Pädagogik der Vielfalt

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Pädagogik der Vielfalt
Katharina Schmidt
Eine gute Ergänzung zur Demokratiepädagogik bildet die Pädagogik der Vielfalt. Die
Pädagogik der Vielfalt beschäftigt sich mit einem anderen Blickwinkel in Bezug auf das
Leben in der Gemeinschaft. Die Verschiedenheit der Menschen und deren enormes,
meist verkanntes Potential für die Gesellschaft und den Einzelnen stehen bei der
Pädagogik der Vielfalt im Mittelpunkt des Interesses. Schon bei John Dewey, dem
Begründer der Demokratiepädagogik, finden sich viele Hinweise darauf, dass Vielfalt in
der Gesellschaft auch für die Demokratiepädagogik von Bedeutung ist.
Vielfalt findet man überall und oberflächlich gesehen, immer verstärkter im Zuge der
Globalisierung. Wir kommen um die Vielfalt augenscheinlich nicht mehr herum. Das
Konzept, von Annedore Prengel entwickelt, steht im Rampenlicht der politischen und
pädagogischen Diskussionen. Viele Schulen, gerade Grundschulen, versuchen ihre
Konzeptionen auf den Kerngedanken einer Pädagogik der Vielfalt aufzubauen. Sie
werden oder sind bereits „Schulen der Vielfalt“.
Kernpunkte einer Pädagogik der Vielfalt
Das Wesentliche der Pädagogik der Vielfalt besteht darin, dass jeder Mensch einzigartig ist,
es ihm möglich ist gemäß seiner Einzigartigkeit leben zu können. „Die Unterdrückung und
Einschränkung von Lebensäußerungen werden als Störung oder gar als Zerstörung, als
Verlust des Reichtums an Lebensmöglichkeiten gedeutet.“ (Prengel, Plädoyer für eine
Pädagogik der Vielfalt). Die Konsequenz dessen ist, dass die vielfältigen Biographien
Einzelner als Reichtum gesehen werden. Bei Prof. Dr. Annedore Prengel, Begründerin der
Pädagogik der Vielfalt, wird die Unterschiedlichkeit der Menschen als Ressource und
grundsätzlich nicht als Problem verstanden.
Selbstverständlich weiß auch eine Pädagogik der Vielfalt, dass nicht immer alle, jederzeit,
alles tun und lassen können, was ihnen gerade in den Sinn kommt. Ganz im Gegenteil, es gibt
eine starke Begrenzung von Bedürfnissen im Leben. Nur ganz selten, in besonderen
Glücksmomenten, werden wir in unserer Einzigartigkeit als gleichwertig anerkannt oder
können anderen Menschen diese Anerkennung geben. Annedore Prengel nennt diese
Momente „konkrete Utopie“ (ebd.), die ab und an im Alltag aufblitzt. Nur mit diesen
Erfahrungselementen können wir uns den besseren Zustand vorstellen. Diesen zu erreichen ist
Ziel einer Pädagogik der Vielfalt.
Adorno formulierte beeindruckend: „Ohne Angst verschieden sein können“, anders
ausgedrückt „Vielfalt wertschätzen“ – das Bestreben der Pädagogik der Vielfalt (ebd).
„Vielfalt wertschätzen“, d. h. Unterschiedlichkeit als Ressource wahrnehmen, ist deshalb
nicht die Beschreibung der bestehenden Realität, „sondern bezeichnet die Wahl eines Ziels,
die Entscheidung für einen Wert“ (ebd.). Dadurch entsteht ein Maßstab, an dem Ereignisse
der sozialen Welt gemessen werden können, ein Wertekompass und Orientierung für das
Handeln.
Gleichheit und Verschiedenheit
Zwei Begriffe sind ganz zentral in der Beschäftigung mit der Pädagogik der Vielfalt:
Gleichheit (Homogenität) und Verschiedenheit (Heterogenität, Differenz).
Beide Begriffe sind untrennbar miteinander verbunden, denn Verschiedenheit ohne Gleichheit
zu betonen, hat Hierarchie zur Folge und Gleichheit ohne Verschiedenheit zu betonen hat
Gleichschaltung zur Folge. Hier wird deutlich, dass Pädagogik der Vielfalt auf einem sehr
einfachen gedanklichen Kern beruht, dass dieser Kern aber eine vielschichtige, komplexe
Denkfigur enthält. „Diese Mehrdimensionalität hält das Thema in Bewegung ... Es ist immer
wieder neu eine Herausforderung, das Spannungsverhältnis zwischen Gleichheit und
Differenz zu klären, endgültige Antworten sind nicht zu erwarten, immer neue Fragen werfen
sich auf“ – Prengels Bilanz nach 20 Jahren Auseinandersetzung mit diesem Thema.
