DER OFFENBARUNGSBEGRIFF IM MODERNISMUS Joseph Schumacher, Freiburg i.Br. (Im Druck erschienen in: A. Blanco u. a., La doctrine de la révélation divine de saint Thomas d’Aquin : Studi Tomistici, 37. Pontificia Accademia di S. Tommaso, Libereria Editrice Vaticana 1990, 230 - 249.). Der Begriff „Modernismus“ ist unscharf und missverständlich1. Er begegnet uns ab 1904 in Italien in der theologischen Publizistik und wird dann in halbamtlichen und amtlichen Verlautbarungen offiziell eingeführt2. Er steht für eine geistige Bewegung am Beginn unseres Jahrhunderts, die sich als eine sehr komplexe Erscheinung darstellt3. Zunächst als „neuer .Katholizismus“ bezeichnet, ist sie eine Reformbewegung, die in manchem eine Auswirkung des Liberalismus des 19. Jahrhunderts darstellt4. In ihr finden wir ein Vielerlei von philosophischen und theologischen Anschauungen, deren Wurzeln in den unbewältigten Problemen der Theologie des 19. Jahrhunderts liegen5. Man suchte eine Antwort auf die Fragen, die die Zeit an die Kirche richtete, eine Zeit, die von starken Wandlungen bestimmt war. Die Antwort aber war schwierig, da das philosophische Denken in der Kirche weithin erstarrt war, die Scholastik formalistisch dargeboten wurde und die historische Bildung nicht ausreichend war. Nicht zu Unrecht hat man die modernistische Bewegung als „ein Sammelbecken mit der Kirche unzufriedener Geister“ charakterisiert, „das sich aus verschiedenen Quellen speiste6. Die Modernisten waren nicht eine organisierte Gruppe, sie waren Theologen, die zu der Erkenntnis gekommen waren, dass die überkommenen Lehren der 1 Alec R. Vidler, The Modernist Movement in the Roman Church, New York 1976 (Reprint von 1934), 8: „The very term ‘modernism’ in itself invites misapprehension; it implies a classification of what can be classified only with severe qualifications”. Vgl. Hubert Jedin, Hrsg., Handbuch der Kirchengeschichte VI, 2: Die Kirche in der Gegenwart, Freiburg 1985, 466. 2 Ebd., 436, Anm.1. 3 Kurt-Dietrich Schmidt, Ernst Wolf, Hrsg., Die Kirche in ihrer Geschichte IV, 2, Göttingen 1972, 306. Nach Alec R. Vidler: „a complex of movements” (a. a. O., XII). Es handelt sich hier nicht um eine Körperschaft von Anhängern, die insgesamt klare und bestimmte Prinzipien propagierten; die Modernisten waren in keiner Weise organisiert (ebd.). 4 Ebd. 9 f. Zur wichtigsten Literatur zum Modernismus vgl. Norbert Trippen, Theologie und Lehramt im Konflikt, Die kirchlichen Maßnahmen gegen den Modernismus im Jahre 1907 und ihre Auswirkungen in Deutschland, Freiburg 1977, 18, Anm. 6. 5 Joseph Schumacher, Der apostolische Abschluss der Offenbarung Gottes (Freiburger theologische Studien, 114), Freiburg 1979, 113. 6 Johannes Spörl, Philipp Funk zum Gedächtnis, in: Historisches Jahrbuch 57, 1937, 4 f; vgl. Norbert Trippen, a .a. O., 17. 2 Kirche nicht im Einklang standen mit dem modernen Denken, weshalb sie sich auf verschiedenen Wegen um eine Reform der Verkündigung bemühten, um eine Anpassung des Glaubens an die intellektuellen, moralischen und sozialen Nöte der Gegenwart. Sie hatten kein gemeinsames Reformprogramm. Sie gingen nicht aus von bestimmten philosophischen Prinzipien. Es war nicht die Philosophie, die sie interessierte, sondern die Anpassung des überlieferten Glaubens an die modernen Wissenschaften und die Übernahme ihrer Ergebnisse durch die Theologie. Die philosophischen Positionen blieben dabei latent oder waren erst das Ergebnis solcher Bemühungen7. Die Modernisten walten zurück zu den Ursprüngen. Angesichts der Kluft zwischen der Theologie und den weltlichen Wissenschaften, zwischen dem Glauben der Kirche und dem Geist der Zeit, suchten sie eine Versöhnung wie vordem der Amerikanismus in den Vereinigten Staaten und der Reformkatholizismus in Deutschland. Sie wollten die rechten Antworten geben auf die Fragen, die der Fortschritt der Wissenschaften an den Glauben richtete. Dabei entfernten sie sich nicht nur von der offiziellen kirchlichen Theologie, die sich im wesentlichen auf Thomas von Aquin stützte, sondern auch vom Glauben der Kirche, überschätzen sie die weltlichen Wissenschaften und stellten teilweise Grunddogmen in Frage. Schon deshalb konnten sie ihr hohes Ziel nicht befriedigend erfüllen, weil sie nicht genügend in der Kirche beheimatet waren8. Sieht man genau hin, so erkennt man, dass die Anliegen und Forderungen der Modernisten vielfältig waren. An die Stelle der Abgrenzung wollten sie die Assimilation setzen. Sie wollten den scholastischen Intellektualismus überwinden und die in diesem Denken so sehr vernachlässigte Subjektivität in ihrer Bedeutung hervorheben, die Kräfte des Herzens und des lebendigen Lebens einbeziehen und so in Kontakt treten mit dem in stetem Fortschritt befindlichen Leben. Sie wollten den Glauben und die Theologie mit den profanen Wissenschaften versöhnen. Vor allem wollten sie die Kategorie der Geschichtlichkeit in die Theologie hineintragen, die historisch-kritische Methode in der Bibelwissenschaft heimisch machen und die Glaubenswahrheiten weniger abstrakt und statisch, mehr konkret und dynamisch fassen. Vom römischen Lehramt forderten sie, die Antistellung gegenüber den modernen Wissenschaften auf7 Alec R. Vidler, a. a. O., 3. Norbert Trippen, a. a. O., 17 f; Alec R. Vidler, a. a. O., 9; Joseph Schumacher, Der„Denzinger“, Geschichte und Bedeutung eines Buches in der Praxis der neueren Theologie (Freiburger theologische Studien, 95), Freiburg 1974, 148; Joseph Schumacher, Der apostolische Abschluss der Offenbarung Gottes, a. a. O., 113 f. 8 3 zugeben, die Autorität väterlicher auszuüben, nicht starr am Alten festzuhalten und den Fortschritt nicht zu beargwöhnen. Einer ihrer prominentesten Vertreter9 erklärt in diesem Zusammenhang, der Geist des Festhaltens am Alten habe die jüdischen Rabbis dazu geführt, Jesus abzulehnen und zu verurteilen10. Bedeutende Themen der Modernisten waren die Natur der Offenbarung, die Inspiration, die Heilige Schrift und die religiöse Erkenntnis, die Persönlichkeit Christi, seine Gottheit und seine Beziehung zum Ursprung der Kirche und ihrer Sakramente, die mündliche Überlieferung, die Dogmenentwicklung, das Papsttum, das Bischofsamt, die Autorität des kirchlichen Lehramtes, die Bedeutung des Begriffs der Rechtgläubigkeit und der Wert der klassischen Apologetik11. Bei alldem ging es in erster Linie um eine Erneuerung der Exegese12. Die Fragen und Forderungen waren legitim, nicht jedoch immer auch die Antworten. Oft reichten sie nicht hin und brachten das Glaubensgebäude ins Wanken. Angesichts dieser Situation blieb dem Lehramt nichts anderes übrig, als die unaufgebbaren Glaubenswahrheiten zu betonen, die den Glauben bedrohenden oder mit ihm nicht zu vereinbarenden Positionen der Modernisten zu verurteilen13 und die Erhaltung der Übernatürlichkeit des Glaubens und den Primat des Lehramtes nachdrücklich hervorzuheben14. Wenn es dabei zu strengen Sanktionen griff, so geschah das aus einer existentiellen Not heraus, was von den zahlreichen Kritikern der antimodernistischen Maßnahmen nicht genügend bedacht wird. Dass man nicht immer unterschied zwischen gemäßigten und radikalen, zwischen berechtigten und den Glauben gefährdenden Reformen, dass man sich in der Sorge um den Schutz der Wahrheit durch unberechtigte Verdächtigungen einzelner Theologen verfehlte oder sie gar ins Extrem hineintrieb, dass so integeren Theologen Unrecht geschehen ist15, hat der Kirche geschadet und ist bedauerlich, ist aber eher tragisch als schuldhaft, was leider in der 9 George Tyrell (+ 1909, s. oben S. 9 ff. Hubert Jedin, a. a. O., 473. 