„arztethischen Normbildung“ und der Umbruch der heutigen Medizin

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Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
HEINRICH POMPEY
Das Problem einer „arztethischen Normbildung“
und der Umbruch der heutigen Medizin
Originalbeitrag erschienen in:
Wilhelm Ernst (Hrsg.): Moraltheologische Probleme in der Diskussion.
Leipzig: St. Benno-Verl., 1972, S. 266 - 278
VIII. Ärztliche Ethik
DAS PROBLEM EINER »ARZTETHISCHEN NORMBILDUNG«
UND DER UMBRUCH DER HEUTIGEN MEDIZIN'
Von Heinrich Pornpey
Aus der Schwierigkeit, die medizinischen wie die möglichen anthropologischen
Sachverhalte und Konsequenzen des medizinisch-theologischen Grenzbereichs
ganz zu erfassen und zu verstehen, läßt sich ersehen, daß der Theologe nicht
mehr in der Lage sein kann, allein die arztethischen Fragen ganz konkret und
sachgerecht zu beurteilen und die Überlegungen und Planungen des kommenden medizinisch-technischen wie medizinisch-biochemischen »Experiments Mensch«
jeweils klar zu begrenzen oder theologisch-anthropologisch eindeutig zu finalisieren. Er wird jenen vollen Einblick in diesen hoch komplexen medizinischanthropologischen Sachbereich wahrscheinlich niemals mehr ganz gewinnen, da
die Sachverhalte selbst dem durchschnittlichen Arzt, als Nicht-Fachwissenschaftler,
oft schon undurchschaubar und unerklärbar sind. Damit ist die tradierte »arztethische Normbildung« durch den Umbruch der Medizin an einem entscheidenden, kritischen Wendepunkt angelangt.
Die beiden theologischen Prämissen, die dem Theologen für ethisch-theologische
Aussagen über Medizin und Arzttum zur Verfügung stehen, sind: die Offenbarung und die natürliche Erkenntnis vom Menschen. 2 Doch theologische Konklusionen aus diesen beiden Prämissen stoßen nun auf so erhebliche Schwierigkeiten, daß sie nur gemeinsam mit einem Fachmediziner geschlossen werden
könnten. Aber auch der Gemeinschaftsarbeit dieser beiden Fachvertreter dürfte
es kaum gelingen, einen arztethischen Sachverhalt generell und absolut für immer
1 Die nachfolgenden Ausführungen sind dem größeren Vortrag »Neue Ansätze der Theologie
für den Dienst an einer Medizin im Umbruch« entnommen, der als Beitrag zur XX. Westdeutschen Ärztetagung für medizinisch-theologische Gemeinschaftsarbeit (vom 4. bis 8. Juni 1968) in
Nyborg (Dänemark) gehalten wurde.
2 Wobei in unserem Fall die natürliche Erkenntnis vom Menschen neben den anthropologischen
Aussagen der Philosophie und der Psychologie vornehmlich auch den pathologischen wie den
therapeutischen Bereich und seine Manipulierbarkeit umfaßt.
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gültig zu beurteilen. Es muß leider konstatiert werden, wie beide Prämissen, die
volle Einschätzung der Offenbarung und die ebenso totale natürliche Erkenntnis
der physischen wie psychischen Seite des Menschen, nur noch bedingt heranzuziehen sind, so daß zwangsläufig die bislang gewohnten, vielfach sehr absoluten.
ethischen Aussagen immer mehr hinter relativeren zurücktreten werden, weil konsequenterweise der Gewißheitsgrad der Prämissen den Gewißheitsgrad der
theologischen Folgerungen bestimmt. Sollte sich diese Erfahrung und Erkenntnis
in Zukunft bestätigen, dann wird sich auch die offizielle kirchliche Lehrverkündigung weitaus zurückhaltender äußern, da ihr generalisierende, d. h. für immer
gültige und für jeden Einzelfall verbindliche theologische Konklusionen zur Einschätzung arztethischer Sachverhalte aus so gearteten Prämissen nur schwerlich
mehr möglich sein -werden. 3 In dieser Situation kann sich also die Theologie nur
noch bemühen — und damit kommt sie der Methodik der biblischen Ethik auch
weitaus näher —, die Determinanten eines allgemeinen, offenen Verhaltensmodells
(positiv-konstruktiv, nicht negativ-verbietend) zu beschreiben, was die traditionelle kasuistisch-ethische Normierung des ärztlichen Tuns nicht versuchte. Aber
auch kaum mehr als den Aufweis eines solchen Modells bzw. seiner Determinanten wird der Theologe anbieten können, aufgrund dessen der medizinische Fachmann im je konkreten Fall sein ethisches Verhalten selbst einzuschätzen und auszurichten hat. Sicher ist diese Situation für den Arzt nicht leicht, da ihm so fast
die volle Verantwortung für die rechte ethische Einschätzung seines Tuns überlassen bleibt.
Diese Krise der heutigen arztethischen Normbildung hat — entsprechend den beiden genannten Prämissen — zwei deutlich erkennbare Gründe, deren einer aus der
Medizin und deren anderer sich aus der heutigen Theologie selbst ergeben: Erstens scheinen die Erkrankungen und damit die medizinisch-technischen wie
medizinisch-chemischen Handhaben und Maßnahmen von zunehmender Komplexität zu sein, so daß der medizinische Bereich und damit das ärztliche Tun
in seiner Einzelproblematik selbst oft von sachkundigen Fachleuten nicht mehr
ganz erfaßt und damit auch nicht mehr voll eingeschätzt werden kann (s. u.
