1 Biblisch-hermeneutische Übrungen Inhaltsverzeichnis Biblisch-hermeneutische Übrungen ................................................................................. 1 Inhaltsverzeichnis .......................................................................................................... 1 O Einführung ................................................................................................................ 2 0.1 Die Bibel - Wort GOTTES? .................................................................................. 2 0.2 Wie können wir die Bibel heute noch verstehen ? .................................................... 3 0.1 Zur subjektiven Auslegung .................................................................................... 5 0.2 Zur objektiven Auslegung...................................................................................... 6 0.2.1 Historische (oder: historisch-kritische) Exegese ................................................ 6 0.2.2 Humanwissenschaftlich geprägte Auslegungsmethoden (Vgl. IBK, 59-71) ......... 12 0.2.3 Traditionsbetonte Zugänge zur Heiligen Schrift ................................................ 15 (Vgl. IBK,52-58, 72-75) .......................................................................................... 15 0.2.4 Kritische Überlegungen zur Berechtigung und Begrenzung mehrdimensionaler Bibelauslegung ..................................................................................................... 15 1. Die Entstehung der Hl Schrift ................................................................................. 18 1.1 Die Entstehung des AT ....................................................................................... 18 1.1.1 Die Tora („Wegweisung“) ............................................................................. 19 1.1.2 Die „geschichtlichen“ Bücher ........................................................................ 20 1.1.3 Weisheitsliteratur ........................................................................................ 21 1.1.4 Propheten .............................................................................................. 21 1.1 Die Entstehung des NT .................................................................................. 23 2 Die vier Evangelisten - wer waren sie, und was war ihr theologisches und literarisches Anliegen ? ................................................................................................................... 27 2.1 MARKUS ........................................................................................................... 27 2.2 MATTHÄUS ...................................................................................................... 28 2.3 LUKAS .............................................................................................................. 30 2.4 JOHANNES ....................................................................................................... 31 3 LITERATUREMPFEHLUNGEN ................................................................................. 34 2 O Einführung Die Bibel - ist sie immer noch "das" Buch? Im Griechischen ist "ta biblia" ein Plural und heißt "Büchersammlung", was dem literarischen Charakter der Bibel besser entsprechen würde. Doch über den Umweg des Lateinischen wurde ein Singularwort daraus, das "das Buch" bedeutet. - Aber ist die Bibel auch heute noch "das Buch" oder fällt es dem Menschen mit wachsendem zeitlichen und kulturellen Abstand immer schwerer, die Bibel als "Wort GOTTES" anzusehen ? Dazu müssen zwei grundlegende Fragen geklärt werden: 0.1 Die Bibel - Wort GOTTES? 1 An vielen Stellen beansprucht die Bibel selbst, "Wort GOTTES" zu sein - im AT etwa in den Botensprüchen der Propheten, im NT dadurch, dass CHRISTUS als "das" Wort GOTTES verstanden und die Schrift als "GEISTgehaucht" bezeichnet wird (2 Tim 3,16). Die etwa bis zur Aufklärung unproblematisch vertretene Auffassung, GOTT bzw. Sein GEIST habe die Schrift Wort für Wort diktiert ("Verbalinspiration"), ist unhaltbar geworden - vor allem durch das Bewusstwerden dreier Problemkreise: in der Schrift finden sich: Widersprüche (z.B. 1 Engel in der mk. und mt. Grabeserzählung, 2 in der des Lk- und des Joh-Ev), sachliche Fehler (z.B. bei Mk und Lk gehen die Frauen zum Grab, um JESUS am 3.Tag zu salben - was bei den klimatischen Bedingungen des Landes unmöglich ist) und, zumindest im AT, auch moralische Irrtümer (z.B. die angeblich von GOTT stammende Forderung nach Vollziehung des Bannes, d.h. der Tötung alles Lebendigen und Vernichtung aller materiellen Beute in einer eroberten Stadt, um es dem menschlichen Gebrauch