht ist das Auffällige daran der breite Raum, den die „religiöse Seelen- und Volkskunde“ im Grundlagenband einnimmt. 28 Der fortschrittsfreundliche Ton gehört zum Tenor der liberalen Theologie der Jahrhundertwende. 29 Er äussert sich auch in einem ausgesprochenen Bildungsoptimismus. Es komme alles auf die Erziehung an, „die geduldig ein hohes, aber erreichbares Ziel fest im Auge, an den Gliedern der Gemeinde arbeitet“.30 In Nitzschs Formel des „actuosen Subjects“ erkennt Niebergall den Anfang einer „langsam siegreichen“ Erkenntnis. Die Selbstbetätigung der Kirche lasse sich nicht auf die Tätigkeit des Amtes beschränken, sondern umfasse die Gemeinde als congregatio sanctorum.31 Dies hat die Konsequenz, dass die Gemeinde nicht nur durch das Amt erbaut wird.32 Für Niebergall läuft dieser Fortschritt auf den Gedanken einer zunehmend mündigen Gemeinde hinaus. 33 Denn die Gemeinde, die „als möglichst selbständige und selbsttätige Grösse“ in __ 26 Friedrich Niebergall, Praktische Theologie. Lehre von der kirchlichen Gemeindeerziehung auf religionswissenschaftlicher Grundlage, Grundlagen Bd. 1, Tübingen 1918, 268. 27 Ebd., 31 ff. 28 Ebd. 29 Vgl. dazu Bloth, Praktische Theologie, 59 ff. (Anm. 21). Siehe auch Lars Emmersleben, Kirche und Praktische Theologie. Eine Studie über Bedeutung des Kirchenbegriffes für die praktische Theologie anhand der Konzeptionen von C.I. Nitzsch, C.A.G. v. Zezschwitz und Fr. Niebergall, Berlin/New York 1999, 187 ff. 30 Niebergall, Praktische Theologie, 1 (Anm. 25). 31 Ebd., 4 f. 32 Ebd. 33 Ebd., 5. 12 Erscheinung tritt, ist das „Leitbild“34 einer Kirche, die nahe beim Volk dient, vom Volk getragen und im Volk verankert ist. 2.6 Kybernetische Achsenzeit der Volkskirche – ein Zwischenfazit Dass sich die Deutschschweizerischen Landeskirchen im 19. Jahrhundert nicht wie in Holland oder Schottland in unterschiedliche Bekenntnisgemeinschaften aufspalteten, hat unterschiedliche Gründe. Wichtig war der Einfluss der Vermittlungstheologie 35, mit deren Hilfe mehrheitsfähige Kompromisse gefunden werden konnten. Genauso entscheidend war die synodale Organisation der Kirchen, die eine demokratische Aushandlung der divergierenden Ansichten und Gesinnungen erlaubte. Im Blick auf die Entwicklung ist es angebracht, das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts und das erste Viertel des 20. Jahrhunderts als „kybernetische Achsenzeit“ zu bezeichnen. Die wichtigsten Impulse der Kirchen- und Gemeindeentwicklung, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder aufgegriffen wurden, entstehen in dieser Phase. Alfred Niebergall vertritt den „Aufbruch zum Menschen“ und die „Nähe zum Volk“. Das ekklesiologische Programm, das sich mit diesem Ansatz verknüpft, hiess damals wie heute „Volkskirche“. Aber wie schon der Begriff der Volksmission deckt das ganze Programm der Gemeindebewegung auch einen Zwiespalt zwischen dem Kirchenvolk und der Bevölkerung auf. Die Kirchen haben im 19. Jahrhundert die Massen – __ 34 35 Ebd., 6. Vgl. dazu die Studie Markus Baumgartner, Ins Netz verstrickt. Beobachtungen zum Denkmuster des sogenannten Vermittlungstheologen Alexander Schweizer, Bern 1991; Campi/ Chr. Moser/ R. Kunz, Alexander Schweizer (1808-1888) und seine Zeit, Zürich 2008. 13 die Arbeiter – verloren. Damit ist auch eine entscheidende Problemstelle der praktischen Ekklesiologie in dieser Phase benannt. Was „Volkskirche“ meint, wurde in den folgenden Jahren zur kybernetischen Schlüsselfrage. Wie Bloth feststellt, hat „schon in den Jahren vor und während des Ersten Weltkrieges […] wohl keine theologische Frage ein solches Echo ausgelöst wie die sog. Kirchenfrage.