Abschn. 1). Zweitens bringt die Theologie durch eine neuere Exegese und eine
existentiellere anthropologische Ausrichtung eigene Schwierigkeiten mit sich, die
gegenüber der traditionellen kasuistisch-juristisch reglementierten Normethik eine
berechtigte Unsicherheit auslösten (s. u. Abschn. 2); obschon ihre bisherigen allgemeingültigen, offenen Aussagen, soweit die Prämissen in dieser Weise richtig
eingeschätzt wurden, auch heute bedingt noch brauchbar sein können (s. u.
Abschn. 2.3).
Weil der Inhalt solcher Konklusionen nicht formell geoffenbart ist, konnten entsprechende
kirchliche Aussagen, bei denen nur eine Prämisse der Offenbarung und die andere der natürlichen
Erkenntnis entstammten — wie es im medizinisch-theologischen Grenzbereich zumeist der Fall
ist —, auch früher schon nie als formelle Dogmen, sondern nur als katholische Wahrheiten angesehen werden. Ihre Leugnung war dann niemals Häresie, sondern nur »error in fiele«; vgl.
A. Kolping, Einführung in die katholische Theologie, Münster 196o, 102-103.
3
18*
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I. Die hohe Komplexität der Heilkunst
Die rechte Einschätzung des medizinischen Bereichs ist durch vielschichtige, mehrdimensionale Relationen eingeengt. Eine doppelte somatische Komplexität ist
gegeben einmal durch die Krankheit selbst mit ihrer detaillierten und oft unergründbaren. Kausalität und Symptomatik wie zum anderen durch die oft ebenso
unkontrollierbaren Wirkungen der therapeutischen Maßnahmen. Sie wird erhöht
durch die jeder Krankheit und jeder Therapie vorgegebene und mitgegebene
psychosomatische wie psycho-soziale Eigenkomplexität. Graduell verstärkt werden die Komplexitäten dieser drei Bereiche (Krankheit, Therapie, psycho-soziale
Relevanz) durch die künftigen chirurgisch-technischen Handhaben wie die biochemischen Möglichkeiten der reparierenden und manipulierenden Medizin, die
weitaus stärker in den personalen Bereich des Menschen eindringen können als
die bisher verfügbaren Praktiken. Wenn sich somit der Arzt bereits — sei er medizinischer Experimentator oder Praktiker — in nie ganz durchschaubaren somatischen Verhaltensbereichen und in den psydio-physisch-psychosozialen Wechselund Grenzzonen bewegt, 4 wie schwer muß es dann erst dem Theologen fallen, die
für eine differenzierte arztethische Aussage notwendige richtige Einschätzung vorzunehmen, wenn ihm nicht genaue Sachinformation und Einsichten gegeben werden können. Keinesfalls darf er aber die scheinbar abseits stehenden anthropolooischen (psychosozialen wie psychosomatischen) Aspekte mit der ihnen eigenen
theologischen Relevanz übergehen. 5
x.i Als erstes Beispiel dafür, wie schwierig etwa heute bereits die anthropologisch-theologische und damit die medizinisch-ethische Einschätzung für Arzt und
Theologen geworden ist, mögen die heutigen Herztransplantationen stehen. Es sei
davon ausgegangen, daß sie, wie im Fall von Dr. Blaiberg, erfolgreich verlaufen.
So stehen wir mit diesen Möglichkeiten der chirurgisch-technischen Medizin, zu
denen bald auch Transplantationen größerer Körperregionen zählen werden, am
Beginn einer komplexen psychosomatischen Umgestaltung des Menschen, die nicht
mehr mit einer vollen Restitution gleichgesetzt werden kann 6 und auch nicht nur
eine somatisch-medizinische Seite besitzt. 7
Diese Komplexität besteht ebenso bei der Einschätzung auch nicht krankhaft-defekter biologischmedizinischer Sachlagen, wie z. B. bei einer gesamtanthropologischen Beurteilung der Weckung
neuen Lebens.
5 Schließlich setzt ethisches Urteil und daraus resultierendes Verhalten die Einschätzung der
natürlichen Ausgangsbasis voraus, analog dem theologischen Axiom »Gratia supponit naturam«.
6 über die von Papst Pius X11. geforderte vollpersonale Restitution, insbesondere der »menschenwürdigen Rehabilitation«, als Grenze für die Erlaubtheit medizinischer Eingriffe vgl. H. Fleckenstein, Alte und neue Aufgaben des Arztes in der modernen Gesellschaft. In: Moral zwischen
Anspruch und Verantwortung. Festschrift für W. Schöllgen (Hg. F. Böckle und F. Groner),
Düsseldorf 1964, 175-190. 178.
7 Die ethische Problematik, die durch eine eventuelle Lebendübertragung des Herzens und
damit nach dem Tod des Spenders aufgeworfen ist, soll nicht berücksichtigt werden.
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Durch die allgemein angenommene unwiederbringliche Trennung der depressorischen und pressorischen Zentren mit dem Herzen, die bei der Implantation
von fremden Herzen wahrscheinlich immer irreversibel bleibt, wird nicht nur
eine somatische Funktion auf Dauer unterbunden, sondern ebenso ein psychisch
bedeutsamer Vorgang teilweise beeinträchtigt. Das sogenannte Herzklopfen oder
Erröten sind z. B. Reflexe, die zum Teil auch diese Zentren auslösen, und die
das zwischenmenschliche Verhalten hemmend oder fördernd bestimmen können.
