Wohnbedürfnisse Betrachten wir einmal die Anforderungen an die Wohnung unter zwei verschiedenen Aspekten: 1. Unter physiologischen und psychologischen Wohnbedürfnissen DIE PHYSIOLOGISCHEN WOHNBEDÜRFNISSE Physiologie: den organischen Lebensvorgängen entsprechend. In diese Gruppe fällt das Bedürfnis nach Licht, Luft und Sonne in der Wohnung. Das ist aber noch nicht alles: Den Bedürfnissen nach Schlaf - Ernährung - Hygiene - Regeneration - Aktivität entsprechen die Wohnfunktionen1 Schlafen - Körperpflege und Wäschepflege - Nahrungsmittelzubereitung und Essen - Entspannen - Arbeiten. Die ganze Wohnung kann man demnach in Bereiche aufteilen: etwa in den Kinderbereich, Eßbereich, Arbeitsbereich usw. DIE PSYCHOLOGISCHEN UND SOZIALEN WOHNBEDÜRFNISSE Diese entsprechen nicht den natürlichen Lebensgewohnheiten, sondern sind Werte, die in unserer Gesellschaft als Bedürfnisse anerkannt werden. Etwa: Das Bedürfnis nach Gemütlichkeit, Geborgenheit: Es wird z. B. durch die Anordnung einer Sitzgarnitur in einer geschützten Raumecke vermittelt. Bedürfnis nach Ruhe und Ungestörtheit: Mit der Einrichtung muß auch dafür gesorgt werden, daß sich jeder Bewohner in seine Privatsphäre zurückziehen kann, wo er ungestört ausrasten oder aktiv sein kann. Bedürfnis nach Geselligkeit: Üblicherweise erfüllt der Eßplatz die wichtigste Kommunikationszentrale in Familien. Moderne, funktionelle Arbeitsküchen, in denen kein Platz zum Plaudern einlädt, erzeugen dagegen bei den dort tätigen Familienangehörigen Unbehagen und Isolationsgefühle. Bedürfnis nach Selbstdarstellung: Die Wohnung hat das Auto längst als Statussymbol abgelöst. Eine schöne Wohnung dient auch zur Repräsentation vor Bekannten und Kollegen. Bedürfnis nach Selbstverwirklichung: „Der Begriff ‚Wohnfunktion’ bezeichnet ... Aktivitäten (wie z.B. Wohnung reinigen ...) aber auch Passivitäten (wie z.B. ruhen, schlafen ...), die von Personen in der Wohnung, aber auch in der Wohnumwelt, angestrebt und wahrgenommen werden, um dadurch zugrundeliegende Bedürfnisse befriedigt zu bekommen.“ (Lukat, 1975, S. 114) 1 Jedes Familienmitglied verwirklicht seine Vorstellungen. Das kann z. B. bedeuten, daß die Einrichtung nicht aus einer einheitlichen Möbelserie zusammengestellt wurde, sondern mehrere Stile nebeneinander für Vielfalt sorgen. Selbstverwirklichung kann auch bedeuten, daß die Mutter eine Arbeitsecke hat, in der sie ihre Näharbeiten unaufgeräumt liegen lassen kann, daß es im Kinderzimmer eine Wand gibt, auf der gemalt oder gezeichnet werden darf, daß im Jugendlichenzimmer auch jene Gegenstände aufgehängt oder aufgestellt werden dürfen, die nicht unbedingt dem elterlichen Geschmack entsprechen. Mit der Verwirklichung der ureigensten Wünsche beginnt das eigentliche Wohnen. Das sollte man bei der Planung von vornherein mit berücksichtigen.