“36 Ein wichtiger Grund war in Deutschland die Neuorganisation der Kirche in der Weimarer Verfassung. 37 1919 war mit dem Ende des landesherrlichen Regimes auch die rechtliche Grundlage für die synodal geleitete Kirche gegeben. Der Staat erkannte die selbständige Rechtsgestalt der Kirche an – ein Schritt, der in der Schweiz schon früher erfolgte. Welche Konsequenzen diese neue Rechtsgrundlage für die Gestalt der Kirche hatte, war aber nicht geklärt. Soll die Volkskirche Staatskirche bleiben? Ist sie Bekenntniskirche? Wie verhält sie sich gegenüber den entkirchlichten Massen? Folgt sie einem sozialen oder einem radikalliberalen Kurs? Eine wichtige Stimme war die von Otto Dibelius. Die mit der 1926 erschienenen Schrift „Das Jahrhundert der Kirche“ war auch ein Manifest des neu erwachten kirchlichen Selbstbewusstseins. 38 Nach 1919 war eine Neuordnung des Kirchenwesens nötig. Ein interessantes Dokument der darüber in Deutschland geführten Diskussion erschien im selben Jahr unter dem Titel „Revolution und Kirche“.39 __ 36 Niebergall, Praktische Theologie, 64 (Anm. 25) . Ebd., S. 56. 38 Zur kritischen Auseinandersetzung mit Dibelius vgl. Manfred Josuttis, Unsere Volkskirche und die Gemeinde der Heiligen. Erinnerungen an die Zukunft der Kirche, Gütersloh 1997, 11 ff. 39 Bloth, Praktische Theologie, 71 (Anm. 21). 37 14 3. Theologische Kybernetik zwischen den Zeiten 3.1 Die Kirchenkritik der Dialektischen Theologie Für die Schweiz hatten die Entwicklungen in Deutschland sowohl theologisch wie politisch direkte Folgen. 1919 formulierte Karl Barth in seinem Tambacher Vortrag „Der Christ in der Gesellschaft“ den vehementen Einspruch der dialektischen Theologie gegenüber Volksmission und einer religiösen Verwertung der sozialen Frage und leitete mit seiner Kritik eine neue Phase ein.40 Er kritisierte die Bemühungen der Gemeindebewegung als Versuch, die Gesellschaft zu klerikalisieren, und ging mit den Protagonisten hart ins Gericht: „Lasst uns eine neue Kirche errichten mit demokratischen Allüren und sozialistischem Einschlag! Lasst uns Gemeindehäuser bauen, Jugendpflege treiben, Diskussionsabende und musikalische Andachten veranstalten! […] Lasst uns mit einer neuen Begeisterung den alten Weg gehen, der mit dem Liebespietismus der inneren Mission beginnt und mit tödlicher Sicherheit mit dem Liberalismus Naumanns endigen wird.“41 Barths fundamentale Opposition mag aus heutiger Sicht destruktiv wirken.42 Es wird verständlicher, wenn seine „Kirchenschelte“ gerade nicht als alternatives Programm, sondern als eine radikale Kritik, die alles Handeln in Frage stellt, gelesen wird. Nicht das Handeln für die Kirche, die für Barth „Religion an sich“ ist, sondern die Einsicht in die Göttlichkeit Gottes soll das Handeln in der Kirche leiten. Es scheint, die dialektische Theologie __ 40 Zum Folgenden vgl. Bloth, Praktische Theologie, 72-82 (Anm. 21). . Karl Barth, Der Christ in der Gesellschaft, Eine Tambacher Rede, Würzburg 1920, 8.: in: Jürgen Moltmann, (Hg.), Anfänge der dialektischen Theologie, (TB 17/1), München 1977. Hier zit. aus Bloth, ebd., 74. 41 15 postuliere das Ende der Kirchenleitung im Namen Gottes, weil Gott nicht als ein „Ding an sich betrieben und gepflegt werden kann“. 