Philosophisches Essay Theresa Fischer Wahrhaft ethisch ist der Mensch nur, wenn er der Nötigung gehorcht, allem Leben, dem er beistehen kann, zu helfen und sich scheut, irgendetwas Lebendigem Schaden zu tun. Er fragt nicht, inwiefern dieses oder jenes Leben als wertvoll Anteilnahme verdient oder auch nicht, ob und inwieweit es noch empfindungsfähig ist. Das Leben als solches ist ihm heilig. Er reißt kein Blatt vom Baume ab, bricht keine Blume und hat Acht, dass er kein Insekt zertritt … (Albert Schweitzer, Kultur und Ethik, München 1972, S. 331) Gehorchen Sie der Nötigung, allem Leben, dem Sie beistehen können, zu helfen? Scheuen Sie sich, irgendetwas Lebendigem Schaden zu tun? Fragen Sie nicht, inwiefern dieses oder jenes Leben als wertvoll Anteilnahme verdient? Fragen Sie auch nicht, ob und inwieweit es noch empfindungsfähig ist? Ist Ihnen das Leben heilig? Reißen Sie kein Blatt vom Baume ab, brechen Sie keine Blume und haben Sie Acht, dass Sie kein Insekt zertreten? Sind sie als Mensch wahrhaft ethisch? Sind Sie, oder besser noch sind wir, wahrhaft ethische Menschen in einer wahrhaft ethischen Welt und kann das eine überhaupt ohne das andere existieren? Was einen wahrhaft ethischen Menschen ausmacht, hat Albert Schweitzer so weit es ihm möglich war in seinem Werk Kultur und Ethik schon definiert. Viel ist dieser Definition an sich nicht hinzuzufügen, genau genommen bringt er ziemlich genau auf den Punkt, was einen solchen Menschen kennzeichnet. Die Frage, die man sich hierbei allerdings stellen muss, ist keine geringere als „Wie schaffte er es, eine solche Erklärung aufzustellen, ohne ein adäquates Beispiel dafür zu haben?“ Sein Bild dieses nahezu perfekten – nein – dieses perfekten Menschen, beruht größtenteils auf utopischen, in der wahren Welt grundsätzlich nicht existierenden Vorstellungen, die wir jedoch gerne erreichen würden. Man muss kein Attentäter sein, um nicht mehr als wahrhaft ethisch gelten zu können, kein Mörder, kein Vergewaltiger. Man muss nicht den Namen eines Tyrannen oder eines Diktators tragen, um wahrhaft amoralisch zu sein. Man muss nur das sein, als was man geboren wird, und als was man auch eines Tages wieder sterben wird. Man muss einfach nur ein Mensch sein. Ein Mensch, und soweit einem möglich, menschlich. Menschen machen Fehler. Es liegt in ihrer, in unserer Natur, denn wenn wir sie nicht machen würden, könnte man diesen Planeten genauso gut mit ferngesteuerten Robotern bevölkern. Der Endeffekt bliebe der gleiche. Und diese Fehler machen uns zu Vielem, aber unter anderem machen sie uns verletzlich. Und sobald ein Mensch, von sich selbst sagt, er sei verletzlich besitzt er die Fähigkeit Schmerz zu empfinden, ebenso wie die Fähigkeit anderen Schmerz zuzufügen. Es sind oftmals Kleinigkeiten, belanglose Lappalien, die den Status „wahrhaft ethisch“, den ein jeder wünscht zu tragen, zerstören. Wer denkt schon daran, dass das Pflücken einer Rose oder das eines Apfels dazu führen kann, uns diesen einen Wert zu nehmen. Sie sind genauso Lebewesen, wie die Menschen, die von einem Attentäter verletzt oder gar ermordet werden. Diesen einen wahrhaft ethischen Menschen, der Albert Schweitzers Utopia entsprechen würde, den gibt es nicht. Vor allem nicht hier, in dieser Welt. Anfangs stellte ich die Frage, ob es so etwas wie eine wahrhaft ethische Welt denn überhaupt gibt? Es gibt eine Welt, das ist unumstritten, schließlich leben wir alle in ihr, wahrhaft ethisch jedoch ist sie nicht, ist sie nie gewesen. Der Grund dafür sind wir. Philosophisches Essay Theresa Fischer Um das zu beweisen, reicht uns ein einziges Buch. Ein Buch würde genügen, um das Wunschdenken an eine utopische Welt ein für alle mal aus unseren Gedanken zu löschen. Ein einzelnes Buch. Wie sieht es denn aus, mit Ihren historischen Kenntnissen? Haben Sie in der Schule aufgepasst, oder sich etwa nur gesagt, was geschehen ist, ist geschehen und kann mir wahrlich am Buckel hinunterrutschen? Die Wahrheit jedoch ist, dass dort schwarz auf weiß, tausende, wenn nicht gar abertausende Gründe geschrieben, warum unsere Welt noch nie auch nur in die Nähe eines wahrhaft ethischen Lebens und Erlebens gekommen ist. Schwarz auf weiß. Jedoch sollten jene Seiten nicht die Farbe Weiß tragen, denn Weiß ist die Farbe der Unschuld. Rot sollten sie sein. Rot wie das Blut, mit dem die Schlachtfelder getränkt wurden, rot wie das Blut, das tapfere Soldaten für ihre Könige, ihr Vaterland, ihre Familien und Freunde vergossen haben, rot wie das Blut, mit dem wir unsere Grenzen gezogen haben. Schwarz auf rot. Rot, die Farbe der Liebe? Ja, das ist sie. Rot ist die Farbe der Liebe und zugleich auch jene der Aggression. Getrennt und doch in gewisser Weise inniger, als irgendetwas anderes sonst. Irgendwo habe ich einmal gelesen „Lieben heißt Zerstören“. Kurz, prägnant und äußerst