TK 7 Wirklichkeiten

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Wirklichkeiten (TK 7)
2007 - Küng
Hans Küng
Was ist der Sinn des Schöpfungsglaubens heute?
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Welchen Sinn also kann es heute noch haben hinsichtlich des Anfangs der
Welt nicht nur – naturwissenschaftlich – von einem Urknall, von Weltmodellen
und Kosmostheorien zu reden, sondern auch mit vollem Recht – theologisch –
von einem Gott, der den Kosmos geschaffen hat, so wie es unzählige
Menschen von der Hebräischen Bibel her, also Juden, Christen und Muslime,
aber auch viele andere, immer wieder bekannt haben?
Der Schöpfungsglaube fügt dem Verfügungswissen, das die
Naturwissenschaft so unendlich bereichert hat, nichts hinzu; er bietet keine
naturwissenschaftlichen Informationen. Aber der Schöpfungsglaube schenkt
dem Menschen – gerade in einer Zeit der raschen wissenschaftlichen,
wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Revolutionen und deshalb der
Entwurzelung und der Orientierungslosigkeit – ein Orientierungswissen: Er
lässt den Menschen einen Sinn im Leben und im Evolutionsprozess
entdecken und vermag ihm Maßstäbe im Handeln und eine letzte
Geborgenheit in diesem unübersehbar großen Weltall zu vermitteln. Der
Mensch wird auch im Raumfahrtzeitalter, wenn er über die erstaunlichen
Resultate der Astrophysik nachdenkt und wie seit eh und je in den gestirnten
Nachthimmel hinausschaut, sich fragen: Was soll das Ganze? Woher das
Ganze? Aus dem Nichts? Erklärt denn das Nichts etwas? Gibt sich damit die
Vernunft zufrieden?
Die einzige ernsthafte Alternative...: das Ganze stammt nicht nur aus einem
Urknall, sondern einem Ur-sprung: aus jenem ersten schöpferischen Grund
der Gründe, den wir Gott, eben den Schöpfergott nennen. ...
Heute im Horizont der wissenschaftlichen Kosmologie an den Schöpfer der
Welt glauben heißt, in aufgeklärtem Vertrauen bejahen, dass Welt und
Mensch nicht im letzten Woher unerklärlich bleiben, dass Welt und Mensch
nicht sinnlos aus dem Nichts ins Nichts geworfen sind, sondern dass sie als
Ganzes sinnvoll und wertvoll sind, nicht Chaos, sondern Kosmos, weil sie in
Gott [...] eine erste und letzte Geborgenheit haben.
Erneut muss betont werden: Nichts zwingt einen Menschen zu diesem
Glauben. Er kann sich für ihn in aller Freiheit entscheiden! Hat er sich dafür
entschieden, dann allerdings verändert dieser Glaube seine Stellung in der
Welt, seine Einstellung zur Welt. Wer an den Gott als Schöpfer glaubt, kann
begründeterweise auch die Welt und den Menschen als Gottes Schöpfung
voll bejahen ...
Hans Küng, Der Anfang aller Dinge. Naturwissenschaft und Religion,
5. Auflage, München 2005, S.141-143. (gekürzt)
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Wirklichkeiten (TK 7)
Teilaufgaben:
Punkte
1.1
„Was ist der Sinn des Schöpfungsglaubens heute?“ –
Stellen Sie die Antwort des Autors in eigenen Worten dar.
8
1.2
Skizzieren Sie die Entwicklung des Weltbildes von der Antike bis zur
Gegenwart.
12
1.3
Der Mensch „kann sich für [den Schöpfungsglauben] in aller Freiheit
entscheiden! Hat er sich dafür entschieden, dann allerdings verändert dieser
Glaube seine Stellung in der Welt, seine Einstellung zur Welt.“ (Z. 30 ff.)
10
Erörtern Sie an einem Beispiel naturwissenschaftlicher Forschung in welcher
Weise der Glaube die „Einstellung zur Welt“ verändern kann.
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Wirklichkeiten (TK 7)
2007 - Küng
Lösungsvorschlag:
1.1
Küng möchte am Schöpfungslauben festhalten. Er führt folgende Argumente
an:
 Trotz aller naturwissenschaftlicher Erkenntnisse bleibt die Frage „Was
soll das Ganze? Woher das Ganze“ unbeantwortet.
 Der Glaube an den Schöpfergott ist die „einzige ernsthafte
Alternative“(Z.21) zum Nichts.
 Die Vernunft kann sich mit der Vorstellung der Weltentstehung aus
dem Nichts nicht zufrieden geben.
