Die Liebe gehört mir wie der Glaube

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Wichern
Die Liebe gehört mir wie der Glaube
Johann Hinrich Wichern zum 200. Geburtstag
In der Schlosskirche zu Wittenberg, in der Luther gepredigt hatte und in der er auch bestattet
worden ist, haben sich am 22. September 1848 über 500 Vertreter deutscher Landeskirchen
versammelt. Es ist der zweite Tag des Deutschen Evangelischen Kirchentages, der – ganz
dem politischen Streben nach nationaler Einheit in jener Zeit entsprechend – über den Zusammenschluss der Landeskirchen zu einem Kirchenbund beraten soll. Johann Hinrich Wichern, dessen 200. Geburtstag am 21. April begangen wird, ist eingeladen worden, hat seine
Teilnahme aber von der Bedingung abhängig gemacht, dass auch das Thema Innere Mission
auf die Tagesordnung des Kirchentags gesetzt würde. Dies geschah, und Wichern wird zu
diesem Thema Redezeit eingeräumt – mehr, als er erwartet hatte. So muss der gerade
40jährige eine Stegreifrede halten und löst durch eine leidenschaftliche Ansprache von 75
Minuten bei den Delegierten große Betroffenheit aus. 1848 – das ist das Jahr des Kommunistischen Manifests und der Revolution, in der die durch die Industrialisierung ausgelösten gewaltigen sozialen Spannungen ein bestimmender Faktor waren. Wichern geht in seiner Ansprache auf die politische und gesellschaftliche Situation ein und hält der Versammlung die
Schuld der Kirche vor, die das Proletariat vernachlässigt habe. Den erstaunten Kirchenvertretern berichtet er von dem Elend der Arbeiterfamilien, von den Verhältnissen unter den herumziehenden Handwerkern (wer die Orgien des Altertums kennt, kennt noch nicht, was da geschieht) und führt ihnen die offene Feindschaft der Arbeiter gegen Religion und Kirche vor
Augen – mit einem Vers Heinrich Heines: Fluch dem Gotte. Dem blinden, dem tauben / zu
dem wir vergebens gebetet im Glauben / auf den wir vergeblich gehofft und geharrt. / Er hat
uns gefoppt und genarrt. Solche Lästerungen seien die Folgen davon, dass die Kirche die religiösen Bedürfnisse der Arbeiter nicht befriedigt und sie allein gelassen habe. Das sei ein ernster Grund zur Neubesinnung und Umkehr. Die Kirche sei aufgerufen, die vernachlässigte Tat
der rettenden Liebe einzusetzen. Und dann formuliert er am Ende der mitreißenden Rede folgende Sätze: Es bedarf einer Reformation …aller unserer innersten Zustände…. Es tut eines
not, dass die ev. Kirche in ihrer Gesamtheit anerkenne: Die Arbeit der inneren Mission ist
mein! … Die Liebe gehört mir wie der Glaube! Die rettende Liebe muss ihr das große Werkzeug werden, womit sie die Tatsache des Glaubens erweist. Wicherns Rede überzeugte: In die
Verfassung des zu gründenden Kirchenbundes, aus dem dann allerdings erst 1922 etwas wurde, wird als Aufgabe formuliert: Förderung christlich-sozialer Zwecke, Vereine und Anstalten, insbesondere der inneren Mission. Ein Centralausschuss für die Innere Mission wird ins
Leben gerufen, der als organischer Mittelpunkt in der deutschen evangelischen Kirche das
jetzige und zukünftige Werk der rettenden Liebe in die Hand zu nehmen und namens der vereinten Kirchen in uns außer Deutschland weiterzuführen hat. Die protestantische Kirche wird
damit, was sie in dieser Weise noch nicht gewesen ist: eine wahrhaftige Volkskirche. Bestehende diakonische und missionarische Einrichtungen und in der Folgezeit zahlreiche Neugründungen sollten durch dieses Organ koordiniert und gegenüber dem Staat vertreten werden. Die Mitglieder des Centralausschusses gehörten ausschließlich der kirchlichen und politischen Restauration an, so der erste Präsident, Moritz August von Bethmann-Hollweg, Jura-
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professor, später Minister unter Wilhelm I von Preußen und erweckter Christ, der Großvater
des späteren Reichskanzlers Theobald von Bethmann-Hollweg, und Friedrich Julius Stahl,
Staatsrechtslehrer und Kämpfer für den christlichen Staat und gegen Liberalismus und Revolution. In der Denkschrift an die deutsche Nation mit dem Titel Die innere Mission der dt. ev.
