1 Wirklichkeiten (TK 7) 2007 - Küng Hans Küng Was ist der Sinn des Schöpfungsglaubens heute? 5 10 15 20 25 30 Welchen Sinn also kann es heute noch haben hinsichtlich des Anfangs der Welt nicht nur – naturwissenschaftlich – von einem Urknall, von Weltmodellen und Kosmostheorien zu reden, sondern auch mit vollem Recht – theologisch – von einem Gott, der den Kosmos geschaffen hat, so wie es unzählige Menschen von der Hebräischen Bibel her, also Juden, Christen und Muslime, aber auch viele andere, immer wieder bekannt haben? Der Schöpfungsglaube fügt dem Verfügungswissen, das die Naturwissenschaft so unendlich bereichert hat, nichts hinzu; er bietet keine naturwissenschaftlichen Informationen. Aber der Schöpfungsglaube schenkt dem Menschen – gerade in einer Zeit der raschen wissenschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Revolutionen und deshalb der Entwurzelung und der Orientierungslosigkeit – ein Orientierungswissen: Er lässt den Menschen einen Sinn im Leben und im Evolutionsprozess entdecken und vermag ihm Maßstäbe im Handeln und eine letzte Geborgenheit in diesem unübersehbar großen Weltall zu vermitteln. Der Mensch wird auch im Raumfahrtzeitalter, wenn er über die erstaunlichen Resultate der Astrophysik nachdenkt und wie seit eh und je in den gestirnten Nachthimmel hinausschaut, sich fragen: Was soll das Ganze? Woher das Ganze? Aus dem Nichts? Erklärt denn das Nichts etwas? Gibt sich damit die Vernunft zufrieden? Die einzige ernsthafte Alternative...: das Ganze stammt nicht nur aus einem Urknall, sondern einem Ur-sprung: aus jenem ersten schöpferischen Grund der Gründe, den wir Gott, eben den Schöpfergott nennen. ... Heute im Horizont der wissenschaftlichen Kosmologie an den Schöpfer der Welt glauben heißt, in aufgeklärtem Vertrauen bejahen, dass Welt und Mensch nicht im letzten Woher unerklärlich bleiben, dass Welt und Mensch nicht sinnlos aus dem Nichts ins Nichts geworfen sind, sondern dass sie als Ganzes sinnvoll und wertvoll sind, nicht Chaos, sondern Kosmos, weil sie in Gott [...] eine erste und letzte Geborgenheit haben. Erneut muss betont werden: Nichts zwingt einen Menschen zu diesem Glauben. Er kann sich für ihn in aller Freiheit entscheiden! Hat er sich dafür entschieden, dann allerdings verändert dieser Glaube seine Stellung in der Welt, seine Einstellung zur Welt. Wer an den Gott als Schöpfer glaubt, kann begründeterweise auch die Welt und den Menschen als Gottes Schöpfung voll bejahen ... Hans Küng, Der Anfang aller Dinge. Naturwissenschaft und Religion, 5. Auflage, München 2005, S.141-143. (gekürzt) 2 Wirklichkeiten (TK 7) Teilaufgaben: Punkte 1.1 „Was ist der Sinn des Schöpfungsglaubens heute?“ – Stellen Sie die Antwort des Autors in eigenen Worten dar. 8 1.2 Skizzieren Sie die Entwicklung des Weltbildes von der Antike bis zur Gegenwart. 12 1.3 Der Mensch „kann sich für [den Schöpfungsglauben] in aller Freiheit entscheiden! Hat er sich dafür entschieden, dann allerdings verändert dieser Glaube seine Stellung in der Welt, seine Einstellung zur Welt.“ (Z. 30 ff.) 10 Erörtern Sie an einem Beispiel naturwissenschaftlicher Forschung in welcher Weise der Glaube die „Einstellung zur Welt“ verändern kann. 30 3 Wirklichkeiten (TK 7) 2007 - Küng Lösungsvorschlag: 1.1 Küng möchte am Schöpfungslauben festhalten. Er führt folgende Argumente an: Trotz aller naturwissenschaftlicher Erkenntnisse bleibt die Frage „Was soll das Ganze? Woher das Ganze“ unbeantwortet. Der Glaube an den Schöpfergott ist die „einzige ernsthafte Alternative“(Z.21) zum Nichts. Die Vernunft kann sich mit der Vorstellung der Weltentstehung aus dem