43 Gleichzeitig wird aber auch der Anfang der Kirche erkennbar, dessen Wiederentdeckung für die Leitung der Kirche letztlich zur produktiven, kreativen und konstruktiven Triebfeder wurde. Die theologische Kritik der Kirche will nicht zerstörerisch sein, sondern den Aufbau einer Kirche in die Wege leiten, die Gott und nicht die Kirche als Fundament anerkennt. Am deutlichsten wird die Konsequenz dieser Umstellung bei der Predigt. An der Versammlung der „Freunde der Christlichen Welt“ im Oktober 1922 formulierte Barth seine Kernthese: „Das Wort Gottes ist die Aufgabe der Theologie.“44 3.2 Gottes Wort baut Kirche Die Aufgabe, von Gott zu reden, bringt, wenn Gott selbst sein Wort sprechen soll45, die Kirchenleitung in eine Verlegenheit, die Barth als „Not“ beschreibt. „Wenn einmal alle Kämpfe gegen eine alte oder für eine neue Kirche äusserlich so gegenstandslos werden, wie sie es innerlich vielleicht ohnehin sind, wenn all der darauf verwendete Ernst frei wird für ernsthaftere Gegenstände, rückt einem die wesentlichste Not der Theologie __ 42 Jedenfalls trifft der Vorwurf hier nicht zu, wie Bloth, ebd., zu Recht betont. Barth, Der Christ in der Gesellschaft, 16 (Anm. 40). 44 Karl Barth, Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie, in: Albrecht Beutel, e.a. (Hg.), Homiletisches Lesebuch. Texte zur heutigen Predigtlehre, Tübingen 1989, 42-58., 42 ff. 45 Ebd. S. 49: „Von Gott reden würde heissen, Gottes Wort reden, das Wort, das nur von ihm kommen kann, das Wort, dass Gott Mensch wird […] Das zu sagen, dass Gott Mensch wird, aber als Gottes Wort, wie es eben wirklich Gottes Wort ist, wäre unsere theologische Aufgabe.“ 43 16 nur um so grimmiger zu Leibe.“46 Denn Menschen können nicht von Gott reden. 47 Kirchliche Programme, die, um der Not auszuweichen, diakonische oder seelsorgliche Tätigkeiten einfordern, erkennen diese Situation nicht und verfehlen die eigentliche Not wie den ureigenen Auftrag der Kirche. Ob die Kirche nach rechts oder links driftet, sei völlig gleichgültig. Sie steuert auf jeden Fall in die falsche Richtung, wenn sie versucht, Menschen religiös zu erreichen. Für ihre Existenz brauchen die Zeitgenossen keine solche Unterstützung. 48 Das unmögliche Ziel müsse es sein, durch Gott Menschen und mit Menschen Gott zu erreichen. 3.3 Kirchenkampf in Deutschland Mit dem Ende der Weimarer Republik und Hitlers Machtübernahme trat die theologische Debatte um das rechte Verständnis von Kirche wiederum in eine neue Phase. Aus dem Streit um die Kirche wurde der Kampf in der Kirche für die wahre Kirche. Innerhalb weniger Jahre hat sich die Situation radikal verändert. Unter den Bedingungen „einer extremen Geschichte“ hat die Diskussion eine neue Richtung genommen. Die Gestaltung und Leitung der Kirche wurde zu einem Politikum und zu einer Bekenntnisfrage zugleich. Impulse der praktischen Ekklesiologie, die stärker die Volksmission betonten, wurden in den Hintergrund gedrängt, weil die bekennende Kirche sich gegen die Vormacht des Völkischen wehren musste. Der Eingangssatz in Heinrich Vogels Essay zur Frage „Wer regiert die Kirche?“ illustriert diesen Sachverhalt treffend: „Die Frage nach __ 46 Ebd., S. 43. Barth, ebd., spricht seine Amtskollegen auf ihre Berufssituation indirekt an, wenn er sagt: „Über unsere Situation möchte ich mich mit Ihnen unterhalten, und das sollte möglich sein, gleichviel ob wir so oder anders empfinden.“ 48 Ebd., S. 45. 47 17 dem Regiment der Kirche ist über uns gekommen wie der Dieb in der Nacht.“49 Nach dem Krieg ist ein geschärftes Bewusstsein der kritischen Funktion der Theologie für die Leitung der Kirche geblieben. Das Kirchenvolk kann in einen Widerspruch zur Sendung des Volkes Gottes geraten, der die zur Entscheidung – einen status confessionis – erzwingt. Ein Zitat aus Martin Fischers hellsichtigen Ausführungen zu Theologie und Kirchenleitung fasst die zentrale Lehre aus dieser Krise zusammen: „Theologie ist kein intellektueller Luxus, ohne den man predigen und Kirche leiten könnte. Die Theologie ist nicht so etwas wie ein luftiger Überbau über anderweitig zu findender und sichernder Kirchlichkeit, sondern in ihr geht es um Verkündigung und Wahrheit und damit um Glauben und Kirchenleitung […] Wer die Kirche als fromme Partei zur Erhaltung weltanschaulicher Bestände des christlichen Abendlandes selber zu retten unternimmt, muss den überlegenen Herrn durch ungeeignete fremde Hilfe ersetzen.“50 3.4 Emil Brunners Verständnis der Volkskirche Rudolf Sohm, auf den Fischer anspielt, vertrat vor dem Krieg eine institutionskritische Ekklesiologie. Er führte das in Nitzschs Konzept angelegte Selbstverständnis der Kirchenleitung konsequent weiter. In der __ 49 Heinrich Vogel, Wer regiert die Kirche? Über Amt, Ordnung, Regiment der Kirche, München 1934 (TEH Heft 15), 3. 50 Martin Fischer, Theologie und Kirchenleitung, in: EvTh 21, 1961, 49-68, hier 56 f. Die Rede wurde anlässlich des 25jährigen Jubiläums der Kirchlichen Hochschule Berlin am 31. Oktober 1960 gehalten. 18 Wahrnehmung fast aller ‚Wort-Gottes-Theologen‘ wurde diese Weiterführung als eine fatale Fehlentwicklung angesehen – mit einer Ausnahme. Es lohnt sich auf Brunner einzugehen, weil sich an seiner Person und in seiner Kirchenlehre eine Weiterentwicklung des Volkskirchengedankens ablesen lässt, der für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts die Debatten dominieren sollte. Bezeichnend und prägend war das Zerwürfnis mit Barth. Dazu ist es schon während dem II Weltkrieg gekommen. Bekannt geworden ist das schroffe Nein Barths auf Brunners Versuch, für das Glaubensgespräch einen sogenannten Anknüpfungspunkt zu behaupten. Die beiden stritten aber damals auch schon über das Verständnis der Volkskirche. In einer Schrift mit dem Titel „Um die Erneuerung der Kirche“, die 1934 erschien, legte Brunner seinen Standpunkt dar. Es enthält u.a. einen Vortrag vor dem Zürcher Pfarrverein. Die Schlussworte, die auf Otto Dibelius Bezug nehmen, sind ein eindrückliches und prophetisches Zeugnis Brunners: „Man hat vom Jahrhundert der Kirche gesprochen in einer volltönenden Weise, die wir nicht billigen können […] Unsere Schweizer Kirche, die nicht wie die deutsche das harte Glück hat, um ihre Existenz ringen zu müssen, schläft noch den Schlaf der letzten Jahrhunderte. Sie ist noch nicht ganz zur neuen Verantwortung erwacht. Sie sieht noch nicht, wie die Welt sich von ihr emanzipiert hat, wie illusionär ihre überlieferten Begriffe von der Einheit von Volk und Kirche sind. Uns aber, die wir den 19 Namen Hirten führen, geziemt es zuerst, zu erwachen und zu merken, welche Stunde es geschlagen hat.“51 Im selben Büchlein veröffentlicht Brunner einen zweiten Vortrag, in dem er die Gruppenbewegung, eine innerkirchliche Bewegung, die die Kirche beleben und nicht ersetzen will, „als Frage an die Kirche“ vorstellt. Die Bewegung reagiere auf den Kirchenhochmut und sei das rechte Mittel mit dem Gott die wahre Erneuerung schenke, von der die Wort GottesTheologie nur Scheinkirche. spricht.52 Sie ist Die lediglich Volkskirche eine war historische für Brunner eine Ausbildung des Christentumsgedankens, deren einzige theologische Berechtigung darin besteht, Raum und Gelegenheit für die Mission des Volkes zu