Kirche, die Wichern im Auftrag von Bethmann-Hollweg 1849 verfasste, schlägt sich diese
Grundhaltung nieder, wobei Wichern selbst der „Restauration“ nicht zugerechnet werden
kann. Was dies aber für die Kirche, die innere Mission und das Ziel der Wiedergewinnung
des „Proletariats“ bedeutete, soll uns später noch einmal beschäftigen. - Jetzt möchte ich aber
den Mann vorstellen, der auf dem Wittenberger Kirchentag so viel hat bewegen können und
der damals in Deutschland schon sehr bekannt gewesen ist: Johann Hinrich Wichern.
Eine wichtige Quelle für seine Biographie sind Wicherns Tagebücher, die er im September
1826 mit einem ersten Eintrag begonnen hat. Einen Ausspruch Luthers setzt er seinen Aufzeichnungen voran: Cedo Nulli (ich weiche niemandem). Tagebuch schreiben will er, weil es
eines der besten Mittel ist, sich kennen zu lernen. Die Selbsterkenntnis soll helfen auszumerzen, was Gottes Willen nicht entspricht. Tut Buße ist darum die erste Seite seines Tagebuches
überschrieben.
Kindheit und Jugend
Wichern stammt aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Der Vater hatte eigentlich im Hamburger Hafen arbeiten wollen, erkrankte aber an Tuberkulose und war für diese Tätigkeit zu
schwach. Er schlug sich als Fuhrmann mit Gelegenheitsarbeiten durch, fand dann eine Anstellung als Schreiber bei einem Notar, erlernte Sprachen, wurde zum vereidigten Übersetzer bestellt und später sogar Kompagnon des Notars. 1807 hat er geheiratet – in schwieriger Zeit:
Hamburg war eines der stärksten Wirtschaftszentren Europas mit einem wohlhabenden Bürgertum. Mit dem Anwachsen der Industrialisierung gab es aber zugleich eine immer größere
Zahl unterbezahlter Arbeiter, die in großem Elend lebten und deren Kinder mitarbeiten mussten, bettelten und verwahrlosten. 1806 waren französische Truppen in Hamburg einmarschiert. Die 130 000 Bewohner wurden in das Kaiserreich Napoleons eingegliedert. In den
folgenden Jahren gab es Aufstände in der Stadt gegen die Franzosen. Die russische Armee
wartete auf eine günstige Gelegenheit, die Stadt einzunehmen. Die Nahrungsmittel wurden
knapp. Am 2. Weihnachtstag 1813 haben tausende Hamburger ihre Stadt verlassen, unter
ihnen auch der fünfjährige Johann Hinrich Wichern mit seinen Eltern und zwei Schwestern.
Nach der Abdankung Napoleons als Kaiser im April 1814 räumten die Franzosen die Stadt.
Die Hamburger strömten zurück. Am 1. Juni 1814 kamen auch die Wicherns wieder in Hamburg an. Die Familie wuchs weiter. Noch 4 Kinder wurden geboren. Wicherns Vater konnte
jedoch seine Frau und die sieben Kinder ohne größere Geldsorgen durchbringen. Aber - 1823
starb er. Jetzt änderte sich für die Familie und auch für den Ältesten der Kinder die soziale
Situation grundlegend. Er hatte zunächst eine Privatschule, deren Leiter von den Schulreformen Pestalozzis beeinflusst war, besucht. Nach einer groben Prügelstrafe hatte der Vater seinen Jungen aber 1818 in das von Luthers Freund Bugenhagen gegründete Johanneum geschickt, in ein Gymnasium mit zwei Abteilungen mit durchlässigen Grenzen, Fachklassen und
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einem altsprachlichen Schwerpunkt. Der neue Schüler wurde stark gefordert, seine Leistungen waren eher durchschnittlich; in Latein gut, in Mathematik schwach. Einer seiner Biographen meint, er gehörte zu den nordischen Naturen, deren geistige Entwicklung in den Knabenjahren nur langsam vorwärts geht. Mit dem Tod des Vaters wurde nun alles sehr schwierig. Wichern musste neben der anstrengenden Schule Kindern Privatunterricht geben, um die
Familie zu unterstützen. Allerdings kam er dadurch mit Menschen der gehobenen Gesellschaft, die von der Erweckungsbewegung geprägt waren, in Kontakt. Ohne sie wäre sein späteres Studium und dann auch Gründung des Rauhen Hauses nicht möglich geworden. Einer
von ihnen, Johannes Pluns, betrieb im heutigen Stadtteil Harvestehude eine private Erziehungsanstalt. Überzeugt von Wicherns Gewissenhaftigkeit und Glauben stellte dieser den
inzwischen Siebzehnjährigen als Erziehungsgehilfen ein. Die Aufgabe nahm ihn so in Anspruch, dass er das Johanneum Ostern 1826 verließ und sich am Akademischen Gymnasium
einschrieb. Dort bestand Anwesenheitspflicht nur für wenige Stunden in der Woche. Man
konnte sich so, ähnlich wie in unserem Abendgymnasium, auf das Universitätsstudium vorbereiten.