 Es ist richtig an einen „Ur-sprung“ zu glauben, der mehr ist als ein
„Urknall“.
 Dieser Glaube kann nicht bewiesen werden; er fügt den Informationen
der Naturwissenschaften kein gleichartiges „Verfügungswissen“ hinzu,
vielmehr bietet er „Orientierungswissen“.
 Vertrauen in den Schöpfergott ermöglicht dem Einzelnen, Sinn zu
entdecken (Welt ist „nicht Chaos, sondern Kosmos“ Z. 28), es gibt
Maßstäbe für das eigene Handeln an die Hand und vermittelt
Geborgenheit in einer unüberschaubaren Welt.
 In der Funktion der Orientierung behält der Schöpfungsglaube seine
überdauernde Aktualität, gerade angesichts großer Veränderungen im
„wissenschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen“ (Z.
11f.) Zusammenhang.
 Der Mensch kann sich frei für den Schöpfungsglauben entscheiden.
Dieser Glaube verändert allerdings seine „Stellung in der Welt, seine
Einstellung zur Welt.“ (Z. 32f.)
 Wer an den Schöpfergott glaubt kann die Welt und den Menschen
bejahen.
1.2
Die Schülerin / der Schüler soll die Hauptmerkmale der verschiedenen
Weltbilder in Grundzügen darstellen und Entwicklungslinien deutlich machen.
Folgenden Aspekte könnten beschrieben werden:



Die Griechen verstanden die Welt als harmonisch geordnetes,
räumlich endliches System mit der Erde als Mittelpunkt (Ptolemäisches
Weltbild). Alles unterliegt ewig wiederkehrenden Regeln und
Gesetzen, denen der Mensch unterworfen ist, die er aber teilweise
beobachten und erfassen kann.
Auch im Mittelalter wird das geozentrische Weltbild angenommen.
Jenseits der dreigeteilten Welt thront Gott, der Schöpfer der Welt, der
ihr einst auch das Ende bereiten wird. Der Mensch hat sich der ewigen
universalen Ordnung einzufügen, kann sie aber auch erkennen durch
Bibelstudium und die naturkundlichen Schriften des Altertums.
Mit der Entdeckung des heliozentrischen Weltbildes durch
Kopernikus (1543) und der Unendlichkeit des Raumes durch Giordano
Bruno (1548-1600) zerbricht das endliche dreistöckige Welthaus des
Mittelalters. Der Mensch verliert seine zentrale Stellung im Kosmos.
Durch Kepler wird das kopernikanische Weltbild berechenbar. Noch
gilt die Welt als kunstvolle Harmonie, die auf die Existenz eines
intelligenten Schöpfergottes schließen lässt.
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Wirklichkeiten (TK 7)


1.3
Zunehmend rückt Gott an den Rand der erkennbaren Wirklichkeit.
Laplace (1749-1827) z.B. sieht die Welt als Uhrwerk, das sich nach
vollkommenen und berechenbaren Gesetzen bewegt (Determinismus).
Gott als Hypothese zur Erklärung der Weltwirklichkeit ist nicht mehr
nötig, er verschwindet zunehmend aus der Naturwissenschaft. Glaube
wird zur Privatsache, ja sogar zum Aberglauben, der gegen die
Ersatzreligion Naturwissenschaft steht. Durch Wissenschaft und
Technik sieht sich der Mensch immer mehr als Herr und Eigentümer
der Natur.
Im 20. Jahrhundert gibt es kein allgemeingültiges Weltbild mehr, der
Optimismus bei der Suche nach der Weltformel, die alles erklärt, hat
sich relativiert. Verschiedene Modellvorstellungen stehen
nebeneinander. Solche Teil-Weltbilder (Paradigmen) sind z.B.
Relativitäts-, Quanten-, Chaos-, und Selbstorganisationstheorie. Ein
Weltbild im engeren Sinn ist das kosmologische, ein Weltbild im
weiteren Sinn die Evolutionstheorie. Die Welt ist kein abgeschlossenes
System mehr, sondern offener Prozess. Der Mensch ist Teil der Natur,
seine Geschichte ein Abschnitt des Evolutionsgeschehens.
Erwartet wird, dass der Schüler/die Schülerin ein selbstgewähltes Beispiel der
naturwissenschaftlichen Forschung (z.B. Stammzellenforschung, pränatale
Diagnostik, Atomkraft ) in seiner Problematik darstellt und daran ethische
Grundsätze durchdenkt, die sich aus dem christlichen Glauben ergeben.