zu entziehen und dadurch GOTT zu "weihen"). Zur Lösung dieser Probleme muss nicht die Überzeugung aufgegeben werden, dass die Bibel "Wort GOTTES" ist, wohl aber die Vorstellung, wie sie dies ist. GOTT wirkt ja auch sonst nicht direkt in Seiner Schöpfung - gleichsam in Konkurrenz zu geschaffenen Ursachen - (d.h. Er wirkt nicht als "Zweitursache"), sondern mittels Seiner Geschöpfe (d.h. Er bleibt immer "Erstursache").Dies gilt auch für die Inspiration: Jedes Glied des atl. und ntl. GOTTESvolkes, das sich als solches bejaht, ist "inspiriert"; einige davon waren schriftstellerisch tätig, und diejenigen, deren Werke als Richtmaß des GOTTESvolkes anerkannt wurden ("Kanon" - auf den längeren Prozess der Kanonbildung gehen wir noch gesondert ein), gelten als inspiriert im engeren Sinn, ohne dabei ihre natürlichen Fähigkeiten und Mängel zu verlieren ("Realinspiration"). Dadurch wird es möglich, widersprüchliche Darstellungen als verschiedene Sichtweisen der einzelnen Autoren zu sehen und damit als Versuche, die Komplexität des Glaubens in ihren verschiedenen Aspekten wenigstens näherungsweise zu erfassen; sachliche Irrtümer auf überholte Weltbilder zurückzuführen, ohne dadurch die gläubige Weltanschauung gefährdet zu sehen. Dieser Unterschied zwischen Weltbild / Weltanschauung ist für ein richtiges Bibelverständnis unerlässlich: Weltbild meint die Zusammenschau des Wissensstandes einer Kultur und beantwortet somit die Fragen "Was?" und "Wie?"; Weltanschauung hingegen ist die bewertende Deutung der Welt bzgl. eines Letztgrundes und beantwortet daher die Fragen "Warum?" und "Wozu?" (So etwa ist es für den Glauben an einen GOTT als Letztgrund und Letztziel der Schöpfung Bereich der Weltanschauung - gleichgültig, ob man das Entstehen und Bestehen der Schöpfung aus dem Sechstagewerk wie Gen 1 oder aus einer jahrmillionenlangen Evolution erklärt - Bereich des Weltbildes). Und moralische Irrtümer lassen sich als vereinzelt vorkommende Gewissensirrtümer zu verstehen, was der Gültigkeit der Grundannahme, dass GOTT es ist, der Sich im 1 Etwas modifiziert nach DEIFEL E., Bibel - Wort GOTTES - auch heute noch? in: CPB 89/3/144-146. 3 Gewissen äußert, nicht widerspricht. Ja, es entspricht sogar der Geschichtlichkeit der Offenbarung anzunehmen, dass die Menschen GOTTES Offenbarung immer besser verstanden haben und verstehen: "Wenn aber jener kommt, der GEIST der Wahrheit, wird Er euch in die ganze Wahrheit führen" (Joh 16,13). Mittels Realinspiration kann die Bibel also auch heute als "Wort GOTTES" verstanden werden, aber als "GOTTESWORT in MENSCHENWORT" (vgl. dazu Vat.II, Dei Verbum, III/12). 0.2 Wie können wir die Bibel heute noch verstehen ? 2 Eine Person als Person können wir nie in gleicher Weise erkennen wie eine Sache. Diese Einsicht, dass Personerkenntnis grundsätzlich etwas anderes ist als Sachwissen, konkretisiert sich inhaltlich dadurch, dass sich mir eine bestimmte Person in einer bestimmten Situation mitteilt, dass sie sich mir "offenbart"; und eine solche SelbstOffenbarung kommt nur dann an ihr Ziel, wenn sie von ihrem Adressaten "geglaubt" wird. Das Gesagte gilt für jede Interpersonalbeziehung, also auch für die Beziehung zwischen GOTT und Menschen. GOTT offenbart nicht etwas, sondern Sich (vgl. Vat.I, De Revelatione, DS 3004 f.) - in allgemeiner Weise in Seiner Schöpfung, besonders in Seinen vernünftigen Geschöpfen, die aufgrund ihrer Vernunft zur Annahme eines Höheren Wesens kommen können (nicht müssen - zur Vernunftbegabtheit gehört Freiheit). Diese Art des Glaubens, die die menschliche Antwort auf GOTTES allgemeine ("natürliche") Offenbarung darstellt und grundsätzlich jedem Menschen zu jeder Zeit möglich wäre, kann man als Vernunftglauben bezeichnen. Doch kann dieser nur dazu führen, dass man an GOTT glaubt, nicht aber erschließen, wie Sich GOTT zu uns verhält. Nach christlicher Überzeugung hat Sich uns GOTT immer wieder persönlich in der Geschichte mitgeteilt - als JAHWE, als "der, der für uns da ist", und dessen Für-uns-Sein in CHRISTUS seinen unüberbietbaren Höhepunkt gefunden hat; diese geschichtliche ("übernatürliche") Offenbarung "füllt" erst den durch den Vernunftglauben abgesteckten Rahmen und kann, wenn sie gläubig angenommen wird, als Offenbarungsglauben bezeichnet werden. Die Bezeichnungen Vernunft- und Offenbarungsglauben wurden übrigens in der Aufklärung geprägt und sind nicht ganz glücklich gewählt, weil im Wort Vernunftglauben Vernunft das Erkenntnismittel darstellt, im Begriff Offenbarungsglauben die Offenbarung aber den Inhalt des Glaubens, ohne dass die Vernunft dadurch als Erkenntnismittel ausgeschaltet wäre; klarer wären wohl Begriffe wie "allgemeiner Glaube" / "besonderer