Sensation Seeking und Sportrezeption Seminar: Sportmedienpsychologie WS 2001/ 2002 Uwe Kirchhoff [email protected] Schlüsselwörter: Sensation-Seeking, Reizsuchetendenz, Zuckerman, Medien Einführung Die Auffassungen in der Medienwirkungsforschung über die Rolle des Rezipienten haben sich im Laufe der Zeit gewandelt. Früher wurde er als ein vollkommen passives Wesen dargestellt und den Medien wurden direkte, störungsfreie, starke und kollektiv-massenhafte Effekte zugeschrieben (stimulusorientierte Perspektive). Diese behavioristische S-R-Theorie wurde später zum S-O-R-Modell erweitert, in welchem der Rezipient mit seinen Eigenschaften als „black box“ mehr Beachtung fand. Die Einnahme einer rezipientenorientierten Perspektive vollzog sich spätestens seit Beginn der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Die Person des Rezipienten wurde in den Mittelpunkt wissenschaftlicher Betrachtungen gerückt und die Massenmedien als „Gratifikationsinstanzen“ zur Befriedigung individueller Bedürfnisse betrachtet. („Uses-and-Gratifications-Ansatz“) Es entstand „ein aktives Bild vom Rezipienten, das einen bewusst Agierenden beschreibt, der gemäß seinen individuellen Bedürfnissen einen rational zielorientierten Umgang mit den Medien und ihren Angeboten pflegt.“ Bommert et al. kritisieren diese einseitige Bedürfnisfixierung und die damit einhergehende reduzierte Abbildung der Individualität von Medienkonsumenten. Nach Gleich et al. sollte eine Orientierung an der Persönlichkeit des Rezipienten im engeren Sinne erfolgen. Die Persönlichkeitsmerkmale von Personen, als Variablengruppe zusammengefasst, scheinen auch zur Differenzierung des individuellen Verhaltens gegenüber Medien geeignet zu sein. Solche differentialpsychologischen Konstrukte können also der Differenzierung und Erklärung individuellen Handelns von Rezipienten gegenüber Medien dienen. Eines dieser Persönlichkeitsmerkmale wird als Sensation-Seeking bezeichnet. Nachfolgend wird dieses von Marvin Zuckerman entwickelte Konzept näher vorgestellt. Inhalt Sensation Seeking Die Entwicklung des Sensation-Seeking-Konzepts geht auf die Studien von Marvin Zuckerman zurück. Er definiert Sensation Seeking als „eine Verhaltensdisposition, die gekennzeichnet ist durch das Bedürfnis nach abwechslungsreichen, neuen, komplexen Eindrücken und Erfahrungen und der dazugehörigen Bereitschaft, physische und soziale Risiken in Kauf zu nehmen“(Zuckerman, 1979; In: Burst, 1999, S.159)). Es sei als stabiles Persönlichkeitsmerkmal anzusehen, das die Tendenz von Individuen beschreibt, nach neuen und intensiven Reizen und/oder Erfahrungen zu suchen. Zuckerman geht davon aus, dass diese Reizsuchetendenz zum Teil genetisch determiniert ist (50 bis 60 Prozent). Es würden aber keine komplexen Verhaltensmuster vererbt, sondern biologische Prädispositionen, die bestimmen inwieweit solche Verhaltensmuster überhaupt erlernt werden können. Untersuchungen ergaben bei Sensation-Seekern einen höheren Level an Sexualhormonen, ein durchschnittlich geringeres Niveau von Monoaminoxidase (hemmt Neurotransmitter, die wiederum Aktivität und Emotionen regulieren) sowie einen niedrigeren Level an Endorphinen (dämpfen Aktivität und Aktivierung). Diese biologische Fundierung ist jedoch nicht unumstritten. Auch die sozialen Komponenten (Sozialisations- und Lernprozesse) sollten berücksichtigt werden, da durch sie individuelle Unterschiede im Reizsucheverhalten ebenso determiniert werden können. Personen die über eine hohe Reizsuchetendenz verfügen, werden als HighSensation-Seeker, solche mit einer niedrigen Reizsuchetendenz als Low-SensationSeeker (LSS) bezeichnet. In zahlreichen Studien zeigte sich, dass Sensation Seeking mit einer Reihe von konkreten Verhaltensweisen im Alltag korreliert. HighSensation-Seeker (HSS) verfügen über ein breiteres Spektrum riskanter Aktivitäten, haben