Gottesdienst mitenand, 25.1.2015, Predigt: „Dein Reich komme“ Liebe Gemeinde, wir haben diesen Monat eine Predigtreihe über das Vater Unser begonnen. Das Anliegen dieser Predigtreihe ist, dass wir tiefer hineinschauen in diese scheinbar vertrauten Worte, die wir fast in jedem Gottesdienst beten, - damit sie uns wieder neu betroffen machen - und hoffentlich auch da und dort überraschen. Denn nur was unsere gewohnten Gedankengänge durchbricht, kann uns auch verändern. Heute geht es um die Bitte: „Dein Reich komme.“ „Überall isch Gott, wo mit de Mänsche läbe wott...“ haben wir am Anfang gesungen. Aber wenn das stimmt, wenn Gott ja ohnehin schon überall ist – warum sollen wir dann noch beten: „Dein Reich komme?“ „Reich Gottes“ heisst eben etwas viel Konkreteres, als dass Gott als „höhere Macht“ irgendwie unbestimmt die Welt lenkt und irgendwann, irgendwo dann doch noch schaut, dass es mit der Erde und den Menschen schlussendlich gut herauskommt. Reich Gottes heisst, dass Gott uns mit seiner Liebe und seiner Macht plötzlich sehr nahe kommt. Dass er da ist, dass er spricht, dass er handelt, dass er Menschen, Zustände und die Spielregeln unseres Zusammenlebens verändert. Und wenn wir beten: „Dein Reich komme!“, dann sagen wir dazu Ja, dann wollen wir das, dann sehnen wir uns nach dieser Nähe und diesem Eingreifen Gottes, und dann stellen wir uns dieser Bewegung Gottes in unsere Welt hinein zur Verfügung. Nun ist das Wort „Reich“ auch ein belastetes Wort. Vielleicht kommen den einen sofort Schreckensbilder vom „Dritten Reich“ in den Sinn, oder islamistische Terrorgruppen, die an verschiedenen Orten der Welt ihren so genannten Gottesstaat errichten wollen. Und es wird für Sie vermutlich auch nicht besser, wenn ich Ihnen sage, dass man „Reich Gottes“ auch übersetzen kann mit „Gottesherrschaft“. Wir Schweizerinnen und Schweizer sind demokratisch geprägt und haben ein UrMisstrauen gegen alle Formen von Herrschaft. Erst da, wo wir erkennen, dass unsere Erde und unser Leben eben nicht neutrales Terrain sind, sondern dass da auch Mächte am Werk sind, denen wir mit menschlichen Mitteln nicht beikommen und die nicht auf Leben und Frieden aus sind, sondern auf Zerstörung – erst da fangen wir an, uns nach der Macht und dem Eingreifen Gottes zu sehnen. Ich möchte Ihnen jetzt eine Minute Zeit geben, über eine Frage nachzudenken, nämlich: Von wem oder von was wird Ihrer Ansicht nach unser Leben auf dieser Erde beherrscht? Vielleicht beantworten Sie diese Frage auch lieber persönlich: Von wem oder was wird mein Leben beherrscht? (Suchen Sie nicht nach einer theologisch korrekten Antwort, sondern beschreiben Sie einfach einmal in Ihrem Innern, wie sich Ihnen die Wirklichkeit unserer Welt oder ihres eigenen Lebens präsentiert) Frage wiederholen, 1 Minute Stille In diese Welt ist Jesus hineingekommen und hat verkündet: „Das Reich Gottes, die Herrschaft Gottes ist nahe gekommen! Deshalb kehrt um...“ Das Reich Gottes war das Thema Nr.1 bei Jesus. Immer wieder sprach er davon, demonstrierte es, lebte es und versuchte Menschen anzustecken mit dem Feuer der Begeisterung für dieses Reich. Jesus knüpfte an einer alten jüdischen Hoffnung an: der Hoffnung, dass eines Tages nicht mehr brutale, willkürliche Menschenherrscher an der Macht sein würden, sondern Gott selbst. Und dann würde in dieser Welt endlich Frieden, Ordnung und Heilung einkehren. Aber obwohl das der Hintergrund war, auf dem Jesus von der Herrschaft Gottes sprach, erfüllte er die Erwartungen vieler seiner Zeitgenossen nicht. Er enttäuschte z.B. alle, die sich eine Befreiung von der römischen Fremdherrschaft in Israel erhofft hatten. Er verzichtete radikal auf Gewalt. Er verzichtete darauf, sich zum König krönen zu lassen