Folgende Aspekte des Glaubens könnten berücksichtigt werden:








Ganzheitlichkeit der Welt als Schöpfung Gottes (Gen 1)
Würde alles Geschaffenen (Ps 104)
Einzigartigkeit des Menschen als Ebenbild Gottes (Gen 1,27f.; Ps 8)
Verantwortlichkeit des Menschen (Gen 1, 28; Gen 2, 15)
Schöpfung als Wunder (Ps 104)
Demut in Anerkennung der Grenzen, die dem Menschen gesetzt sind
(Gen 2,16f.)
Wirklichkeit als Herausforderung und Wagnis
u.a.
Der Schüler/die Schülerin sollte die Vielschichtigkeit der Problemstellung
erkennen und erörtern welche Konsequenzen sich aus den
Glaubensaspekten für den Umgang mit naturwissenschaftlicher Forschung
ergeben. Dabei kann z.B. das Credo der Machbarkeit um jeden Preis kritisch
hinterfragt werden, ebenso die ausschließliche Orientierung der Forschung
am Kommerz.
Deutlich werden sollte, dass der Glaube der Naturwissenschaft keinen
moralisch eindeutig richtigen Weg aufzeigen kann, sondern im Dialog immer
wieder neu herausgefunden werden muss, was dem Leben dient und wie man
christlicher Verantwortung gerecht wird.
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2007 - Küng
Hans Küng
Der Anfang aller Dinge
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Die Bibel beschreibt keine naturwissenschaftlichen Fakten, sondern deutet
sie, auch für unser gegenwärtiges menschliches Leben und Handeln. Beide
Sprach- und Denkebenen sind immer sauber zu trennen, sollen die fatalen
Missverständnisse der Vergangenheit auf beiden Seiten, der Wissenschaft
wie der Theologie, vermieden werden. Wissenschaftliche und religiöse
Sprache sind so wenig vergleichbar wie wissenschaftliche und poetische*.
Das heißt: Urknalltheorie und Schöpfungsglaube, Evolutionstheorie und Erschaffung des
Menschen widersprechen sich nicht, sie sind aber auch nicht zu
harmonisieren. ...
Nicht einen Kern des naturwissenschaftlich Beweisbaren hat unsere
Bibelinterpretation herauszuarbeiten, sondern das für Glauben und Leben
Unverzichtbare. Nicht die Existenz oder Überflüssigkeit Gottes hat die
Naturwissenschaft zu „beweisen“. Vielmehr hat sie die physikalische
Erklärbarkeit unseres Universums so weit wie ihr möglich (!) voranzutreiben
und zugleich Raum zu lassen für das physikalisch prinzipiell Unerklärbare.
Davon redet die Bibel.
Also keine Vermischung der beiden Sprachen: Bei der Sprache der Bibel
handelt es sich – wie der Physiker Werner Heisenberg formuliert – um eine
Sprache, „die eine Verständigung ermöglicht über den hinter den
Erscheinungen spürbaren Zusammenhang der Welt, ohne den wir keine Ethik
und keine Wertskala gewinnen könnten ... Diese Sprache ist der Sprache der
Dichtung näher verwandt als jener der auf Präzision ausgerichteten
Naturwissenschaft“. Daher bedeuten ja die Wörter in beiden Sprachen oft
etwas Verschiedenes: „Der Himmel, von dem in der Bibel die Rede ist, hat
wenig zu tun mit jenem Himmel, in den wir Flugzeuge oder Raketen
aufsteigen lassen. Im astronomischen Universum ist die Erde nur ein winziges
Staubkörnchen in einem der unzähligen Milchstraßensysteme, für uns aber ist
sie die Mitte der Welt – sie ist wirklich die Mitte der Welt. Die
Naturwissenschaft versucht, ihren Begriffen eine objektive Bedeutung zu
geben. Die religiöse Sprache aber muß gerade die Spaltung der Welt in ihre
objektive und ihre subjektive Seite vermeiden; denn wer könnte behaupten,
dass die objektive Seite wirklicher wäre als die subjektive. Wir dürfen also die
beiden Sprachen nicht durcheinander bringen, wir müssen subtiler** denken,
als dies bisher üblich war.“
Küng, H., Der Anfang aller Dinge, Naturwissenschaft und Religion, München 2005, 136 ff.
*dichterische
**feiner, sorgsamer, genauer
Wirklichkeiten (TK 7)
Teilaufgaben
1.