Glaube" - aber es ist immer schwierig, eingebürgerte Begriffe zu ändern. Jedenfalls dient der Vernunftglaube nicht nur als Rahmen für den Offenbarungsglauben, sondern auch als Übersetzungshilfe für den schriftlich fixierten Offenbarungsglauben: Die Bibel als GOTTESWORT in Menschenwort bedarf immer neuen menschlichen Bemühens, um "nach bestem Wissen und Gewissen" für andere Zeiten und Kulturen verständlich und verbindlich gemacht zu werden - und auch dieses Bemühen ist im Sinne der "Realinspiration" inspiriert ("Tradition" - vgl. Vat.II, DV,I/2). Die Bibel ist innerhalb der Tradition des atl. und ntl. GOTTESvolkes entstanden und kann daher auch nur innerhalb dieser Tradition richtig verstanden werden. Das bedeutet, dass die Gemeinschaft des Gottesvolkes, solange sie besteht, vor eine dauernde Übersetzungsaufgabe gestellt ist - das GOTTESWORT kann nicht in ein für allemal gültiges Menschenwort gefasst werden, da das Menschenwort grundsätzlich ein endliches, unvollkommenes, verbesserungsbedürftiges ist: "Diese apostolische Überlieferung kennt in der Kirche unter dem Beistand des Heiligen GEISTES einen Fortschritt; es wächst das Verständnis der überlieferten Dinge und Worte .." (DV 2/8). 2 ) Vgl. RAHNER K., Über die Schriftinspiration, Quaest.disp. 1, Freiburg i.Br. 1958. 4 Bevor wir auf die heute üblichen Auslegungsmethoden und ihre Grenzen eingehen, soll noch auf die Einheit der Bibel ausdrücklich hingewiesen werden. Es ist die Besonderheit der christlichen Bibel, dass sie die jüdische Bibel, das sog. "AT" ungekürzt und unverändert übernommen und dem NT vorangestellt hat. Damit ist von Anfang an festgelegt, dass das NT nur vom AT her verstanden werden kann - was aber nicht umkehrbar ist: das AT ist auch ohne NT verstehbar, und man sollte diese Möglichkeit unserer Mutterreligion, dem Judentum, nicht absprechen 3. Leider lässt sich immer wieder feststellen, dass Christen nicht nur Juden abwertend behandeln, sondern auch das AT. Als Auslegungsschlüssel zum NT wird es überhaupt kaum gesehen. Das ist umso befremdlicher, als wir vom Tridentinum durch ein Dogma i.e.S. zum Glauben an die ganze Bibel verpflichtet sind: "Wer aber diese <vorher aufgezählten, Anm.d.Verf.> Bücher nicht vollständig mit allen ihren Teilen, wie sie in der katholischen Kirche gelesen zu werden pflegen..., als heilig und kanonisch anerkennt und die vorher erwähnte Überlieferungen wissentlich und absichtlich verachtet: der sei mit dem Anathema belegt" (DH 1504, Sessio IV). Diese Aufgabe war christlichen Theologen früh bewusst, wobei sie z.T. auf bereits vorhandene jüdisch-rabbinische Auslegungstechniken zurückgreifen konnten, was sich schon im NT - etwa bei PAULUS oder MATTHÄUS - zeigt. An der Wende von der Antike zum Mittelalter entwickelte CASSIAN die Lehre vom vierfachen Schriftsinn, d.h. die Bibel muss verstanden werden: wörtlich, allegorisch ( d.h. aus dem Glauben muss auf den tieferen Sinn des Tatsächlichen geschlossen werden), moralisch (d.h. das aus der Bibel Erkannte muss durch die persönliche Lebenspraxis anerkannt werden), anagogisch (wörtl.: "höherführend", d.h. das aus der Bibel Erkannte und Gelebte soll den Menschen höher führen - auf sein Letztziel, GOTT, hin). Heute unterscheidet man - entsprechend der Differenz zwischen alltäglichem Wissen und wissenschaftlichem Wissen - zwischen subjektiver und objektiver Schriftauslegung.4 Seit dem 2. Vaticanum haben sich eine Reihe von wissenschaftlichen Methoden der Bibelarbeit entwickelt. Dies ist selbstverständlich anzuerkennen, hat aber eine Gefahr mit sich gebracht, die erst jetzt zunehmend deutlich wird – dass theologische Laien sich kaum mehr unbefangen mit der Hl. Schrift zu beschäftigen wagen, weil sie meinen, das nur unter Anleitung eines Fachmannes / einer Fachfrau oder zumindest anhand eines Bibelkommentars tun zu dürfen. Dabei wird ein wichtiger Unterschied übersehen: schon im Judentum und im frühen Christentum gab es wissenschaftliche Auslegungsmethoden, aber immer zugleich den spontanen Zugang des einzelnen Gläubigen5: Zugänge im Alltag sind „subjektiv“, d.h. gehen von der persönlichen Lebenserfahrung des einzelnen aus, für den sie dann selbstverständlich auch stimmt. Probleme treten nur auf, wo es zu „Grenzüberschreitungen“ kommt – wenn entweder seitens der Wissenschaften persönliche Lebenserfahrungen und Werthaltungen relativiert werden oder die persönliche Lebenserfahrung verallgemeinert und zur Zwangsbeglückung für andere gemacht wird. 3 Vgl. dazu: DOHMEN Chr.-MUßNER F., Nur die halbe Wahrheit? Für die Einheit der ganzen Bibel, Freiburg-Basel-Wien 1993; ZENGER E., Das Erste Testament. Die jüdische Bibel und die Christen, Düsseldorf 19991. 