und liess sich stattdessen kreuzigen. Er machte klar: es ist eine Art von Herrschaft, die nicht durch menschliche Macht herbeigeführt werden kann. Und deshalb sind alle Kriege, die im Namen Jesu geführt wurden, alle Gewaltausübung über Menschen, sei sie physisch, seelisch oder geistlich, immer schon ein Verrat gewesen an ihm und am Herzstück unseres christlichen Glaubens. Aber was ist dann der Inhalt dieses Reiches, das Jesus verkündete? Es ist die Wirklichkeit Gottes, die Nähe Gottes mitten in dieser zerrissenen, unvollkommenen Welt. Das ist nicht etwas Abstraktes, sondern diese Nähe hat konkrete Auswirkungen. Zum Beispiel die Wirkung, dass körperlich und seelisch kranke Menschen geheilt werden. Dass Jesus Menschen heilte, war nicht nur Mittel zum Zweck. Er heilte Menschen nicht, um zu demonstrieren, dass er etwas Besonderes war und dass man deshalb auf seine klugen Worte achten und sie befolgen müsse. Nein: Heilung ist ein ganz wesentlicher Teil und Ausdruck der Gottesherrschaft. Wenn Gott den Menschen unmittelbar nahe kommt, dann bricht sein schöpferisches Leben durch, dann werden Zustände und Menschen neu und heil. Das zweite auffällige Merkmal ist, dass da, wo Gottes Herrschaft kommt, sich die Spielregeln unseres Zusammenlebens verändern. Auch die frommen Spielregeln! Jesus hat diese neuen Spielregeln oft in Gleichnisse verpackt, zum Beispiel in das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg: Dort bekommen alle am Schluss den gleichen Lohn, unabhängig davon, ob sie 10 Stunden oder nur eine einzige Stunde für den Besitzer des Weinbergs (der im Gleichnis für Gott steht) gearbeitet haben. Das dünkt uns zunächst einmal einfach nur unfair! Die Geschichte wird verständlicher, wenn wir wissen, dass der ausbezahlte Tageslohn gerade reichte, um eine Familie ernähren zu können. Gott will allen Menschen ein Leben in Würde ermöglichen! Auch denjenigen, die es in unseren Augen nicht verdienen... Oder das Gleichnis vom Verlorenen Sohn, wo am Schluss nicht der davongelaufene Sohn, der sein ganzes Erbe verschleudert hat, draussen vor der Tür steht, sondern der brave, aber zutiefst berechnende und verbitterte ältere Sohn. Eine weitere Spielregel im Reich Gottes ist, dass die Unbedeutenden, die Armen, die Machtlosen, die, die in einer Gesellschaft nichts zu sagen haben, zum Mittelpunkt, zu VIPs werden. Im Reich Gottes dienen die Starken den Schwachen, statt sie zu unterdrücken und zu beherrschen. Wenn wir beten: „Dein Reich komme!“, dann akzeptieren wir, dass wir uns auf diese neuen Spielregeln einstellen, sie einüben und in ihnen leben wollen! Eine Auswirkung dieser neuen Spielregeln ist die Freude. Freude in Situationen und an Orten, wo wir sie am wenigsten vermuten. Wir waren einmal in einem Lidl am Einkaufen, in einem dieser ziemlich seelenlosen Discounterläden. An der Kasse sass eine junge Kassiererin, mit ziemlich ausgeflippten Kleidern. Sie begrüsste uns mit einem Lächeln und mit einer Freundlichkeit, die jeden Eisklotz zum Schmelzen gebracht hätten. Sie witzelte mit unseren Kindern und bediente uns wie Könige. Ich hätte ihr am Liebsten eine rote Rose überreicht. Es war nur ein kurzer Moment – aber für mich war das so ein Beispiel von ansteckender Freude mitten in einer trostlosen Umgebung. Ich wünsche mir so, dass wir als Christen zu solchen Menschen werden, die andere mit überraschender Freude anstecken! Wenn wir beten: „Dein Reich komme!