Hans Küng beschreibt, dass Glaube und Naturwissenschaft sich in
verschiedenen „Sprach – und Denkebenen“ bewegen und grenzt diese
gegeneinander ab. Geben Sie seine Position in eigenen Worten wieder.
2.
Vergleichen Sie das Weltverständnis von Gen 1 mit einem anderen antiken
bzw. altorientalischen Weltbild.
3.
„Urknalltheorie und Schöpfungsglaube, Evolutionstheorie und Erschaffung
des Menschen widersprechen sich nicht, sie sind aber auch nicht zu
harmonisieren. ...“ (Zeile XX)
Entwerfen Sie einen konstruktiven Dialog zwischen Glaube und
Naturwissenschaft anhand eines aktuellen Problemfeldes.
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Wirklichkeiten (TK 7)
2007 - Küng
Lösungsvorschlag
1.
Für Hans Küng unterscheidet sich die Bibel in ihrer Sprach- und Denkebene
deutlich von der Naturwissenschaft. Beide sind miteinander nicht in Einklang
zu bringen. Wird dies trotzdem versucht, sind fatale Missverständnisse nicht
zu vermeiden. Dies geschieht dann, wenn nicht berücksichtigt wird, dass die
Bibel keine naturwissenschaftlichen Fakten herausarbeiten will.
Die Bibel will eben diese Fakten für unser Leben und Handeln deuten. Damit
arbeitet sie das für unser Leben Unverzichtbare heraus. Es geht um den
Zusammenhang der Welt, die Ethik ermöglicht und Werte begründet.
Naturwissenschaft hingegen soll - soweit als möglich - das Universum
physikalisch erklären und mit einer präzisen Sprache ihren Begriffen eine
objektive Bedeutung geben. Es geht um die Beweisbarkeit des Erklärbaren,
aber - so Hans Küng – auch darum, dem Unerklärbaren Raum zu lassen.
Wichtig für das Verhältnis zwischen beiden ist, dass die religiöse Frage eine
Spaltung der Welt in objektiv und subjektiv nicht zulässt. Schließlich ist die
objektive Seite nicht wirklicher als die subjektive. Deshalb sind beide
Sprachen nicht durcheinander zu bringen – allerdings auch nicht zu
harmonisieren.
2.
Das Weltverständnis lässt sich an verschiedenen Aspekten aufzeigen.
Im Folgenden sind einige Beispiele aufgeführt.














Genesis 1:
Raumvorstellung: Dreiteilung (Himmel, Erde, Tiefe/Unterwelt).
Begrenzte Welt im Hinblick auf Chaos-Ordnung, oben-unten.
Weltentstehung durch das Prinzip Schöpfung durch das Wort;
Zeitvorstellung: linear mit Anfang und Ende,
Gottesbild: exklusiver Monotheismus, d.h. Jahwe als einer und
einziger Gott in der Geschichte seines Volkes,
Naturverständnis: entmythologisiert; Natur wird erforschbar
Menschenbild: Gottesebenbildlichkeit, Weltverantwortung des
Menschen.
U.a.
z.B.: altorientalisches Weltbild:
Raumvorstellung: Dreiteilung als Himmel, Erde und Unterwelt,
begrenzte Welt mit der auf der Urflut schwimmenden Erdscheibe und
dem Firmament darüber (Raum),
Weltentstehung aus Zeugung und Geburt bzw. aus Götterkampf;
Zeitvorstellung: zyklisch und ohne Ende (Zeit),
Gottesbild: (pantheistischer) Polytheismus, Erkenntnis der Götter in
den Naturkräften,
Naturverständnis: Natur ist göttlich und wird angebetet,
Menschenbild: Mensch ist den Naturgewalten unterworfen und erkennt
die göttlichen Mächte, ordnet sich unter, dient ihnen.
U.a.
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Wirklichkeiten (TK 7)
3.
Mögliche aktuelle Problemfelder:

Evolutionstheorie – Schöpfung, Urknalltheorie und Schöpfungsbericht,
Gentechnik – Eingriff in den Schöpfungsplan Gottes, Tierversuche –
Verantwortung des Menschen für die Kreatur, Intensivmedizin und
Sterbehilfe – Würde des Menschen, usw.

Die Antwort soll aufzeigen, dass er oder sie sich mit dem Diskurs
zwischen Glaube und Naturwissenschaft auseinandergesetzt hat und
diesen auf ein konkretes Beispiel anwenden kann.

Der Schüler/die Schülerin soll deutlich machen, dass er/sie den Ansatz
und die Unterschiedlichkeit von Glaube und Naturwissenschaft kennt
und um ihre jeweiligen Grenzen weiß.
Am gewählten Beispiel soll das Verhältnis zwischen Glaube und
Naturwissenschaft bestimmt werden.
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Wirklichkeiten (TK 7)
2012 - Lübking
Hans-Martin Lübking
Glaube und Wissen
Die atomare Bedrohung und die hemmungslose Ausbeutung der Erde durch den wissenschaftlichtechnologischen Fortschritt haben die Wissenschaftsgläubigkeit vergangener Zeiten gründlich
erschüttert. Die großen Umwälzungen vor allem in der Physik zu Anfang des 20. Jahrhunderts
haben gezeigt, dass die naturwissenschaftliche Beschreibung der Wirklichkeit nur einen möglichen
Zugang zur Wirklichkeit darstellt. Die alte Feindschaft zwischen Glaube und Naturwissenschaft
scheint der Vergangenheit anzugehören.
Die Wissenschaft hat es mit einem „abstrakten" Ausschnitt aus der uns umgebenden Wirklichkeit
zu tun, den sie prüfen, analysieren und beschreiben kann. Der Glaube bezieht sich auf die
komplexen Zusammenhänge, in denen wir tatsächlich leben.
Wenn Wissenschaftler glauben, Wissen könne Glauben ersetzen, dann sind sie unrealistisch.
Wenn Glaubende denken, aufgrund ihres Glaubens wüssten sie alles besser, dann sind sie
abergläubisch. Die Trennlinie verläuft heute nicht zwischen Glaube und Wissenschaft, sondern
zwischen solider und unseriöser Wissenschaft einerseits und zwischen falschem und wahrem
Glauben andererseits. Alles was ich wissen kann, hat mit Dingen dieser Welt zu tun, die ich
untersuchen und begreifen kann. Der Glaube dagegen gehört in eine andere Dimension unserer
Erfahrung der Welt. Er hat es mit dem zu tun, was transzendent ist, was die sichtbare Realität
umfasst und zugleich übersteigt. Der Glaube gehört zum unmittelbaren Erleben unseres Daseins,
das reicher, umfassender und vielfältiger ist als der prüfende und analytische Blick auf einen
definierten Ausschnitt der Natur, wie er für die Wissenschaft charakteristisch ist. Wenn nur das
wirklich ist, was sich beobachten, untersuchen und beweisen lässt, dann wäre das Leben arm,
dann würden wir die Welt, in der wir leben, auf einen schmalen Ausschnitt reduzieren. Der Glaube
ist darum mehr als Wissen, er ist eine umfassende Daseinsgewissheit.
Glauben und Wissen, Glauben und Vernunft gehören zusammen. Ohne Glauben ist die Vernunft in
Gefahr, anmaßend und überheblich zu werden. Unser Wissen ist begrenzt. Je mehr wir wissen,
wissen wir noch nicht, wozu es gut ist. Wissen allein ermöglicht noch kein verantwortungsvolles
Handeln. Die Vernunft ist kein Instrument, um die Rätsel des Daseins zu lösen, sondern um auf
dieser Erde menschlich und friedlich zusammenzuleben. Ohne Vernunft ist der Glaube in der
Gefahr, fanatisch und abergläubisch zu werden.
Lübking, H.-M., „Kursbuch christlicher Glaube" - Evangelische Perspektiven
Gütersloh 2009, S.35-37. (Text gekürzt)
Aufgaben:
1. Fassen Sie die Aussagen des Textes zusammen. ( 9 P.)
2. Erläutern Sie, wie die Wirklichkeit in der jüdisch-christlichen Tradition (Bibel) gedeutet wird. (12 P.)
3. „Glauben und Wissen, Glauben und Vernunft gehören zusammen". (Z. 28) Setzen Sie sich
mit dieser These auseinander, indem Sie ein eigenes Urteil entwickeln. ( 9 P.)
Wirklichkeiten (TK 7)
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Lösungshinweise
Aufgabe 1
Fassen Sie die Aussagen des Textes zusammen.
Die Teilaufgabe bezieht sich auf den Anforderungsbereich l.
Der Operator „zusammenfassen" verlangt von den Schülerinnen / den Schülern, dass sie die
Kernaussagen des Textes komprimiert und strukturiert darlegen.