häufigere und variierendere sexuelle Erfahrungen, Drogen- und Nikotinkonsum sowie Alkoholgenuß gehören häufiger in ihr Verhaltensrepertoire. Sie haben außerdem unkonventionellere politische und ethisch-moralische Einstellungen. Bei Männern fanden sich in den zahlreichen Untersuchungen durchweg höhere Werte als bei Frauen. Auch das Alter der Probanden scheint eine Rolle zu Spielen. Vor allem bei jüngeren Personen werden hohe Sensation-Seeking-Werte beobachtet. Bildung, sozioökonomischer Status und kulturelle Aspekte spielen dagegen keine gravierende Rolle. Sensation-Seeker verfügen offensichtlich im Vergleich zu Nicht-Sensation-Seekern über einen sehr responsiven und starken Wahrnehmungsund Reizverarbeitungsapparat. Sie können starke Reize wahrnehmen und aushalten. Diese Reize wirken belohnend im Sinne eines optimalen Erregungsniveaus. Eine Wiederholung von Reizen führt jedoch zu sinkendem Interesse und sinkender Zuwendung. Demnach werden solche Reize „konsumiert, die für den Einzelnen einen Belohnungswert haben. Sensation-Seeker begeben sich auf eine aktive und selektive Suche nach neuen (starken) Reizen einer bestimmten Qualität. Zur Abgrenzung des Sensation-Seeking-Konzepts gegenüber anderen Persönlichkeitsmerkmalen gibt es unterschiedliche Ansichten (vgl. Burst, 1999, S.160). In der Persönlichkeitspsychologie existiert das „Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit“. Lange Zeit wurde Sensation-Seeking einem der fünf Basisfaktoren dieses Modells untergeordnet. Andresen (1995) hingegen sieht die Risikobereitschaft als zusätzlichen Basisfaktor. Zur Erfassung des Persönlichkeitsmerkmals Sensation-Seeking wurde ein entsprechendes Erhebungsinstrument entwickelt, die „sensation-seeking-scale“ (SSS). Mit ihr wurden verschiedene, durch Reizsuche gekennzeichnete Verhaltenstendenzen abgefragt und Sensation-Seeking auf vier Dimensionen erfasst. „Thrill- and Adventure-Seeking“ - = Suche nach ungewöhnlichen Reizen durch physische Aktivitäten, Abenteuer „Experience-Seeking“ = Suche nach sensorischer Erfahrung und kognitiver Stimulation. - „disinhibition“ - = Suche nach Stimulation durch soziale Begegnungen „boredom susceptibility“ = Intoleranz gegenüber Langeweile Tabelle 1 gibt einen Überblick über die Sensation-Seeking-Skala von Gniech et al. (1993), die für den deutschsprachigen Raum entwickelt wurde. Sie umfasst 20 Items. Tabelle 1: Benennung und Beschreibung der vier Subskalen der SSS von Gniech et al. (1993) Bezeichnung Beschreibung Thrill and Adventure Seeking mit vitalem Auf körperliche Aktionen ausgelegte sozial akzeptierte oder missbilligte Risiko Erlebnismotive, die mit realen Risiken verbunden sind Thrill and Adventure Seeking ohne vitales Suche nach Situationen, die starke sensuelle Reize vermitteln, aber die Risiko eigene Person nicht gefährden (z.B. laute Musik) Experience Seeking wunschbezogen Erlebnismotive, die sich auf zukünftige, gewünschte Ereignisse Etikettierungen der Persönlichkeit beziehen Experience Seeking sozial aktiv bzw. eigenen Erlebnismotive, bei denen der Kontakt zu anderen Menschen als wichtigste Anregungsquelle genutzt wird (In: Burst, 1999, S. 166) Sensation-Seeking und Medien Medien bieten Stimulanz, Anregung und breite Erfahrungsmöglichkeiten in unterschiedlichen Formen. Nach Gleich et al. (1998) präsentieren Medien Ereignisse, die im Alltag nicht oder nur sehr selten erfahrbar sind (Science Fiction, Horror oder Reality-TV Sendungen, die Menschen in Extremsituationen darstellen.). Der Anregungscharakter solcher Formate entsteht durch die Ungewöhnlichkeit oder Neuigkeit im Vergleich zu alltäglichen Erlebnissen. Andererseits könnten formale Gestaltungsmerkmale wie die Schnittfrequenz oder der Einsatz von Musik anregend und unterhaltsam wirken. Inwieweit nutzen nun Sensation-Seeker diese Medien als Stimulations- und Anregungsquelle? Viele