bieten. Barth hatte wenig Verständnis für diese Töne. Der Kirchenkampf war auf einem ersten Höhepunkt. Ein Tag nach dem Vortrag Brunners vor der Zürcher Pfarrerschaft begann in Barmen die Bekenntnissynode. Barth engagierte sich in diesem Kampf gegen die Deutschen Christen. Die Anliegen Brunners waren – wenn man auf die Zwischentöne achtet – gar nicht so weit entfernt von dem, was in Barmen bekannt wurde. Aber Brunners Ekklesiologie war gleichsam entpolitisiert. Seine Anliegen waren auch Barth nicht ganz fremd, jedoch in seinen Augen zum gänzlich falsches Zeitpunkt geäussert. Es war nicht der Kairos, um an die Volksmission zu erinnern. __ 51 Emil Brunner, Die Kirche als Frage und Aufgabe der Gegenwart. Vortrag im Kantonal-Zürcherischen Pfarrerverein am 28. Mai 1934, in: ders., Um die Erneuerung der Kirche. Ein Wort an alle, die sie lieb haben, Bern/Leipzig 1934,6-31, 31 52 Emil Brunner, Die Gruppenbewegung als Frage an die Kirche, in: ebd. 32-51, bes. 44f. 20 Um die unterschiedlichen Positionen besser zu verstehen, ist es hilfreich, noch einmal zurückzublenden. Barth und Brunner hatten Hermann Kutter und Leonhard Ragaz als gemeinsame Lehrer, die ihnen die soziale Frage nahe brachten. Wie dramatisch die Situation war und wie eng die Konflikte in der Kirche mit der Spaltung des Volkes zusammen hingen, lässt sich aus der historischen Distanz kaum noch ermessen. Im Schlüsseljahr 1919 rief die Schweizer Bundesregierung zur Mobilmachung. Man stand kurz vor einem Bürgerkrieg. Die Gewerkschaften riefen zum Generalstreik. Auch in Zürich standen die Zeichen auf Sturm, als Leonhard Ragaz aus Protest gegen die Haltung der Regierung seine Professur für Praktische Theologie niederlegte. Er wollte und konnte nicht länger Mitglied einer Universität sein, die von Soldaten bewacht werden musste. Der Nachfolger von Leonhard Ragaz hiess Emil Brunner. Er sollte mit seinem Ansatz zu einem der vehementesten und profiliertesten Kritiker, aber auch Erneuerer der Volkskirche werden. Dafür kann sein Buch „Das Missverständnis der Kirche“ stehen. In diesem ekklesiologischen Manifest wird die Gemeinde als ekklesia des Neuen Testaments kategorial von der Kirche als Organisation unterschieden. Brunner lehnte zwar auch hier die Volkskirche nicht prinzipiell ab, aber er drängte darauf, dass die kirchlichen Institutionen der Gestaltwerdung der Ekklesia als „Christusgemeinschaft im Glauben und Bruderschaft in der Liebe“ dienen und sie nicht hemmen sollten.53 3.5 Der Gemeindeaufbau als Anfrage an die Volkskirche __ 53 Emil Brunner, Das Missverständnis der Kirche, Zürich 1951. 21 1983 veröffentlichre Fritz Schwarz eine Theologie des Gemeindeaufbaus, die im Wesentlichen auf Brunners Ekklesiologie aufbaut und die – notabene schon in den 1930er Jahren ausgeführten – Überlegungen zu einer innerkirchlichen institutionskritischen Bewegung konsequent in ein Programm umsetzt. Brunner, der in seiner Studienzeit in Oxford das erweckliche Christentum erlebte, hatte eine Nähe zum Pietismus und zugleich ein universales und weniger kontinentales Verständnis von Kirche. Das stimmte ihn gegenüber dem Erbe der Volkskirche skeptisch, liess ihn aber andererseits ein Kirchenverständnis favorisieren, das auf der Gemeinde als sichtbarer congregatio sanctorum basierte. Das Missverständnis der Kirche ist so gesehen von einem Missverständnis der Gemeinde begleitet. Diese ist nach Brunner kein Ideal. Eine überzogene Institutionskritik, wie sie Brunner im Gefolge von Rudolf Sohm zeitweise übt, fällt nun aber leicht in