Die zentrale Aussage des Textes ist, dass Glauben und Wissen, Glauben und Vernunft
zusammengehören. Im Text wird u. a. dazu ausgeführt:
 Vernunft und Wissenschaft beschäftigen sich nur mit Dingen, die überprüfbar, analysierbar
und beschreibbar sind.
Wissen und Vernunft ermöglichen noch kein verantwortungsvolles Handeln. Mit Vernunft
können die Rätsel unseres Daseins nicht gelöst werden. Unser Wissen ist begrenzt.
Ohne Glaube ist die Vernunft in Gefahr, überheblich zu werden.
 Der Glaube bezieht sich auf die komplexen Zusammenhänge, in denen wir leben. Er gehört
in eine andere Dimension unserer Erfahrung der Welt. Er hat damit zu tun, was die
sichtbare Realität umfasst und zugleich übersteigt.
Ohne Glauben würden wir die Welt auf einen schmalen Ausschnitt reduzieren und das
Leben wäre arm.
Ohne Vernunft ist der Glaube in Gefahr, fanatisch und abergläubisch zu werden.
 Deshalb gehören Glauben und Wissen, Glauben und Vernunft zusammen. Die Trennlinie
verläuft heute nicht zwischen Glaube und Wissenschaft, sondern zwischen solider und
unseriöser Wissenschaft einerseits und zwischen falschem und wahrem Glauben
andererseits.
Wissenschaftler sind unrealistisch, wenn sie glauben, dass das Wissen den Glauben
ersetzten könnte. Glaubende sind abergläubisch, wenn sie aufgrund ihres Glaubens
meinen, alles besser zu wissen.
Aufgabe 2
Erläutern Sie, wie die Wirklichkeit in der jüdisch-christlichen Tradition 12 (Bibel) gedeutet
wird.
Die Teilaufgabe bezieht sich auf den Anforderungsbereich II. Der Operator „erläutern" verlangt von
den Schülerinnen / den Schülern, dass sie nachvollziehbar veranschaulichen, wie die Wirklichkeit
in der jüdischchristlichen Tradition (Bibel) gedeutet wird.
Dies kann an verschiedenen biblischen Texten aufgezeigt werden, z.B. in Gen 1 und 2; PS. 8; PS
104:
 Die Wirklichkeit ist wohlgeordnete Schöpfung und Gabe Gottes.
 In der Wirklichkeit der Welt können wir im Glauben entdecken: Gott, dem ersten und
letztem Grund der Wirklichkeit, dürfen wir vertrauen. Dieses Angebot gilt uns auch heute.
 Herausforderung und Aufgabe des Menschen: „Weil die Schöpfung nicht in sich selbst
heilig ist, bedeutet ihre Erforschung keine Pietätlosigkeit; weil die Welt Gottes Schöpfung
ist, ist sie es wert erforscht zu werden". (Polkinghorne)
 Der Schöpfungsglaube geht deutlich über die naturwissenschaftlich erfassbaren
Zusammenhänge hinaus, ohne diese jedoch zu bestreiten.
 U.a.
Es können auch neutestamentliche Beispiele zur Erläuterung herangezogen werden z.B.:
 Joh8,12: Jesus, das Licht der Welt.
Wirklichkeiten (TK 7)


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Apk 21 und 22.
U.a.
Aufgabe 3
„Glauben und Wissen, Glauben und Vernunft gehören zusammen". (Z. 28) Setzen Sie sich
mit dieser These auseinander, indem Sie ein eigenes Urteil entwickeln.
Die Teilaufgabe bezieht sich auf den Anforderungsbereich III.
Der Operator „auseinandersetzen" verlangt von den Schülerinnen / den Schülern, dass sie ein
eigenes Urteil zur vorgegebenen These entwickeln.







Grundsätzlich kann darauf abgehoben werden, dass sowohl die Wissenschaften als auch
der Glaube Dimensionen der Wirklichkeit erfassen.
Beide sind auf ihrem Gebiet jeweils eigenständig.
Glaube ohne Wissen steht in der Gefahr, den Bezug zur Wirklichkeit zu verlieren.
Da Wissenschaften von ihrem Gegenstand und ihren Methoden her keine ethischen
Maßstäbe zu setzen vermögen, sind sie auf die Orientierung verwiesen, die ihnen auch der
biblische Glaube aufzeigen kann.
Ethische Normen können nicht aus wissenschaftlichen Voraussetzungen und mit
wissenschaftlichen Mitteln begründet und aufgestellt werden.
Ausgehend von der Gottebenbildlichkeit des Menschen und seiner darin begründeten
Würde, kann der biblische Glaube einen Beitrag zum verantwortlichen Umgang mit den
wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten der Wissenschaften leisten.
U.a.
Die Aufgabe kann unter Zuhilfenahme des Textes, aber auch nur durch Auseinandersetzung mit
der These bearbeitet werden. Der These kann auch widersprochen werden, dies sollte dann
begründet dargestellt werden.
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Wirklichkeiten (TK 7)
2015 - Vogelsang
Franz Vogelsang
Warum die Naturwissenschaften die Wirklichkeit nicht vollständig erklären können
Der christliche Glaube ist in der Moderne deutlich in die Defensive geraten. Die
naturwissenschaftliche Forschung, die in der Neuzeit unter der Prämisse „Als ob es Gott nicht
gäbe" die Welt mit immer genaueren Methoden erkundet, hat erhebliche Erfolge verzeichnen
können. Viele ihrer Erkenntnisse haben sich in hohem Maße bewährt. Kombiniert mit
Möglichkeiten der technischen Nutzung, haben sie unser Leben nachhaltig verändert, zum
Positiven wie zum Negativen. Diese Entwicklung hat aber nicht nur das alltägliche Leben
verändert, sondern auch unser Bild von der Welt. Im Laufe der Zeit wuchs mit der Erweiterung der
Handlungsmacht der kulturell (nicht wissenschaftlich!) vermittelte Eindruck, die Wirklichkeit sei
vollständig auf die wissenschaftliche Weise durch objektivierende Methoden zu erkennen. ...
Damit aber wurde der religiösen Deutung der Welt immer mehr der Boden entzogen. Als einziger
Fluchtpunkt blieb die Selbstdeutung des Subjekts, das sich durch objektivierende Methoden der
Naturwissenschaften nicht erfassen lässt. ...
Tatsächlich zeigt sich die Wirklichkeit in manchen Erscheinungsweisen als ein Gegenüber gerade
dann, wenn wir sie mit naturwissenschaftlichen Methoden erkunden. Doch darf diese begrenzte
Erscheinungsweise nicht mit der ganzen Wirklichkeit verwechselt werden. Denn auf eine andere
Weise erscheint die Wirklichkeit, wenn wir selbst stärker beteiligt sind. Dann erscheint die Wirklichkeit so, dass sie uns berührt. ...
Die gerade noch nüchtern ausgemessene Galaxie wird zu einem kleinen Teil des
atemberaubenden nächtlichen Himmels über uns. Wir erleben die Liebe eines Menschen nicht,
wenn wir auf die neuronalen Aktivitäten des Gehirns achten, sondern ihm oder ihr in die Augen
schauen. Wir erkennen die Atmosphäre eines Raumes nicht, wenn wir die Beleuchtungsstärke in
Lux messen, sondern wenn wir uns in ihn hineingeben, den Raum auf uns wirken lassen. In den
verschiedenen Dimensionen gibt es ein Mehr oder Weniger von „subjektiv" oder „objektiv", aber
nicht zwei getrennte Sphären: hier der Mensch, dort die Welt.
Es reicht nicht aus, sich allein auf die Extreme zurückzuziehen. Vielmehr sollten wir stärker auf die
Erscheinungsweisen aufmerksam werden, die zwischen den Extremen vermitteln. Hier ist ein
offenes Feld, das in unserer Kultur eher vernachlässigt wird. Deshalb ist eine Kultur zu fordern, die
sich darin übt, jene Zwischentöne und -räume zwischen dem rein Subjektiven und dem rein
Objektiven zu erkunden.
Diese unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Realität lassen sich nicht auf eine einzige und
vollständige Anschauung reduzieren. Auch jenseits der objektivierenden Methoden ist die
Wirklichkeit in vielfältiger Weise zu entdecken. Das sollte insbesondere die Aufgabe der Theologie
sein.
Nach: Vogelsang, F., Die Welt ist keine Kaffeetasse, Publik-Forum Nr. 2, 25.01.13, S. 31-33.
Aufgaben
1. Fassen Sie den Text von Franz Vogelsang zusammen. (9 P.)
2. Erklären Sie Wirklichkeit aus der Sicht einer Wissenschaft Ihrer Wahl. (12 P.)
3. Beurteilen Sie an einem Beispiel, ob ein Dialog zwischen Glaube und Wissenschaft
notwendig ist. (9 P.)
Wirklichkeiten (TK 7)
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Lösungshinweise
Zu Aufgabe 1:
Fassen Sie den Text von Franz Vogelsang zusammen. (9 P.)