Nichts nicht zufrieden geben. Es ist richtig an einen „Ur-sprung“ zu glauben, der mehr ist als ein „Urknall“. Dieser Glaube kann nicht bewiesen werden; er fügt den Informationen der Naturwissenschaften kein gleichartiges „Verfügungswissen“ hinzu, vielmehr bietet er „Orientierungswissen“. Vertrauen in den Schöpfergott ermöglicht dem Einzelnen, Sinn zu entdecken (Welt ist „nicht Chaos, sondern Kosmos“ Z. 28), es gibt Maßstäbe für das eigene Handeln an die Hand und vermittelt Geborgenheit in einer unüberschaubaren Welt. In der Funktion der Orientierung behält der Schöpfungsglaube seine überdauernde Aktualität, gerade angesichts großer Veränderungen im „wissenschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen“ (Z. 11f.) Zusammenhang. Der Mensch kann sich frei für den Schöpfungsglauben entscheiden. Dieser Glaube verändert allerdings seine „Stellung in der Welt, seine Einstellung zur Welt.“ (Z. 32f.) Wer an den Schöpfergott glaubt kann die Welt und den Menschen bejahen. 1.2 Die Schülerin / der Schüler soll die Hauptmerkmale der verschiedenen Weltbilder in Grundzügen darstellen und Entwicklungslinien deutlich machen. Folgenden Aspekte könnten beschrieben werden: Die Griechen verstanden die Welt als harmonisch geordnetes, räumlich endliches System mit der Erde als Mittelpunkt (Ptolemäisches Weltbild). Alles unterliegt ewig wiederkehrenden Regeln und Gesetzen, denen der Mensch unterworfen ist, die er aber teilweise beobachten und erfassen kann. Auch im Mittelalter wird das geozentrische Weltbild angenommen. Jenseits der dreigeteilten Welt thront Gott, der Schöpfer der Welt, der ihr einst auch das Ende bereiten wird. Der Mensch hat sich der ewigen universalen Ordnung einzufügen, kann sie aber auch erkennen durch Bibelstudium und die naturkundlichen Schriften des Altertums. Mit der Entdeckung des heliozentrischen Weltbildes durch Kopernikus (1543) und der Unendlichkeit des Raumes durch Giordano Bruno (1548-1600) zerbricht das endliche dreistöckige Welthaus des Mittelalters. Der Mensch verliert seine zentrale Stellung im Kosmos. Durch Kepler wird das kopernikanische Weltbild berechenbar. Noch gilt die Welt als kunstvolle Harmonie, die auf die Existenz eines intelligenten Schöpfergottes schließen lässt. 4 Wirklichkeiten (TK 7) 1.3 Zunehmend rückt Gott an den Rand der erkennbaren Wirklichkeit. Laplace (1749-1827) z.B. sieht die Welt als Uhrwerk, das sich nach vollkommenen und berechenbaren Gesetzen bewegt (Determinismus). Gott als Hypothese zur Erklärung der Weltwirklichkeit ist nicht mehr nötig, er verschwindet zunehmend aus der Naturwissenschaft. Glaube wird zur Privatsache, ja sogar zum Aberglauben, der gegen die Ersatzreligion Naturwissenschaft steht. Durch Wissenschaft und Technik sieht sich der Mensch immer mehr als Herr und Eigentümer der Natur. Im 20. Jahrhundert gibt es kein allgemeingültiges Weltbild mehr, der Optimismus bei der Suche nach der Weltformel, die alles erklärt, hat sich relativiert. Verschiedene Modellvorstellungen stehen nebeneinander. Solche Teil-Weltbilder (Paradigmen) sind z.B. Relativitäts-, Quanten-, Chaos-, und Selbstorganisationstheorie. Ein Weltbild im engeren Sinn ist das kosmologische, ein Weltbild im weiteren Sinn die Evolutionstheorie. Die Welt ist kein abgeschlossenes System mehr, sondern offener Prozess. Der Mensch ist Teil der Natur, seine Geschichte ein Abschnitt des Evolutionsgeschehens. Erwartet wird, dass der Schüler/die Schülerin ein selbstgewähltes Beispiel der naturwissenschaftlichen Forschung (z.B. Stammzellenforschung, pränatale Diagnostik, Atomkraft ) in seiner Problematik darstellt und daran