In ihrem Buch „Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in
Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik“ unterscheidet sie drei
Dimensionen von Heterogenität und ordnet jeder dieser Dimensionen einen spezifischen
pädagogischen Ansatz zu:
 Unterschiedlichkeit der Geschlechter – geschlechterbewusste Pädagogik (z.B. Gender
Studies), feministische Pädagogik
 kulturelle Unterschiedlichkeit – interkulturelle Pädagogik
 Differenz der Begabung, des Wissens, der kognitiven Kapazität – Integrative
Pädagogik
Neben den von Annedore Prengel thematisierten zentralen Dimensionen der Heterogenität
könnten wir auch andere Dimensionen von Unterschiedlichkeit in unserer Gesellschaft finden,
zum Beispiel die des Alters oder die des sozialen Status. Diese in der Gesellschaft und
unseren Köpfen konstruierten Verschiedenheiten sollen aufgedeckt und danach entschärft
werden (Dekonstruktion). Es gibt beispielsweise nur Behinderte, weil es auch NichtBehinderte gibt, es gibt nur hässliche Menschen, weil es auch schöne Menschen gibt. Und
genau das sind Kategorien, die wir uns Menschen ausgedacht – konstruiert haben. Genau
diese, als selbstverständlich gehaltenen Ansichten, gilt es zu reflektieren. Und dabei solle man
am besten bei sich selbst anfangen, schlägt Annedore Prengel vor. Biografiearbeit ist also ein
wesentlicher Bestandteil einer Pädagogik der Vielfalt. Ziel ist es, die Behinderung
beispielsweise nicht als etwas Unnormales zu sehen, sondern als Bestandteil des Normalen.
Eine Pädagogik, die Unterschiede wahrnimmt, auf sie eingeht und sie nutzt, ist eine
Pädagogik der Vielfalt (Prengel, s. o.).
Pädagogik der Vielfalt in der Praxis
Um den Umgang mit Verschiedenheit zu Üben bietet sich das alltägliche Lebensumfeld an,
denn Vielfalt gibt es jederzeit und überall. Jeder Mensch an sich ist einzigartig und
unersetzlich, wie es im Refrain eines Liedes so schön heißt: „Ja, ich bin einmalig, original
einmal, original ich (Philipp Ramm 1997).
Da ein großer und wichtiger Teil des Alltags in der Schule stattfindet, bietet sie sich als
Lernort für das Einüben eines positiven Umgangs mit Vielfalt an. Kinder sollen schon früh
erleben, wie ein rücksichtsvolles, konstruktives Miteinander in einer Gemeinschaft aussehen
kann und später diese Idee von Gemeinschaft weiter tragen und leben. Aber auch im
Freizeitbereich und in anderen Lebensphasen empfiehlt es sich, pädagogische Konzepte nach
der Grundidee von Pädagogik der Vielfalt zu gestalten. Bei der Pädagogik der Vielfalt geht es
nicht nur um das Handeln nach den zuvor beschriebenen Zielen, sondern um eine Einstellung
zum Leben.
Nach den Ideen von Pädagogik der Vielfalt arbeiten, bedeutet zunächst: sensibel machen für
die Existenz von Verschiedenheit und aufmerksam machen für dessen Potential. Dabei
müssen gar keine abstrakten Beispiele gefunden werden, beispielsweise die Klasse selbst ist
ein Ort der Vielfalt. Die Auseinandersetzung mit sich selbst und seinem Lebensumfeld kann
viel Konfliktpotential präventiv unterbinden.
Im Laufe der Zeit ist eine Vielzahl von Interaktionsübungen entstanden, die sich mit dem
Bewusstmachen der Gedanken von einer Pädagogik der Vielfalt beschäftigen. Es geht um ein
lebendiges Lernen, das sich an der Individualität des Einzelnen orientiert.
Demokratiepädagogik und Pädagogik der Vielfalt
Bei der Beschäftigung mit John Dewey und seinem Demokratieverständnis kommt man um
den Vielfaltsbegriff nicht herum. An den verschiedensten Stellen betont er immer wieder die
Bedeutung und Entwicklung von vielfältigen Lebensweisen für seine Vorstellung von
Demokratie. Schon 1912 erkennt Dewey, dass menschlicher Fortschritt vom bewussten
Fördern individueller Verschiedenheit abhängt (Dewey, Imitation in Education). Das
Individuum bzw. das Individuelle ist für Dewey Motor der Kreativität und Erneuerung
(Dewey, The Development of American Pragmatism), wie Fritz Bohnsack interpretiert
(Bohnsack 1975).
Dewey denkt die Geschichte der Demokratie als eine „Bewegung zur Individuation“, d. h. als
Prozess des Erkennens und Nutzens der gesellschaftlichen Potenz individueller Besonderheit.