Durch sein Tagebuch wissen wir auch von der inneren Entwicklung, von Schuldgefühlen und
der spätpubertären Zerrissenheit, die Wichern in dieser Zeit plagte. Geholfen hat ihm der der
Erweckungsbewegung zuneigende Pastor Johannes Claudius, der Sohn des Wandsbeker
Schriftstellers Matthias Claudius. Die allerdings wieder schnell vergehende Liebe zu Mathilde
Repsold, der schönen 16jährigen Tochter eines Astronomen gehört in diese Zeit – und die
Gewissheit, dass das Studium der Theologie sein ihm bestimmter Weg ist.
Ein wichtiger Förderer vor dem Beginn des Studiums war der Geschichtsprofessor und Bibliothekar Karl Friedrich August Hartmann. Bei ihm begegnete er auch Amalie Sieveking, die
später einen Verein für weibliche Armen- und Krankenpflege gründen wird. Im Hause Hartmann hörte er auch von einem Rettungshaus in Weimar, dem Lutherhof, in dem der Schriftsteller Johannes Daniel Falk in den napoleonischen Kriegen heimatlos gewordenen und verwahrloste Jugendliche aufgenommen hat und sie im christlichen Sinne erziehen ließ. Die Idee
solcher Rettungshäuser, unter ihnen auch das von Zeller und Spittler gegründete in Beuggen,
haben Wichern fasziniert und waren eine entscheidende Triebfeder für die spätere Gründung
des Rauhen Hauses.
Studium und erste berufliche Tätigkeit
Im Oktober 1828 begann Wichern aber nun das Studium der Evangelischen Theologie in Göttingen. Mitgebracht hatte er hat das Empfehlungsschreiben eines von der Erweckungsbewegung bestimmten Berliner Kirchenhistorikers, August Neander, geboren als David Mendel,
der den Namen des Liederdichters angenommen hatte und den Wichern im Hause eines Gönners kennen gelernt hatte. Das Schreiben war an Friedrich Lücke gerichtet, der in Göttingen
Neues Testament, Dogmatik und Ethik las. Lücke vertrat die im 19. Jahrhundert verbreitete
Vermittlungstheologie, die von Schleiermacher beeinflusst war, die, um es knapp und verkürzt
zu sagen, zwischen Rationalismus und Suprarationalismus stand und in Wissen, Wissenschaft
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und Glauben keine sich ausschließende Gegensätze sah. Er prägte Wichern, der, im persönlichen Glauben der Erweckungsbewegung nahe, in der denkenden Durchdringung der Bibel
und der Glaubensinhalte eine sinnvolle Methode sah, um zum Verstehen der christlichen Botschaft zu kommen. Mit dieser Grundeinsicht hat er den heftigen Streit zwischen Liberalen und
Konservativen in der Kirche, der auch in Hamburg tobte, nie nachvollziehen können.
1830 wechselte Wichern nach Berlin, wo er vor allem Neander hörte. 1832 legte er dann sein
Examen ab – mit einer Examensarbeit in lateinischer Sprache und mit der Note gut. Er war,
wenn man es bewerten will, eher ein schlichter Theologe mit einer biblisch orientierten unspekulativen Theologie.
Nun war er Kandidat der Theologie und hatte das Recht zu predigen. Er wurde aber – Lehrer.