ethische Grundsätze durchdenkt, die sich aus dem christlichen Glauben ergeben. Folgende Aspekte des Glaubens könnten berücksichtigt werden: Ganzheitlichkeit der Welt als Schöpfung Gottes (Gen 1) Würde alles Geschaffenen (Ps 104) Einzigartigkeit des Menschen als Ebenbild Gottes (Gen 1,27f.; Ps 8) Verantwortlichkeit des Menschen (Gen 1, 28; Gen 2, 15) Schöpfung als Wunder (Ps 104) Demut in Anerkennung der Grenzen, die dem Menschen gesetzt sind (Gen 2,16f.) Wirklichkeit als Herausforderung und Wagnis u.a. Der Schüler/die Schülerin sollte die Vielschichtigkeit der Problemstellung erkennen und erörtern welche Konsequenzen sich aus den Glaubensaspekten für den Umgang mit naturwissenschaftlicher Forschung ergeben. Dabei kann z.B. das Credo der Machbarkeit um jeden Preis kritisch hinterfragt werden, ebenso die ausschließliche Orientierung der Forschung am Kommerz. Deutlich werden sollte, dass der Glaube der Naturwissenschaft keinen moralisch eindeutig richtigen Weg aufzeigen kann, sondern im Dialog immer wieder neu herausgefunden werden muss, was dem Leben dient und wie man christlicher Verantwortung gerecht wird. 5 Wirklichkeiten (TK 7) 2007 - Küng Hans Küng Der Anfang aller Dinge 5 10 15 20 25 30 Die Bibel beschreibt keine naturwissenschaftlichen Fakten, sondern deutet sie, auch für unser gegenwärtiges menschliches Leben und Handeln. Beide Sprach- und Denkebenen sind immer sauber zu trennen, sollen die fatalen Missverständnisse der Vergangenheit auf beiden Seiten, der Wissenschaft wie der Theologie, vermieden werden. Wissenschaftliche und religiöse Sprache sind so wenig vergleichbar wie wissenschaftliche und poetische*. Das heißt: Urknalltheorie und Schöpfungsglaube, Evolutionstheorie und Erschaffung des Menschen widersprechen sich nicht, sie sind aber auch nicht zu harmonisieren. ... Nicht einen Kern des naturwissenschaftlich Beweisbaren hat unsere Bibelinterpretation herauszuarbeiten, sondern das für Glauben und Leben Unverzichtbare. Nicht die Existenz oder Überflüssigkeit Gottes hat die Naturwissenschaft zu „beweisen“. Vielmehr hat sie die physikalische Erklärbarkeit unseres Universums so weit wie ihr möglich (!) voranzutreiben und zugleich Raum zu lassen für das physikalisch prinzipiell Unerklärbare. Davon redet die Bibel. Also keine Vermischung der beiden Sprachen: Bei der Sprache der Bibel handelt es sich – wie der Physiker Werner Heisenberg formuliert – um eine Sprache, „die eine Verständigung ermöglicht über den hinter den Erscheinungen spürbaren Zusammenhang der Welt, ohne den wir keine Ethik und keine Wertskala gewinnen könnten ... Diese Sprache ist der Sprache der Dichtung näher verwandt als jener der auf Präzision ausgerichteten Naturwissenschaft“. Daher bedeuten ja die Wörter in beiden Sprachen oft etwas Verschiedenes: „Der Himmel, von dem in der Bibel die Rede ist, hat wenig zu tun mit jenem Himmel, in den wir Flugzeuge oder Raketen aufsteigen lassen. Im astronomischen Universum ist die Erde nur ein winziges Staubkörnchen in einem der unzähligen Milchstraßensysteme, für uns aber ist sie die Mitte der Welt – sie ist wirklich die Mitte der Welt. Die Naturwissenschaft versucht, ihren Begriffen eine objektive Bedeutung zu geben. Die religiöse Sprache aber muß gerade die Spaltung der Welt in ihre objektive und ihre subjektive Seite vermeiden; denn wer könnte behaupten, dass die objektive Seite wirklicher wäre als die subjektive. Wir dürfen also die beiden Sprachen nicht durcheinander bringen, wir müssen subtiler** denken, als dies bisher üblich war.