Diese Reflexe vermindern sich in einem solchen Fall nicht nur bei freudiger und
angstbedingter Erregung, sondern ebenso beim Einbruch und bei Mordversuchen
und beeinträchtigen die Imputation. Unbestritten findet sich ein von der Operation Betroffener nicht mehr ganz so vor wie vor dem Eincrriff. 8
1.2 Gravierender und von weit größerem Ausmaß sind die Persönlichkeitsveränderungen auf biochemischer Basis, die ethisch wie anthropologisch noch
relevanter sein werden und als zweites Beispiel für die schwierige ethische Einschätzung des medizinisch-theologischen Grenzbereichs erwähnt seien. Die molekulargenetischen Steuerungen und Umformungen des Menschen sind wohl nicht
mehr in eine allzu ferne Zukunft gerückt, zumal am Ende des vergangenen Jahres der amerikanischen Molekularbiologie die erste Teilsynthese einer lebenden
Vire aus anorganischen Stoffen gelang. Diese Kenntnisse können zwar Heilzwecken dienen, wie aber auch der erste Schritt zum Manipulieren des Menschen
nach einem selbst festgesetzten Menschenbild sein. Damit wäre die bisherige
Grenze der überlieferten Heilpraxis zur manipulierenden Medizin praktisch
überschritten. Die so zu erwartende anthropologische, psychosomatische Komplexität der künftigen Medizin erfordert vom verantwortlichen Arzt ebenfalls
mehr als fachliches Können.
1.3 Wir dürfen voraussichtlich annehmen, daß die heutige Medizin erst am Anfang ihrer physikalisch-technischen und biochemischen Möglichkeiten steht, so
daß manche heute noch utopisch wie auch erschreckend anmutende Planung sicher
realisiert werden wird. Verfehlt wäre es bestimmt, sich grundsätzlich gegen diese
unaufhörlich voranschreitende Entwicklung zu stellen, denn was die ärztliche
Kunst vermag, vermag sie schließlich nur aufgrund der von der Natur und damit
von Gott gegebenen Gesetzmäßigkeiten, die zu erkennen sicher nicht verboten,
deren Einhaltung aber geboten zu sein scheint. Es liegt also bei der Selbsteinschätzung einer so gewandelten Medizin wie ihrem Arzttum, Sinnhaftigkeit und
ethische Erlaubtheit ärztlichen Tuns unter diesen Möglichkeiten ernsthaft und
verantwortungsbewußt zu untersuc.hen 9 . Doch die somatisch wie anthropologisch
Sicher werden diese Menschen auch nicht gleich rauben und morden, entscheidend bleiben für
ihr künftiges Tun die bisherigen ethischen Vorstellungen und das Gewissen. Es wäre jedoch denkbar, daß in diesem Bereich labile Menschen z. T. einer für den zwischenmenschlichen Bereich
notwendigen somatischen Hemmvorrichtung beraubt werden.
9 Doch in diesen Möglichkeiten der kommenden Medizin, die bereits formaliter die überlieferte
Vorstellung von der Medizin des Heilens übersteigt, liegt eine entscheidende Veränderung des
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komplexen und mehrdimensionalen — heute noch kaum durchschaubaren und abschätzbaren — Eingriffe, bei denen Ausmaß und Auswirkung schon im Einzelfall
und erst recht kaum generell (d. h. für alle möglichen Fälle einer Kategorie) zu
beurteilen sind, beeinträchtigen ein endgültiges und allgemeinverbindliches Urteil des Ethikers und so nicht zuletzt auch ein daraus resultierendes verantwortliches Verhalten des Arztes. Ferner ist es unbedingt erforderlich, die anthropologische Relevanz nicht allein von Einzelfällen, Herztransplantationen, artifizielle Gen- oder Chromosomenmutationen etc. her einzuschätzen, sondern
ebenso ist die Gesamtheit der in ihr offensichtlich zum Ausdruck kommenden
Faktoren und damit schließlich die Intentionalität einer solchen ärztlichen Kunst
zu beachten.
2.
Die Wandlung der ethischen Aussageweise
Nicht minder erschwerend wirkt sich für den medizinisch-theologischen Dialog
über ein zeitgerechtes und adäquates Arztethos die parallel verlaufende, überaus
starke Konfrontation der Theologie mit der sich in allen Bereichen wandelnden
Welt aus. Das neue weltliche Weltverständnis und das ihm tatsächlich zugrunde
liegende Anderssein der heutigen Welt hat darum auch für die anthropologischen
und theologischen Aussagen der kirchlichen Lehrverkündigung heute nicht mehr
ganz eindeutige Ausgangsbasen geschaffen. Womit der Gewißheitsgrad unserer
zweiten Prämisse, die aus Offenbarung und ihrer Tradition genommen werden
sollte, ebenfalls unsicher geworden ist. Unsere Überlegungen und Schlußfolgerungen müssen somit neben der schwierigen medizinisch-anthropologisch hochkomplexen Ausgangsbasis nun auch noch die heute anders eingeschätzten Aussagen der Offenbarung und ihrer historisch relativ gesehenen Tradition berücksichtigen. Eine kasuistische arztethische Normbildung, die für jeden Einzelfall
und für jede Zeit verbindlich sein möchte, dürfte deshalb auch aus diesen Grün-.
den dem heutigen Theologen kaum mehr möglich sein. Durch die unausweichliche Konfrontation der Theologie mit Weltwirklichkeit und Weltverständnis
zeichnet sich darum eine weit weniger absolute generalisierende Theologie ab,
die notwendig eine Wandlung ihrer ethischen Aussageweise — also nicht so sehr
der Aussageinhalte — zur Folge hat.