Der von der Erweckungsbewegung geprägte Pastor an der Hamburger Kirche St. Georg, Johann Wilhelm Rautenberg, hatte 1825 eine „Sonntagsschule“ gegründet, die eine wichtige
Lücke für Kinder aus verarmten Familien gebildet hat: Die Hamburger Armenanstalt bemühte
sich zwar, Kindern das Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen. Viele Kinder konnten
aber wochentags den Unterricht nicht besuchen, weil sie arbeiten mussten. In der Sonntagsschule konnten sie eine Grundbildung erhalten und zu gleich in Bibel und Katechismus eingeführt werden. Rautenberg berief Wichern als Oberlehrer. Der ordnete den Lehrstoff, bildete
Klassen, entwickelte Prüfungsanforderungen und berief monatlich eine Lehrerkonferenz ein.
Klar war ihm, dass die Wurzel der Verwahrlosung der Kinder im Elternhaus liegt. Darum
veranlasste er, dass alle Lehrenden, er selbst auch, in die Elternhäuser gingen und sich nicht
auf den Unterricht beschränkten. Er folgte damit dem Beispiel von Christen in den USA und
England, wo es schon solche Besuchsdienste gab. Die Besuchenden erlebten erschütternde
Verhältnisse! Davon berichtete er in einer zündenden Rede bei einer Jahreshauptversammlung
der Hamburger Sonntagsschulen – es gab inzwischen 2 Sonntagsschulen – vor 1000 Menschen. Unter den Zuhörern war auch eine junge Frau, Tochter aus einem bürgerlichen Haus
mit acht Geschwistern, Amanda Böhme. Sie besuchte Wichern am nächsten Tag und erklärt
sich bereit, in der Sonntagsschule mitzuarbeiten. Dort lernen sich Wichern und sie näher kennen und lieben. Beide waren von dem Gedanken erfüllt, eine „Rettungsanstalt“ für verwahrloste Kinder mit einer sozialen und zugleich missionarischen Zielsetzung zu gründen. Die
Mitarbeiter des Besuchsvereins teilten diese Gedanken. Und dann kam es ganz schnell zur
Verwirklichung des Projekts!
Das „Rauhe Haus“
1832 ging eine unerwartete Spende von 100 Reichstalern ein. Wenig später erhielt der Verein
das Vermögen eines verstorbenen Ehepaares – die stolze Summe von 17800 Mark. Wichern
lernte den Syndikus Karl Sieveking kennen. Der stellte ihm ein Anwesen im Stadtteil Horn
zur Verfügung; auf ihm stand ein Gebäude, das „Rauhes Haus“ genannt wurde. Sieveking ließ
das Haus renovieren, die Arbeit konnte beginnen. Wichern verfasst „Propositionen“, eine Art
Projektbeschreibung: Verwahrloste Kinder erhalten bis zur Konfirmation Zuflucht und die
nötige Erziehung. Im Mittelpunkt der Erziehung stehen nicht die Strafe, sondern die Verge-
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bung und die Möglichkeit „fortschreitender Besserung“. Die Einrichtung bleibt unabhängig
vom Staat. Ein Verwaltungsrat überwacht die Verwendung der Gelder überwachen und macht
Jahresberichten die Arbeit der Rettungsanstalt bekannt. Die Leitung liegt in der Hand eines
Vorstehers. - Es bestand Einigkeit, dass diese Aufgabe Wichern übernehmen soll. Vorgesehen
war für ihn ein Jahresgehalt von 2400 Mark. Das schien diesem aber zu hoch. Er war mit
1200 Mark und freier Unterkunft für ihn und seine Familie zufrieden. - Nach gründlicher Öffentlichkeitsarbeit kam es am 12. September 1833 zur Gründungsversammlung. Dabei stellte
Wichern die Konzeption des Hauses vor: In „Familien“, jede Familie nicht stärker als 12
Kinder, geleitet von einem erwachsenen elterlichen oder geschwisterlichen Freund sowie von
einem Lehrer sollen die Kinder Heimat finden und im Geist des Glaubens, der durch die Liebe sich tätig, geschäftig und wirksam erweiset, erzogen werden. Am Ende der Versammlung
konstituierte sich der Verwaltungsrat mit dem Vorsitzenden Sieveking. Wichern wurde zum
Vorsteher bestimmt. Am Reformationstag 1833 zogen Wichern, seine Mutter und zwei seiner
Geschwister in das Rauhe Haus. Am 8. November wurden die ersten Kinder aufgenommen.