“ Küng, H., Der Anfang aller Dinge, Naturwissenschaft und Religion, München 2005, 136 ff. *dichterische **feiner, sorgsamer, genauer Wirklichkeiten (TK 7) Teilaufgaben 1. Hans Küng beschreibt, dass Glaube und Naturwissenschaft sich in verschiedenen „Sprach – und Denkebenen“ bewegen und grenzt diese gegeneinander ab. Geben Sie seine Position in eigenen Worten wieder. 2. Vergleichen Sie das Weltverständnis von Gen 1 mit einem anderen antiken bzw. altorientalischen Weltbild. 3. „Urknalltheorie und Schöpfungsglaube, Evolutionstheorie und Erschaffung des Menschen widersprechen sich nicht, sie sind aber auch nicht zu harmonisieren. ...“ (Zeile XX) Entwerfen Sie einen konstruktiven Dialog zwischen Glaube und Naturwissenschaft anhand eines aktuellen Problemfeldes. 6 Wirklichkeiten (TK 7) 2007 - Küng Lösungsvorschlag 1. Für Hans Küng unterscheidet sich die Bibel in ihrer Sprach- und Denkebene deutlich von der Naturwissenschaft. Beide sind miteinander nicht in Einklang zu bringen. Wird dies trotzdem versucht, sind fatale Missverständnisse nicht zu vermeiden. Dies geschieht dann, wenn nicht berücksichtigt wird, dass die Bibel keine naturwissenschaftlichen Fakten herausarbeiten will. Die Bibel will eben diese Fakten für unser Leben und Handeln deuten. Damit arbeitet sie das für unser Leben Unverzichtbare heraus. Es geht um den Zusammenhang der Welt, die Ethik ermöglicht und Werte begründet. Naturwissenschaft hingegen soll - soweit als möglich - das Universum physikalisch erklären und mit einer präzisen Sprache ihren Begriffen eine objektive Bedeutung geben. Es geht um die Beweisbarkeit des Erklärbaren, aber - so Hans Küng – auch darum, dem Unerklärbaren Raum zu lassen. Wichtig für das Verhältnis zwischen beiden ist, dass die religiöse Frage eine Spaltung der Welt in objektiv und subjektiv nicht zulässt. Schließlich ist die objektive Seite nicht wirklicher als die subjektive. Deshalb sind beide Sprachen nicht durcheinander zu bringen – allerdings auch nicht zu harmonisieren. 2. Das Weltverständnis lässt sich an verschiedenen Aspekten aufzeigen. Im Folgenden sind einige Beispiele aufgeführt. Genesis 1: Raumvorstellung: Dreiteilung (Himmel, Erde, Tiefe/Unterwelt). Begrenzte Welt im Hinblick auf Chaos-Ordnung, oben-unten. Weltentstehung durch das Prinzip Schöpfung durch das Wort; Zeitvorstellung: linear mit Anfang und Ende, Gottesbild: exklusiver Monotheismus, d.h. Jahwe als einer und einziger Gott in der Geschichte seines Volkes, Naturverständnis: entmythologisiert; Natur wird erforschbar Menschenbild: Gottesebenbildlichkeit, Weltverantwortung des Menschen. U.a. z.B.: altorientalisches Weltbild: Raumvorstellung: Dreiteilung als Himmel, Erde und Unterwelt, begrenzte Welt mit der auf der Urflut schwimmenden Erdscheibe und dem Firmament darüber (Raum), Weltentstehung aus Zeugung und Geburt bzw. aus Götterkampf; Zeitvorstellung: zyklisch und ohne Ende (Zeit), Gottesbild: (pantheistischer) Polytheismus, Erkenntnis der Götter in den Naturkräften, Naturverständnis: Natur ist göttlich und wird angebetet, Menschenbild: Mensch ist den Naturgewalten unterworfen und erkennt die göttlichen Mächte, ordnet sich unter, dient ihnen. U.a. 7 8 Wirklichkeiten (TK 7) 3. Mögliche aktuelle Problemfelder: Evolutionstheorie – Schöpfung, Urknalltheorie und Schöpfungsbericht, Gentechnik – Eingriff in den Schöpfungsplan Gottes, Tierversuche – Verantwortung des Menschen für die Kreatur, Intensivmedizin und Sterbehilfe – Würde des Menschen, usw. Die Antwort soll aufzeigen, dass er oder sie sich mit dem Diskurs zwischen Glaube und Naturwissenschaft auseinandergesetzt hat und diesen auf ein konkretes Beispiel anwenden kann. Der Schüler/die Schülerin soll deutlich machen, dass er/sie den Ansatz und die Unterschiedlichkeit von Glaube und Naturwissenschaft kennt und um ihre jeweiligen Grenzen weiß. Am gewählten Beispiel soll das Verhältnis zwischen Glaube und Naturwissenschaft bestimmt werden. 