“ dann beten wir, dass FREUDE durchbricht – bei uns selbst, bei uns Christen, in unseren Kirchgemeinden, in unserer näheren und weiteren Umgebung, in unserer Welt. Freude und Begeisterung haben das Potential, das Gesicht unserer Erde zu verändern – viel mehr als alle Appelle an die Vernunft und unser schlechtes Gewissen! Deshalb hat Jesus mit so vielen Menschen Feste gefeiert – ganz besonders mit denen, die es nicht verdient hatten! Freudlosigkeit ist immer ein Anzeichen dafür, dass andere Mächte am Werk sind, nicht Gott. Ich habe vorhin gesagt, jede Ausübung von Gewalt sei ein Verrat an Jesus und an der Kernbotschaft des christlichen Glaubens. Wie aber kommt dann Gottes Reich zum Zug? Wie wird es Wirklichkeit, auch heute, da, unter uns? Es gibt Reich Gottes auf dieser Erde nicht in „Reinkultur“. Um das seinen Jüngern zu erklären, hat Jesus einmal ein Gleichnis erzählt von einem Weizenfeld, in das ein böser Mensch absichtlich Unkraut hineingesät habe. Und in dieser Geschichte fragen die Angestellten den Bauern, ob sie sofort anfangen sollen mit Jäten. Aber der Bauer sagt: „Nein, macht das nicht! Ihr könntet sonst die jungen Weizenhälmchen mit ausreissen! Lasst alles zusammen wachsen, und erst wenn die Ernte reif ist, dann können wir das Unkraut vom Weizen trennen.“ Das heisst für mich: Als Christen sollen wir mehr Energie darauf verwenden, das Gute, Lebensfördernde wahrzunehmen, zu ermutigen und zu kultivieren, als das Böse aufzuspüren, anzuprangern und ausmerzen! Nochmals: Wie kommt Gottes Reich in dieser Welt zum Zug? Es kommt zum Zug indem ich zuerst einmal mein persönliches Leben seiner Herrschaft unterstelle und ihm das auch sage. Indem ich Gott die Herrschaft über mein Leben bewusst überlasse, lasse ich ihn hineinreden in alle Bereiche meines Lebens. Ich gebe ihm Zutritt, auch zu meiner Lebensgeschichte, meinen Haltungen, meinen tief eingeschliffenen Überlebensmustern, meinen Beziehungen und meiner Sicht von mir selbst. Ohne persönliche Veränderung und Heilung von einzelnen Menschen geschehen auch keine nachhaltigen Veränderungen in dieser Welt. Gottes Herrschaft kommt aber auch dadurch, dass wir um sie bitten. Wir können und dürfen in konkrete Situationen hinein beten: „Dein Reich komme!“ und erwarten, dass sich etwas verändert. Vor gut zwei Wochen waren ein paar Gemeindeglieder aus der Chrischona und aus unserer Kirchgemeinde zusammen unterwegs in unseren Dörfern, um für die politische und die Schulgemeinde zu beten. Für mich der schönste Moment war, als eine Frau, die selbst viele Jahre in unserer Schule aktiv tätig war, plötzlich sagte: „Hej, jetzt beten wir doch schon seit Jahren für diese Schule. Und noch vor 10 Jahren hatte unsere Oberstufe einen richtig schlechten Ruf. Aber jetzt hat sich das völlig verändert! Es herrscht ein ganz anderes Klima, auch unter den Lehrpersonen.“ Oder wir bitten eben zum Beispiel um die Heilung eines Menschen – körperlich oder seelisch. Gottes Reich kommt auch durch konkrete, gelebte Gemeinschaft von Menschen. Trotz allem Frust und allen Enttäuschungen, die wir mit christlicher Gemeinschaft vielleicht schon erlebt haben, ist Reich Gottes nicht nur etwas Persönliches, sondern gewisse Aspekte können sich nur in unserem Zusammenleben manifestieren (eben zum Beispiel die veränderten Spielregeln)! Ich fasse die wichtigsten Gedanken nochmals zusammen: Reich Gottes heisst: Gott kommt uns Menschen unmittelbar nahe. Dadurch verändert sich unser persönliches Leben. Heilung und Freude brechen durch. Aber auch die Spielregeln unseres Zusammenlebens verändern sich und dadurch beginnt sich das Gesicht unserer Erde zu verändern und zu erneuern. Reich Gottes gibt es hier auf dieser alten Erde noch nicht in Reinkultur. Gottes Herrschaft durchzusetzen, ist nicht die Aufgabe von uns Menschen, schon gar nicht mit Gewalt. Aber wir sind berufen, uns selbst Gottes Herrschaft zu unterstellen und uns mit hineinnehmen zu lassen in diesen Strom von Heilung und Freude, den er in diese Welt hinein ausgiesst. Deshalb beten wir: „Dein Reich komme!“ Amen