2.1 Die neueren exegetischen Untersuchungen zur sittlichen Forderung des NT
konnten auch keine solche ethische Kasuistik aufzeigen, was sich uns heute sehr
dienlich erweist. Jesus entwickelte kein starres moral-kasuistisches System, wie
Schnackenburg hervorhebt. Er sprach in die konkrete Situation seine Botschaft. 10
Die aus dem Volk gestellten ethischen Fragen dienten ihm stets zur Verkündigunc,
Selbstverständnisses der Medizin, das seinerseits bedeutsam auf die ethische Einschätzung rückwirken kann. Nicht mehr allein die Restitution, sondern ebenso die Konstruktion des Menschen
werden in Zukunft das neuzeitliche Arztethos von einer gewandelten Grundlage ausgehen lassen
und werden ungezählte neue, verkomplizierte Probleme schaffen.
10 Rudolf Schnackenburg, Die sittliche Botschaft des Neuen Testaments, München 2 1962, V.
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seines gesamten Heilsauftrages. So eingebettet, rief eine konkrete Antwort zur
»augenblicklichen Entscheidung« auf, und nicht erst zu einer später möglichen
Anwendung. Jesus war »kein Kasuist und kein Situationsethiker«, sondern gab
im Einzelfall immer ganzheitlich fordernde, »grundsätzliche Richtlinien«. So ist
seine Sittenlehre »konkret und doch normativ«.ii
Vor allem seine kritische Haltung zur theologisch-jüdischen Tradition, der »Überlieferung der Alten«, verdient gerade heute und speziell in unserem Zusammenhang beachtet zu werden. Die Theologen seiner Zeit, zumindest die Schriftgelehrten, »sahen den göttlichen Willen nicht nur im Sinaigesetz des AT verkörpert,
sondern stellten auch die >Überlieferung der Alten< als gleichberechtigt daneben
und erklärten sie als genauso verbindlich«. 12 Dies wurde von Jesus nicht akzeptiert, wie seine Stellungnahmen zur Sabbatfrage, zu den Reinheitsvorschriften
usw. zeigen. 13 Mit dem Vorwurf: »Ihr laßt das Gebot Gottes außer acht und
haltet euch an die Überlieferung der Menschen« (Mk 7,8) kennzeichnete er, nach
Schnackenburg, die vorgefundene »Tradition als bloße Menschensatz-ung«. 14 Er
entthront auch die »jüdische Ansicht, daß jedes Gebot, ob groß oder klein, ob
das Herz oder äußere Dinge betreffend, zum gleichen Gehorsam verpflichte«. 15
So legte Jesus »das Fundament einer neuen Sittlichkeit, ja der Sittlichkeit überhaupt aufs neue, indem er den sittlichen Wert einer Handlung allein von der
Herzensgesinnung abhängig macht«.I 6 Ihm kam es »auf die wahre, religiös fundierte Sittlichkeit an, wie immer man sein Leben gestaltete«, 17 wodurch er deutlich auch das durch seine Botschaft inspirierte Gewissen zur verantwortlichen
Richtschnur des Handelns erhob. Von ihm wurde jedenfalls für die seiner Zeit
überlieferte ethische Tradition der Primat der Gesinnung, d. h. des Gewissens,
vor einer äußeren Legalität gewahrt. All dies bezeugt eine kritische Haltung,
die auch uns heute die Überprüfung z. B. der arztethischen Tradition erlauben
und ermöglichen dürfte.
Exegetisch wurde erwiesen, daß der Urgemeinde nach dem Zeugnis der Schriften
ebenfalls eine absolute »sittliche Normbildung« fremd war, ja selbst das alttestamentliche Bundesvolk hatte in der biblischen Zeit keine ethische Systematik angestrebt. 18 Weitaus wichtiger waren für sie die konstituierenden theologischen
Heilsgegebenheiten. 19 Das Fehlen einer absoluten »sittlichen Normbildung« und
it ebd. V.
ebd. 4o.
13 Vgl. ebd. 40ff.
14 ebd. 42.
15 ebd. 43.
IG ebd. 43.
17 ebd. 4318 Jedoch Jesus mußte, wie angedeutet, zu seiner Zeit gegen einen starren, religiös toten Morallegalismus in Israel ankämpfen, daraus wird sichtbar, wie wenig er solche moraltheologischen
Kodifizierungen wünschte.
19 Vgl. M. Nati), Die Gesetze im Pentateuch, ihre Voraussetzungen und ihr Sinn: In: Gesammelte Studien zum Alten Testament. Theol. Bücherei 6, München 1857, 9-141.
12
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das Fehlen direkter moraltheologischer Systematiken hinderte die alttestamentEdle wie neutestamendiche Gemeinde nicht, in einer konkreten Situation ethisch
fordernd zu sprechen. Doch stets bildete das verpflichtende Ethos mit der theologischen Heilsverkündigung eine gelebte dynamische Einheit. Nach Schnackenburg läßt sich die »Einheit des Religiösen und Sittlichen im ganzen NT nicht zerreißen« 20 . So ist »die urchristliche Ethik . . . nach Inhalt und Motivation eschatologisch orientiert und an Jesu Wort, an die Forderungen seiner Nachfolge und
an sein Beispiel gebunden«. 2 I Daraus wird die materiale Relevanz der Offenbarung und des Heilshandelns Gottes auch für das heutige Ethos sichtbar, die
aus »Inhalt und Motivation« der biblischen Offenbarung — wenn auch schwer
faßbar — abgelesen und abgeleitet werden kann.
Aus der Schrift lassen sich, wie J. Blank betont, »Grundhaltungen und Grundtendenzen des christlichen Ethos« aufzeigen, »die jedoch im ganzen so offen und
flexibel sind, daß sie auf neue Herausforderungen eingehen können und neue
Gestaltungen wagen müssen«. 22 Wie schwierig entsprechende Explikationen aus
den Schriften des NT sowie ihre Konkretisierungen in den heute so komplexen
Situationen sind, wird von den Exegeten nicht übersehen, 23 da die überwiegenden
Einzelanweisungen, wie sie vor allem in der Briefliteratur angetroffen werden,
selbst eine solche zeitverhaftete Durchführung der christlichen Grundhaltung sind.