“ (Entnommen aus: Wir wohnen, Wohnen Wir? TR-Verlagsunion) 2. Unter der Funktionsgliederung menschlicher Aktivitäten und menschlicher Wohnbedürfnisse Vier Bereiche: 1. Kommunikationsbereich 2. Individualbereich 3. Hygienebereich 4. Hobbybereich. Zu: 1. Kommunikationsbereich Man muß ihn in zwei Teilen sehen, nämlich in dem „Funktionskreis Interaktion“ und dem „Funktionskreis Hauswirtschaft“. Funktionskreis Interaktion Entspannen, spielen, essen, trinken, tanzen, Kommunikation, Information, hören, genießen, Gäste- und Freundebesuch. Der Kommunikationsbereich sollte daher im Idealfall einen großen gemeinsamen Wohnraum und wenigstens einen Kinderspielraum besitzen. Außerdem muß ein Eßplatz vorhanden sein. Der Eßplatz verbindet den Funktionskreis Interaktion mit dem Funktionskreis Hauswirtschaft. Funktionskreis Hauswirtschaft: Dort geschieht Kochen, Spülen, Waschen, Reinigen, Bügeln, Vorbereiten, Unterbringung, Reparieren, Hobbykochen, Kinderaufsicht. Die offene Küche bezieht die Frau stärker in das Geschehen der Familie mit ein. Von allen hauswirtschaftlichen Tätigkeiten ist das Kochen die einzige, die eventuell zum Hobby werden könnte - in der Freizeit auch für den Mann. Zu: 2. Individualbereich Funktionskreis Information, Lernen, Schlafen Schlafen, entspannen, sexuelle Aktivitäten, lesen, schreiben, hören, telefonieren, unterhalten, Besuche empfangen, spielen. Um eine freie Selbstentfaltung jedes Bewohners zu gewährleisten, muß jede Wohnung neben dem Kommunikationsbereich einen Individualbereich enthalten Dieser Individualbereich besteht aus Separationsräumen für je eine Person. Geht man von dem sozialen Wohnungsbau aus, in dem für jede Person etwa 25 qm vorgesehen sind, so kann man sich einen Separationsraum von etwa 10 bis 12 qm vorstellen. Jedes Kind wird also in Zukunft - wenn wir diese ideale Forderung befolgen - ein Zimmer haben. Wir glauben nicht, daß sich die Vorstellungen vom Allraum durchsetzen können. Der Individualbereich wird sich profilieren. Der Individual- und Schlafbereich müßte der einzige sein, bei dem die Flexibilität, die Möglichkeit der Einbeziehung in den Gesamtraum ausgeschlossen ist. Zu: 3. Hygienebereich Funktionskreis Rehabilitation Körperpflege, Sport treiben, ruhen, meditieren, sexuelle Kontakte, vielleicht auch hören, sehen, lesen. Den Hygienebereich sollten wir erweitern zu einer Rehabilitationszone. Das Badezimmer wird auch zum Vergnügungsraum, in dem sich die Menschen nach dem Bad länger aufhalten. Zu: 4. Hobbybereich Hobby muß einbezogen werden in den Interaktionsbereich, wenn es gesellig ist, oder in den Individualbereich, wenn es individuell gesehen wird. Diese Bereiche erhalten nun eine unterschiedliche Wertung, die aus den unterschiedlichen Verhaltensformen der Bewohner abgeleitet werden kann. Individuelle Verhaltensorientierung Die Wohnaktivitäten unterliegen wie alle Aktivitäten einer Verhaltensorientierung des einzelnen Menschen. Man kann etwa sechs Haupt- oder Grundtypen und viele Typenkombinationen definieren. 