1916, in seinem pädagogischen Hauptwerk „Demokratie und Erziehung“, setzt er die Nutzung
individueller Abweichung für den gesellschaftlichen Fortschritt geradezu mit Demokratie
gleich (Dewey, 1916). Es zeigt sich, dass es wahrscheinlich sehr in Deweys Interesse gelegen
hätte, wenn Demokratiepädagogik und Pädagogik der Vielfalt stark miteinander verknüpft
bzw. nebeneinander gelehrt würden.
Dewey setzte sich ebenfalls mit den zwei Dimensionen Verschiedenheit und Gleichheit
auseinander. Er kommt zu dem Schluss: Individuen sind nicht nur verschieden, sondern als
einmalig unersetzbar und in eben dieser Unersetzbarkeit gleich (Dewey, Individuality in
Education); ein Feststellung die genau so für die Pädagogik der Vielfalt zutrifft. Gleichheit ist
für Dewey nicht als eine mechanistische Einheit, d. h. als eine Ansammlung homogener Teile
zu sehen, sondern als eine organische Einheit, welche sich in und durch die Verschiedenheit
der Teile herausbildet. Die gesellschaftliche Einheit und die in diese eingebundene
individuelle Vielfalt werden damit so von einander abhängig, dass sie nur gemeinsam zuoder abnehmen. Für die Schule heißt das dann, dass der pädagogische Prozess in ihr
gleichzeitig Sozialisierung und Individualisierung im Blick haben muss. Ein Beispiel hierfür
wären gemeinsame, aber gleichzeitig arbeitsteilige Projekte. Das übliche Verfahren des
Gleichschritt-Lernens, das die mechanische Einheit und Uniformität zum Ziel hat, lehnt
Dewey als Zerstörung von Individualität und Sozialität dementsprechend ab.
Dewey sieht allerdings auch die Gefahr und Problematik von Vielfalt – nämlich
Auseinanderstreben, Abspaltung, Gegensatz und Isolation. Er schlägt vor, genauso wie die
Pädagogik der Vielfalt, den Prozess von Gleichheit und Verschiedenheit durchgängig zu
reflektieren. Bei aller Individualität muss immer deren Bezug auf das Ganze sichergestellt
werden; eben durch Reflexion.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass eine Pädagogik der Vielfalt und eine
Demokratiepädagogik sich gegenseitig sehr gut ergänzen und befruchten. Pädagogik der
Vielfalt hat eher einen verstärkten Blickwinkel für die vielfältigen Lebensformen in einer
Gesellschaft, will sie aufdecken und in den Mainstream integrieren nach dem Motto: Es ist
normal verschieden zu sein. Demokratiepädagogik hingegen legt und denkt eher die Basis,
auf politischer genauso wie auf persönlicher Ebene. Auf dieser Basis wird es möglich Vielfalt
leben zu können. Ein Aufgabenfeld der Demokratiepädagogik ist beispielsweise, entschieden
gegen Rechtsextremismus einzutreten und diesbezüglich präventiv tätig zu werden. Erst wenn
rechtsextremes, rassistisches Gedankengut verschwunden ist, ist es möglich in Vielfalt
miteinander zu leben.
Außerdem haben beide Bindestrichpädagogiken in gewisser Weise idealistische oder sogar
utopische Zielvorstellungen. Ihre Gedanken zu einem besseren Miteinander in der
Gesellschaft entsprechen keineswegs der Beschreibung der Realität. Die idealistischen
Zielvorstellungen dienen als Urteilsmaßstab oder roter Faden für das Handeln. Ein Hauch
Idealismus wohnt also der Pädagogik der Vielfalt wie der Demokratiepädagogik inne –
vielleicht auch eine Art Hoffnungsschimmer, der zum Anfangen und Weitermachen motiviert.
Literatur
Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt/Main 1976
Bohnsack, Fritz: Erziehung zur Demokratie. John Deweys Pädagogik und ihre Bedeutung für die Reform unserer Schule. Marburg 1975
Dewey, John: Imitation in Education. In: Monroe, P. (Hrsg.): A Cyclopedia of Education. 3. Bd. New York 1912
Dewey, John: Democracy an Education. New York 1916
Dewey, John: Individuality in Education. In: General Science Quarterly.7. Bd. Heft 3. März 1923
Dewey, John: The Development of American Pragmatism. In: Studies of the History of Ideas. 2. Bd. New York 1963
Prengel, Annedore: Plädoyer für eine Pädagogik der Vielfalt
Prengel, Annedore: Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer
Pädagogik. Opladen 1995
Ramm, Philipp: Unsern Träumen auf der Spur. RKW 1997. Liedheft. Leipzig 1997
Tervooren, Anja: Der „verletzliche Körper“ als Grundlage einer pädagogischen Anthropologie. In: Lemmermöhle, Doris u.a. (Hrsg.):
Lesarten des Geschlechts. Opladen 2002
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