448 - 450; Joseph Schumacher, Der „Denzinger“, a. a. O., 54. 11 Hubert Jedin, a. a. O., 457; Alfred Loisy, Autour d’un petit livre, Paris 1903, 262; René Marlé, Au coeur de la crise moderniste. Le dossier inedit d’une controverse, Paris 1960, 71. 12 Hubert Jedin, a. a. O. 471. 13 Avery Dulles, Was ist Offenbarung?, Freiburg 1970, 96; Joseph Schumacher, Der „Denzinger“, a. a .O., 163. 14 Alec R. Vidler, a. a. O., 230 ff. 15 Hubert Jedin, a. a. O., 474. 476. 479. 10 4 neueren Geschichtsschreibung oft nicht gesehen wird16. Es ist üblich geworden, die Modernisten, auch innerkirchlich, stets in meliorem partem zu interpretieren, um Verständnis für sie zu werben, ihre Heterodoxie abzuschwächen, in heftiger Abwehr hingegen jene zu kritisieren, die die kirchliche Autorität verkörperten bzw. an ihr partizipierten17. Das ist nicht gerecht, wenngleich zuzugeben ist, dass manche Positionen der Modernisten später als durchaus dem katholischen Glauben entsprechend erkannt wurden und nicht wenige damals verurteilte Positionen, etwa der biblischen Theologie, heute mit römischer Billigung Gemeingut der katholischen Exegeten geworden sind18. Die Textkritik, die Literarkritik, die historische Kritik, das alles hat im Prinzip Heimatrecht in der Kirche gefunden. Viele Verlautbarungen der Bibelkommission sind überholt. Die Kategorie der Geschichtlichkeit hat eine vertiefte Erkenntnis der Offenbarung, der Inspiration und der Dogmenentfaltung ermöglicht. Manches, was damals zurückgewiesen wurde, ist durch das II. Vaticanum ausdrücklich bestätigt worden19. Aber das ist nicht alles. Es bleibt ein Bodensatz von mit dem Glauben der Kirche nicht zu vereinbarenden Positionen. Von einem endgültigen Überholtsein der antimodernistischen Dokumente20 kann nicht die Rede sein. Was das Lehramt damals in seiner Reaktion auf den Modernismus meinte, das ist vor allem der die Fundamente des Glaubens bedrohende Immanentismus, ein theologischer Monismus, bedingt durch den Agnostizismus und den Naturalismus - das Lehramt spricht vom Immanentismus -, das gemeinsame Band der Modernisten, zumindest latent. Die Folgen der Propagierung des modernistischen Gedankenguts waren teilweise verheerend, vor allem beim jüngeren Klerus, hauptsächlich in den romanischen und angelsächsischen Ländern, weniger in Deutschland, wo die Theologie schon früher unter Einbeziehung des geschichtlichen Denkens betrieben worden war21. Verschärft wurde die Proble- 16 Vgl. ebd., passim; Norbert Trippen, a. a. O., passim. Was der Kirche besonders geschadet hat, das ist das Denunziantentum kleiner Geister, das vor allem die nachmodernistische Zeit prägte, und die unchristliche Härte, die die pastorale Sorge vergessen ließ (vgl. A. E. von Hooff, Die Innenseite des Modernismusstreits, Die persönliche Erfahrung Maurice Blondels - mehr als bloß Geschichte, in: Stimmen der Zeit, 114, 1989, 665 f. 17 Vgl. Norbert Trippen, a. a. O., 404 u. passim; Hubert Jedin, a. a. O., 446 - 487; Avery Dulles, a. a. O., 101; Alec R. Vidler, a. a. O., 220 ff. 18 Norbert Trippen, a. a. O., 405. 19 Hubert Jedin, a. a. O., 454. 20 Avery Dulles, a. a. O., 101. 21 Hubert Jedin, a. a. O., 437 f. Einen dogmatischen Modernismus hat es in Deutschland nicht gegeben nicht gegeben, wenn man einmal von Joseph Schnitzer (+ 1939) absieht, wohl aber berührten sich viele praktische Forderungen des Reformkatholizismus mit jenen der Modernisten (z.B. Zölibat, Index), und es gab heftige Kritik am 3. Teil der Enzyklika „Pascendi Dominici gregis“ vom 8. September 1907, in dem 5 matik durch die heftigen Angriffe gegen die Kirche von außen her22. Wenn dem Lehramt auch die Antworten auf die echten Fragen der Zeit fehlten, so unterstrich es doch - was konnte es auch anderes tun? - in verschiedenen bedeutenden Lehräußerungen den überkommenen Glauben der Kirche und erfüllte so seine bewahrende und schützende Funktion gegenüber dem Depositum fidei23. Das Lehramt hat ja gemäß dem I. Vaticanum die Aufgabe, das Glaubensdepositum treu zu bewahren und irrtumslos zu erklären24. Es ist ungeschichtlich, hier positive Antworten des Lehramtes zu fordern. Dafür war die Zeit damals noch nicht reif. Man darf eine geschichtliche Epoche nicht aus der Perspektive einer späteren Zeit beurteilen und unrealistische Forderungen stellen. Pius X. nannte in seiner Konsistorialansprache vom 17. April 1907 den Modernismus die Summe und das Gift aller Häresien25. Das trifft zwar nicht alle Positionen der verschiedenen Vertreter des Modernismus, wohl aber eine grundlegende Tendenz, die darin mehr oder weniger deutlich hervortritt und die uns heute wieder in neuer Form begegnet. Die Modernisten pflegten gegenüber den Maßnahmen des Lehramtes die quaestio facti zu leugnen, im allgemeinen zu Unrecht, wenngleich in Einzelfällen ihre Positionen nicht getroffen wurden. Es entspricht daher nicht der Wahrheit, wenn etwa der deutsche Modernist Joseph Schnitzer (1859-1939) in seiner Abhandlung über den Modernismus schreibt, die kirchliche Autorität habe die Häresie, die sie habe verdammen wollen, erst selber geschaffen26. Der Bruch mit der früheren Lehre der Kirche ist bei den Modernisten zum Teil offenkundig. Schon ihre Missachtung der institutionellen Formen der Kirche27 verfälschte weithin den Glauben. Der evangelische Kirchenhistoriker Walther von Loewenich (+ 1992) schreibt: „Es ist gerechterweise zuzugeben, dass Pius X. nicht nur ein kirchliches, sondern auch ein christliches Interesse vertreten hat. Der Modernismus war in der Tat in der Gefahr, in einem reinen Immanenzdenken zu enden ... Die Durchführung des historischen und psychologidie praktischen Maßnahmen behandelt werden (Hubert Jedin, a. a. O., 437 ff. 482; Norbert Trippen, a. a. O., 7). 22 Hubert Jedin, a. a. O., 457 f. 23 Joseph Schumacher, Der „Denzinger“, a. a. O., 165; Joseph Schumacher, Der Abschluss der Offenbarung Gottes, a. a. O., 116. 24 DS 3020: „... fideliter custodire ... infallibiliter declarare”. 25 AAS 40, 1907, 268: „... il compendio e il veneno di tutte le eresie”. 26 J. Schnitter, Der katholische Modernismus, in: Zeitschrift für Politik 5, 1912, 106. 27 Avery Dulles, a. a. O., 96. 6 schen Denkens ist nicht nur ein Todfeind des vatikanischen Katholizismus, sondern stellt den christlichen Glauben überhaupt vor schwerwiegende Fragen ... Man kann die Sorge verantwortlicher Kirchenmänner in dieser Beziehung verstehen ...“28. Im Hinblick auf die Enzyklika „Pascendi Dominici gregis“ vom 8. September 1907 stellt der evangelische Theologe Johannes Kübel fest, dieses Rundschreiben habe durchaus „die Hauptgedanken der mancherlei modernistischen Bestrebungen richtig dargestellt“, und er fügt hinzu, man würde „das Verdienst der Modernisten abschwächen, wollte man sie für harmloser ausgeben, als sie Pius X. gezeichnet“29 habe. Programmatisch wurden die Irrtümer des Modernismus durch das römische Lehramt in drei bedeutenden Verlautbarungen zurückgewiesen30. Am 3. Juli 1907 verurteilte das Heilige Offizium in dem Dekret „Lamentabili“ 65 Sätze der Modernisten, die zumeist den Schriften Loisys entnommen waren31. Im gleichen Jahr, am 8. September, erschien die Enzyklika „Pascendi Dominici gregis“, in der Papst Pius X. versuchte, den Modernismus in seinen verschiedenen Ausprägungen als das „Sammelbecken aller Häresien“32 darzustellen33. Am 1. September des Jahres 1910 wurde der Antimodernisteneid vorgeschrieben, der noch einmal die wichtigsten Irrtümer des Modernismus apostrophiert34. Speziell die Enzyklika wurde mit großer Feindseligkeit aufgenommen. Die Modernisten behaupteten, sie seien völlig missdeutet worden35, und verhöhnten die Enzyklika zusammen mit dem kirchenfeindlichen 28 Walter von Loewenich, Der moderne Katholizismus, Witten 1962, 90. Kann man auch nicht sagen, dass das katholische Denken und das historische und psychologische Denken grundsätzlich nicht miteinander vereinbar sind, so gilt das doch für den Beginn des 20. Jahrhunderts. Das Lehramt der Kirche sah jedenfalls keinen Weg zu einer solchen Kompatibilität. 29 Johannes Kübel, Geschichte des katholischen Modernismus, Tübingen 1909, 170. 30 Zu weiteren entsprechenden Lehräußerungen vgl. Joseph Schumacher, Der „Denzinger“, a. a. O., 139 ff. Hier ist v. a. an die Verlautbarungen der Bibelkommission zu erinnern. 31 DS 3401 - 3466; vgl. Hubert Jedin, a. a. O., 477 f; Franz Heiner, Der neue Syllabus Pius X. oder das Dekret des Heiligen Officiums „Lamentabili“ vom 3. Juli 1907, Mainz 21908. 32 33 Vgl. dazu Joseph Schumacher, Der „Denzsnger“, a. a. O., 209 f. DS 3475 - 3500. DS 3537 - 3550. Mit dem Antimodernisteneid endet die Geschichte des Modernismus als Bewegung innerhalb der Kirche (Alec R. Vidler, a. a. O., 219 - 222). Es entstand keine neue Gruppierung oder Anbindung an eine christliche Gemeinschaft. Entweder erfolgte die Unterwerfung oder man ging seinen Weg allein außerhalb der Kirche (234 ff). 35 Norbert Trippen, a. a. O., 19; Hubert Jedin, a. a. O., 465. Recht hatten sie, sofern sie nicht ein System entwickelt haben. Allein es entsprach nicht der Absicht der Enzyklika, aus dem Modernismus ein System zu machen, vielmehr wollte sie die Tendenzen und die latenten Gefahren eines solchen Denkens aufzeigen und bei aller Verschiedenheit der Positionen gemeinsame Grundgedanken namhaft machen (vgl. Jean Rivière, Le Modernisme dans l’Eglise. Étude d’histoire religieuse contemporaine, Paris 1929, 366 f. Wenn die Modernisten es ablehnten, irgendwelche philosophischen Voraussetzungen zu haben, so besagt das nicht, dass sie diese nicht hatten. Es gibt auch unbewusste Voraussetzungen. Zugeben muss man freilich, dass die modernistischen Irrtümer z. T. ein wenig vergröbert wurden (vgl. Avery Dulles, a. a. O., 100; Hubert Jedin, a. a. O., 478 f). 34 7 Liberalismus und protestantischen Kreisen als ein „Dokument der kulturellen und theologischen Rückständigkeit der Kurie“36. Die positiven Antworten bereiteten sich damals vor in den denkerischen Bemühungen des französischen Religionsphilosophen Maurice Blondel (1861 - 1949), der die legitimen Anliegen der Modernisten aufnahm, dabei aber in der Kirche verblieb. Sein Denken hat dem II. Vaticanum die Richtung gewiesen37. In seiner Dissertation hatte er über das menschliche Bedürfnis nach dem Transzendenten gearbeitet38. In der inneren Dialektik des menschlichen Tuns erkennt er einen unbezwingbaren Dynamismus auf ein Ziel hin, das außerhalb der Reichweite des menschlichen Geistes liegt, angesichts der übernatürlichen Erhebung des Menschen aber eine echte Erfüllung findet. Mit seiner Methode der Immanenz verfolgt er einen Mittelweg zwischen dem modernistischen Immanentismus und dem neuscholastischen Extrinsezismus. Er versteht diese neue (apriorische) „Apologetik“ als Ergänzung zu der traditionellen (aposteriorischen) Apologetik. Das Übernatürliche ist für ihn einerseits nicht die höchste Ausdehnung unseres natürlichen Seins, andererseits aber auch nicht einfach heteronom, wie wenn uns ein drittes Auge oder ein dritter Arm aufgepfropft würde. Er schreibt: „Wenn es unter den gegenwärtigen Ideen eine gibt, die einen Fortschritt bringt, so ist es jene im Grunde vollkommen berechtigte Idee, dass nichts in den menschlichen Verstand eintreten kann, was nicht aus ihm bereits herauskommt und was nicht auf irgendeine Weise seinem Bedürfnis nach Weiterentwicklung entspricht ...“39. Es geht ihm um den natürlichen Anknüpfungspunkt der übernatürlichen Offenbarung, um eine legitime Zuordnung von Natur und Gnade. Wie er nachdrücklich betont, kommt die Philosophie zur „Gewissheit eines Bedürfnisses, zu dem sicheren Bedürfnis eines Unbestimmbaren, das Prinzip der Unruhe und Unstillbarkeit ist“40. - Um positive Antworten auf die Fragen der Modernisten bemühten sich aber auch Ambroise Gardeil (1859 - 1831), Leonce de Grandmaison (1864 - 1927), Pierre Rousselot (1878 - 1915) und noch einige weitere Theologen und Philosophen41. 36 Norbert Trippen, a. a. O., 31. A. E. van Hooff, a. a. O., 667. 38 L’Action, 1893. 39 Maurice Blondel, Lettre sur les exigences de la pensée contemporaine en matière d’apologetique, Paris 1956, 34, zit. nach Avery Dulles, a. a. O., 102; vgl. ebd. 101 f. 40 Maurice Blondel, La Pensée II, Paris 1934, 338; zit, nach Henri Bouillard, Blondel und das Christentum, Mainz 1963, 72; vgl. Michael Schmaus, Alois Grillmeier, Leo Scheffczak, Hrsg., Handbuch der Dogmengeschichte I, 1b: Die Offenbarung. Von der Reformation bis zur Gegenwart, Freiburg 1977, 122 ff. 41 Ebd., 125; Hubert Jedin, a. a. O., 487. 