1. Der produktionsorientierte Typ (P) Der P-Typ ist der Selbermacher. Er legt Wert darauf, Speisen selbst zuzubereiten, selbst einzukochen und selbst zu waschen. Der P-Typ neigt zur aktiven Freizeitbeschäftigung wie Basteln, Werken, Wohnungsveränderungen usw. 2. Der Konsumtionstyp (K) Der K-Typ neigt zur passiven Freizeitbeschäftigung wie Lesen, Fernsehen, Unterhaltung. Der K-Typ reduziert die Eigenleistung im Haushalt auf das notwendigste Minimum. Beim Kochen werden die Angebote an vorgefertigten Zutaten und an Fertiggerichten weitgehend ausgenutzt. Die Wäsche gibt er aus. 3. Der gemeinschaftsorientierte Typ (G) Der G-Typ tendiert dazu. die Aktivitäten in der Wohnung soweit wie möglich gemeinsam mit den anderen Mitgliedern durchzuführen. Die Hausarbeit ist für den G-Typ integrierter Bestandteil des Familienlebens. 4. Der separationsorientierte Typ (S) Der S-Typ führt viele Aktivitäten individuell und möglichst räumlich getrennt durch. Die Kommunikation wird auf ein gewünschtes Maß reduziert. Der S-Typ gibt dem abgetrennten Individualbereich besondere Bedeutung. 5. Der öffentlichkeitsorientierte Typ (Ö) Der Ö-Typ sucht den Bezug zu der die Wohnung umgebenden Umwelt und hat ein hohes Maß an Kommunikation mit anderen Personen innerhalb der Wohnung. Er empfängt gerne Besuche. 6. Der privatheitsorientierte Typ (PV) Der PV-Typ vollzieht Kommunikation mit nicht zum Haushalt gehörigen Personen überwiegend nicht In der Wohnung. Er sucht weniger Bezug zur Umwelt, hält die Wohnung abgeschlossen nach außen. Natürlich gibt es bei einer so klar fixierten Typendarstellung Überschneidungen. Es sind viele Kombinationen möglich. Die Bewohner einer Wohnung sind nicht in erster Linie Konsumenten von Schlaf, von Lebensmitteln und Freizeitunterhaltung. Sie sind eine Gruppe, die unter sich, mit Bekannten und mit der Umwelt zu agieren versteht. Diese Erkenntnisse müssen zu einer besseren Organisation der Wohnwelt, zu mehr Wohnqualität führen. (Schricker, 1973, S. 370) Literaturhinweise zum Thema „Bedürfnisse“: Scherke, F.: Zur Psychologie der Bedürfnisse In: Jahrbuch der Absatz- und Verbrauchsforschung 9. Jg. 1963, S. 9-20 Laage, Gerhart; Herr, Max-Walter: Die Wohnung von heute für Ansprüche von Morgen Definition und Entwicklung eines deutschen Wohnungsstandards Gesellschaft für Wohnungs- und Siedlungswesen e.V. Hamburg GEWOS-Schriftenreihe NEUE FOLGE 5 Hamburg 1971 (Siehe: Abschnitt 4 Wohnbedürfnisse - Wohnverhalten, S. 49-68) Misra, Surya, Kant: Users’ Needs, Societal Patterns and Housing 1. Users’ Needs as a Concept in Housing 2. Impact of Societal Patterns on Housing Report 3: 1972 Department of Building Functions Analysis The Royal Institute of Technology, Stockholm Stockholm 1972 Burri, Robert: Wohnbedingungen und Wohnbedürfnisse - Ergebnisse einer empirischen Analyse iup2 Universität Stuttgart, Arbeitberichte des Instituts für Umweltplanung, Ulm, September 1971 2.unveränderte Auflage Ulm, Juni 1972 Patellis, Nikitas: Über Wohnbedürfnisse In: BM-Forum Baumeister, Heft 5, 1973, S. 581-594 REFA Methodenlehre des Arbeitsstudiums Teil 1 Kapitel 5 Menschliche Zusammenarbeit 5.1 Bedürfnisse und Verhaltensweisen des arbeitenden Menschen S. 144-147 München 1973 Siebel, Walter: Wohnbedürfnisse und Wohnbedürfnisforschung In: Schramke, Wolfgang; Strassel, Jürgen (Hrsg.) Wohnen und Stadtentwicklung Ein Reader für Lehrer und Planer Geographische Hochschulmanuskripte, Heft 7/1: 388 Seiten Oldenburg 1973 Schricker, E.A. Mensch und Technik in der Wohnung. In: Elektrizität, Heft 12, 1973, S. 370 Brock, Bazon: Die Frage nach den “Bedürfnissen” Am Beispiel der Wohnbedürfnisse In: Form, Nr. 79, 1973, S. 8-10 Nohl, Werner: Zur Ermittlung planungsrelevanter Bedürfnisse Dargestellt am Beispiel städtischer Freiräume In: Natur und Landschaft, 50. Jg., 1975, Heft 8/9, S. 228-236 Lukat, Angelika (Projektleitung): Untersuchungen von Wohnbedürfnissen unter den Bedingungen wissenschaftlich-technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels „Zukunftstrends der Wohnbedürfnisse“ Phase I: Analyse des Problembereichs (Arbeitsbericht) Forschungsbericht F 1295 im Auftrage des Bundesministers für Raumordnung Bauwesen und Städtebau. Heidelberg o.J. Lukat, Angelika (Projektleitung): Untersuchungen von Wohnbedürfnissen unter den Bedingungen wissenschaftlich-technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels Phase II: Bewertung und Kondensation alternativer Wohnbedürfniszukünfte Forschungsbericht F 1295/1 im Auftrage des Bundesministers für Raumordnung Bauwesen und Städtebau. Heidelberg Dezember 1975 Grandjean, Etienne et. al.: Wohnen im Neubau Verlag Paul Haupt Bern und Stuttgart 1976, S.9 - 10 Kaminski, Hans: Unterrichtsmodelle zur Verbraucherbildung in Schulen Modell 1: Bedürfnisse Verlag Julius Klinkhardt Bad Heilbrunn/Obb. 1981 Gasiet, Seev: Menschliche Bedürfnisse Eine theoretische Synthese Campus Verlag Frankfurt a. M. 1982 Schurig, Silvia: Zu einigen Grundtendenzen der Bedürfnisentwicklung im Bereich der Wohnung In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar 28. Jg., 1982, Heft 1, S. 43-47 Burckhardt, Lucius: Arbeiten-Wohnen: zwei gegensätzliche Lebensbereiche? 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Methoden Architektur- und Stadtsoziologischer Bedürfnisforschung S. 90–105 Köln, März 1991 Das Wohnen Vielfalt der Wohnbedürfnisse, auf die weder Politik noch Markt angemessen reagieren Verlag Jochen Rahe Zwingenberg/Bergstrasse 1995 Rughöft, Sigrid: Wohnökologie – Grundwissen Uni-Taschenbücher 1679 Verlag Eugen Ulmer Stuttgart 1992; S.14 - 18 Pfennig, Thomas: Bedürfnisse und Anforderungen … von Nutzern und Eigentümern beim Betrieb von Gebäuden In: Deutsche Bauzeitschrift (DBZ), Heft 11, 1997, S. 93-98 Leisenheimer, Gerhard: Der K®ampf mit den Bedürfnissen - Zwei einführende Lernspiele In: a+l, Nr. 67, S. 17-18 Technische Universität Darmstadt Fachbereich Architektur Fachgebiet Entwerfen und Hochbaukonstruktion I Professor Günther Pfeifer Diplom Wintersemester 1999/2000 WOHNVISIONEN Darmstadt, 2000, S. 12 – 22 Zeiller, Wolfgang: Analogiebildung in der Technik und Anwendungsbeispiele für den Unterricht In: tu 103 / 1. Quartal 2002, S. 14-21 Michaelis, Holger: Gestaltbezogene Anforderungen in der funktionalen Leistungsbeschreibung Herausgegeben vom Institut für Architektur- und Stadtforschung – IAS 8 Dissertation Hannover 1977 S. 64 – 66, S.214 - 215