Die Teilaufgabe bezieht sich auf den Anforderungsbereich l.
Der Operator „zusammenfassen" verlangt von den Schülerinnen / den Schülern, dass sie die
Kernaussage des Textes komprimiert und strukturiert darlegen.
Franz Vogelsang entfaltet in seinem Text „Warum die Naturwissenschaften die Wirklichkeit nicht
vollständig erklären können" folgenden Gedankengang:
 Der Autor stellt fest, dass in der Neuzeit die Wirklichkeitsdeutung der
naturwissenschaftlichen Forschung gegenüber dem christlichen Glauben erheblich an
Bedeutung gewonnen habe.
 Naturwissenschaftliche Methoden in Verbindung mit technischen Möglichkeiten hätten sich
bewährt und die Moderne sowohl positiv als auch negativ verändert.
 Das heutige Weltbild habe sich dadurch so gewandelt, dass eine religiöse Deutung der
Wirklichkeit ausgeschlossen, (zumindest erschwert werde) und ausschließlich mit
wissenschaftlich objektiven Methoden zu erklären sei.
 Ein Ausweg bleibe: Durch die Selbstdeutung des Subjekts sei eine religiöse Deutung der
Wirklichkeit möglich - allerdings unter Verzicht naturwissenschaftlicher Methodik.
 Der Autor warnt davor, eine mit naturwissenschaftlichen Methoden erkundete
Wirklichkeitssicht als ganze Wirklichkeit zu deuten.
 Nur wenn sich der Mensch als Teil der Wirklichkeit begreife, könne er Wirklichkeit anders
erleben, z.B. bei der Betrachtung des nächtlichen Himmels oder dem Erleben von Liebe.
 Theologie solle daher ihre Aufgabe darin sehen, das Entdecken der Wirklichkeit in
vielfältiger Weise zu unterstützen, um Zwischenräume zwischen dem rein Subjektiven und
dem rein Objektiven aufzuspüren.
 U.a.
Zu Aufgabe 2:
Erklären Sie Wirklichkeit aus der Sicht einer Wissenschaft ihrer Wahl. (12 P.)
Die Teilaufgabe bezieht sich auf den Anforderungsbereich II.
Der Operator „erklären" verlangt von den Schülerinnen/den Schülern, Wirklichkeit aus Sicht einer
Wissenschaft nachvollziehbar zu veranschaulichen.
Wirklichkeit wird von den Wissenschaften aus ihrer jeweiligen Sicht, mit speziellen Methoden,
eigenen Theorien und möglichen Intentionen erklärt.
Die Schülerin / der Schüler veranschaulicht die Sicht einer Wissenschaft auf die Wirklichkeit, nutzt
dazu ihr / sein Fachwissen und wendet dabei gelernte Inhalte an.
Mögliche Bezugsfelder:
 Naturwissenschaft
 Geisteswissenschaft
 Sozial- und Wirtschaftswissenschaft
 U.a.
Wirklichkeiten (TK 7)
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Zu Aufgabe 3:
Beurteilen Sie an einem Beispiel, ob ein Dialog zwischen Glaube und Wissenschaft
notwendig ist. (12 P.)
Die Teilaufgabe bezieht sich auf den Anforderungsbereich III.
Der Operator „beurteilen" verlangt von den Schülerinnen / den Schülern, dass sie sich unter
Verwendung von Fachwissen zur Notwendigkeit eines Dialogs zwischen Glaube und Wissenschaft
begründet positionieren.
Die Teilaufgabe muss mit Bezug auf ein Beispiel (Bioethik, Medizinethik, Kommunikationstechnik,
Mobilität, Umweltschutz, Globalisierung, Arbeit, ...) gelöst werden.
Die Aufgabenstellung führt die Schülerinnen / die Schüler zu einer Antwort auf eine
Entscheidungsfrage. Mögliche Argumente:
Antwortmöglichkeit „Ja",
 weil durch den Glauben Wertmaßstäbe, die das wissenschaftliche Arbeiten betreffen,
begründet sind.
 weil im Glauben eine kritische Instanz gegenüber anders lautenden Deutehorizonten
formuliert wird.
 u.a.
Antwortmöglichkeit „Nein",
 weil Wissenschaft um ihrer Selbstwillen geschieht.
 weil sie sich als Grundlagenforschung versteht.
 u.a.
Wird die Notwendigkeit eines Dialogs verneint, kann dennoch die Notwendigkeit eines Dialogs
zwischen Ethik und Wissenschaft ausgeführt werden.
Andere Begründungen sind möglich.
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