Konferenz Lüttich 16. März 2012 „Jesus Christus hat Aids!“ Schweigen und Worte der Kirchen... „Schweigen und Worte der Kirchen“... Obwohl die Vereinigungen seit 1985 oft beeindruckendes Vorstellungsvermögen und Großzügigkeit an den Tag legten, und gleichzeitig bemerkenswert solidarisch waren, hörten wir nichts seitens der Kirchen. Sie blieben größtenteils unbeteiligt. Ich möchte an dieser Stelle nebenbei daran erinnern, dass das Heraufbeschwören eines „Strafenden Gottes“ in gewissen Kreisen oder unter Gläubigen, einer der Gründe für das Ende des Schweigens der Kirchen in den Jahren 1986-87 war. Die Pandemie hat die Kirchen dazu geführt, ihre Identität in Frage zu stellen. Mit dem Ausdruck „heilende Gemeinschaft“ wollten die Kirchen ihre Identität in Bezug auf Aids neu formulieren. Dieser Begriff ist bereits in den ersten offiziellen Stellungnahmen aufgetaucht, unter anderem in der Erklärung des Ökumenischen Rates der Kirchen im Jahre 1986: „Die Dringlichkeit des Aids-Problems ruft uns dazu auf, unter allen Umständen Kirche in Tat und Wahrheit zu sein, eine Heilung gebende Gemeinschaft zu sein“. Aids ist ein zerreißendes Problem und ruft die Kirchen dazu auf, ihr Herz zu zerreißen, ihre starre Passivität und ihren Moralismus zu bereuen. Aids kennt keine Grenzen – nicht der Rasse, der Klasse, des Geschlechts, des Alters, des sexuellen Ausdrucks oder Tendenz -, und es stellt unsere Ängste und Ausgrenzungsverfahren in Frage“. Gewisse Bischöfe, unter anderem der Kardinal Joseph Bernardin, Erzbischof von Chicago, haben ähnlich reagiert: „Gott ist liebend und barmherzig; er ist kein Rächer. Jeder Mensch ist das Bild Gottes und ein unschätzbares Gut, und das Leben jedes Einzelnen, egal welcher Geschlechtszuneigung, ist heilig und dessen Würde muss respektiert werden.“ „Jesus Christus hat Aids!“ Dieser ein wenig provokative Titel beruht auf einer am 14. März 1992 in London vom Dominikaner Timothy Radcliffe gehaltenen Predigt. Seit 1986 hat er viele Aktionen für den Kampf gegen Aids unternommen. Er sagte unter anderem: „Wir sind wütend auf die Gesellschaft, wenn wir dabei zusehen müssen, wie sie HIVund Aidskranke wie Leprakranke behandelt. Wir sind wütend, weil wir das Gute und Heilige in ihnen erkennen. Wir sind wütend aufgrund dieser Vorurteile und Scheinheiligkeit. Wir sind manchmal wütend auf die Kirche, wenn sie dem Problem offensichtlich entweicht oder sich mit dem Thema Kondome verheddert. Wir sind wütend, weil wir sehen, wie Jesus Christus in unseren Brüdern und Schwestern leidet. Jesus Christus hat Aids...“ Wie sieht es 20 Jahre später aus? Vor kurzem, bei einer Versammlung, sagte ein HIV-positiver Freund zu mir: „Die Kranken sind die Kirche, die Kirchen sind krank“. Kurze Zeit vor dieser herausragenden Predigt wurde die Vereinigung „Christen und Aids“ aus einer Arbeitsgruppe heraus geboren, bestehend aus Katholiken, Protestanten, einem Engländer, einem Belgier und einem Schweizer, einer Krankenschwester, erkrankten Personen, einem Mediziner, Pfarrer, Theologen, Militanten von David und Jonathan oder Aides... Eine produktive Zusammensetzung, alle in einem Boot. Wir waren 1991 im Zentrum Thomas More im Dominikanerkloster von Arbresle in der Nähe von Lyon. Welche Motivation trug jeder in sich? „Wir haben schnell gelernt, so Gründer Antoine Lion, dass die Frage nach den Motivationen niemals gestellt werden sollte, um das kleine Stück Geheimnis, das jeder in sich trägt, zu respektieren, und das man vielleicht ausspricht, wenn man Vertrauen findet und erlebt. Das Geheimnis jedes Einzelnen ist oft der Beginn von Begegnungen“. Die Wahl, zwei Wörter wie „Christen“ und „Aids“ zu vereinen, bedeutet „bedingungslos zeigen, dass wir uns auf der schwierigen Grenze zweier Universen bewegen“. Die Zusammenführung beider Begriffe soll auch bedeuten, dass wir Christen nicht außen stehen bleiben, als hätten wir „Christen gegen Aids“ gesagt. „Christen“ und „Aids“ sind für uns zwei untrennbare Wörter: Die Erfahrung von Aids möchten wir als Christen erleben und weiterleben. Die christliche Existenz, die Suche nach Gott, der Glaube in Jesus Christus, in Mitte dieser Geschichte der Epidemie möchten wir sie weiterhin erfahren. Zusammen: einer mit dem anderen. Nicht einer ohne den anderen. Diese beiden Wörter zusammenzuführen sollte jedoch auch bedeuten, uns freiwillig in eine aufreibende Situation zu begeben, dort wo die Welt des Aids – mit seinen Ängsten, seinen Leiden, seinen Hoffnungen, seinen Fragen, seiner Gewalt, seinem Reichtum, seiner Großzügigkeit – auf das alte ‚Christenuniversum‘ trifft, mit seinen spirituellen Kräften, seinen Gründungstexten, seinen Traditionen, seiner Erfahrung der Tiefe des Menschen. „Ist es nicht das Vertrauen in den Menschen und seine Fähigkeit, sich demütig auf den schwierigen Wegen der Hoffnung und der Freiheit zu begeben, das die Gesundheit jeder Religion und jeder Kirche ausmacht?" fragt Gérard De Villers. Persönlich war es zweifellos die Leidenschaft der Grenzen, die mich in dieses Abenteuer geführt hat, noch mehr aber, weil ich Zeuge der Ausgrenzung eines HIV-positiven Freundes einer Glaubensgemeinschaft gewesen bin. Dies war unheimlich schwer für mich. Ich habe Aussagen gehört, bei denen ich einfach nur hätte schreien können! Es geht uns nichts an, wie sich jemand infiziert hat. Es hat überhaupt keine Bedeutung, wenn es darum geht eine Person in dieser schwierigen Zeit anzunehmen und zu begleiten. Dies ist einer der Gründe für mein Engagement im Kampf gegen Aids. Als Priester, aber auch als Akteur vor Ort, bin ich oft mit dem Zusammenstoßen von scheinbar inkompatiblen Welten konfrontiert worden. Zwischen zwei Stühlen, und doch? Ist es naiv, gerade darin einen zusätzlichen Reichtum zu erkennen? Wer von uns hat noch niemals Dinge gehört wie: „Du kümmerst dich um Aidskranke Menschen; deine Kirche ist bereit, sie zu begleiten, wenn sie sterben, aber sie hilft ihnen nicht dabei, zu leben; und sie interessiert sich nicht für sie, bevor sie krank werden!“ Was war unsere Antwort? Die Intensität des Zusammenstoßens von „Pflege“ und „Religion“ und die Formen dieses Wertekonflikts um das Thema Sexualität sind in Wirklichkeit Teil des sogenannten sozialen Aufbaus der Epidemie. Im Sinne der Volksgesundheit hat sich die Debatte um den Gebrauch von Kondomen kristallisiert. Sind wir weiter gekommen? Die Forderungen der Volksgesundheit und die einer vom Evangelium inspirierten Ethik stehen an sich nicht im Gegensatz zu einander. Sollte die Aidsfrage nicht eher ein Ort des Zusammenkommens als der Konkurrenz sein? Eben habe ich Ihnen noch folgende Frage gestellt: „Wie sieht es 20 Jahre später aus?“ Ich habe andere Fragen: Wie soll man heute mit den Kirchen über Aids sprechen, und wie genau mit denen, die diesen Aufruf hören möchten? Besitzen wir noch die „Wut des Glaubens“ von der Timothy Radcliffe in Bezug auf die Aidsepidemie sprach? Die aktuelle Lage des Aidskampfes ändert sich stets, ist komplex und oft verwirrend. Die Landschaft hat sich verändert, doch die Problematiken sind gleich. Man könnte meinen, dass sie einfach nur verschoben wurden... Die Epidemie entwickelt sich, aber auch die Begleitung HIV-positiver oder kranker Menschen. Nur allzu oft betrachtet die Öffentlichkeit Aids als eine „chronische Krankheit“. Gleichzeitig zeigen die Statistiken, dass die Anzahl der Infektionen weiter steigt. Die Banalisierung von Aids wirkt sich auf das Gedächtnis aus. Welche Rolle könnten unsere Vereinigungen übernehmen, um die Arbeit voranzutreiben in puncto Ausdruck und Weitergabe von Wissen? Für viele junge Leute ist Aids eine Krankheit von alten Menschen. Sie haben wohl keine ihrer Freunde sterben sehen. Wir befinden uns seit einiger Zeit schon an einem Wendepunkt. Freiwillige in Vereinigungen werden immer seltener. Die jungen Generationen engagieren sich weniger... Obwohl es einer großen Mehrheit besser geht, schweigen jene, die den Virus tragen. Ist es heute einfacher, das Geheimnis zu hüten? Ich glaube es nicht. Viele sprechen über ihre „innere Einsamkeit“. Wie kann man vor diesem Hintergrund mit dem Alltag, mit der Arbeit, mit Liebesbeziehungen umgehen? Sehen wir augenblicklich ein, dass die Stimmen verstummen ... Reden ist nicht einfach. Aidsvorbeugung darf nicht zur Sprachvorbeugung werden. Es gibt noch immer zu viele Orte und Kreise, wo Schweigen herrscht. Gibt es genug Raum für Sprache, Wortmeldung, Reflektion? Sie wissen, dass es bei der Aidsvorsorge nicht nur um die Debatte über Kondome geht. Es muss Raum geschaffen werden für eine psychologische, ethische und spirituelle Sprache. Um die Schwierigkeiten der Vorsorge verstehen zu können, muss man einsehen, dass der Mensch nicht immer vernünftig sein kann. Wir sind Wesen des Begehrens, der Sprache und des Mangels. Wir müssen dringend unsere Überzeugungen in Sachen Sexualität überdenken: was heißt es zu lieben und geliebt zu werden? Was ist Freundschaft? Wie stellen wir uns das „Zusammen-leben“ vor? Wie sehen wir unsere Zukunft mit einem oder einer anderen Partner(in)? Es gibt viele Fragen, die unserer Kultur zusetzt, die Aids enthüllen und die sich zuspitzen, und die nur in einem menschlichen, aufmerksamen, respektvollen und wahren Austausch bearbeitet werden können. Das verlangt jedoch Menschen mit Fantasie, Leidenschaft, Mut, Liebe und Hoffnung. Wo ist unser Betätigungsfeld? Wie steht es mit unserem Wort? Sollte es nicht die Aufgabe der Kirchenverantwortlichen sein, sich für mehr Solidarität, Respekt und Menschenwürde einzusetzen statt zu urteilen oder den Geist einer „gewissen sofortigen Gerechtigkeit“ zu erwecken? Können wir die Chancen ergreifen? „Ich denke wirklich, dass Christen ihren Platz in der öffentlichen Debatte haben und in der Aidsdebatte, nicht um bereits bestehende Antworten zu diktieren, bevor die Fragen überhaupt formuliert werden, aber um mit eigenen Mitteln und Kapazitäten die schwierigen Fragen aufzuklären“. Die wahre Frage besteht darin, alle bestehenden Mittel einzusetzen, die ein Verantwortungsgefühl schaffen können und nicht die bereits erkrankten Personen zu stigmatisieren oder sich schuldig fühlen zu lassen. Was sollen wir heutzutage mit unseren menschlichen Erfahrungen, unseren Überlegungen und unserer Ethik machen? Wie können unsere Gemeinschaften und unsere Bewegungen davon profitieren? In einer ersten Phase müssten sie als Orte erkannt werden, die Menschen aufnehmen können, die vielleicht ein bisschen anders sind, weil diese Menschen uns etwas über Gott sagen können. 