4 Vgl. dazu bes.: KREMER J., Die Bibel lesen - aber wie? Eine kleine Anleitung zum Verstehen der Heiligen Schrift, KBW/Stuttgart 1978, 6.Aufl., und ders., Die Bibel - ein Buch für alle. Berechtigung und Grenzen `einfacher' Schriftlesung, KBW/Stuttgart 1986. 5 Vgl. dazu bes.: KREMER J., Die Bibel lesen - aber wie? Eine kleine Anleitung zum Verstehen der Heiligen Schrift, KBW/Stuttgart 1978, 6.Aufl., und ders., Die Bibel - ein Buch für alle. Berechtigung und Grenzen `einfacher' Schriftlesung, KBW/Stuttgart 1986. 5 Wissenschaftliche Methoden sind „objektiv“ in dem Sinne, dass jeder, der sich damit beschäftigt, einen Gedankengang nachvollziehen und seine Richtigkeit überprüfen können muss. Schriftauslegung subjektiv (erfahrungsbezogen) Die persönliche Schriftmeditation soll Schrift mit Leben in Verbindung bringen ( “Korrelation“, Bedeutung von Symbolen = irdischen Bildern für Geistiges), wie etwa: Geistliche Schriftlesung nach BENEDICT LUMKO BLUDESCH objektiv (mehrdimensional) Kombination verschiedener wissenschaftlicher Methoden, um zu einer intersubjektiv überprüfbaren Interpretation zu gelangen – Anwendung und Abgrenzung der Methoden allerdings noch nicht völlig geklärt ( Problem der Wissenschaftstheorie der Theologie) Historisch-kritische Exegese Grundlegende Analysen (Textkritik – Segmentierung - Übersetzungen) Synchrone Methoden (Sprachkritik, rhetorische – narrative – semantische – stilistische Analyse, Strukturanalyse, Gattungs- und Formkritik) Diachrone Methoden (Literarkritik – Traditionskritik – Redaktionskritik – Motivkritik – Auslegungsgeschichte – Wirkungsgeschichte) Humanwissenschaftlich geprägte Methoden Tiefenpsychologische Exegese Feministische Exegese Politische Exegese Befreiungstheologische Exegese Kanonische Bibellektüre 0.1 Zur subjektiven Auslegung Die persönlichen Schriftlesung (lectio divina, die Geistliche Schriftlesung) soll die Schrift mit unserem Leben in Verbindung bringen (Korrelation); dafür ist Symbolverständnis wichtig, weil Symbole irdische Bilder für Überirdisches darstellen. Ich soll die Erfahrungen biblischer Autoren als Wegweiser für mein Leben nehmen, entweder, um mich selbst in der Bibel wiederzufinden, oder, um möglichst viele dieser Erfahrungen selbst machen zu können: „Lebe, was du von der Bibel verstanden hast, und du wirst die Bibel besser verstehen“ (Roger SCHUTZ). Dieses persönliche Umgehen mit der Bibel, die lectio divina, die Geistliche Schriftlesung, kann man auch als Schriftmeditation (Meditation im weiteren Sinn genommen) verstehen. Sie geht schon auf den hl. BENEDICT zurück, wird bis heute vor allem in den Orden praktiziert und umfasst drei Schritte, ein vierter kann angeschlossen werden: 1. Ich lese einen kleinen, zusammenhängenden Abschnitt aus der Bibel (lectio, d.h. Lesung) und versuche diesen Abschnitt, so gut ich kann, zu verstehen (die lectio wendet sich also an den Verstand). - „Wie sollen sie an den glauben, von dem sie nichts gehört haben? Wie sollen sie hören, wenn niemand verkündet“ (Röm 10,14 b und c) 2. Ich nehme mir Zeit und überdenke ruhig, was GOTT mir persönlich mit diesen Versen sagen will (meditatio im engeren Sinn, auch ruminatio, Wiederkauen, genannt; die ruminatio wendet sich an das Gefühl). - „Maria aber bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen und achte darüber nach“ (Lk 2,19). 3. Ich versuche, über das, was ich gelesen und erwogen habe, mit GOTT in Zwiegespräch zu kommen (oratio, d.h. Gebet), und überlege, was davon ich in meinem Leben praktisch umsetzen könnte (die oratio betrifft also auch den Willen). – „Dann geh und handle genau so“ (Lk 10, 37 c). 4. Wer sich noch tiefer von der Schrift verwandeln lassen möchte, soll einen vierten Schritt anschließen: Ich höre auf, zu denken und zu wollen, ich werde einfach zu einer offenen Schale, in die der Schrifttext immer mehr einsinkt (contemplatio, 6 einfach vor und für GOTT da sein).- „...nicht mehr ich leben, sondern CHRISTUS lebt in mir“ (Gal 2,20 a). Natürlich können auch Gruppen die Geistliche Schriftlesung üben. Eine einfach Methode, auch Laien die gemeinsame Bibellektüre zu ermöglichen, hat das Katholische Lumko-Institut Südafrika erfunden; die Methode verbreitete sich rasch auch in Europa und Amerika und wird als Lumko-Methode, Sieben-Schritt-Methode oder Bibel-Teilen bezeichnet. 1. Wir laden den HERRN durch ein kurzes Gebet oder Lied ein. 2. Wir lesen den Textes; es empfiehlt sich, je nach Gruppengröße reihum Vers- oder Absatzweise zu lesen, damit jeder / jede aktiv eingebunden ist. 3. Wir verweilen beim Text: Jeder liest (im Uhrzeigersinn) vor, welcher Satz / welche Sätze ihm wichtig ist / sind – zunächst ohne Begründung oder Diskussion. 4. Wir schweigen für eine kurze Zeit, die vorher angegeben werden sollte. 5. Wir teilen einander mit, welche Worte uns betroffen haben und warum; hier können auch Fragen eingebracht werden. Jeder soll in Ich-Form sprechen, je persönliche Erfahrung gilt – es soll kein Streitgespräch entstehen. 6. Wir überlegen: Was will uns der HERR durch diesen Text sagen? Was davon könnten wir verwirklichen? Bei Fortsetzungsgesprächen: Was haben wir verwirklicht? 7. Zum Abschlussgebet sollte jeder etwas beitragen, dann kann man gemeinsam mit einem Vater unser und einer Segensbitte schließen. Hat die Gruppe länger Zeit und will sich gründlicher mit der ausgewählten Bibelstelle auseinandersetzen, kann sie den Punkt 3 durch eine schriftliche Auseinandersetzung in 5 Punkten ersetzen (Methode BLUDESCH): a) Was ist die zentrale Aussage? (Zusammenfassung in 1 Satz) b) Was verstehe ich nicht? c) Welche Zusammenhänge gibt es? (Kontext, Parallelstellen, ähnliche Stellen) d) Was gefällt mir / gefällt mir nicht? e) Was kann ich / können wir konkret tun? Der Punkt 4 bleibt gleich, in Punkt 5 erfolgt der Austausch gegliedert nach den 5 Fragen. Der Abschluss bleibt gleich. 0.2 Zur objektiven Auslegung 0.2.1 Historische (oder: historisch-kritische) Exegese In der griechischen Mythologie war der Gott HERMES der „Dolmetscher“ zwischen Göttern und Menschen. Nach ihm heißt bis heute die Kunst des Verstehens von sprachlichen und nichtsprachlichen Äußerungen anderer Menschen Hermeneutik. Dieses Verstehen kann auf verschiedenen Ebenen stattfinden. Der Übersichtlichkeit halber sollen die wesentlichen Möglichkeiten genannt werden, ausführlicher besprochen werden dann aber nur Möglichkeiten, wie man ohne wissenschaftliche Vorbildung mit der Bibel sinnvoll umgehen kann. Im Alltag bedient man sich, meist unbewusst, bei jeder Kommunikation einer einfachen Form von Hermeutik – man will ja den anderen verstehen und von ihm verstanden werden - ; Einfachheit ist hier deshalb möglich, weil ja der persönliche Kontakt meist Eindeutigkeit verschafft; meist – denn auch im Alltag gibt es Missverständnisse, die sogar zum Streit führen können. Eine schwierigere Form ist die Gesprächstherapie: hier sind besondere Methoden erforderlich, da der ursprüngliche Sinn verdrängt wurde und Neurosen erzeugte – die neurotischen Symptome sind entstellte Symbole, die entschlüsselt werden müssen. Diese Methode kann uns hier nicht beschäftigen, sie gehört in die Psychiatrie bzw. Psychotherapie. Auf wissenschaftlicher Ebene bedient man sich der hermeneutischen Methode (mit vielen Untermethoden). um menschliche Äußerungen aus anderen Zeiten und Kulturen, besonders solche in schriftlicher Form, zu verstehen. Hermeneutik ist somit der grundlegende Methodentyp der sog. Geistes- oder Kulturwissenschaften. Hermeneutik unterstellt dem zu untersuchenden historischen Dokument zunächst vorläufig den wahrscheinlichsten Sinn (Hypothesenbildung) und versucht diese Hypothese durch 7 möglichst viele dazu erreichbare Daten zu überprüfen, also als falsch oder als wahr auszuweisen (Hypothesenüberprüfung durch Falsifikation/Verifikation: Dieses Verfahren ist relativ kompliziert und wird als "hermeneutischer Zirkel" oder - besser - als "hermeneutische Spirale" bezeichnet. Denn es findet ein wechselseitiges Erklären und Korrigieren zwischen dem Vorverständnis des Wissenschaftlers und dem hypothetisch unterstellten Sinn einerseits, zwischen diesem Sinn und den zu seiner Überprüfung herangezogenen Daten andererseits statt. V=Vorverständnis, T=Tatsache) ). V2 V1 V T T1 T2 Auf metatheoretischer Ebene ist die Hermeneutik eine eigene wissenschaftstheoretische Position, die auf Wilhelm DILTHEY, einen deutschen Philosophen und Pädagogen des 19. Jhs., zurückgeht – auch darauf kann hier nicht näher eingegangen werden. Der Methodentyp der Geisteswissenschaften konkretisiert sich in verschiedenen Methoden; unter diesen ist für die Erschließung von Texten die historisch- kritische Exegese am bedeutendsten. Sie entstand im Rahmen der Entwicklung der neuzeitlichen Geisteswissenschaften ab der Aufklärungszeit; der Name "historisch" sagt aus, dass die üblichen geschichtswissenschaftlichen Methoden (wie etwa in den Geschichts- und Sprachwissenschaften) verwendet werden, der Name "kritisch", dass eine bewusste Abgrenzung gegen unwissenschaftliche Deutungen durch das Alltagsbewusstsein erfolgt, "Exegese" heißt Auslegung. Innerhalb der historisch-kritischen Exegese haben sich verschiedene Unter-Methoden entwickelt, die in der einschlägigen Literatur oft eine verwirrende Vielfalt und unterschiedliche Einteilung aufweisen. Für die nun folgende Kurzdarstellung der wichtigsten Methoden der Schriftauslegung wurde besonders die deutschsprachige Ausgabe "Die Interpretation der Bibel in der Kirche" der Päpstlichen Bibelkommission (Vatikan 1993) herangezogen (Kurzzitation: IBK + Seitenzahl; ferner: EGGER W., Methodenlehre zum Neuen Testament, Freiburg-Basel-Wien 1993, 3.Aufl (Kurzzitation: E + Seitenzahl). 2.2.1.1 Grundlegende Analysen 1) Textkritik (vgl. E, 46-54; IBK, 39-43) ist das Bemühen um Wiederherstellung des Originaltextes. Der Originaltext ist bei keinem antiken Werk, also auch nicht bei der Bibel, erhalten. In der Antike, als man Werke durch Diktieren vervielfältigte, ist mit Hörfehlern zu rechnen, im Mittelalter mit Abschreibfehlern. Dazu kommen unabsichtliche (z.B. Mitkopieren einer Randbemerkung) oder absichtliche (z.B. Korrektur anstößig erscheinender Texte) Änderungen durch die Abschreiber. Welche Lesart ist bei Textvarianten vorzuziehen ? Als "äußeres Kriterium" gilt Alter und Qualität eines Papyrus oder einer Handschrift, ferner, ob eine Lesart in mehreren Handschriften bezeugt ist; als "innere Kriterien" der Vorzug der kürzeren Lesart vor der längeren, der schwierigeren vor der leichteren, der von Parallelstellen unabhängigen Lesart vor abhängigen, der der Wortwahl und dem Stil des Autors besser entsprechenden u.ä. Es ist also eine fast "detektivische" Arbeit zu leisten, und nicht immer kommen Wissenschaftler zu einheitlichen Ergebnissen, zumal wenn Kriterien einander widersprechen (z.B. die besseren Handschriften bieten die leichtere Lesart). 8 2) Segmentierung (Vgl.E,55-60) Der nächste Schritt ist die Abgrenzung von Texteinheiten oder die Segmentierung des Textes (in der Fachliteratur - die hier in der Terminologie leider nicht einheitlich ist, auch als "Literarkritik" bezeichnet; wir verwenden diesen Begriff aber wie E, 162 ff., s.u.). Diese Texteinheiten heißen auch Perikopen (w.: die rundherum Abgegrenzten). Eine solche Abgrenzungsarbeit ist nötig, weil man in der Antike, um Schreibmaterial zu sparen, fortlaufend schrieb, ohne Kapiteleinteilung, meist auch ohne klare Satztrennung, was das verständnisvolle Lesen ziemlich erschwerte. Daher versuchte man im Mittelalter zunächst eine Kapiteleinteilung (Stephan LANGTON, 1226), dann eine Verseinteilung der Bibel (Rabbi Isaak NATHAN, 1440, und Santes PAGNINI,OP, 1528). Auch wenn diese Einteilung nicht immer glücklich ist, setzte sie sich generell durch. Um Texteinheiten herauszufinden, achtet man auf inhaltliche Kriterien wie etwa Wechsel der Zeit-, Orts-, Situations-, Themen- und Personenangaben, und auf sprachliche Kriterien wie auf den Wechsel im Satzbau, Satzeinleitungen u.ä., aber auch auf die Einheitlichkeit / Uneinheitlichkeit eines Textes, etwa, ob es störende Wiederholungen, inhaltliche Widersprüche, sprachliche Unklarheiten gibt. (Ein Beispiel: "Er ließ das Meer austrocknen und das Wasser spaltete sich" (Ex 14,21 c): In demselben Vers sind zwei unterschiedliche Vorstellungen über die Wegbarmachung des Schilfmeeres einfach mit "und" zusammengefügt; diese unterschiedlichen Vorstellungen sprechen dafür, dass man diesen Satz zwei Autoren (hier dem Jahwisten und der Priesterschrift) zuweisen muss). Als Ergebnis kann herauskommen, dass eine Perikope einheitlich, zusammengesetzt oder erweitert ist. Exkurs : Wie zitiert man die Bibel ? Zuerst steht die - durch die Loccumer Richtlinien genormte - Abkürzung des jeweiligen Buches, dann folgt die Zahl des Kapitels, schließlich, nach einem Beistrich, die Verszahl z.B. Röm 8,11 (= Römerbrief, Kapitel 8, Vers 11). Will man nur einen Teil eines längeren Verses zitieren, so fügt man einen Kleinbuchstaben bei - a,b,c,... - z.B. Röm 8, 11 b meint nur den 2.Teil des Verses 11. Will man mehrere Verse zitieren, so setzt man, wenn die Verse durchlaufend gemeint sind, einen Bindestrich - z.B. Röm 8,1-11 - oder fügt "f." oder"ff." an, wenn der folgende oder die folgenden Verse bezeichnet werden sollen - z.B. Röm 8,1 f. bzw. 1 ff.; wenn aber nur einzelne Verse desselben Kapitels gemeint sind, trennt man diese durch Punkte - z.B. Röm 8,1.3.7. Durch einen Strichpunkt trennt man verschiedene Zitate - z.B. Röm 5,12; Röm 8,11. Gibt es von einem biblischen Buch mehrere Exemplare, wird die entsprechende Ziffer dem abgekürzten Buchtitel vorangestellt - z.B. 1 Kor 15 (= 1.Korintherbrief, Kapitel 15). Exkurs: Textgeschichte - Urtext und Übersetzungen (Vgl.E, 61-73) Der Urtext der Bibel ist nicht erhalten, doch liegen uns von keinem anderen literarischen Werk der Antike so viele und so alte Handschriften vor. So etwa besitzen wir von SOPHOKLES nur 100, von der Bibel aber über 5000 Handschriften; die ältesten PLATONHandschriften sind aus dem 9.Jh.n., die ältesten Bibelhandschriften aber bereits aus dem 2.Jh.n. Die wichtigsten Handschriften, die übrigens noch keine Kapitel-, Satz- und Worttrennung enthalten, sind: * Papyri, ein aus der Papyrusstaude gewonnenes Schreibmaterial: sie stammen aus dem 2. bis 3.Jh.n. und werden zitiert "P + Nummer ihrer Registrierung"; der älteste Papyrus, eine kleines Fragment aus dem Joh-Ev, ist der P 52, entstanden um 120 n. * Majuskel-Codices sind aus Pergament (Tierhaut) und nur mit Großbuchstaben beschrieben; sie stammen aus dem 4.bis 7.Jh.n.und werden zitiert mit Großbuchstaben oder mit "01,02,...", etwa: 01 (aleph): Codex Sinaiticus (4.Jh.) 02 (A): Alexandrinus (5.Jh.) 9 03 (B): Vaticanus (4.Jh.) 04(C):Codex Ephraemi rescriptus (5.Jh.: Dieser Codex ist ein sog. Palimpsest, d.h. sein ursprünglicher Text wurde abgeschabt und mit einem Bibeltext überschrieben - ein in der ausgehenden Antike und im frühen Mittelalter ein aus Sparsamkeit nicht selten geübtes Verfahren.) 05 (D): Codex Bezae Cantabrigiensis (5./6.Jh.) * Minuskel-Codices sind Pergamentcodices in Kleinbuchstaben; sie entstanden ab dem 8.Jh.n. und werden mit einfachen Ziffern durchnumeriert (1,2,...). Die Ursprache des NT war Koine-Griechisch, seit ALEXANDER d.Gr. die Einheitssprache des gesamten östlichen Mittelmeerraumes. Gegenüber dem klassischen Griechisch wies es einige Besonderheiten auf, die es als Brücke zum Neugriechischen ausweisen: Unter Itazismus versteht man die I-Aussprache nicht nur des "i", sondern auch des langen "e" und aller i-Diphthonge (ai,ei,oi); die grammatischen Formen und die Syntax wurden stark vereinfacht; Eigenheiten der jeweiligen Landessprache wurden übernommen, also im Raum von Judäa und Galiäa Semitismen bzw. Aramäismen. Übersetzungen entstanden bald: Von den lateinischen Übersetzungen ist die älteste die Vetus Latina (3.Jh.), die bekannteste die Vulgata des hl.HIERONYMUS (4.Jh.). Neben den lateinischen Übersetzungen entstanden auch solche ins Syrische ("P´schitto"), Ägyptische (ins Sahidische / Oberägypten und ins Boharische / Unterägypten), Arabische, Gotische,... Von den deutschen Übersetzungen wurde die von LUTHER am bekanntesten: Es gab zwar schon deutsche Übersetzungen vor LUTHER, doch alle nur aus der Vulgata; erst LUTHER bemühte sich um eine Übersetzung aus dem Urtext - worin ihm die Katholische Kirche erst seit dem Vat.II folgte. (Das ist in der "Authentisch-Erklärung" der Vulgata durch das Tridentinum, DH 1506, begründet). Übersetzungen (Vgl.E,61-72) Jede Übersetzung ist bereits eine Interpretation, da es keine zwei völlig deckungsgleichen Sprachen gibt. Heute hat sich in der katholischen Glaubensverkündigung, also auch im Religionsunterricht, die sog. Einheitsübersetzung ("EÜ") aus dem Jahre 1972 durchgesetzt; doch empfiehlt sich für jede genauere Arbeit an der Bibel der Rückgriff auf die Originalsprache bzw. für den, der diese nicht kann, der Vergleich mehrerer Übersetzungen. Die Zürcher Bibel der Reformierten gilt als sehr exakt, die evangelische LUTHERÜbersetzung und die katholische KARRER- Übersetzung zeigen viel Sprachgefühl, die evangelisch-katholische "Bibel im heutigen Deutsch. Die gute Nachricht" will auch Fernstehende ansprechen (s. auch u., Literaturangaben zu Kapitel 0). ------------------------------------------------Bei den folgenden Methoden ist ein wichtiger Unterschied zu beachten: Synchrone (w.: gleichzeitige) Methoden ("Kritik") untersuchen den engeren und weiteren Kontext eines Textes und haben Vorrang vor den diachronen. Diachrone (w.: durch die Zeit verlaufende) Methoden ("Geschichte") untersuchen die Vorgeschichte und Nachwirkung eines Textes (sie sind die ältesten Methoden der historischkritischen Exegese, man könnte sie auch als historisch-kritische Exegese i.e.S. bezeichnen). 0.2.1.2 Synchrone Methoden oder Sprachkritik i.w.S. (Vgl. auch IBK, 43-52; sehr ausführlich E,74-157): 1) Die Sprachkritik i.e.S. oder pragmatische Analyse thematisiert die Aussageabsicht eines Textes, besonders, ob er informatorisch oder performatorisch ist. Dieser Unterschied, der uns im Alltag selbstverständlich ist, wird leider bei Textinterpretationen oft zu wenig 10 beachtet. Wenn man z.B. sagt: "Herr X ist mit Frau Y verheiratet", so gibt man eine Information. Wenn aber Herr X die Frage des Priesters, ob er Frau Y heiraten möchte, mit "Ja" beantwortet, so informiert er nicht über eine bereits vorhandene Wirklichkeit, sondern schafft eine neue Wirklichkeit, in diesem Fall die seiner Ehe. Performative Texte wollen also im Zuhörer / Leser eine bestimmte Aktivität bzw. Haltung hervorrufen - so etwa ist ein Gleichnis "wahr", auch wenn die erzählte Handlung nicht "wirklich" (im Sinne der Historizität) stattgefunden hat. Die Sprachkritik muss verschiedene Aspekte eines Textes berücksichtigen, wozu