Aus diesen, wenn auch zeitbedingten Anwendungen ergibt sich, daß die neutestamentlic.he Ethik keine Gesinnungsethik ist, die dem gelebten Ethos fernsteht.
So wollen nach Blank z. B. die »bildhaften Weisungen der Bergpredigt zweifellos die Tat, nicht etwa nur die Gesinnung; sie appellieren an den menschlichen.
Willen, aber so, daß sie es dem Menschen selbst anheimstellen, Weise und Ausmaß der Verwirklichung in eigene, gesetzlich nicht präformierbare Regie zu übernehmen. Das Tun, das die Verwirklichung unternimmt, kann deshalb nur eines
aus Freiheit, aus Glauben, aus der Unruhe der Liebe und der eschatologisdlen
Hoffnung für das Heil einer heillosen Welt sein. Dann ist es freilich wohl nur
im Vertrauen auf Christus, den gekreuzigten und auferstandenen, in der Anerkennung seiner Reichsbotschaft, also nur >dristologisch-soteriolocrisch< und
>esc.hatologisch< voliziehbar«. 2.1
Wenn auch eine juridisch-kasuistische Normierung der christlichen Ethik als unbiblisch abgewiesen wird, so wird von der Exegese aber nicht bezweifelt, daß es
ein verbindliches, wenn auch nicht gesetzliches Ethos geben muß. Somit fanden
und finden die sich stets wandelnden ethischen Problemkonstellationen ihre Fundierung, Orientierung, kritische Überprüfung und Legitimation ausschließlich im
Heilsauftrag und Heilshandeln Gottes. Die alles umgreifende Heilsbotschaft,
R. Schnackenburg, a. a. 0. V.
R. Schnackenburg, Die Kirche im Neuen Testament, Freiburg 2 1963, 121 (Leipzig 1966).
22 Vgl. J. Blank, Zum Problem »Ethischer Normen« im Neuen Testament. In: Concilium III
(1967) 356-362. 358, in diesem Sammelband S. 91-200, 94.
23 Vgl. J. Blank, a. a. 0.; R. Schnackenburg, a. a. 0.
24 Vgl. J. Blank, a. a. 0. 361, in diesem Sammelband S. 98.
21
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wie sie auch in den konkreten ethischen Aussagen der Schrift zum Tragen kommt,
und die fundamentale inhaltliche Bezogenheit der Ethik auf diese Botschaft
schaffen die ethisch relevante Verbindlichkeit. Dagegen scheint es zweifelhaft,
ob auch die in der damaligen konkreten, einmaligen Situation entstandene Form
und Aussageweise einer solchen Antwort heute noch verpflichtet und so übernommen werden kann, da sie in der uns zugänglichen Form von Menschen —
den der damaligen Zeit und ihrem Denken verhafteten Evangelisten — zusammengestellt und formuliert wurde. 25
Zur unumgänglichen Realisierung des Ethos schlägt Blank statt des Normbegriffs
die Bezeichnung »ethisches Modell« oder in Anlehnung an Paulus und die Kirchenväter den Begriff »Typos« vor. Eine so verstandene und gestaltete Ethik
kann zugleich konkret und a.bwandlungsfähig sein. Wegweisend ist dabei das
neutestamentliche Ethos »als ethisches Modell«. 26 Es bleibt Aufgabe des Theologen, im Dialog mit den Menschen die je notwendige Interpretation und Applikation vorzunehmen. Eine Aufgabe, der sich in unserem interfakultativen Bereich
die sogenannte Pastoralmedizin bzw. Pastoralanthropologie immer wieder neu
zuwenden müßte.
2.2 Wie von der Exegese die geschichtliche Relevanz der neutestamentlichen
Aussagen und Formulierungen herausgestellt wurde, so wird auch von Dogmatikern und Moraltheologen die geschichtliche Bedingtheit ihrer tradierten Aussagen nicht mehr bestritten. 27 Womit unumgänglich, wenn audi ungewollt, eine
große Unsicherheit in Kauf genommen werden mußte.
Die bis in unsere Zeit überlieferte Moralkonzeption, die unter dem methodischen
Einfluß der Scholastik und Kasuistik geprägt worden war, wird heute oft den
menschlichen Situationen und notwendigen Verhaltensweisen nicht mehr ganz
gerecht. Eine Grundlage ihres Denkens bildete vielfach die Vorstellung von der
absoluten und totalen Naturgesetzmäßigkeit allen Seins, in dem alles eindeutig
und logisch mathematisch exakt nachprüfbar ablaufen würde. Die neueren Naturwissenschaften haben aber gezeigt, daß besonders in den Bereichen der Biologie,
Physiologie, Biochemie, Atomphysik, Psychophysik, Soziologie usw. die gefundenen Gesetze niemals total für jeden Fall und für immer zu gelten haben, sondern
relativ und nur mit einer größeren Wahrscheinlichkeit zutreffen, und (wie z. B.
im Fall der Lichtstrahlen) sogar mehrdeutig sein können. Impliziert nun Theologie, besonders aber Moral- und Pastoraltheologie, Anthropologie, so kann sie
Nur der Geist, d. h. der Inhalt an sich, einer ethischen Entscheidung dürfte göttlichen Ursprungs sein, die Form und der durch die jeweilige Sachbezogenheit bedingte Inhalt sind von
Menschenhand. Diese menschliche Urheberschaft gilt sicher auch für die uns heute allein noch
möglichen Explikationen der Offenbarung und für die tradierten Bemühungen solcher Explikationen. Warum sollte nicht auch die biblisch-kritische Methode, wie sie bei der Exegese der
Offenbarung verwendet wird, ebenso bei der Auslegung der Tradition notwendig sein?
26 a. a. 0. 361f, in diesem Sammelband S. 98ff.
27 Besonders deutlich kommt diese Tendenz in den Aufsätzen der beiden' rnoraltheologischen
Hefte der Zeitschrift Concilium 1 (1965) 5, III (1967) 5, zum Ausdruck.
25
273
ihrerseits dem Menschen, der durch seine Körperlichkeit viele dieser natürlichen
Gesetzmäßigkeiten zur Lebensgrundlage hat, nicht gerecht werden, solange sie
glaubt, eine den Lebensgesetzen fremde, d. h. absolute und total immer geltende
Verhaltensnorm erstellen zu können. 28 Eine solche Absicht läßt sich eigentlich
auch in der überlieferten, verbindlichen kirchlichen Lehrverkündigung, wenn
man von wenigen Ausnahmen und von den Kodifizierungen des Kirchenrechts
absieht, nicht grundsätzlich nachweisen. Die totale Normierung wurde höchstens als Idealzustand von einigen Kanonisten und Kasuistikern erstrebt, aber
zumeist nur, um den Menschen in der konkreten Situation eine leichtere Entscheidung zu ermöglichen. Doch wegen der biologischen Grundlage und der
sozialen Bezogenheit werden darum heute alle ethischen Normen — man erkennt
hier die Unzweckmäßigkeit des Begriffs — nur unter dieser Rücksicht erstellt und
auch gelebt werden können. 29
Zudem gründet unsere Ethik, vornehmlich ihre absolute Sicherheit, zu einem
Teil auf der hypothetischen Voraussetzung, daß einmal geoffenbarte moraltheologische Grundlegungen durch die Geschichte hindurch unter Leitung der Kirche sich fortentwickeln, entfalten und sich dabei immer mehr verdeutlichen. Diese
Annahme einer stets positiv fortschreitenden Moral, nicht zuletzt als moraltheologische Tradition verstanden, der es darüber hinaus noch eingegeben ist,
auch die je neu auf sie zukommenden ethischen Probleme aus sich heraus gültig
explizieren zu können, muß nicht notwendig stimmen. Warum sollten sich nicht
auch bei ihr, wie in der Gesamtentwicklung und Geschichte des neuen Gottesvolks der Kirche, Rückschläge, Rückschritte und ganze Rückentwicklungen, wie
Fehleinschätzungen und Fehlansätze einstellen und auch wesentlich zum Tragen
kommen, die vielleicht für die je geschichtliche Zeit richtig gewesen sein mögen?
Warum sollte nicht auch sie noch nie dagewesene Wege neu schaffen und einschlagen müssen, selbst auf die Gefahr eines zeitweiligen Irrwegs hin? Die in
dieser historischen Relativität und der zuvor angedeuteten Sachrelativität gründende und daraus notwendig folgende Erneuerung der Moral — zumindest ihrer
Aussageformen — bringt ein weiteres, sehr erschwerendes Moment für den mediSchließlich ist die Relativität dieser Gesetzmäßigkeiten und die der Wahrscheinlichkeit unterworfene Wirklichkeit ebenfalls von Gott gewollt. Diese Unvollkommenheit des Lebens gleicht
die Natur mit einer gewaltigen Überproduktion und einem Überangebot aus, die einen Ablauf
nach einer mehr oder weniger vollkommenen Gesetzmäßigkeit ermöglichen.
29 Für den personalen Gewissensbereich wurde dem von der überlieferten Moraltheologie unbewußt bereits Rechnung getragen, indem sie zwischen objektiver und subjektiver Schuld unterschied. Damit trennte man zwischen objektiver Ordnung und subjektiver Erfüllung. Die Absolutheit der objektiven Ordnung wurde durch die Ausnahmestellung des subjektiven Einzelfalls
bereits damals eingeengt. Wenn auch die klare Erkenntnis einer wichtigen Sache gegeben war,
wurde darüber hinaus zugestanden, daß auch die Freiheit der Entscheidung oft durch vielfältige
Sachverhalte, Situationen und menschliche Konstitutionen stark begrenzt sein konnte, so daß die
Erfüllung der sogenannten objektiven Ordnung entfiel und manchmal sogar nicht vertretbar erschien. Die Entscheidung blieb also letztlich dem Gewissen des einzelnen überlassen. So hat auch
die überlieferte christliche Ehtik keine immer total und absolut verpflichtende Gesetzlichkeit
proklamiert.
28
27 4
zinisch-theologischen Dialog über arztethisches Verhalten in unserer Zeit mit
sich.
Wohl nicht zuletzt analysierte Böckle angesichts dieser vorgefundenen Situation
und dieser Sachverhalte drei charakteristische Faktoren, die der Theologe bei
seinem pastoralen, ethischen Auftrag beachten muß und die sich auch in den
Reflexionen zum heutigen Selbstverständnis des medizinisch-theologischen Grenzbereichs deutlich konstatieren lassenm: i. die »Entsakralisierung der Natur«,
2. das »Bewußtwerden der Geschichtlichkeit des Menschen und der Welt« wie
3. »die Erkenntnis der kulturgeschichtlichen Variabilität der gesellschaftlichen
Verhaltensnormen«. 31 Diese Situationsanalyse führt Böckle konsequenterweise
zu einer relativeren und situationsgerechteren theologischen Aussageweise der
Moral (d. h. nicht zu einer unverbindlich relativistischen Moral oder Situationsethik) und einer daraus resultierenden Seelsorge.