dieses Missverständnis. Interessanterweise hatte die „alte“ Volkskirche – provoziert durch Kreise, die auf grössere Einheit und mehr Bekenntnis drängten – noch einmal ein Comeback, weil sie seit den 1970er Jahren zum Hort und Ort der modernen Vielfalt und Offenheit avancierte. Für die Gemeindeaufbaubewegung der 1980er Jahre wurde wiederum Volkskirche zunehmend zum Reizwort. In dieser Auseinandersetzung steht der Gemeindeaufbau dem Lob der Vielfalt in der Volkskirche eher kritisch gegenüber und sieht in der Wirkung der Megatrends Individualisierung und Pluralisierung eine Gefährdung der Gemeindeidee. 4 Die ungelösten Aufgaben der Volkskirche 22 Wenn man die gegenwärtige Lage der Kirche in ihrem geschichtlichen Zusammenhang der hier so benannten Achsenzeit betrachtet, empfiehlt sich, sowohl zur überzogenen Kritik wie auch zum Lob der pluralitätstauglichen Volkskirche eine gewisse Distanz zu halten. Gemeindeaufbau und offene Volkskirche bilden keinen sich ausschliessenden Gegensatz. Ein Entweder-Oder ist ebenso mit Blick auf die strukturellen Herausforderungen der Volkskirche nicht weiterführend. Auch in dieser Beziehung lehrt einen die Geschichte Gelassenheit. Der Problematik der falschen Alternative wurde schon vor fast vierzig Jahren mit der simplen, aber griffigen Formel Doppelstrategie begegnet. Die so genannte „missionarische Doppelstrategie“ war, ein Konzept, das 1982 in Bückeburg vorgestellt und von der Generalsynode der VELKD beschlossen wurde. Mit den beiden Schlagworte „Öffnen“ und „Verdichten“ war das Ziel gemeint, einerseits Menschen in ihrem Christ- und Kirche-Sein zu vergewissern und (neu) sprachfähig für den Glauben zu machen, andererseits Menschen erstmalig oder erneut und in großer Weite den Kontakt mit der Kirche und ihrer Botschaft zu ermöglichen. 54 Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts hat die Frage der Weiterentwicklung der Organisation eine dramatische Zuspitzung erfahren. Ist die Rede von einer Volkskirche noch berechtigt, wenn dereinst nur noch eine Minderheit der Bevölkerung Mitglieder einer der beiden Grosskirchen sein werden? Der Hinweis auf die demokratische Verfassung und die öffentlichrechtliche Körperschaft reichen nicht, um den Anspruch einer Kirche im Namen des Volkes zu legitimieren. Dass die Formel „Mixed Economy“ aus __ 54 Eine gute Zusammenfassung (und kritische Würdigung) des Konzepts findet sich bei Michael Herbst, Missionarischer Gemeindeaufbau in der Volkskirche, Stuttgart 1987, 228-243. 23 dem Kontext der Freshex-Bewegung in der Englischen Kirche55 das Potential einer Konsensformel hat, die derselben kybernetischen Logik wie die Doppelstrategie folgt, ist kein Zufall. Signalisiert diese Formel doch einen radikaleren Pluralismus, der – bei Lichte betrachtet – einige grundlegende Prinzipien der Volkskirche partiell aufhebt, ohne sie deswegen ganz zu verabschieden. Es scheint, dass Nebeneinander von die nächsten Jahrzehnte traditioneller Gemeindeformen bringen hinwegtäuschen, dass wird. die Ortsgemeinde Das tiefen ein dynamisches und kann aber nicht Gräben, die sich neuen darüber in den Auseinandersetzungen der Achsenzeiten aufgetan haben, mit solchen pragmatischen Kompromissen noch nicht überwunden sind. Insofern mahnt die Geschichte auch zur Vorsicht. __ 55 Als kirchenpolitische Formel geprägt von Erzbischof Rowan Williams hat „Mixed Economy“ in der Freshex-Bewegung auch den Rang eines theologischen Konzepts. Siehe http://www.freshexpressions.org.uk/guide/about/mixedeconomy (Zugang am 23. 08.14)