Inzwischen hatte sich Wichern mit Amanda verlobt. Heiraten wollte er aber erst, wenn ein
Vorsteherhaus errichtet ist. Am 29. Oktober 1835 konnten die Beiden dann heiraten. Und
Amanda wurde so etwas wie die Mutter des bald wachsenden Werkes und hat Wichern später
in vielfacher Weise während seiner vielen Reisen im Auftrag des Centralausschusses der Inneren Mission vertreten. – Das Rauhe Haus entwickelte sich schnell zu einem Erfolgsmodell.
Zahlreiche Spenden gingen ein. Sie ermöglichten, dass allmählich ein kleines Dorf mit mehreren „Familien“ mit „Knabenfamilien“ und „Mädchenfamilien“, entstand. Ein großer Betsaal
mit Orgel konnte gebaut werden, eine Bibliothek, Unterrichtszimmer, eine Lehrerwohnung
wurden eingerichtet. Im Rauhen Haus hing auch der erste Adventskranz; Wichern gilt als sein
Erfinder.
Wichern erkannte bald, dass die Erziehung in seinem Werk professionell werden musste.
Schon 1834 stellte er zwei Erziehungsgehilfen ein, unter ihnen einen ehemaligen Bäckergesellen, der in der Armenanstalt Beuggen Erfahrungen gesammelt hatte. 1844 entstand dann
die „Brüderanstalt“, eine Ausbildungsstätte für Diakone. Die Bedeutung des Werkes wurde
auch vom Staat wahrgenommen. 1844 wurde Wichern von Friedrich Wilhelm IV empfangen
und konnte ihm vom Rauhen Haus berichten. Dieser stiftete dann die Ausbildung von sechs
„Brüdern“.
Die Ziele der Rettungsanstalt werden noch einmal deutlicher, wenn man sich das Erziehungskonzept vor Augen hält:
Erziehung ist für Wichern ein anderes Wort für „Rettung“. Sie hat ein religiöses Fundament,
schließt aber alle Lebensbereiche mit ein. In jedem Kind soll dessen Persönlichkeit und Eigentümlichkeit geachtet werden; seine individuellen Gaben sind zu fördern. Jedes Kind ist ein
„Heiligtum Gottes“, das allerdings in äußerer und innerer Verwahrlosung, durch die Sünde
zerstört wird. Zucht in unterschiedlichen Formen, aber auch Belohnungen sollen helfen, dass
ein Kind wieder zurechtkommt und zu dem findet, was es ist. Alles, auch Strafen, soll von
Liebe bestimmt sein.
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Im Einzelnen sieht das dann so aus:
In einem Begrüßungsritual wird ein Kind aufgenommen – mit dem Hinweis, dass es keine
Mauern und Riegel gibt, aber die schwere Kette der Liebe, deren Maß die Geduld ist.
Es folgt eine Art Noviziat, in dem das aufgenommene Kind zunächst von allen andern abgeschottet bleibt und erste anamnetische und diagnostische Maßnahmen erfolgen.
Die individuelle Förderung folgt, wie schon gesagt, in einer Familiengruppe, die aus dem Erzieher und maximal 12 Kindern besteht. Die einzelnen „Familien“ sollen, getrennt von einander, in kleinen Wohnhäusern leben.
In regelmäßigen Berichten wird über die Gruppe und über Fortschritte und Rückschritte der
Kinder Auskunft gegeben.
In einem Wochengespräch unter Leitung des Erziehers werden Erlebnisse und Erfahrungen
einer Woche in der Familie aufgearbeitet.
Dabei setzt Wichern auf die gegenseitige Erziehung der Kinder, die auf einander achten sollen.
Hohe Bedeutung hat die Arbeit: Die tägliche Arbeitszeit beträgt im Sommer neuneinhalb, im
Winter sechseinhalb Stunden. Dazu kommen zwei bis drei Stunden Unterricht. Dabei gibt es
Beurteilungen in „Fleißnoten“ auf einem Zettel, den jedes Kind haben und in der Familie
dann wieder abgeben muss.