9 Wirklichkeiten (TK 7) 2012 - Lübking Hans-Martin Lübking Glaube und Wissen Die atomare Bedrohung und die hemmungslose Ausbeutung der Erde durch den wissenschaftlichtechnologischen Fortschritt haben die Wissenschaftsgläubigkeit vergangener Zeiten gründlich erschüttert. Die großen Umwälzungen vor allem in der Physik zu Anfang des 20. Jahrhunderts haben gezeigt, dass die naturwissenschaftliche Beschreibung der Wirklichkeit nur einen möglichen Zugang zur Wirklichkeit darstellt. Die alte Feindschaft zwischen Glaube und Naturwissenschaft scheint der Vergangenheit anzugehören. Die Wissenschaft hat es mit einem „abstrakten" Ausschnitt aus der uns umgebenden Wirklichkeit zu tun, den sie prüfen, analysieren und beschreiben kann. Der Glaube bezieht sich auf die komplexen Zusammenhänge, in denen wir tatsächlich leben. Wenn Wissenschaftler glauben, Wissen könne Glauben ersetzen, dann sind sie unrealistisch. Wenn Glaubende denken, aufgrund ihres Glaubens wüssten sie alles besser, dann sind sie abergläubisch. Die Trennlinie verläuft heute nicht zwischen Glaube und Wissenschaft, sondern zwischen solider und unseriöser Wissenschaft einerseits und zwischen falschem und wahrem Glauben andererseits. Alles was ich wissen kann, hat mit Dingen dieser Welt zu tun, die ich untersuchen und begreifen kann. Der Glaube dagegen gehört in eine andere Dimension unserer Erfahrung der Welt. Er hat es mit dem zu tun, was transzendent ist, was die sichtbare Realität umfasst und zugleich übersteigt. Der Glaube gehört zum unmittelbaren Erleben unseres Daseins, das reicher, umfassender und vielfältiger ist als der prüfende und analytische Blick auf einen definierten Ausschnitt der Natur, wie er für die Wissenschaft charakteristisch ist. Wenn nur das wirklich ist, was sich beobachten, untersuchen und beweisen lässt, dann wäre das Leben arm, dann würden wir die Welt, in der wir leben, auf einen schmalen Ausschnitt reduzieren. Der Glaube ist darum mehr als Wissen, er ist eine umfassende Daseinsgewissheit. Glauben und Wissen, Glauben und Vernunft gehören zusammen. Ohne Glauben ist die Vernunft in Gefahr, anmaßend und überheblich zu werden. Unser Wissen ist begrenzt. Je mehr wir wissen, wissen wir noch nicht, wozu es gut ist. Wissen allein ermöglicht noch kein verantwortungsvolles Handeln. Die Vernunft ist kein Instrument, um die Rätsel des Daseins zu lösen, sondern um auf dieser Erde menschlich und friedlich zusammenzuleben. Ohne Vernunft ist der Glaube in der Gefahr, fanatisch und abergläubisch zu werden. Lübking, H.-M., „Kursbuch christlicher Glaube" - Evangelische Perspektiven Gütersloh 2009, S.35-37. (Text gekürzt) Aufgaben: 1. Fassen Sie die Aussagen des Textes zusammen. ( 9 P.) 2. Erläutern Sie, wie die Wirklichkeit in der jüdisch-christlichen Tradition (Bibel) gedeutet wird. (12 P.) 3. „Glauben und Wissen, Glauben und Vernunft gehören zusammen". (Z. 28) Setzen Sie sich mit dieser These auseinander, indem Sie ein eigenes Urteil entwickeln. ( 9 P.) Wirklichkeiten (TK 7) 10 Lösungshinweise Aufgabe 1 Fassen Sie die Aussagen des Textes zusammen. Die Teilaufgabe bezieht sich auf den Anforderungsbereich l. Der Operator „zusammenfassen" verlangt von den Schülerinnen / den Schülern, dass sie die Kernaussagen des Textes komprimiert und strukturiert darlegen. Die zentrale Aussage des Textes ist, dass Glauben und Wissen, Glauben und Vernunft zusammengehören. Im Text wird u. a. dazu ausgeführt: Vernunft und Wissenschaft beschäftigen sich nur mit Dingen, die überprüfbar, analysierbar und beschreibbar sind. Wissen und Vernunft ermöglichen noch kein verantwortungsvolles Handeln. Mit Vernunft können die Rätsel unseres Daseins nicht gelöst werden. Unser Wissen ist begrenzt. Ohne Glaube ist die Vernunft in Gefahr, überheblich zu werden. Der Glaube bezieht sich auf die komplexen Zusammenhänge, in denen wir leben. Er gehört in eine andere Dimension unserer Erfahrung der Welt. Er hat damit zu tun, was die sichtbare Realität umfasst und zugleich übersteigt. Ohne Glauben würden wir die Welt auf einen schmalen Ausschnitt reduzieren und das Leben wäre arm. Ohne Vernunft ist der Glaube in Gefahr, fanatisch und abergläubisch zu werden. Deshalb gehören Glauben und Wissen, Glauben und Vernunft zusammen. Die Trennlinie verläuft heute nicht zwischen Glaube und Wissenschaft, sondern zwischen solider und unseriöser Wissenschaft einerseits und zwischen falschem und wahrem Glauben andererseits. Wissenschaftler sind unrealistisch, wenn sie glauben, dass das Wissen den Glauben ersetzten könnte. Glaubende sind abergläubisch, wenn sie aufgrund ihres Glaubens meinen, alles besser zu wissen. Aufgabe 2 Erläutern Sie, wie die Wirklichkeit in der jüdisch-christlichen Tradition 12 (Bibel) gedeutet wird. Die Teilaufgabe bezieht sich auf den Anforderungsbereich II. Der Operator „erläutern" verlangt von den Schülerinnen / den Schülern, dass sie nachvollziehbar veranschaulichen, wie die Wirklichkeit in der jüdischchristlichen Tradition (Bibel) gedeutet wird. Dies kann an verschiedenen biblischen Texten aufgezeigt werden, z.B. in Gen 1 und 2; PS. 8; PS 104: Die Wirklichkeit ist wohlgeordnete Schöpfung und Gabe Gottes. In der Wirklichkeit der Welt können wir im Glauben entdecken: Gott, dem ersten und letztem Grund der Wirklichkeit, dürfen wir vertrauen. Dieses Angebot gilt uns auch heute. Herausforderung und Aufgabe des Menschen: „Weil die Schöpfung nicht in sich selbst heilig ist, bedeutet ihre Erforschung keine Pietätlosigkeit; weil die Welt Gottes Schöpfung ist, ist sie es wert erforscht zu werden". (Polkinghorne) Der Schöpfungsglaube geht deutlich über die naturwissenschaftlich erfassbaren Zusammenhänge hinaus, ohne diese jedoch zu bestreiten. U.a. Es können auch neutestamentliche Beispiele zur Erläuterung herangezogen werden z.B.: Joh8,12: Jesus, das Licht der Welt. Wirklichkeiten (TK 7) 11 Apk 21 und 22. U.a. Aufgabe 3 „Glauben und Wissen, Glauben und Vernunft gehören zusammen". (Z. 28) Setzen Sie sich mit dieser These auseinander, indem Sie ein eigenes Urteil entwickeln. Die Teilaufgabe bezieht sich auf den Anforderungsbereich III. Der Operator „auseinandersetzen" verlangt von den Schülerinnen / den Schülern, dass sie ein eigenes Urteil zur vorgegebenen These entwickeln. Grundsätzlich kann darauf abgehoben werden, dass sowohl die Wissenschaften als auch der Glaube Dimensionen der Wirklichkeit erfassen. Beide sind auf ihrem Gebiet jeweils eigenständig. Glaube ohne Wissen steht in der Gefahr, den Bezug zur Wirklichkeit zu verlieren. Da Wissenschaften von ihrem Gegenstand und ihren Methoden her keine ethischen Maßstäbe zu setzen vermögen, sind sie auf die Orientierung verwiesen, die ihnen auch der biblische Glaube aufzeigen kann. Ethische Normen können nicht aus wissenschaftlichen Voraussetzungen und mit wissenschaftlichen Mitteln begründet und aufgestellt werden. Ausgehend von der Gottebenbildlichkeit des Menschen und seiner darin begründeten Würde, kann der biblische Glaube einen Beitrag zum verantwortlichen Umgang mit den wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten der Wissenschaften leisten. U.a. Die Aufgabe kann unter Zuhilfenahme des Textes, aber auch nur durch Auseinandersetzung mit der These bearbeitet werden. Der These kann auch widersprochen werden, dies sollte dann begründet dargestellt werden. 12 Wirklichkeiten (TK 7) 2015 - Vogelsang Franz Vogelsang Warum die Naturwissenschaften die Wirklichkeit nicht vollständig erklären können Der christliche Glaube ist in der Moderne deutlich in die Defensive geraten. Die naturwissenschaftliche Forschung, die in der Neuzeit unter der Prämisse „Als ob es Gott nicht gäbe" die Welt mit immer genaueren Methoden erkundet, hat erhebliche Erfolge verzeichnen können. Viele ihrer Erkenntnisse haben sich in hohem Maße bewährt. Kombiniert mit Möglichkeiten der technischen Nutzung, haben sie unser Leben nachhaltig verändert, zum Positiven wie zum Negativen. Diese Entwicklung hat aber nicht nur das alltägliche Leben verändert, sondern auch unser Bild von der Welt. Im Laufe der Zeit wuchs mit der Erweiterung der Handlungsmacht der kulturell (nicht wissenschaftlich!) vermittelte Eindruck, die Wirklichkeit sei vollständig auf die wissenschaftliche Weise durch objektivierende Methoden zu erkennen. ... Damit aber wurde der religiösen Deutung der Welt immer mehr der Boden entzogen. Als einziger Fluchtpunkt blieb die Selbstdeutung des Subjekts, das sich durch objektivierende Methoden der Naturwissenschaften nicht erfassen lässt. ... Tatsächlich zeigt sich die Wirklichkeit in manchen Erscheinungsweisen als ein Gegenüber gerade dann, wenn wir sie mit naturwissenschaftlichen Methoden erkunden. Doch darf diese begrenzte Erscheinungsweise nicht mit der ganzen Wirklichkeit verwechselt werden. Denn auf eine andere Weise erscheint die Wirklichkeit, wenn wir selbst stärker beteiligt sind. Dann erscheint die Wirklichkeit so, dass sie uns berührt. ... Die gerade noch nüchtern ausgemessene Galaxie wird zu einem kleinen Teil des atemberaubenden nächtlichen Himmels über uns. Wir erleben die Liebe eines Menschen nicht, wenn wir auf die neuronalen Aktivitäten des Gehirns achten, sondern ihm oder ihr in die Augen schauen. Wir erkennen die Atmosphäre eines Raumes nicht, wenn wir die Beleuchtungsstärke in Lux messen, sondern wenn wir uns in ihn hineingeben, den Raum auf uns wirken lassen. In den verschiedenen Dimensionen gibt es ein Mehr oder Weniger von „subjektiv" oder „objektiv", aber nicht zwei getrennte Sphären: hier der Mensch, dort die Welt. Es reicht nicht aus, sich allein auf die Extreme zurückzuziehen. Vielmehr sollten wir stärker auf die Erscheinungsweisen aufmerksam werden, die zwischen den Extremen vermitteln. Hier ist ein offenes Feld, das in unserer Kultur eher vernachlässigt wird. Deshalb ist eine Kultur zu fordern, die sich darin übt, jene Zwischentöne und -räume zwischen dem rein Subjektiven und dem rein Objektiven zu erkunden. Diese unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Realität lassen sich nicht auf eine einzige und vollständige Anschauung reduzieren. Auch jenseits der objektivierenden Methoden ist die Wirklichkeit in vielfältiger Weise zu entdecken. Das sollte insbesondere die Aufgabe der Theologie sein. Nach: Vogelsang, F., Die Welt ist keine Kaffeetasse, Publik-Forum Nr. 2, 25.01.13, S. 31-33. Aufgaben 1. Fassen Sie den Text von Franz Vogelsang zusammen. (9 P.) 2. Erklären Sie Wirklichkeit aus der Sicht einer Wissenschaft Ihrer Wahl. (12 P.) 3. Beurteilen Sie an einem Beispiel, ob ein Dialog zwischen Glaube und Wissenschaft notwendig ist. (9 P.) Wirklichkeiten (TK 7) 13 Lösungshinweise Zu Aufgabe 1: Fassen Sie den Text von Franz Vogelsang zusammen. (9 P.) Die Teilaufgabe bezieht sich auf den Anforderungsbereich l. Der Operator „zusammenfassen" verlangt von den Schülerinnen / den Schülern, dass sie die Kernaussage des Textes komprimiert und strukturiert darlegen. Franz Vogelsang entfaltet in seinem Text „Warum die Naturwissenschaften die Wirklichkeit nicht vollständig erklären können" folgenden Gedankengang: Der Autor stellt fest, dass in der Neuzeit die Wirklichkeitsdeutung der naturwissenschaftlichen Forschung gegenüber dem christlichen Glauben erheblich an Bedeutung gewonnen habe. Naturwissenschaftliche Methoden in Verbindung mit technischen Möglichkeiten hätten sich bewährt und die Moderne sowohl positiv als auch negativ verändert. Das heutige Weltbild habe sich dadurch so gewandelt, dass eine religiöse Deutung der Wirklichkeit ausgeschlossen, (zumindest erschwert werde) und ausschließlich mit wissenschaftlich objektiven Methoden zu erklären sei. Ein Ausweg bleibe: Durch die Selbstdeutung des Subjekts sei eine religiöse Deutung der Wirklichkeit möglich - allerdings unter Verzicht naturwissenschaftlicher Methodik. Der Autor warnt davor, eine mit naturwissenschaftlichen Methoden erkundete Wirklichkeitssicht als ganze Wirklichkeit zu deuten. Nur wenn sich der Mensch als Teil der Wirklichkeit begreife, könne er Wirklichkeit anders erleben, z.B. bei der Betrachtung des nächtlichen Himmels oder dem Erleben von Liebe. Theologie solle daher ihre Aufgabe darin sehen, das Entdecken der Wirklichkeit in vielfältiger Weise zu unterstützen, um Zwischenräume zwischen dem rein Subjektiven und dem rein Objektiven aufzuspüren. U.a. Zu Aufgabe 2: Erklären Sie Wirklichkeit aus der Sicht einer Wissenschaft ihrer Wahl. (12 P.) Die Teilaufgabe bezieht sich auf den Anforderungsbereich II. Der Operator „erklären" verlangt von den Schülerinnen/den Schülern, Wirklichkeit aus Sicht einer Wissenschaft nachvollziehbar zu veranschaulichen. Wirklichkeit wird von den Wissenschaften aus ihrer jeweiligen Sicht, mit speziellen Methoden, eigenen Theorien und möglichen Intentionen erklärt. Die Schülerin / der Schüler veranschaulicht die Sicht einer Wissenschaft auf die Wirklichkeit, nutzt dazu ihr / sein Fachwissen und wendet dabei gelernte Inhalte an. Mögliche Bezugsfelder: Naturwissenschaft Geisteswissenschaft Sozial- und Wirtschaftswissenschaft U.a. Wirklichkeiten (TK 7) 14 Zu Aufgabe 3: Beurteilen Sie an einem Beispiel, ob ein Dialog zwischen Glaube und Wissenschaft notwendig ist. (12 P.) Die Teilaufgabe bezieht sich auf den Anforderungsbereich III. Der Operator „beurteilen" verlangt von den Schülerinnen / den Schülern, dass sie sich unter Verwendung von Fachwissen zur Notwendigkeit eines Dialogs zwischen Glaube und Wissenschaft begründet positionieren. Die Teilaufgabe muss mit Bezug auf ein Beispiel (Bioethik, Medizinethik, Kommunikationstechnik, Mobilität, Umweltschutz, Globalisierung, Arbeit, ...) gelöst werden. Die Aufgabenstellung führt die Schülerinnen / die Schüler zu einer Antwort auf eine Entscheidungsfrage. Mögliche Argumente: Antwortmöglichkeit „Ja", weil durch den Glauben Wertmaßstäbe, die das wissenschaftliche Arbeiten betreffen, begründet sind. weil im Glauben eine kritische Instanz gegenüber anders lautenden Deutehorizonten formuliert wird. u.a. Antwortmöglichkeit „Nein", weil Wissenschaft um ihrer Selbstwillen geschieht. weil sie sich als Grundlagenforschung versteht. u.a. Wird die Notwendigkeit eines Dialogs verneint, kann dennoch die Notwendigkeit eines Dialogs zwischen Ethik und Wissenschaft ausgeführt werden. Andere Begründungen sind möglich.