37 8 Ein grundlegendes Themas des Modernismus ist die Offenbarung. Diese wird zur subjektiven Erfahrung depotenziert. In diesem Verständnis wird das Gefühl zur Offenbarung, wenn es zum Bewusstsein kommt. Der Verstand bildet daraus Formeln und Sätze, die dann durch das Lehramt zu Dogmen erklärt werden. Ihr Wert reicht nur so weit, wie sie dem religiösen Gefühl entsprechen. Das Göttliche kann aber in unendlich vielen Formen erlebt werden, weshalb die Dogmen unendlich variabel sind und nur als Symbole verstanden werden dürfen. Faktisch ist damit das Christentum zu einer Art natürlicher Religion herabgestuft worden42. Wenn das menschliche Bemühen als allein relevant erklärt wird, wird die Offenbarung immanentistisch gedeutet und gleichzeitig relativiert43. Die Offenbarungswahrheiten sind somit lediglich ein Ausdruck „der aus dem Unbewussten des Menschen aufsteigenden religiösen Bedürfnisse“44, des vom Menschen gewonnenen Bewusstseins seiner Beziehung zu Gott45. Sie sind Symbole, d. h. Sinnbilder des Göttlichen, die aus dem Menschen selber hervorgegangen sind. Die Geschichte der Offenbarung ist nicht mehr ein Zwiegespräch, sondern ein Selbstgespräch. Im Grunde ist es nicht mehr Gott, der sich dem Menschen offenbart, sondern es ist der Mensch, der sich Gott offenbart46. Bestimmend ist hier die Schleiermachersche Idee von der Religion als Äußerung des menschlichen Innenlebens. Der Mensch stößt mit seinem Denken an die Grenzen des Unendlichen, das unerkennbar ist, und erfährt dabei seine religiöse Bedürftigkeit, die er in Dogmen fasst47. Diese haben, wie gesagt, keinen realen, sondern nur einen symbolischen Wert, so wenig wie auch die Offenbarung einen realen Wert hat48. Sie, die Offenbarung, ist nicht Gottes Wort an die Menschen, Kunde von welttranszendenten Realitäten, sondern Ausdruck der religiösen Bedürftigkeit des Menschen. Dann ist die konkrete Kirche nicht mehr eine Pflanzung Gottes, sondern der geschichtliche Ausdruck einer religiösen Idee, Enzyklika „Pascendi Dominici gregis”, §§ 6 u. 7; vgl. Joseph Schumacher, Der apostolische Abschluss der Offenbarung Gottes, a. a. O., 113. 43 Enzyklika „Pascendi Dominici gregis”, § 5; DS 3422. 44 Adolf Kolping, Fundamentaltheologie I, Theorie der Glaubwürdigkeitserkcnntnis der Offenbarung, Münster 1968, 28. 45 DS 3420. 3542. 46 Anton Gisler, Der Modernismus, Einsiedeln 1912, 554 f. 47 Enzyklika „Pascendi Dominici gregis”, § 25. 48 Ebd., § 8. 42 9 wobei man zum Teil immerhin die Meinung vertritt, sie sei im Vergleich mit den anderen religiösen Gemeinschaften noch der beste Ausdruck49. Offenbarung, Glaube und Religion meinen in diesem Verständnis dasselbe; Offenbarung, Glaube und Religion sind identisch mit dem religiösen Bewusstsein, das aus dem religiösen Gefühl hervorgeht. Das religiöse Bewusstsein ist die höchste Norm, der auch das kirchliche Lehramt unterliegt. Der Keim aller Religion und der Ursprung von allem, was in den Religionen je zutage getreten ist oder noch zutage treten wird, ist das religiöse Gefühl, wie es kraft der vitalen Immanenz aus den Tiefen des Unterbewusstseins hervorbricht. Zunächst noch ungeformt, gewissermaßen im Rohzustand, entwickelt es sich allmählich unter dem Einfluss jenes Prinzips, das ihm das Dasein verliehen hat, parallel zur Entwicklung des menschlichen Geisteslebens50. Jede Religion ist nichts anderes als die Entfaltung des religiösen Gefühls, auch die christliche. Eine gewisse Besonderheit erhält die christliche Religion durch die Einzigartigkeit Jesu, aus dessen Bewusstsein das Christentum im Prozess der vitalen Immanenz hervorgegangen ist. Aber in gleicher Weise, wie es aus ihm hervorgegangen ist, ist es auch aus unserer eigenen Natur hervorgegangen. Sofern hier noch von übernatürlich gesprochen wird, geschieht das rein verbal. Alles geht aus der menschlichen Natur hervor, und die nicht zu bestreitenden natürlichen Faktoren des Offenbarungsvorgangs lassen die übernatürlichen völlig vergessen51. Alfred Loisy (1857-1940), der als der „Vater des katholischen Modernismus“52 gilt, beabsichtigt eine grundlegende Reform der Exegese, der Theologie als solcher und der Glaubenslehre überhaupt53. In seinem programmatischen Werk „L’Évangile et l’Église“ betont er im Jahre 1902, die Wahrheit des Christentums sei wie alle menschliche Wahrheit relativ und befinde sich in ständiger Evolution54. Schon in diesem Werk wird die Diskrepanz zwischen seinem Offenbarungsbegriff und jenem der Kirche überdeutlich. Nachdem das Werk von der Kirche verurteilt worden war, rechtfertigte sich der Autor im Jahre 1903 mit einer zweiten Schrift, der er den Titel „Autour d’un petit livre“ gegeben hatte. In dieser Schrift 49 Adolf Kolping, Katholische Theologie gestern und heute, Thematik und Entfaltung deutscher katholischer Theologie von I. Vaticanum bis zur Gegenwart, Bremen 1964, 51. 50 Enzyklika „Pascendi Dominici gregis”, §§ 17 u. 18. 51 Anton Gisler, a. a. O., 545 f. 52 Vgl. Friedrich Heiler, Der Vater des katholischen Modernismus, Alfred Loisy (1857 - 1940), München 1947. 53 Alfred Loisy, Choses passées, Paris 1913, 246; vgl. René Latourelle, a. a. O., 300 ff. 54 Michael Schmaus, Alois Grillmeier, Leo Scheffczyk, Hrsg., Handbuch der Dogmengeschichte I, 1 b, a. a. O., 114. 10 verschärfte er seine früheren Positionen. Wörtlich erklärt er nun: „Was man Offenbarung nennt, kann nur das vom Menschen erworbene Bewusstsein seiner Beziehung zu Gott sein. Was ist denn die christliche Offenbarung in ihrem Grundsatz und Ausgangspunkt anderes als die Wahrnehmung der Beziehung, die ihn mit Gott verband, in der Seele Christi und dessen, was alle Menschen mit ihrem himmlischen Vater verbindet? ... Im Gegensatz zu Wahrnehmungen rationaler und wissenschaftlicher Ordnung ist die Wahrnehmung religiöser Wahrheiten nicht das Ergebnis der Vernunft allein; sie ist das Werk des vom Drang des Herzens, des religiösen und sittlichen Gefühls und des echten Willens zum Guten angeregten Verstandes“55. Er stellt den Begriff von offenbarten Lehren in Frage, wenn er feststellt: „Bevor die Offenbarungswahrheiten in doktrinären Spekulationen analysiert werden, leben sie in den Verkündigungen des Glaubens. Übernatürliche Intuition und religiöse Erfahrung, nicht abstrakte Betrachtung oder systematische Definition ihres Gegenstandes sind ihre natürliche Form“56. Wahrheit vollzieht sich immer wieder neu. Dementsprechend gibt es auch keinen Abschluss der Offenbarung57. - Wie weit Loisy sich bereits in dieser Zeit von der Kirche entfernt hatte, geht aus der Tatsache hervor, dass er später erklärte, schon lange vor „L’Évangile et l’Eglise“ habe er den Glauben an die Gottheit Jesu und gar an die Existenz eines persönlichen Gottes verloren gehabt58. Das macht die wohlwollende Interpretation seiner Thesen fragwürdig, die uns allenthalben in der neue-ren Literatur begegnet59. Es leuchtet ein, dass die rationale Darstellung der Offenbarungsaussagen und ihre spekulative Durchdringung wertlos werden, wenn sie keinen Erkenntniswert haben und nur der Reflex der religiösen Erfahrung sind. Dann sind die Dogmen nur noch ein wissenschaftlicher Kommentar zum Glaubensvollzug, jeweils abhängig von der intellektuellen und kulturellen Entwicklung derer, für die und von denen sie formuliert wurden, dann sind sie also sich entwickelnd und wandelbar60. Alfred Loisy, Autour d’ un petit livre, a. a. O., 195 - 197, zit. nach Avery Dulles, a. a. O., 97. Alfred Loisy, Autour d’ un petit livre, a. a. O., 200, zit, nach Avery Dulles, a. a. O., 97. 