Es ist deutlich, dass in diesem Konzept Individualisierung und Disziplinierung, die zur Selbstdisziplinierung führen soll, miteinander verbunden sind und zu einem Leben nach christlichen
und bürgerlichen Werten helfen wollen.
In den Jahren nach 1833 ist das Werk ständig gewachsen – mit Hilfe vieler Spenden und Unterstützungen durch wohlhabende Bürger Hamburgs und durch viele Besucher aus dem Inund Ausland. Auch eine eigene Druckerei warf Gewinne ab. Aber natürlich war es angesichts
der Verelendung in der Gesellschaft infolge der Industrialisierung nur ein Tropfen auf den
heißen Stein. So kam es dann zu dem flammenden Aufruf Wicherns auf dem Kirchentag von
1848, zur Gründung des Centalausschusses für die Innere Mission der deutschen evangelischen Kirche, damit zu einem Erwachen der diakonischen Verantwortung der Kirche – und zu
einem weiten Betätigungsfeld Wicherns.
Wicherns Werben für die Innere Mission
Schon vor dem Kirchentag war Wichern viel auf Reisen gewesen, um Kirchen und Gemeinde
auf ihre diakonische Verantwortung aufmerksam zu machen. Er machte dabei immer wieder
auch deprimierende Erfahrungen, die er nur mit Humor ertragen konnte. Vom Besuch einer
Pfarrkonferenz berichtete er z.B. so: Es kam mir vor wie vor dem ersten Schöpfungstag. Der
Geist Gottes schwebte über den Wassern – das Licht kam aber nicht! Nach der Gründung des
Centralausschusses beauftragte ihn dessen Präsident, wie schon berichtet, eine Denkschrift
über die Aufgaben der Inneren Mission zu verfassen. Nach ihr habe die Innere Mission das
Ziel, die Getauften wieder zu gewinnen und sich dort zu betätigen, wo Sünde, Verderben und
Elend epidemisch geworden sind. Auf staatlichem Gebiet habe sie gegen die Revolution zu
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kämpfen und die Gesellschaft vor Verbrechen zu schützen. Darum solle sie sich auch um
Strafgefangene und Entlassene kümmern. Reformen des Gefängniswesens seien dringend
erforderlich. In der Kirche müssten neue Formen gefunden werden, um die Getauften zu erreichen: Hausgottesdienste, Bibliotheken, Stadtmissionen, Sonntagsschulen, Vereine zur Verbreitung von Bibeln und Gesangbüchern u.a.m. werden in der Denkschrift vorgeschlagen.
Dem sittlichen Verfall der Gesellschaft solle Einhalt geboten werden – auch durch Anstalten
für gefährdete Frauen, durch Vereine gegen die Trunksucht u.ä. Armut und Elend seien zu
lindern, der Wert der Familie müsse gestärkt werden, Bildungs- und Frauenvereine sollen
gegründet werden. - Es ist deutlich, dass die meisten dieser Vorschläge in Vereinen neben und
in Verbindung mit den Gemeinden verwirklicht werden sollten. Das war damals nicht anders
möglich, hatte aber zur Folge, dass die Integration der Diakonie in die verfasste Kirche nicht
wirklich gelungen ist. Trotz anderer Ordnungen ein manchmal bis heute spürbares Problem! –
Die Denkschrift entfaltete mit ihrer Fülle von Anregungen eine fromme, friedliche und auch
staatlich akzeptierte Variante zu den revolutionären Bestrebungen jener Jahre, hatte darin aber
auch ihre Grenzen. Die Schicht der Arbeiter konnte jedenfalls, obwohl Manches im Kampf
gegen das Elend gelungen ist, nicht gewonnen werden.
Wichern war nun im Auftrag des Centralausschusses immer mehr unterwegs und besuchte
Gemeinden und diakonische Einrichtungen. Eine Reise führt ihn auch in die Elendsviertel
Londons; erschüttert von den Eindrücken kehrt er zurück. Im Rauhen Haus musste seine Frau
viele seiner Funktionen wahrnehmen. Die Stelle eines Inspektors, der ihn in der Leitung des
Werkes vertreten sollte, wurde geschaffen.