Aber auch andere Moraltheologen, so z. B. Klomps, stellen deutlich heraus, wie
die »Einsicht in die historisch bedingte Relativität« und auch, so , könnte man hin-zufügen, in die sachbedingte Relativität vor einer falschen Aufstellung von Thesen »vor deren ungerechtfertigter Verabsolutierung« bewahrt. 32 »Eine Moraltheologie, welche die durch die geschichtlich-kritische Selbstprüfung« und für unseren medizinisch-biologischen Bereich auch durch eine medizinisch sachbedingte
kritische Selbstprüfung »bewirkte Unruhe auf sich zu nehmen verschmähte, .. .
würde den Menschen, dem sie gilt, nicht mehr erreichen.« 33 So werden Wandelbarkeit, Vorläufigkeit und Entprivatisierung der Moral als Folge dieser Einschätzung von Böckle und anderen nicht nur deutlich zugestanden, sondern ihre
Beachtung für den Bereich der fundamentalen Ethik ausdrücklich als konstituierende Elemente gefordert. 3 I
2.3 Keineswegs soll mit all diesen Überlegungen und Darlegungen gesagt sein,
daß die überlieferte christliche Arztethik grundsätzlich keinerlei Hilfen mehr bieten kann. Auch heute können noch manche ihrer Aussagen bei konkreten Entscheidungen einen guten Dienst leisten. Doch muß man beachten, daß sie niemals absolut zu setzen sind, d. h., daß ihnen nur eine typische Bedeutung zukommt. Ohne näher auf sie einzugehen, seien als Beispiel einige durchaus noch
praktikable, kurze, prägnante Aussagen genannt: Differenzierende Kriterien
waren z. B. das Prinzip des kleineren Übels, das Prinzip des mehrwertigen
Effekts oder der Mehrzweckhandlung, die Unterscheidung zwischen direkt Töten
Vgl. z. B. H. Pompey, Die Bedeutung der Medizin für die kirchliche Seelsorge im Selbstverständnis der sogenannten Pastoralmedizin, Freiburg 1968, 1-12 und 291-315; ders., Aporie
und Selbstverständnis der sogenannten Pastoralmedizin im Laufe ihrer Geschichte. In: Humanitas
christiana (Hg. Prälat J. W. Becker) Nr. 2 1 , Neuß 1968, 3-11.
31 F. Böckle, Vordringliche moraltheologische Themen in der heutigen Predigt. In: Concilium IV
(1968) 182-189. 182f.
32 H. Klomps, Tradition und Fortschritt in der Moraltheologie, Köln 1963, 25.
33 ebd. 25.
F. Saale, a. a. 0. 184-188.
27 5
und indirekt Sterbenlassen sowie die Trennung zwischen »media ordinaria et
extraordinaria«. Sodann Enden sich Leitsätze, die bereits die Absolutheit der
Kasuistik eingrenzen, wie die Einschränkung »pro singulis sed nun pro omnibus
casibus«, ferner »abusus non tollit usum« oder »in dubio lex non obligat«, die
Frage nach Probabilität oder Tutiorität sowie die Unterscheidung zwischen der
sogenannten objektiven Ordnung und dem Primat der subjektiven Gewissensentscheidung (regula proxirna moralitatis). Als positive Richtungsnormen kennen
wir für den ärztlichen Bereich z. B. die Forderung »lege artis« zu handeln wie
»omnino non nocere« und viele andere. Es bleibt jedoch zu beachten, daß eine
arztethische Entscheidung aufgrund eines dieser Prinzipien stets variabel ist. Bei
einer momentanen Einzelentscheidung können diese allgemeinen Leitsätze aber
eine gute, praktikable Hilfe darstellen. Sie treffen dabei so lange zu, wie der
Arzt sie nicht absolut setzt und ihr übergeordnetes ethisches Verhaltensmodell
beachtet. 35
3. Die voraufgegangenen Untersuchungen und Überlegungen wollten zeigen,
wie die Voraussetzungen für generell verbindliche Schlußfolgerungen bzw.
moraltheologische Konklusionen im medizinisch-theologischen Grenzbereich und
damit für eine »arztethische Normbildung« heute sehr unsicher geworden sind,
da ein totaler Gewißheitsgrad der notwendigen medizinischen wie theologischen
Prämissen nicht mehr erreichbar ist. So werden alle am ordentlichen wie auch am
außerordentlichen Lehramt beteiligten Theologen nicht mehr umhin können,
demütig die Unvollkommenheit ihres Bemühens — zumindest im medizinischtheologischen Grenzbereich — zu konstatieren. Ihre Glaubwürdigkeit wird sich
nur erhöhen, wenn sie sich bei der Beantwortung der anthropologisch so relevanten und dazu noch medizinisch wie theologisch hoch komplexen Frage immer
wieder um eine sachgerechte und eine stets kritisch unvoreingenommene Einschätzung bemühen. Die mehrdimensionalen medizinisch-anthropologischen Sachverhalte wie die heutige Selbsteinschätzung der Theologie legen also deutlich
eine Abkehr von der bisherigen, oft kasuistischen arztethischen Normbildung
nahe und zwingen dazu, dem Arzt, der um eine rechte, verantwortungsbewußte
ethische Entscheidung bemüht ist, eine andere Hilfe anzubieten.
Die nun notwendige neue ethische Aussageweise muß den ethischen Anspruch der
Heilsbotschaft so darstellen, daß das ethische Verhalten erkannt und nach ihr
ausgerichtet werden kann. Eine sicher nicht leichte Bedingung angesichts der dargestellten Problematik. Dieser Wandel der Aussageweise bedeutet nicht unbedingt, daß sich auch immer die vorgefundenen Aussageinhalte geändert haben.