57 Alfred Loisy, Simples réflexions sur le decret du Saint-Office Lamentabili sane exitu et sur l’Encyclique Pascendi, Ceffonds 1908, 58; vgl. Michael Schmaus, Alois Grillmeier, Leo Scheffczyk, Hrsg., Handbuch der Dogmengeschichte I, 1b, a. a. O., 114. 58 Hubert Jedin, a. a. O., 453. 59 Ebd., 450 ff; Dietmar Bader, Der Weg Loisys zur Erforschang der cbrisllichen Wahrheit (Freiburger theologische Studien 96), Freiburg 1974, 159 ff. 60 Avery Dulles, a. a. O., 97. 55 56 11 René Latourelle fasst diese Position zusammen, wenn er erklärt: „Kurz gesagt ist für Loisy die Wahrheit nicht eine Lehre, die unserem Glauben angeboten wird, ein unveränderliches Depositum von Wahrheiten, sondern eine intuitive und experimentelle Wahrnehmung unserer Beziehungen zu Gott, die ständig im Werden ist. Wie das Dogma und die Theologie, so entfaltet sich die Offenbarung ständig. Sie ist stets im Zustand des Werdens“61. Dabei will Loisy „die Kirche als das fortgesetzte Evangelium“ erweisen und zeigen, „dass die christliche Entwicklung dem Evangelium weder äußerlich noch fremd ist“62. ++++ . In dieser Offenbarungskonzeption stehen im Vordergrund „der Primat der inneren Betroffenheit“ und „die Relativieung und in der Folge davon die Geringschätzung der menschlichen Ausdrucksformen“63. Ähnlich ist das Offenbarungsverständnis von George Tyrrell (1861-1909). Allgemein betrachtet ist er weniger angreifbar im Hinblick auf das, was er positiv aussagt, als im Hinblick auf das, was er verneint und was sich daraus an Konsequenzen ergibt64. Sehr klar umreisst er seinen Offenbarungsbegriff in dem Werk „Through Scylla and Charybdis“, das er im Jahr 1907 veröffentlicht hat. Da ist es sein Bemühen, eine via media zwischen starrem Dogmatismus und haltlosem Pragmatismus zu finden. Deshalb interpretiert er die Offenbarung als eine „quasi-mystische Erfahrung“, und es erscheint ihm falsch, sie durch die intellektuelle Komponente dieser Erfahrung bestimmt zu sehen. Entschieden besteht er auf dem Erfahrungscharakter der Offenbarung, „der von der logisch-reflektierenden Sprache nicht adäquat eingeholt werden kann“65. Der Ort der Offenbarung ist für ihn das Gewissen66. Offenbarung besteht für ihn „in the total religious experience“ , nicht allein „in the mental element of that experience“67. Sie ist nur Eindruck, nicht Ausdruck68. Die „Repräsentation“, die Erinnerung an die „Präsentation“ der Erfahrung kann nach ihm nicht mehr als Offenbarung angesprochen werden69. Die Bilder, Begriffe und Worte der Offenba61 Réné Latourelle, Théologie de la révélation (Studia, Recherches de Philosophie et de Théeologie publiées par les Facultés S.J. de Montréal, 15), Brügge 1963, 294 (Übersetzung durch Verf.). 62 Michael Schmaus, Alois Grillmeier, Leo Scheffczyk, Hrsg., Handbuch der Dogmengeschichte I, 1 b, a. a. O., 113. 63 Ebd., 114. 64 Ebd., 116. 118; George Tyrrell, Through Scylla und Charybdis, London 1907, 287; vgl. unten Anm. 69. 65 Michael Schmaus, Älois Grillmeier, Leo Scheffczyk, Hrsg., Handbuch der Dogmengeschichte I, 1 b, a. a. O., 116. 66 Ebd.; George Tvrrell, Through Scylla and Charybdis, a. a. O., 276. 67 Ebd., 285. 68 Ebd., 280. 69 Ebd., 284. „Revelation is not statement but experience”, 285. 12 rungsträger sind für ihn infolgedessen lediglich menschliche Reaktionen auf die Offenbarungswahrung70, sie sind nicht einmal unvollkommene Wege der Offenbarungsvermittlung inhaltlicher Art. Daher ist „die Wahrheit der Offenbarung nicht in den anschließend gefundenen Begriffen, sondern nur in der unmittelbar experimentell approbierten Lebensweise des einzelnen zu suchen“71. Das führt dann nicht nur zu einer „Vorordnung der Orthopraxie vor die Orthodoxie“, sondern gar zu einer „Auflösung der Orthodoxie in die Orthopraxie72. Wenn die begrifflichen Formulierungen radikal relativiert werden, wird die Offenbarung zu etwas, das nur noch subjektiv erfassbar ist und „sich jedem begreifenden Zugriff entzieht“73. Wie Tyrrell betont, haben die Apostel die Offenbarung von Christus in Fülle empfangen und ihr in den inspirierten Schriften einen klassischen Ausdruck gegeben. Im Kontakt mit der Kirche muss die Offenbarung wieder aktualisiert werden als ursprüngliche prophetische Erfahrung. Predigt und Schrift können Offenbarung nicht mitteilen, sondern nur veranlassen. „Für den einzelnen kommt es darauf an, dass die Erfahrung des Propheten seine eigene wird; die kirchliche Unterweisung kann dazu die ‚occasio’ bieten, sie jedoch nicht verursachen“74. Die Dogmen sind nicht Offenbarung, sondern lediglich menschliche Reaktion darauf. Sie sind der Versuch des Menschen, die göttliche Kraft, die er in sich verspürt, das religiöse Erlebnis ins Wort zu bringen, in intellektuellen Formeln auszudrücken. Die Dogmen hüten die Offenbarung, sie „sind jedoch weder wissenschaftlich noch philosophisch unfehlbar“75. Für Tyrrell sind die dogmatische Lehre und die Kirche lediglich Werkzeuge, deren man sich nur so lange zu bedienen braucht, wie man dieser Hilfe bedarf. Sie sind nur provisorisch, „aus den Bedürfnissen der Zeit geboren“76 und dem Geist einer jeden Zeit anzupassen77. 70 Ebd., 281. 208 f. Michael Schmaus, Alois Grillmeier, Leo Scheffczyk, Hrsg., Handbuch der Dogmengeschichte, 1 b, a. a .O., 117; George.Tvrrell, Through Scylla and Charybdis, a. a. O., 210. 72 J.W. Mödlhammer, Offenbarung und Erfahrung, in: E. Weinzierl, Hrsg., Der Modernismus, Beiträge zu seiner Erforschung, Graz 1974, 62. 73 Michael Schmaus, Alois Grillmeier, Leo Scheffczyk, Hrsg., Handbuch der Dogmengeschichte I, 1 b, a. a. O., 117 bzw. 116 f. 74 Ebd., 117; vgl. George Tyrrel, Through Scylla and Charybdis, a. a. O., 305 f. 75 Avery Dulles, a. a. O., 98. 76 Michael Schmaus, Alois Grillmeier, Leo Scheffczyk, Hrsg., Handbuch der Dogmengenschichte I, 1 b, a. a. O., 117. 77 Ebd.; vgl. George Tyrrell, Through Scylla and Cbardybdis, a. a. O., 237. 