Im preußischen Staatsdienst
Dann gab es noch einmal eine entscheidende Wende in seinem Leben, von der ich nur noch in
Stichworten berichten kann: 1851 berief ihn Wilhelm IV zum Beauftragten der preußischen
Regierung für die Reform des Gefängniswesens. Bei Besuchen erkannte er die lasche Motivation der Aufseher. 1857 trat er als „Vortragender Rat der Strafanstalten und des Armenwesens“ in den preußischen Staatsdienst ein und wurde zum Evangelischen Oberkirchenrat in
Berlin berufen. 1858 gründete er in Berlin das Evangelische Johannesstift, ein zweites „Brüderhaus“, in dem, wie er schrieb, evangelische Männer jeden Standes in brüderlicher Liebe zu
gemeinsamer Arbeit in Wort und Werk unter Armen, Kranken, Gefangenen, Kindern sowie
unter der deutschen evangelischen Diaspora oder auf verwandten Arbeitsgebieten ausgebildet
werden sollten. Der Unterricht begann in einer Etagenwohnung. 6 Jahre später konnte in der
Nähe des Plötzensees ein Grundstück erworben und das Haupthaus errichtet werden. Im Johannesstift wurden dann auch Mitarbeiter für das Gefängniswesen ausgebildet. Wichern sah
die Gefängnisarbeit als Aufgabe der Inneren Mission, weil für ihn die ganze Gefangenenwelt
nichts Isoliertes war, sondern nur eine Frucht unseres im Innersten zerfallenen, weil vom
Wort und Gebot Gottes abgefallenen Volkslebens. - Während der Kriege 1864 (deutschdänischer Krieg), 1866 (Preußen gegen Österreich) und 1870/71 (Preußen gegen Frankreich)
wurden Felddiakone ausgebildet und entsandt. Die enge Verquickung von Glaube und Nation
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verhinderte bei Wichern eine kritische Haltung zum Krieg. Dabei blieb es auch, als sein Sohn
Louis 1871 infolge einer schweren Verwundung starb.
Die Gefängnisreform scheiterte am Ende. 1861 wurde Wilhelm I König von Preußen (3 Jahre
vorher hatte er schon die Regentschaft übernommen). Er wollte den kirchlichen Einfluss zurückdrängen. 1862 beschloss das Parlament, die Verträge mit dem Rauhen Haus nicht mehr
zu verlängern. Es gab keine öffentlichen Gelder mehr für die Ausbildung von Gefängnisaufsehern. 60 in Moabit tätige Brüder mussten ihren Dienst aufgeben. Immerhin blieben einige
Impulse der Reform erhalten: Zuchthausstrafen sollten verkürzt werden. Die Einzelhaft behielt Priorität. Frühzeitige Haftentlassungen wurden möglich. Der Gedanke der Besserung,
also der Resozialisierung, blieb mit der Strafe verbunden.
Letzte Lebensphase
Das Scheitern seiner Gefängnisreform machte Wichern müde. 1866 erlitt er einen Schlaganfall; seine linke Seite war zeitweise gelähmt. 1871 sprach er noch einmal vor dem Centralausschuss über die Mitarbeit der evangelischen Kirche an den sozialen Aufgaben der Gegenwart,
nun nicht mehr frei, inhaltlich aber mit gleicher Schärfe wie in früheren Jahren. Den Sozialismus und – ihm nur oberflächlich bekannten – Kommunismus erkennt er als Feind. Er ist
überzeugt, dass die Abschaffung des Privateigentums ohne sittliche Erneuerung nichts verändert, sondern nur in Anarchie führt. Gesellschaftliche Erneuerung kommt für ihn aus der Erneuerung des sittlichen Bewusstseins, dies führe dann auch zu einer Veränderung der Eigentumsverhältnisse. Dass hier Änderungen nötig sind, sieht er deutlich. Dem Adel liest er deutlich die Leviten. Das moderne Geld- und Börsenwesen prangert er an. - 1871 folgte ein weiterer Schlaganfall. Wichern zog sich jetzt weitgehend auf die Arbeit im Rauhen Haus zurück.
1873 wurde er auf eigenen Wunsch aus dem Staats- und Kirchendienst entlassen. Sein Sohn
Johann wurde zum Vorsitzenden des Verwaltungsrates des Rauhen Hauses gewählt. Den Vater plagten depressive Stimmungen. !874 traf ihn ein weiterer schwerer Schlaganfall mit einem neuen Schub seiner Depression. Ein jahrelanges Siechtum begann. In einer seiner letzten
Tätigkeiten fing er an er, das Lieblingsbuch der Bibel abzuschreiben, das Johannesevangelium. Am 7. April 1881 starb er im Kreis seiner Familie.