wortgewaltig und aussagekräftig; das sind die Eigenschaften, die diesen Satz beschreiben. Wir kämpfen nie, weil wir einfach nur kämpfen wollen. Unser Kämpfen hat stets einen Hintergrund, einen Sinn. Wir kämpfen für jemanden, den wir verehren, wir kämpfen mit jemandem, den wir vergöttern, wir kämpfen für etwas, das uns wichtig ist, wir kämpfen um etwas, das wir nicht verlieren wollen. Wir kämpfen, weil wir lieben. Wir lieben unsere Familien, unsere Freunde, unser Land. Denn ohne diese Liebe würden wir nie auch nur in die Versuchung geraten, anderen etwas zu Leide zu tun. Gekämpft haben wir immer schon, getötet auch. Getötet haben schon die Neandertaler, getötet haben die Griechen, getötet haben die Römer, getötet haben die Germanen, getötet haben die Amerikaner, getötet haben die Chinesen, getötet haben wir. Wir alle sind Mörder hier auf Gottes Erden. Von den Selbstmordattentätern, die sich in die Luft sprengen und dabei auch noch unzählige, unschuldige Seelen aus dem Leben reißen, wollen wir erst gar nicht anfangen. Und Terroristen, die, zum größten Bedauern aller, wenn sie es darauf anlegen, die Fähigkeit haben, Tausenden einfach so das Lebenslicht auszublasen, weil sie mit dem derzeitig Bestehendem unzufrieden sind. Wir wissen alle über sie Bescheid, über die schrecklichsten Zeiten, durch die wir gegangen sind und über die schrecklichen Dinge, die geschehen sind. Es bedarf keiner genauen Schilderung, die Tatsache allein, dass so etwas schon geschehen ist und jederzeit auch wieder geschehen kann, soll uns nur betroffen machen. Betroffen machen und von unserer Überzeugung abbringen, dass wir in einer wahrhaft ethischen Welt leben. Doch es sind nicht nur wir Menschen allein, die für diese Amoral sorgen, von der hier die ganze Zeit die Rede ist. Es ist die Welt selbst, unser Mutter Erde, sie trägt genauso zu der Amoral bei, wie ihre Bewohner. Weswegen sonst, leben wir nicht alle den gleichen Lebensstandard? Wir alle sind Menschen dieser Welt, egal ob schwarz, weiß, rot oder gelb. Und wir alle leben inmitten von Leben, das Leben will. Wir alle sind umgeben von Lebendigem, egal ob es sich um Menschen, Tiere oder Pflanzen handelt. Wertigkeit sollte es keine geben – sollte, denn wie wir zu gut wissen, gibt es sie. Auf der einen Seite stehen wir, die westliche Welt, denen es gut geht, wie man annimmt. Auf der anderen Seite stehen sie, die Bewohner der dritten Welt, die des schwarzen Kontinents, denen es an allen Ecken und Enden an dem fehlt, was sie zum Leben benötigen. Wo bleibt da die Gerechtigkeit, frage ich? Philosophisches Essay Theresa Fischer Weswegen sonst, käme es immer wieder aufs Neue zu Naturkatastrophen, die uns dann auch noch das Letzte nehmen, was wir noch besitzen. Erdbeben, Wirbelstürme, Vulkanausbrüche, Lawinenabgänge – Was will unsere Mutter Erde uns hiermit sagen? Ist es Rache, oder ist unser Planet an sich, nichts anderes als wir? Ein Mensch, mit der Fähigkeit Fehler zu machen. Ein Mensch, der verletzlich ist und deshalb auch verletzen kann? – Wahrscheinlich ist sie das, ja mit größter Wahrscheinlichkeit sogar ist sie das. Warum sollte sie auch anders sein als wir? Das Einzige, was hierbei in uns Unklarheit hervorruft ist die Tatsache, dass es in den meisten Fällen die Ärmsten der Armen trifft. Wo bleibt da die Gerechtigkeit, frage ich mich? Ist es bei ihnen auch Betroffenheit, die sich in ihren Gedanken breit macht? Betroffenheit, die einem bewusst macht, wonach wir ständig streben, was wir aber nie erreichen werden? Eingangs habe ich Ihnen die Frage gestellt, ob es einen wahrhaft ethischen Menschen gibt, einen wahrhaft ethischen Menschen in einer wahrhaft ethischen Welt und ob das eine überhaupt ohne das andere existieren kann. Erinnern Sie sich? Können Sie mir jetzt eine Antwort auf diese Frage geben, und ist diese Antwort die gleiche, die sie mir auch vor dem Lesen dieses Textes gegeben hätten? Nein, wir gehorchen der Nötigung, allem Leben, dem wir beistehen können, zu helfen. Nein, wir scheuen uns nicht, irgendetwas Lebendigem Schaden zu tun. Nein, wir fragen uns nicht, inwiefern dieses oder jenes Leben als wertvoll Anteilnahme verdient. Nein, wir fragen uns auch nicht, ob und inwieweit es noch empfindungsfähig ist. Nein, uns ist das Leben nicht heilig. Nein, wir reißen ein Blatt vom Baume ab, wir brechen eine Blume und wir haben keine Acht, dass wir ein Insekt zertreten. Nein, wir sind als Menschen nicht wahrhaft ethisch. Nein, wir sind keine wahrhaft ethischen Menschen, in keiner wahrhaft ethischen Welt, denn solange es uns Menschen, mit all unseren Fehlern und all unserer Liebe und alldem, was uns menschlich macht, gibt, wird es keine wahrhaft ethische Welt geben. Solange es Leben, inmitten von Leben, das leben will, gibt, wird die Menschheit niemals dem von Albert Schweitzer präzisierten Ideal entsprechen.