305 ff; René Latourelle, a. a. O., 305 f. 71 13 Tyrrell betont, dass sich die Offenbarung als Erfahrung des Göttlichen zunächst einen symbolischen Ausdruck verschafft, dann einen intellektuell-begrifflichen, der sich endlich in Formeln niederschlägt. Seine Position ist allerdings etwas differenzierter, wenn er zwischen der Offenbarung und ihrer durch die Theologie vollzogenen Interpretation unterscheidet, die ihren Ausdruck in den Dogmen findet, wenn sich für ihn nicht mehr die Offenbarung entwickelt, sondern ihre Interpretation. Das Dogma hat jedoch für ihn nur relative Geltung, und er versteht die Offenbarung rein immanent. Im Credo begegnet ihm „das Symbol des Eindrucks, den das Unendliche von sich selbst im Bewusstsein eines großen und bedeutenden Teils der Menschheit hinterlassen hat“78 . Dabei sieht er jede Religion als Offenbarung an, übersieht er den wesentlichen Unterschied zwischen der christlichen Offenbarung und den sogenannten Offenbarungen der Religionen. „Das Christentum ist für ihn ein Stück des allgemeinen religiösen Prozesses der Geschichte“79. Die Offenbarung versteht er als ein immer wiederkehrendes Phänomen, wenngleich er der apostolischen Offenbarung eine gewisse Sonderstellung einräumt, sofern sie klassisch und normativ ist. Aber auch die Aneignung der äußeren Offenbarung im Glauben bezeichnet Tyrrell als Offenbarung. Darin wird die Erfahrung des Propheten zur persönlichen Erfahrung, wobei die persönliche und die prophetische Erfahrung jeweils die gleiche Struktur und den gleichen Inhalt haben80. In Frankreich verband sich der Modernismus mit einer „pragmatischen Wahrheitslehre“, entwickelt von Lucien Laberthonniere (1860-1932) und Edouard Le Roy (1870-1954). Sie erklären die Wirklichkeit als kontinuierlich fließenden Prozess, den man im aktiven Leben erfassen muss, und die dogmatischen Formulierungen als Symbole der Strebungen des sittlichen Lebens. Auch für sie ist die Offenbarung als religiöse Erfahrung eine ständige Möglichkeit. Ernesto Buonaiutti (1881-1946) entwickelte im Anschluss dann die Aktionsphilo- 78 Joseph Schumacher, Der apostolische Abschluss der Offenbarung Gottes, a. a. O., 116. Ebd. 80 Ebd.; vgl. Bernhard Faupel, Die Religionsphilosophie George Tyrrells (Freiburger theologische Studien 99), Freiburg o. J., 120 - 186. 260 - 311. 385 - 389; Michael Schmaus, Alois Grillmeier, Leo Scheffczyk, Hrsg., Handbuch der Dogmengeschichte I, 5: Dogma und Dogmenentwicklung, Freiburg 1971, 43. 210; René Latourelle, a. a. O., 204 - 300; Avery Dulles, a. a. A., 99; Anton Gisler, a. a. O., 552. 79 14 sophie seines Lehrers Maurice Blondel in Richtung auf einen totalen Immanentismus weiter81. Diese Position deckt sich letztlich mit jener des reformierten französischen Theologen Auguste Sabatier (1839-1901), der feststellt: „Die Ideen Religion und Offenbarung sind korrelativ und religiös nicht trennbar. Die Religion ist nichts anderes als die subjektive Offenbarung Gottes im Menschen, und die Offenbarung ist die objektive Religion in Gott. Sie verhalten sich wie die Form und das Objekt, wie die Wirkung und die organisch verbundene Ursache; es ist ein und dasselbe psychologische Phänomen, das weder bestehen noch entstehen kann ohne die Begegnung beider ... Gegenstand der Offenbarung kann nur Gott selbst sein, und will man eine Definition, so wird man sagen müssen: sie besteht in der Erzeugung, Reinigung und fortschreitenden Klärung des göttlichen Bewusstseins im Einzelmenschen und in der Menschheit“82. Im religiösen Bereich gibt es für die Modernisten nur die Wirklichkeiten, die dem Menschen immanent erfahrbar sind. Sie bekennen sich nicht nur zur Methode der Immanenz, sondern auch zur Theorie der Immanenz. Die Methode der Immanenz wird bekanntlich in der Immanenzapologetik vertreten, die die objektive rationale Grundlegung des Glaubens durch eine subjektive ersetzt, jedoch an der Objektivität der Offenbarung festhält. In dem modernistischen Verständnis der Offenbarung, in diesem prinzipiellen Immanentismus, wird nicht nur die Anerkennung einer übernatürlichen, von oben stammenden Offenbarung unmöglich, sondern es wird auch der Zugang zur Transzendenz Gottes verbaut. Das Christentum verliert seine objektive Geltung und wird zu einer rein subjektiven Weltanschauung, zu einer rein subjektiven Orientierung des einzelnen in seiner Welt, zu einem Modus des Lebens auf der Grundlage des Gefühls83. Besonders anstößig erschien den Modernisten der neuscholastische Offenbarungsbegriff, den das Lehramt in seinen antimodernistischen Verlautbarungen verteidigte. Ihm setzten 81 Avery Dulles, a. a. O., 99; Michael Schmaus, Alois Grillmeier, Leo Scheffczyk, Hrsg., Handbuch der Dogmengeschichte I, 5, a. a. O., 44; Joseph Schumacher, Der apostolische Abschluss der Offenbarung Gottes, a. a. O., 116. 82 Louis Auguste Sabatier, Esquisse d’une philosophie de la religion, Paris 1897 ( 81910), 34 f, zit. nach Anton Gisler, a. a. O., 548. 83 Albert Lang, Fundamentaltheologie I: Die Sendung Christi, München 41967, 101. Nach der Enzyklika „Pascendi Dominici gregis“ werden Bewusstsein und Offenbarung letzten Endes austauschbar (DS 3478), und das religiöse Gefühl wird zum Keim jeder Religion (DS 3481); vgl. oben Anm. 50. 15 sie, wie es das das Dekret „Lamentabili“ zum Ausdruck bringt, den Satz entgegen „Revelatio nihil aliud esse potuit quam acquisita ab homine suae ad Deum relationis conscientia“84. Dem neuscholastischen Offenbarungsbegriff machten sie den Vorwurf, er sei anthropomorph und mechanisch. Loisy spricht von einer „übernatürlichen Mechanik“85. Sie betonten, er sei statisch und rationalistisch, unfruchtbar und extrinsezistisch. Hier werde die Offenbarung primär als Erkenntniszuwachs verstanden, als ein neutrales und unpersönliches Sachverhältnis, nicht als eine persönliche Begegnung zwischen Ich und Du86. So werde die Offenbarung auf die Offenbarungslehre verkürzt. Sie werde verstanden vor allem als Wahrheitsmitteilung. Man denke hier vornehmlich an Sätze, nicht an Realitäten, die von den Sätzen nicht adäquat zum Ausdruck gebracht werden können. Die Offenbarung werde bestimmt als Einwirkung des Geistes Gottes auf den Geist des Menschen, wodurch Gott dem Menschen die ihm eigene Erkenntnis mitteile. Sie werde beschrieben als „locutio Dei docens er attestans“87, als „locutio Dei auctoritative docentis“88. Man vermerkt kritisch, dass so die Offenbarung primär unter der Kategorie des begrifflichen Sprechens gesehen wird und die übernatürlichen Taten Gottes dabei bestenfalls lediglich als Kriterien gewertet werden, die zur Offenbarung hinzukommen89. - Deshalb wollen die Modernisten an die Stelle der mechanischen Auffassung der Offenbarung, wie sie sagen, eine geistige setzen90. Es gibt ohne Zweifel eine legitime Verwendung der Erlebnistheologie. Das Erlebnis ist ein wichtiges Moment in der Offenbarungswirklichkeit, das entscheidende geradezu. Das Affektive und die Intuition haben hier durchaus einen Ort. Diese Seite der Offenbarungswirklichkeit, den Erlebnischarakter des Glaubens, hat Johann Adam Möhler (1796 - 1838) besonders geschätzt und für seine Theologie fruchtbar gemacht, wenn er die arationalen Faktoren und Funktionen im Leben der Kirche und das Wirken des Heiligen Geistes in ihnen und in den Gläubigen hervorgehoben hat. Auch bei John Henry Newman (1801 1890) fanden solche Gedanken viel Anklang91. Man kann die Offenbarung legitimerweise von daher verstehen, wenn man nicht übersieht, dass die menschlichen Komponenten des Offenbarungsvorgangs das Substrat des Wirkens Gottes sind. Aber gerade das wird bei den 84 DS 3420. Alfred Loisy, Simples réflexions, a. a. O., 159; vgl. Anton Gisler, a. a. O., 550. 86 Paul Althaus, Die christliche Wahrheit, Gütersl6h 61962, 238; Joseph Schumacher, Der apostolische Abschluss der Offenbarung Gottes, a. a. O., 55. 87 N. Jung, Art. Revelation, in: Dictionnaire de Theologie Catholique XIII, Paris 1936, 2586. 88 Sebastian Tromp SJ, De revelatione christiana, Rom 61950, 70. 89 Joseph Schumacher. Der apostolische Abschluss der Offenbarung Gottes, a. a. O., 53 f. 90 George Tyrrell, Medievalism, London 1908, 37; zit. nach Anton Gisler, a. a. O., 553. 91 Joseph Schumacher. Der apostolische Abschluss der Offenbarung Gottes, a. a. O., 14 f. 85 16 Modernisten zumindest nicht immer deutlich. Einmal tritt diese Sicht bei Loisy hervor, wenn er sagt: „Der Mensch sucht, aber Gott erweckt ihn; der Mensch sieht, aber Gott erleuchtet ihn. Die Offenbarung vollzieht sich im Menschen, aber sie ist das Werk Gottes in ihm, mit ihm und durch ihn. Die Wirkursache der Offenbarung ist übernatürlich wie ihr Gegenstand, weil Gott selbst diese Ursache und dieser Gegenstand ist; aber Gott wirkt im Menschen und ist vom Menschen erkannt“92. Diese Sicht ist jedoch nicht allgemein bestimmend, weder bei ihm noch bei den übrigen Modernisten. Zudem. wird an dieser Stelle nicht deutlich, dass die Offenbarung einen bestimmten Inhalt hat. Wenn die Modernisten die psychologische Seite des Offenbarungsvorgangs nachdrücklich beschreiben, so kann man ihnen das nicht zum Vorwurf machen. In der Tat tritt diese weithin in den historischen Zeugnissen zutage. Man kann die Offenbarung aber nicht allein vom Menschen her erklären, von seinem religiösen Gefühl und von seinem unbewussten Gottesbedürfnis her. Sie ist etwas objektiv Gegebenes und enthält übernatürliche Erkenntnisinhalte, die übernatürlich vermittelt, uns Zugang zu einer uns natürlirherweise unzugänglichen Wirklichkeit geben. Die Modernisten irren, wenn sie über die psychologischen Faktoren die anregenden übernatürlichen und gnadenhaften Momente übersehen und damit die Besonderheit der christlichen Offenbarung zerstören, wenn sie die Aktivität Gottes im Offenbarungsvorgang auf die allgemeine Psychologie des Menschen reduzieren. Die menschliche und durch unser Erkennen feststellbare Seite der Offenbarung wird getragen von Gott, die menschlichen Faktoren sind nur instrumentale Ursachen, derer sich Gott als der „auctor principalis“ der Offenbarung bedient, um sich und sein Handeln vernehmbar zu machen93. Die Offenbarung hat unleugbar ihre natürlichen Komponenten, und jede Zeit hat die Aufgabe, mit ihrem geistigen Rüstzeug und ihren Fragen an sie heranzugehen; dabei darf aber nicht übersehen werden, dass sie übernatürlich und vorgegeben ist, dass es letztlich nur um ein tieferes Verständnis eines der Kirche anvertrauten Depositums gehen kann94. Übersehen werden darf dabei auch nicht, dass die Offenbarung nicht nur Erlebnis oder Erfahrung ist, dass sie eine rationale Seite hat. Sie ist dem Affekt und der Intuition zuzuordnen, aber 92 Alfred Loisy, Autour d' un petit livre, a. a. O., 196 f; Anton Gisler, a. a. O., 551. Joseph Schumacher, Der apostolische Abschluss der Offenbarung Gottes, a. a. O., 48 f. 114. 118. 94 Ebd., 118; vgl. DS 3464. 93 17 auch dem Intellekt. Auch im Wort und in der Erkenntnis wird Gott tätig. Der rationale Ausdruck gehört wesentlich zur Offenbarung als einem übernatürlichen Phänomen. Es ist das Verdienst des Modernisten, dass sie die menschlichen Komponenten des Offenbarungsvorgangs und dessen geschichtlichen Charakter ins Bewusstsein gehoben haben. Sofern sie dabei jedoch die Übernatürlichkeit der Offenbarung übersehen haben, verfielen sie dem Immanentismus. Wenn Gott und sein Eingreifen bei der Offenbarung ausgeklammert und ihre intellektuelle Komponente nicht beachtet wird, so bedeutet das eine Verfälschung des Of7enbarungsbegriffs der Kirche. Dann ist es konsequent, dass das Dogma zum Symbol der subjektiven Erfahrung des Menschen wird und dass man eine substantielle Dogmenentfaltung lehrt, wie sie uns bereits im liberalen Protestantismus des 19. Jahrhunderts begegnet. Die Dogmengeschichte wird zur Offenbarungsgeschichte, und der Abschluss der Offenbarung wird negiert95. Das Christusereignis hat dann schließlich nur eine vage religiöse Bewegung initiiert. Dann ist es so, dass die Dogmen kommen und wieder verschwinden, dass alles in fortlaufendem Wandel begriffen ist. Das Christentum verliert sein fixiertes Wesen und ist als solches in ständiger Evolution begriffen. Damit ist seine Wahrheit, wie im Grunde alle Wahrheit, progressiv und folglich relativ96. Die Kritik des Modernismus am intellektualistischen Offenbarungsbegziff der Neuscholastik hat ihre Berechtigung, sofern sie sich gegen die starke Betonung des Wortes wendet. Verfehlt ist sie, sofern sie dem Wort den Offenbarungscharakter abspricht. Die Offen-barung hat durchaus auch Wortcharakter, ist Lehre, enthält Wahrheiten, richtiger: Wirklichkeiten, die durch das Wort vermittelt werden, wenngleich nicht zu bestreiten ist, dass sie in erster Linie Selbstmitteilung Gottes, nicht Mitteilung von Erkenntnissen ist und dass die Wirklichkeit immer den Begriff übersteigt97. Die Offenbarung, in der sich das Transzendente in der Immanenz manifestiert, bedarf notwendig des Wortes, um das übernatürliche als solches erkennbar zu machen und zu vermitteln. Der Glaube kommt vom Hören. Die 95 DS 3421. 3454. Überraschend ist die Feststellung von Hans Waldenfels, man dürfe diesen negativ formulierten Satz nicht positiv fassen, weil dadurch die Gefahr der Einseitigkeit heraufbeschworen werde (Michael Schmaus, Alois Grillmeier, Leo Scheffczyk, Hrsg., Handbuch der Dogmengeschichte I, 1 b, a. a. O., 119; vgl. Joseph Schumacher, Der apostolische Abschluss der Offenbarung Gottes, a. a. O., 117). 96 Ebd., 115 - 118. 183 f ; vgl. auch Joseph Turmel, Chronique d’histoire ecclesiastique, in: Revue de C!ergé Francais 37, 1904, 89; Kurt Peter Gertz, Josepj Turmel (1859 - 1943), Ein theologiegeschichtlicher Beitrag zum Problem der Geschichtlichkeit des Dogmas (Disputationes Theologicae 2), Bern/Frankfurt 1975, 132 134. 200 - 230. 97 Bereits Thomas von Aquin hat darauf hingewiesen, dass es im Glauben nicht um das Wort, sondern um die Wirklichkeit geht: Summa Theologiae II/II q. 1 a. 2 ad 2: „Actus autem credentis non terminatur ad enuntiabilia sed ad rem“. 18 Qffenbarung ist zwar in erster Linie Ereignis, Geschehen, aber auf das Wort bezogen. So entspricht es dem biblischen Verständnis wie auch der logischen Struktur des Offenbarungsvorgangs98. Es ist nicht zu leugnen, dass der Offenbarungsbegriff der Neuscholastik eine gewisse Einseitigkeit aufwies, dass er in seinem statischen Verständnis der Offenbarung manche Angriffspunkte bot. Diese Einseitigkeit vermochte der Modernismus jedoch nicht in legitimer Weise zu ergänzen. Das gelang erst der nachmodernistischen Theologie in Frankreich, die dabei die Ansätze der Tübinger Schule verwerten konnte, wenn sie sich um eine ganzheitliche Bestimmung des Offenbarungsvorgangs bemühte. Dabei verlagerte sie den Schwerpunkt von der Lehre auf den Begegnungsvorgang, ohne die Lehre auszuklammern99. Seit den fünfziger Jahren wurde diese Neuorientierung von der deutschen Theologie aufgegriffen. Sie wurde gefördert durch Anregungen seitens der Exegese. Die Offenbarung wurde nunmehr personal, biblisch, geschichtlich und ganzheitlich, weniger abstrakt und doktrinär, stärker vom Handeln Gottes her verstanden100. Dabei bleibt jedoch bestehen, dass die Offenbarung auch Erkenntniszuwachs ist, Mitteilung von Wahrheiten. Eine Offenbarung, die nicht an das Wort gebunden ist, kann weder als Selbstmitteilung Gottes noch als abgeschlossen verstanden werden. Ist die Offenbarung auch zunächst Handeln Gottes in der Geschichte, Geschehen und Ereignis, so hat sie doch auch kognitiven Charakter, gehören Einsichten zu ihr, läßt sie sich in Sätzen artikulieren, wenn auch nicht adäquat. Diese Zusammenhänge betont das I. Vaticanum schwächer101, das II. stärker, wenn es in der Dogmatischen Konstitution „Dei Verbum“ einen volleren Offenbarungs-begriff lehramtlich ausgeformt hat102. Das Heilsgeschehen wird im Wort gedeutet, vermittelt und weitergegeben. Es steht allerdings zunächst nicht für abstrakte Wahrheiten, sondern für konkrete Wirklichkeiten103. Was dem modernistischen Verständnis der Offenbarung zugrunde liegt, das ist, wie die Enzyklika „Pascendi Dominici gregis“ mit Recht feststellt, eine agnostizistische Grundhaltung, die Resignation gegenüber der metaphysischen Erkenntnis, gegenüber einer Erkenntnis über Bereich unserer Sinneserfahrung hinaus, die InFrage-Stellung der transzendentalen Tragfähigkeit unserer Erkenntnis, die in der Leugnung der ontischen Tragfähigkeit unserer Begriffe gründet. Demnach ist uns der Bereich des 98 Joseph Schumacher, Der apostolische Abschluss der Offenbarung Gottes, a. a. O., 53 f. Vgl. oben S. 13. 100 Joseph Schumacher, Der apostolische Abschluss der Offenbarung Gottes, a. a. O., 55 f. 101 DS 3004. 102 Joseph Ratzinger, Einleitung und Kommentar zum Prooemium, zu Kapital I, II und VI der Dogmatischen Konstitution Dei Verbum, in: Lexikon für Thcologie und Kirche, Das zweite Vatikanische Konzil II, Freiburg 1967, 506. 103 Joseph Schumacher, Der Apostolische Abschluss der Offenbarung Gottes, a. a. O., 57; vgl. Michael Schmaus, Alois Grillmeier, Leo Scheffczyk, Hrsg., Handbuch der Dogmengeschichte I, 1 b, a. a. O., 130. 99 19 Übernatürlichen erkenntnismäßig verschlossen, in seiner Tatsächlichkeit wie in seiner Inhaltlichkeit. Damit begegnet uns nur Innerweltliches und ist auch jede rationale Beweisführung auf religiösem Gebiet unmöglich104. Es ist der gleiche Agnostizismus, der, sei es in seiner idealistischen, sei es in seiner empiristischen Form, noch heute das Lebensgefühl vieler Menschen bestimmt. Überall ist er atmosphärisch präsent. Er äußert sich im allgemeinen in der Skepsis gegenüber metaphysischen Aussagen, in der Theologie im besonderen in der Reduzierung der Offenbarung auf subjektive Betroffenheit und Reflex des religiösen Gefühls im Menschen sowie in der Geringschätzung klarer dogmatischer Begrifflichkeit105. Der Agnostizismus führt die Modernisten notwendig zum Immanentismus oder Naturalismus. Wenn die jenseitige Welt unserer Erkenntnis prinzipiell verschlossen und die Offenbarung nicht als von Gott gewirktes Geschehen erkennbar ist, ist die Erklärung der religiösen Phänomene im Menschen selber zu suchen106. Man optiert für die eine Ordnung des Seins, der die eine Ordnung der Erkenntnis bzw. der eine Modus der Erkenntnis entspricht. Der Agnostizismus wird so, wenn auch ungewollt, zum Rationalismus. Das modernistische Gedankengut lebte weiter im Liberalprotestantismus, aus dem es irgendwie hervorgegangen war. Dieser beherrscht heute nach einer zeitweiligen Überwindung durch die dialektische Theologie wieder weithin das Feld. Viele Ideen des Modernismus sind dabei aufs neue in die katholische Theologie eingedrungen und machen deutlich, dass die disziplinäre Unterdrückung des Modernismus am Beginn unseres Jahrhunderts nur seine äußere Überwindung ermöglichte. Die Spuren sind vielfältig. Vor allem begegnet uns der alte Modernismus gegenwärtig, wo immer ein theologischer Monismus offen oder latent vertreten wird, wenn das subjektive Element in der Heilsgeschichte so sehr betont wird, dass darüber das objektive vergessen wird, wenn das „pro me“ so sehr hervortritt, dass dahinter das „in se“ verschwindet, wenn man Seins- und Wesensaussagen beargwöhnt oder auf sie verzichtet, wenn die objektive Realität hinter das zurücktritt, was mich betrifft. 104 Adolf Kolping, Fundamentaltheologie I, a. a. O., 198 f. Ebd. 199 106 Joseph Schumacher, Der apostolische Abschluss der Offenbarung Gottes, a. a. 0.,71 f. Der Immanentismus ist der positive Aspekt des Modernismus, der Agnostizismus der negative. Wenn die Möglichkeit einer natürlichen Theologie zerstört und eine Offenbarung von außen erkenntnismäßig nicht mehr zugänglich ist, so bleibt nur noch die vitale Immanenz (vgl. DS 3477); Michael Schmaus, Alois Grillmeier, Leo Scheffczyk, Hrsg., Handbuch der Dogmengeschichte I, 1 b, a. a. O., 119. 105 20 In all diesen Fällen wird die Offenbarung in subjektive Bedeutsamkeit verflüchtigt. Diese Tendenz zeigt sich nicht zuletzt in der Betonung der gelebten Erfahrung als entscheidende theologische Erkenntnisquelle107 oder als Auswahlkriterium im Hinblick auf die biblischen Texte und in der Leugnung des Abschlusses der Offenbarung108. In solcher Subjektivität kann man schließlich alles sagen oder auch verneinen. Der Modernismus wirkt aber auch weiter in der heftigen Kritik an der hierarchisch strukturierten Kirche und am Petrusamt, in der generellen Leugnung der neutestamentlichen Wvnder und in der Bestreitung des Absolutheitsanspruchs des Christentums und der Kirche. Die letzte Konsequenz des Modernismus ist der Pantheismus. Der transzendente Gott wird zum immanenten Gott, der persönliche Gott wird zu einem Neutrum. Der Immanentismus stellt notwendigerweise die Jenseitigkeit und das Personsein Gottes in Frage. Mit dem „duplex ordo cognitionis“109 verliert auch der „duplex ordo essendi“ seine Realität. Vom Pantheismus sagt jedoch bereits Arthur Schopenhauer (1788 - 1860) zynisch, er sei nichts anderes als ein Weg, Gott „auf eine anständige Weise zu beseitigen“110. 107 Vgl. Catharina Halkes, Gott hat nicht nur starke Söhne, Grundzüge einer feministischen Theologie, Gütersloh, 1980, 36. 73. 108 Vgl. Mary Comes, Für die verbannten Kinder Evas, Eine Einführung in die feministische Theologie, in: Una Sancta 32, 1977, 307; Catharina Halkes, a. a. O., 60. 109 DS 3015 (Vaticanum I: Constitutio Dogmatica „Dei Filius”, cap. 4). 110 Arthur Schopenhauer, Sämtliche Werke, Hrsg. von M. Frischeisen-Köhler, Bd. VII, Berlin 1921, 297. 21