Studien zu diesem Thema bringen die Reizsuche mit extremen Medieninhalten wie Horror oder Erotik in Verbindung. Zuckerman und Litle (1986), Edwards (1991), Johnston (1995) u.a. untersuchten die Zusammenhänge zwischen Sensation-Seeking und der Präferenz für Horrorfilme oder Darstellungen morbider Inhalte. Es zeigten sich überall mehr oder weniger deutliche Korrelationen zwischen Sensation-Seeking und der tatsächlichen Nutzung von bzw. Präferenz für Horrorfilme. Schierman und Rowland (1985) sowie Hirschman (1987) fanden positive Korrelationen zwischen Sensation Seeking und der Nutzung von sowie der Präferenz für erotische Filme und Magazine. Außerdem zeigten Sensation-Seeker mehr Interesse für Actionfilme und besuchten öfters Rock- und Popkonzerte. Rowland, Fouts und Heatherstone (1989) untersuchten den Zusammenhang zwischen Sensation-Seeking und der Nutzung des Mediums Fernsehen. SensationSeeker nutzten demnach das Fernsehen häufig als Nebenbei-Medium, während sie gleichzeitig anderen Beschäftigungen nachgingen. Sie sind aufgeschlossener und liberaler gegenüber dem Fernsehen und seinen Inhalten und zeigten ein ausgeprägteres Zappingverhalten. Perse (1996) fand Korrelationen zwischen Reizsuche und der Präferenz für Musik-, Action- und Abenteuerprogrammen im Fernsehen heraus. Auch Groebel (1989) konnte spezifische TV-Präferenzen von Reizsuchern feststellen, die sich insbesondere in Vorlieben für die Darstellung riskanter und/oder gefährlicher Situationen im Fernsehen zeigten. Gleich et al. (1998) untersuchten Zusammenhänge zwischen Sensation-Seeking, individuellem Fernsehverhalten, spezifischen Programmpräferenzen und Freizeitverhalten. Ergebnisse (Gleich et al., 1998, S. 673-682): keine Hinweise darauf, dass HSS weniger oder mehr fernsehen als LSS keine signifikanten Unterschiede im Bezug auf das Umschaltverhalten, die Anzahl der TV-Geräte und die Größe des Bildschirms HSS haben ein ausgeprägteres Bedürfnis zur Vermeidung von Langeweile - - - sowie nach Anregung und Spannung als LSS Sensation-Seeking geht eindeitig einher mit Vorlieben für Action- und Horrorprogrammen sowie Erotikdarstellungen. signifikante Korrelationen auch für Sport im Fernsehen und für MusikAngebote im „MTV-Format“ HSS verbringen im Durchschnitt mehr Zeit mit Freizeitaktivitäten als LSS eindeutiger Zusammenhang zwischen Sensation-Seeking und solchen Freizeitaktivitäten, die in der Kategorie „Nachtschwärmer“ zusammengefasst sind. Zusammenfassung, Kritik, Diskussion, Ausblick Die individuelle Tendenz zur Reizsuche, die von Zuckerman als stabiles Persönlichkeitsmerkmal beschrieben wird, steht in einem deutlichen Zusammenhang mit dem Fernsehverhalten von Rezipienten. Das Fernsehen stellt für SensationSeeker eine Möglichkeit dar, Bedürfnisse nach Anregung und Stimulation zu befriedigen (Gleich et al., 1998, S.682) Diese Ausführungen sollen als Diskussionsgrundlage dienen, inwieweit das Konzept des Sensation-Seeking für die Sportberichterstattung in den Medien relevant ist, bzw. in welchem Maße Sportbeiträge für Sensation-Seeker gewisse Reize setzen können. Welche Sportarten könnten am besten dafür in Frage kommen? Wie müssten die Beiträge gestaltet sein? Literatur Bommert, H., Weich, K.-W. & Dirksmeier, C. (1995). Rezipientenpersönlichkeit und Medienwirkung. Der persönlichkeitsorientierte Ansatz der Medienwirkungsforschung (Medienpsychologie, Bd.1).Münster: LIT Verlag. Burst, M. (1999). Zuschauerpersönlichkeit als Voraussetzung für Fernsehmotive und Programmpräferenzen. Medienpsychologie, 3, 157 - 181 Gleich, U., Kreisel, E., Thiele, L., Vierling, M. & Walther, S. (1998). Sensation Seeking, Fernsehverhalten und Freizeitaktivitäten, 661 – 688. In W. Klinger, G. Roters & O. Zöllner (Hrsg.), Fernsehforschung in Deutschland. Themen – Akteure – Methoden. Teilband 2. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft.