Eine besonders auffällige Schwierigkeit, über die schon viel Tinte

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Eine besonders auffällige Schwierigkeit, über die schon viel Tinte vergossen wurde,
ist die Unterscheidung zwischen scheinbar und anscheinend. Ich erspare mir hier die Zitate
aus den Sprachratgebern. "Richtig" soll sein: Wenn etwas wahrscheinlich so ist, weil es sich
tatsächlich verhält, so gebraucht man anscheinend. Wenn hingegen etwas nur zum Schein so
ist, also nicht tatsächlich, so ist scheinbar am Platz. Der Unterschied ist also der zwischen
wahrem und falschem Schein, oder besser: Es wird behauptet, daß es diesen Unterschied gibt.
Tatsächlich aber ist dieser Unterschied in der gesprochenen Sprache schon längst
verschwunden. Er wird im wesentlichen nur von Sprechern und Sprecherinnen beachtet, die
diesen Unterschied gelernt haben und sich ihn also als grammatisches Wissen angeeignet
haben. Von der Wortbildung her läßt er sich nicht begründen: Der Schein kann gleichermaßen
vom Tatsächlichen wie vom Fiktiven kommen. Warum soll anscheinend auf etwas Reales
verweisen? Im Frühneuhochdeutschen wird anscheinen intransitiv im Sinn von "sich zeigen"
gebraucht, doch zeigen kann sich eben auch das Fiktive. Wenn Theodor Storm schreibt so daß
es anschien, als sei dieselbe [Stube] nun heller und größer geworden, so ist eben die Stube
tatsächlich nicht heller und größer geworden, sondern sie schien nur so, es gab nur den
Anschein, als wäre es so gewesen. Bei Wieland heißt es einmal: wenn mich nicht Zeichen und
Anscheinungen täuschen - also sind Anscheinungen keine Garanten für das Tatsächliche.
Leider gibt das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm zu anscheinend nicht ausreichende
Auskunft, weil die Neubearbeitung zur Zeit (1994) noch nicht dieses Wort erfaßt hat. In der
Ausgabe von 1854 wird aber immerhin eine Stelle bei Goethe zitiert: sie führt ihn auf ein
anscheinendes kanapee, wo nur von beiden seiten sessel sind, die mitte ist leer. Ein Kanapee
ist ein Sitzsofa, also ein gepolstertes Möbelstück, auf dem man sitzen kann (die
Wortgeschichte führt hier übrigens nicht weiter). Wenn die Mitte leer ist, so ist die
Funktionalität des Möbels empfindlich geschwächt, und anscheinend bezeichnet den Schein
von etwas, das nicht (mehr) so ist. Es kann also keine Rede davon sein, daß der Unterschied
zwischen scheinbar und anscheinend immer schon vorhanden war. Im Deutschen Wörterbuch
werden unter scheinbar etwa gleichviel Stellen zu jeder Bedeutung zitiert. Dort gibt es auch
einen Hinweis auf den Urheber dieser Differenzierung, das "Teutsch-Lateinische
Wörterbuch" des Johann Leonhard Frisch aus dem Jahr 1741 (speciosus, simulatus gegenüber
perspicuus, manifestus). Ein Verdacht drängt sich auf: Hat Frisch diesen Unterschied
erfunden, um die verschiedenen lateinischen Wörter zu übersetzen? Denn daran, daß dieser
Unterschied Zeichen eines elitären Sprachgebrauchs war und ist, kann kein Zweifel bestehen.
Wo es Unterschiede zwischen elitärem und nicht-elitärem Sprachgebrauch gibt,
werden sie mit Werten aufgeladen und als Distinktionsstrategie im Sinn der legitimen Sprache
eingesetzt - seien diese Unterschiede noch so sehr an den Haaren herbeigezogen. Es gibt
einige vernünftige Gegenstimmen, die zur Besinnung rufen - aber leider auch Meinungen von
Sprachwissenschaftlern, die an der Distinktionsstrategie weiterbauen. So sind Betz und
Sanders der Meinung, daß diese Unterscheidung sprachökonomisch ist und kommunikativ
sinnvoll erscheint. Das stimmt sogar: Sinnvoll ist die Unterscheidung tatsächlich, und
sprachökonomisch ist sie auch, denn wir haben immerhin zwei verschiedene Wortformen, mit
denen sich zwei verschiedene Bedeutungsbereiche elegant unterscheiden lassen. Doch das,
was nicht stimmt, ist der Zusammenhang von Wortform und Bedeutung: Die Wortbildung
gibt nicht den geringsten Hinweis auf den Realitätsbezug, so daß die Sprecherin, wenn sie
nicht diesen Unterschied im Deutschunterricht gelernt hat, aufs Rätselraten angewiesen ist. Es
ist erstaunlich, daß manche Sprachwissenschaftler so ins Fahrwasser der rigiden Sprachkritik
geraten können und nicht sehen, daß der Realitätsbezug mittels Ersatzwörter eindeutiger
bezeichnet werden kann - das entspricht zudem noch unserem analytischen Sprachbau.