Ein Wandel trifft nur so weit zu, wie der Inhalt durch eben die stets historisch
und sachlich relevante Aussageweise geprägt wurde. Sie sind weiterhin als ver35
Seine anthropologisch-theologischen Grenzen und Grundlagen lassen sich aus der Untersuchung: H. Pompey, Grenzen und Ziele der geplanten Manipulation des Menschen nach
Aspekten einer theologischen Anthropologie. In: Humanitas christiana (Fig. Prälat J. W. Becker)
Nr. 2i, Neuß 1968, 11-35, ablesen.
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bindlich erkennbar, soweit sie heute noch als modelltypisch angesehen werden
können. Ohne also die tradierte christliche Arztethik ganz zu verwerfen, wird es
heute darüber hinaus eine weitere Aufgabe der Theologie im Dienst einer Medizin im Umbruch sein, nach neuen theologischen wie pastoralen Wegen zu suchen,
so z. B. die theologisch-anthropologischen Grundlagen modelltypischer allgemeiner Prinzipien aufzuzeigen 36 und in der Seelsorge neben der direkten Begegnung
des Arztes mit der Schrift auch mit Hilfe solcher aus der Offenbarung und der
menschlichen Natur abgeleiteten Prinzipien selbst überprüfen zu können. 37 Der
Theologe muß also trotz der vorgefundenen medizinisch wie theologisch ungünstigen Ausgangssituation versuchen, dem Mediziner, der sich um ein fachgerechtes
und arztethisches Verhalten bemüht, eine theologisch-anthropologische Einschätzung seiner Problematik und ergänzend dazu eine theologisch-anthropolo,, ische Zielsetzung der Heilkunst aufzuzeigen. Die praktische Hilfe des Theologen und Seelsorgers, die sie dem christlich gesonnenen Arzt leisten möchten,
darf somit nicht bei der kritischen Konstatierung des arzttechnischen Bereichs
stehenbleiben. Der Seelsorge kommt es darum zu, die deutlich gewordenen Ansätze einer möglichen methodisch-formal veränderten, wenn auch nicht material
neuen Arztethik im Gespräch mit dem Arzt in Zukunft immer wieder neu zu
erarbeiten. 38
Die Verpflichtung zur christlichen Lebensgestaltung, die unbestreitbar auch den
beruflich-ärztlichen Bereich impliziert, wird angestrebt und dabei gnadenhaft
im ärztlichen Alltag wirksam, wenn es dem christlichen Arzt gelingt, aus dem für
ihn allein modelltypischen Geist der Schrift wie aus dem Geist und der Seinsweise der Sakramente sein ganzes Leben durch ein Leben mit der Schrift und
den existentiell vollzogenen Sakramenten zu gestalten, wozu der gemeinsame
spirituelle wie arztethisch ausgerichtete Dialog zwischen Arzt und Theologen
einen notwendigen Hilfsdienst leisten könnte. In dieser Begegnung mit Christus
liegt heute jede arztethische Gewissensbildung begründet, und nur in dieser
existentiellen Teilhabe an Christus wird auch das christlich inspirierte Arztethos
tatsächlich vollzogen werden. Die gesamte Lebensgestaltung und Lebensbewältigung eines christlich orientierten Arztes ist somit gebunden und stets ausgerichtet
an »Jesu Wort, an die Forderungen seiner Nachfolge und an sein Beispiel«, 39
die modelltypisch sind für sein ganzes Tun. Die Vorstellung des » >Christus medicus< im frühen Christentum und in der älteren Heilkunst«, wie sie von Schipperges untersucht wurde, war bereits ein solcher Ansatz, mit dessen Hilfe ChriSiehe Anm. 35.
Es erweist sich methodisch wohl als zweckmäßig, bei arztethischen Überlegungen mehr theologisch, idiographisch als nornothetisch vorzugehen.
38 Die nicht seltene Problematik zwischen christlichem Ethos und ärztlicher Berufsausübung macht
immer wieder deutlich, wie sehr christliche Berufung und weltlicher Beruf eines christlichen Arztes
(es müßte korrekter heißen, eines Arztes, der auch Christ ist) zu einer existentiellen Einheit
verbunden sind, so daß sein Arztsein und Christsein praktisch nicht trennbar sind.
39 R. Schnackenburg, Die Kirche im NT, a. a. 0. izi.
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stus auch als Typos für die christliche Lebensgestaltung des Arztes und damit
letztlich auch der Arztethik und einer ärztlichen Spiritualität angesehen werden
konnte.°
Christliche Existenz und säkulare Berufung müssen also unumgänglich in der
faktischen Einheit des personalen Lebensbereichs nicht nur durchgestanden, sondern auch konstruktiv gestaltet werden. Dabei wird sich das »an der Offenbarung
und der Verkündigung Jesu orientierte Gewissen« stets neu bemühen müssen,
»sich seinem Geiste anzugleichen«. Ein solches Gewissen handelt nach Klomps
»frei, schöpferisch und stark, denn es handelt nicht nach einem ihm auferlegten
Gesetz, in Christus und im Heiligen Geist handelt es aus sich selbst, und der
Geist dieses Tuns berührt nicht nur die Handlung als solche, sondern den Grund
der Person bis in ihre Tiefe, aus der die sittliche Tat erwäc.hst«. 41 Wohl nur in
diesem Sinn kann es gelingen, in der je neuen Situation sich neu und richtig zu
entscheiden.
Vgl. H. Schipperges, Zur Tradition des »Christus medicus« im frühen Christentum und in der
älteren Heilkunde. In Arzt und Christ (i 965), x 2-1 9.
H. Klomps, a. a. 0. 33.
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