1993 sagte Robert de Monvallon: „Die Frage ist nicht: Sind Religionen unbiegsam oder tolerant? Die Frage ist: Sind sie schöpferisch?“ Fast 20 Jahre später bleibt diese Frage offen. Wie kann man mit Kirchen über Aids sprechen, und wie soll man mit jenen umgehen, die für diesen Aufruf offen sind? Die Herausforderung ist und bleibt groß, trotz der Verbesserungen und Wege, die bereits geöffnet wurden. Daniel Defert, Pionier des Kampfes gegen Aids und Gründer der Vereinigung AIDES, stellte schon 1993 fest, dass Aids die autoritäre sexuelle Moral der Kirche stärkt oder legitimiert, anstatt ein neues Überdenken zu entfachen. Er fuhr fort, indem er sagte: „Bisher hat die Kirche nichts Starkes in Bezug auf Aids gesagt“. Der Soziologe Patrick Michel bemerkte, dass unsere Gesellschaften nach Sinn fragen, „dennoch, sagt er, antworten die Kirchen mit der Norm, jedenfalls in den Medien“. Kann man in der Tat von Aids sprechen, Aids entgegenwirken, Aids vorbeugen, ohne der wirklichen Fragestellung auf den Grund zu gehen, die Aids stellt und schärft? Nein, natürlich nicht. Die Herausforderung der christlichen Ethik besteht nicht darin, sich zu schützen, sondern sich zu stellen. Sich den Grenzen stellen, jenen zu begegnen, die sich entfernt haben, die uns nicht ähnlich sind, aber sich wünschen, uns kennenzulernen und zu wissen, wie wir ihnen helfen könnten. Die Herausforderung jedes Auftrags, jeder Hilfestellung ist, jedem dort zu begegnen, wo er sich befindet. Sollten wir uns als Akteure im Kampf gegen Aids nicht trotzdem gleichzeitig größeren Herausforderungen stellen? Die Aufrufe und Erwartungen sind enorm. Wir müssen sie hören, um weiterzumachen. Dennoch müssen wir der Zukunft unbedingt realistisch entgegensehen. Heutzutage ist es nicht immer einfach, sein Anderssein auszuleben. Ob Mann oder Frau, die sich nicht den Klischees anpassen möchten, ob behindert, schwul oder lesbisch, bi- oder transsexuell, oder einfach nur auf der Suche nach sich selbst... zu oft begegnet man noch Intoleranz, Sexismus und Homophobie. In letzterem Fall der Homophobie soll man nicht kontrollieren und bestrafen, aber Raum für soziale Anerkennung finden und schaffen, um unter anderem das Selbstbewusstsein zu stärken. Unsere Erziehung ist ein wenig homophob und chauvinistisch angehaucht. Diese können wir nicht einfach so löschen. Dieses Erbe bleibt in unseren Köpfen bestehen, auf politischer und individueller Ebene, bei den betroffenen Personen, die diese Vorstellungen verinnerlichen und selbst einen homophoben Blick auf sich werfen. Wie kann man den Blick auf den anderen verändern und Werte wie Respekt, Großzügigkeit und Brüderlichkeit in den Alltag bringen? Wie kann man die sozialen, psychologischen und politischen Mechanismen der Ausgrenzung und Intoleranz abschaffen? Wie die sexuellen Andersartigkeit zulassen und fördern? Gerade zu einer solchen Wahrnehmung, zu einem bedingungslosen Kampf müssen wir beitragen, indem wir die christlichen Gemeinschaften imprägnieren und sensibilisieren. Denn es ist unser Blick, der die anderen stigmatisiert, aber es ist auch unser Blick, der sie befreien kann. Dominique Goblet