Sanders bringt sogar das "gute Deutsch" ausdrücklich in diesem Zusammenhang ins Spiel.
Das ist besonders widersinnig, wenn man vom guten Deutsch vor allem Eindeutigkeit und
Klarheit verlangt. Auch bei den verschiedenen Pluralformen Worte - Wörter ist der elitäre
Unterscheidungsanlaß deutlich. Im Mittelhochdeutschen gibt es erst Ansätze zu einer
Differenzierung. Unsere heutige Unterscheidung zwischen Einzelwörtern und
zusammenhängender Aussage wurde erst vom Grammatiker Schottel im 18. Jahrhundert
festgelegt. Doch dieser Unterschied hat sich auch bei guten Schriftstellern nie ganz
durchsetzen können, so daß Andresen mit Recht behaupten konnte, daß dieser Unterschied
von den Grammatikern erfunden und dem natürlichen Sprachgebrauch vielfach ganz fremd
ist.
Schwierig ist auch der Unterschied zwischen schwer und schwierig. Bei Hirschbold
kann man dazu lesen, daß sich schwierig nicht mit dem Infinitiv verträgt. Man darf also nicht
sagen: Krankheiten sind schwierig zu behandeln, Schuhe sind schwierig anzuziehen, sondern
man muß anstelle von schwierig immer schwer gebrauchen. Doch was ist eigentlich der
Unterschied zwischen schwer und schwierig? An der eben zitierten Stelle bei Hirschbold wird
darüber nichts gesagt. In einem älteren Buch von Hirschbold präsentiert sich der Unterschied
so: Schwer bezeichnet eine Tätigkeit, die Mühe und Plage verursacht oder eine meist
körperliche Anstrengung erfordert, schwierig sind Aufgaben, zu deren Bewältigung
Hindernisse (meist geistiger oder seelischer Art) überwunden werden müssen, wobei man
dazu besondere Kenntnisse oder große Geschicklichkeit braucht. Abgesehen vom
problematischen Unterschied zwischen geistigen und seelischen Hindernissen ist diese
Unterscheidung schwer (oder schwierig?) nachzuvollziehen. Mühevolle Tätigkeiten sind in
den meisten Fällen mit Hindernissen verbunden, und wenn sie mühevoll sind, dann sind sie es
wohl deswegen, weil man dazu besondere Kenntnisse oder Geschicklichkeit braucht.
Sprachgeschichtlich haben die Wörter nichts miteinander zu tun. Schwierig, in älterer
Schreibung schwürig, gehört zu schwären "eitern"; verwandt ist auch Geschwür. Die
Herkunft von schwer "gewichtig" ist dunkel, es gibt verwandte Wörter nur im Litauischen
und vielleicht im Russischen. Die Bedeutungsangleichung erfolgt schon im älteren
Neuhochdeutschen, und in der deutschen Klassik ist sie vollends vollzogen. Irgendein subtiler
Unterschied ist aus den literarischen Belegen nicht nachzuweisen. Man muß es drastisch
sagen: Hirschbold hat sich den Unterschied aus den Fingern gesaugt oder gesogen. Man kann
nur hoffen, daß kein Deutschlehrer und keine Deutschlehrerin seine Bücher in die Hand
bekommt und den nicht vorhandenen Unterschied in die Schülertexte hineinkorrigiert.