Würdigung
Ich schließe mit einer kurzen Würdigung der Person und des Lebenswerkes Wicherns aus
heutiger Sicht:
Dass Glaube und tätige Liebe zusammengehören, ist eine bleibende Erinnerung für das Verständnis des christlichen Glaubens und für das Leben in ihm.
Wichtig bleibt auch, dass die Praktizierung dieses notwendigen Zusammenhangs in der Diakonie die seelsorgerliche und missionarische Dimension nicht aus-, sondern einschließt, so
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voraussetzungslos die Zuwendung zu Hilfsbedürftigen auch sein muss. Diese werden aber
eben als Menschen gesehen, die nicht auf ihre soziale Notlage reduziert werden dürfen.
Für die diakonische Praxis bleibt auch eine wichtige Erfahrung, dass man sich zu Menschen,
die Hilfe bedürfen, aufmachen muss, also die „Gehstruktur“, die Wichern in seinen Besuchen
in den Elendsvierteln realisiert hat.
Bedeutsam geblieben ist auch Wicherns Erkenntnis, dass Erziehung und Bildung entscheidend sind für die Überwindung von sozialer Not. Dass er dabei an zeitgebundene Wertvorstellungen gebunden war und die Vorstellung einer insgesamt vom christlichen Glauben bestimmten Gesellschaft in einem obrigkeitlichen Staat hatte, muss man sehen. Mit dieser Vorstellung hat er versucht, das Christentum als Band zwischen Volk, Nation, Staat und Kirche
neu zu knüpfen. Der politischen Restauration ist er aber, wie schon gesagt, nicht zuzurechnen.
Er hatte ein funktionales Staatsverständnis: Als christliche Obrigkeit soll der Staat durch Gesetzgebung und Politik günstige Bedingungen für sittliche Erziehung schaffen. Für sie ist die
Familie die geeignete institutionelle Voraussetzung. Denn sie ist der wesentliche Ort positiver
und negativer Prägung junger Menschen.
Dass soziale Not auch gesellschaftliche und strukturelle Ursachen hat, wurde von ihm gesehen; er hat diese auch kritisiert. Vor allem in den negativen Folgen hat er die Prägekraft ökonomischer Verhältnisse wahrgenommen. Allerdings hat er in der Praxis dann doch menschliches Elend individualisiert und zu einseitig moralisiert und damit die politische Dimension
unterschätzt.
Dass sich die Innere Mission im Wesentlichen vereinsmäßig organisierte, war zur Zeit des
landesherrlichen Kirchenregiments notwendig, wenn diese unabhängig vom Staat bleiben
wollte. Dies sollte sie auch ausdrücklich! Dadurch ist eine zivilgesellschaftliche Struktur entdeckt worden, die bis heute bedeutsam ist. Heute ist allerdings auch erkannt, dass Diakonie
eine Dimension der verfassten Kirche ist und dass diese erkennbar sein muss, dass diakonische Einrichtungen zwar eigene Spielräume brauchen, aber regional und lokal verwurzelt
bleiben müssen und mit ihrer Professionalität die diakonische Gemeinde und deren Praxis
nicht verhindern dürfen, sondern zu fördern haben.
Letztlich ist Wichern mit seinem großen Programm zur Erneuerung der Volksgemeinschaft
gescheitert. Was er anstrebte, war, dass, basierend auf Vergebung, Kulturen des Vertrauens
entstehen und Keimzellen für eine zu erneuernde Gesellschaft und Kirche werden. Diese Zielsetzung hat immerhin wesentliche Impulse freigesetzt, die für Kirche und Gesellschaft bedeutsam bleiben, die kritischer Maßstab für den Umgang mit menschlicher Not heute sind und
sich mit zivilgesellschaftlichen Strukturen einer säkularen Gesellschaft verbinden können.
Gerd Schmoll, Freiburg
Literatur
Uwe Birnstein: Der Erzieher. Wie Johann Hinrich Wichern Kinder und Kirche retten wollte. Berlin 2007
Johann Hinrich Wichern – Erbe und Auftrag. Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts Heidelberg, Bd. 30
Heidelberg, 2007
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