Das ist aber kein Einzelfall: Es gibt auch einen Unterschied zwischen gleichzeitig und
zugleich. Es gibt ihn tatsächlich: Zugleich bedeutet "in gleicher Weise", also Sie liebt zugleich
Peter und Fritz "in gleicher Weise", aber nicht notwendig zur gleichen Zeit - obwohl das
möglich wäre (es ist nur ungewöhnlich). Gleichzeitig bedeutet das, was man aus der Art der
Wortbildung erschließen kann, "zu gleicher Zeit". Ist es also falsch zu sagen, daß jemand
gleichzeitig einen Traktor und einen Bus fahren können soll? Nein, denn dieser Unterschied
ist ein sprachgeschichtliches Relikt - er galt vor allem im frühen Neuhochdeutschen. Schon
seit Luther konnte zugleich schon im Sinn einer zeitlichen Gleichheit verwendet werden. Das
Deutsche Wörterbuch führt die Mehrzahl der Stellen für diesen Gebrauch an; die
ursprüngliche Bedeutung wird nur für einen Zeitraum bis zum 17. Jahrhundert belegt. Neben
der zeitlichen Bedeutung kann noch eine unzeitliche, logische Beziehung vorhanden sein - das
ändert aber nichts daran, daß bei zugleich in der Mehrzahl der Fälle eben diese zeitliche
Bedeutung die kommunikativ wichtigste Komponente ist. Weiters muß man bedenken, daß
Gleichzeitigkeit in den meisten Fällen mit einem sachlogischen Zusammenhang einhergeht:
Vorgänge, die zu gleicher Zeit stattfinden, etwa wenn die Sonne untergeht und es gleichzeitig
dunkel wird, stehen sehr oft auch in kausaler Verbindung. Die sachlogische Beziehung wird
sehr oft erwartet und mitgedacht. Manchmal wird sie zur kommunikativ wichtigsten
Bedeutungskomponente, und das kann auch erklären, warum gleichzeitig (fälschlich, wie
Hirschbold behauptet) im Sinn eines sachlogischen Zusammenhangs verwendet wird, also
seine zeitliche Bedeutungskomponente reduziert oder verliert. Hirschbold zitiert dazu
folgenden (stilistisch tatsächlich nicht schönen) Beispielsatz: Beide Bewohner des Hauses
sind gleichzeitig auch dessen Besitzer. Es ist nicht falsch, diesen Satz im Sinn einer
wörtlichen Gleichzeitigkeit zu verstehen. Gemeint ist aber wohl, daß die Bewohner eben auch
die Besitzer des Hauses sind, in dem sie wohnen - etwas, das nicht so oft vorkommt und
deshalb eigens erwähnt werden kann. Das deutet darauf, daß sich auch bei gleichzeitig eine
Bedeutungsverschiebung (Verlust der temporalen Komponente) einstellen kann, und dadurch
können sich die beiden Wörter noch mehr angleichen.
Es ist hier nicht der Platz, um jedem Fall einer behaupteten Wortverwechslung
nachzugehen. Viele dieser Fälle sind wie auch grammatische Unsicherheiten und
Normabweichungen nichts anderes als Vorboten sprachlicher Veränderungen, die nur dadurch
"falsch" sind, daß sich die gegenwärtige Sprachnorm an einem literatursprachlichen und
manchmal auch elitären Sprachgebrauch orientiert. Oft können wir solche Veränderungen
durch den Aufweis von allgemeinen Prinzipien ebensogut erklären wie grammatische
Veränderungen. Ein Beispiel dafür ist der Unterschied zwischen da und nachdem. Der
ursprüngliche Unterschied ist so, wie ihn Hirschbold darstellt: Da leitet Begründungen ein
(kausal), nachdem ein Zeitverhältnis (temporal). Die Wortgeschichte zeigt aber, daß alle
unsere kausalen Konjunktionen aus temporalen Konjunktionen bzw. Adverbien entstanden
sind. Bei weil kann man das noch erkennen, es ist verwandt mit der Weile. Aber auch da geht
auf ein Wort mit temporaler Bedeutung zurück, nur ist dieser Vorgang schon länger
abgeschlossen. Den Übergang von temporaler zu kausaler Bedeutung kann man bei während
nachvollziehen. Die Wortgeschichte (Verwandtschaft mit währen) weist auf das
Zeitverhältnis der Gleichzeitigkeit: Während ich arbeite, geht sie spazieren. Es gibt aber
Gebrauchsweisen, in denen die Bedeutungskomponente der Gegensätzlichkeit, die
Adversativität, näher liegt: Fritzchen ist ein braves Kind, während Marie nur Schwierigkeiten
macht. Sobald man an diese Bedeutungskomponente denkt, wird man erkennen, daß sie in
fast jeden Fall einer gleichzeitigen Handlung oder eines gleichzeitigen Vorgangs
hineingedacht werden kann. Mein erster Beispielsatz kann so verstanden werden - es wird
damit ein Vorwurf mitgemeint. Eindeutig temporale Fälle muß man beinahe konstruieren oder
aus einem Wörterbuch abschreiben: Während sie verreist waren, hat man bei ihnen
eingebrochen. Wenn der Sachbezug nicht klar ist, kann man oft auch nicht wissen, ob die
Temporalität oder die Adversativität gemeint. Während Alfred Rektor ist, ist Herbert
Institutsvorstand: Beide Lesarten sind möglich - auch dann, wenn das zweite ist durch bleibt
ersetzt wird. Wenn Gleichzeitigkeit vorliegt, dann ist auch ein sachlogischer Zusammenhang
vorhanden - dieser alltagsweltliche Trugschluß wirkt hier als universales Gesetz. Daher kann
auch nachdem kausale Funktion erhalten, wie in Hirschbolds Beispielsatz: Nachdem sich
einige Probleme nicht von selbst lösen, müssen Sie nachhelfen.
Ein weiterer interessanter Fall einer Wortverwechslung kommt paradoxerweise dort
vor, wo der Gegensatz im Sachverhalt ganz eindeutig ist. Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob
x etwas weiß und dieses Wissen an y weitergibt oder ob x nichts weiß und sich ein Wissen
von y erwerben muß. Gemeint ist natürlich die bekannte Wortverwechslung lehren - lernen.
Diese Verwechslung ist kein Zeichen heutiger Sprachschluderei, sondern sie findet sich nach
Ausweis der Wörterbuchbelege schon im 14. Jahrhundert. Mundartlich kann sogar lehren im
Sinn von "lernen" gebraucht werden, und das gibt es auch schon im Altnordischen. Die
ähnliche Wortgestalt deutet auf Verwandtschaft, und so ist es auch: Beide Wörter sind
Ableitungen zu einem primären Verb, das nur im Gotischen erhalten ist und dort "wissen"
bedeutet. Man kann den Grund für diese Verwechslung natürlich in der ähnlichen Lautung
suchen, doch das wäre wohl wieder nicht die ganze Geschichte. Von der Wortgeschichte her
ist lernen eine Passivbildung, also etwa "unterrichtet werden", lehren ist ein Kausativum
"wissen machen". Gemeinsam ist beiden Begriffsfeldern, daß ein Wissensinhalt von einer
Person erworben wird, wobei in einem Fall das Geschehen von der Seite des Gebers, im
anderen Fall von der Seite des Empfängers her dargestellt und bezeichnet wird. Die
Verteilung der an der Handlung beteiligten Personen wird in der Standardsprache sowohl vom
Verb als auch von den Satzgliedern bezeichnet (Dativ gegenüber optionalem
Präpositionalgefüge): Sie lehrt ihm (Französisch) - Sie lernt (Französisch) von ihm. Das ist ein
klarer Fall von sprachlichem Überfluß, daher kann eine der Bezeichnungsmöglichkeiten
abgebaut werden. Die deutsche Sprache hat sich für den Abbau der Verschiedenartigkeit des
Verbs bei Erhaltung des syntaktischen Rahmens entschieden. Das Resultat ist ein Verb für
beide Bedeutungen (lernen) und Sätze wie In dem Buch erfährt man, welche Möglichkeiten es
gibt, um den Schülern lernen zu lernen. Problematisch ist nur die Bedeutungsbeschreibung
dieser neuen Begrifflichkeit. Was müßte im Wörterbuch als Bedeutungsangabe von lernen
stehen? Vielleicht so etwas wie "machen, daß Wissen entsteht", wobei frei gelassen wird, bei
wem sich dieser Vorgang abspielt und wer ihn in Gang setzt. Ein ähnlicher paradoxer Fall ist
die Bedeutungsgleichheit von borgen und leihen. Es wird auch in der Standardsprache nicht
zwischen dem Fall, daß x dem y etwas zur zeitlich beschränkten Nutzung übergibt, und dem
Fall, daß y vom x etwas mit ebendieser Absicht nimmt, unterschieden. Wortgeschichtlich
ursprünglich ist bei leihen wegen der Verwandtschaft mit lateinisch linquere die Bedeutung
"überlassen", bei borgen die Bedeutung "schonen" und "etwas erlassen", woraus sich später
die Bedeutung "Frist zur Zahlung oder zur Rückgabe gewähren" entwickelt. In beiden Fällen
ist also die Ausgangsbedeutung "x überläßt y etwas". Man könnte erwarten, daß die beiden
Wörter, wenn sie schon verschiedene Gestalt haben, so auch Verschiedenes bezeichnen; doch
die Sprache leistet sich hier den Luxus eines überflüssigen Zeichens. Für eine genaue
Bedeutungsangabe muß man auf analytische Ausdrucksmöglichkeiten zurückgreifen:
verleihen - entleihen. Im Zentrum der Bedeutung steht die gemeinsame Verpflichtung von
Geber und Nehmer und nicht die spezifische Richtung der Übergabe. Die Ähnlichkeit zu
lehren - lernen ist deutlich.
Soviel zu den Wortverwechslungen. Auch sie haben ihre Ursache, und auch hier wirkt
der Sprachwandel - und damit stellt sich auch im Prinzip das gleiche Normproblem wie bei
den im 3. Kapitel erörterten grammatischen "Fehlern". Ungerechtfertigte Wertungen
entstehen meist durch wortrealistische Vorurteile: Wenn es zwei verschiedene Wortgestalten
gibt, dann müssen sie auch Verschiedenes bedeuten. Das ist eben nicht immer so. Dazu ein
Beispiel, das bekannte Busen-Brust-Problem. In einem Leserbrief an die deutsche
Wochenzeitung "Die Zeit" vom 28. Jänner 1994 wird folgende Theorie verbreitet: Was das
Thema Busen anbelangt, so haben Ihre Journalisten in der Schule nicht aufgepaßt. Was
meistens als Busen bezeichnet wird, sind die Brüste einer Frau. Der Busen liegt zwischen den
Brüsten. Je größer der Busen, um so kleiner die Büste. [Druckfehler für Brüste?] Nicht zu
glauben, aber wahr. Deutliches Beispiel ist der Meerbusen, der ein Einschnitt ins Land ist.
Ich erinnere mich, diese Ansicht schon mehrmals gelesen zu haben, nur habe ich mir keine
Notizen gemacht. Der volkslinguistische Busenmythos wird aber auch dadurch nicht wahrer,
daß er öfters zu hören und zu lesen ist. Bei Brust ist alles klar: Ihr liegt eine indogermanische
Wurzel mit der Bedeutung "schwellen" zugrunde. Busen ist etwas problematischer, doch auch
hier ist der Zusammenhang mit einer Wurzel für "schwellen" sehr wahrscheinlich. Da es
schon im Mittelalter Busengrapscher gegeben hat, fehlt es auch nicht an literarischen Belegen
dafür, und hier ist das Objekt der Begierde Busen und Brust gleichermaßen: sus leit er ûf ir
brüstelîn / die linden blanken hende sîn - mit dem [indem] ich ir zum pusen maust [grapscht].
Wenn es in Wittelwilers "Ring" heißt das tüttel aus dem busen sprang, so dürfte wohl
eindeutig sein, was gemeint ist. Wenn es schon einen Unterschied geben soll, dann könnte
man Busen als Kollektivbegriff auffassen, und von daher kommt auch die
Bedeutungsübertragung auf das um die Brust sich biegende Gewand - daher konnte man,
jedenfalls im Mittelalter, Frauen Geld in den Busen stecken. Busen gilt daher als ein mäßig
verhüllendes, vornehmeres Wort für die gleiche Sache. Doch so unterschiedlich waren die
Wörter nicht, daß nicht in Grimmelshausens "Simplicius" stehen konnte indessen wuchsen
mir meine busen je länger je gröszer. Der Meerbusen ist eine Übersetzung von lateinisch
sinus "bauschige Rundung", und schon hier sollte es klar sein, daß die Rundung vom Meer
aus gesehen ist, sonst müßte es ja Landbusen heißen.
Richard Schrodt
Warum geht die deutsche Sprache immer wieder unter?
Die Problematik der Werthaltungen im Deutschen
Wien 1994
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