weitere Methoden dienen: 2) Die rhetorische Analyse berücksichtigt, dass die meisten Bibeltexte nicht rein informatorischen Charakter aufweisen, sondern - mehr oder minder - überzeugen (performatorisch sein) wollen. Die antike Rhetorik unterschied drei Überzeugungsfaktoren: die Autorität des Redners, die Plausibilität der Argumentation und die Wirkung auf die Zuhörer. Ferner wurde großer Wert auf Formalismen gelegt: im semitischen Bereich liebte man Parallelismen (derselbe Gedanke wird zwei Mal etwas verschieden ausgedrückt) oder Antithesen (ein Gedanke wird durch einen Gegengedanken verdeutlicht), im hellenistischen Raum besonders klare Satzkonstruktionen (Hauptgedanke im Hauptsatz, Nebengedanken in Nebensätzen; Gewichtung der Wortstellung: 1. Satzende, 2. Satzanfang, 3. Satzmitte), in allen antiken Sprachen eine ausgewogene Rhythmik, wobei Prosa- und Versrhythmen streng unterschieden wurden. Heutige Formen der Rhetorik interessieren sich stärker für die - soziologisch und psychologisch interpretierbare - Sprechsituation. 3) Die narrative Analyse will dem Erzähl- und Zeugnischarakter der Schrift gerecht werden. Die biblischen Autoren wollten in ihren Hörern / Lesern etwas ("Umkehr") erreichen; da sie diese Hörer/ Leser nicht kannten, spricht man von impliziten Hörern / Lesern. Die realen Hörer / Leser sind die, die der Bibeltext tatsächlich erreicht. Je mehr die realen Hörer / Leser mit den impliziten ident sind, desto größer ist die Wirkung des Textes. Es ist eine wesentliche Aufgabe jeder Art von Glaubensverkündigung, diese Identifizierung zu erleichtern. 4) Die semantische Analyse betrachtet, lexikalisch und im Kontext, die Wortbedeutungen. Zur Untersuchung der je persönlichen Wortwahl eines Autors sind die modernen (Computer)Konkordanzen unerlässlich, das sind Lexika, die in alphabetischer Reihung die in der Bibel (bzw. getrennt in AT und NT) vorkommenden Begriffe mit genauer Stellenangabe anführen. 5) Die stilistische Analyse untersucht den Stil sowohl auf Wortebene (Wortwahl, wörtlicher/übertragener Wortgebrauch, Wortverbindungen, Wortwiederholungen und Wortstellung etc.) als auch auf Satzebene (Satzarten, Satzbau). 6) Die Strukturanalyse untersucht sowohl die sprachliche Struktur eines Textes (unter Einbeziehung der Ergebnisse der semantischen und stilistischen Analyse) - denn jede Sprache ist ein System von Beziehungen, das bestimmten Regeln gehorcht -, als auch seine inhaltliche Struktur, etwa seinen dramatischen Aufbau, das Zusammenspiel seiner Personen etc. Dazu sind Strukturskizzen hilfreich. Unter dem Einfluss der Linguistik (Sprachwissenschaft) wurde die Strukturanalyse stark ausgebaut, so dass sie von manchen Exegeten als eigene Methode neben die historisch-kritische Exegese gestellt wird. Dies führt m.E. zu methodischen Unklarheiten: Denn alle (Einzel)Methoden der historisch-kritischen Exegese sind Unterarten des historisch-linguistischen Methodentyps, zu dem folglich auch die Strukturanalyse gehört. 7) Die Gattungs- und Formkritik thematisiert den Unterschied zwischen literarischer Gattung (Textsorte, Formtyp), die einen bestimmten "Sitz im Leben" aufweist, und lite- 11 rarischer Form (konkrete Ausformung der Gattung). Auch im Alltag ist uns dieser Unterschied geläufig - z.B. sind Vermählungs- oder Todesanzeigen eine bestimmte literarische Gattung unseres Kulturkreises, die konkrete Ausformung kann, je nach Geschmack und Investitionsfreudigkeit des Absenders, sehr unterschiedlich gestaltet sein. Eine Nichtberücksichtigung der literarischen Gattung kann zu schweren Missverständnissen eines Textes führen 6. 0.2.1.3 Diachrone Methoden (Vgl. E, 159-194) Diachrone Methoden wollen die innertextliche Vorgeschichte eines Textes erhellen. Diese Vorgeschichte ist beim NT einfacher als beim AT; beim NT müssen wir mit einem dreifachen Sitz im Leben rechnen: 1. Worte und Taten JESU - 2. mündliche und z.T. schon schriftliche Überlieferung in der Urkirche - 3. Niederschrift, die nach einem längeren Entscheidungsprozess in den Kanon aufgenommen wurde. Literar-, Traditions- und Redaktionskritik berücksichtigen diese Tatsache, dass die meisten Texte eine Entwicklung durchmachen: Sie werden meist eine Zeitlang mündlich und/oder schriftlich tradiert, bevor sie von einem Endredaktor endgültig schriftlich fixiert werden. 1) "Die Literarkritik untersucht die ntl. Texte daraufhin, ob zu ihrer Abfassung schriftliche Vorlagen verwendet wurden, und stellt sich die Aufgabe, diese Vorlagen zu rekonstruieren sowie deren theologische Akzente und deren Sitz im Leben zu erhellen" (E,162). Wie bei der obgenannten Segmentierung wird der Text auf Unterbrechungen des Kontextes, Spannungen und Widersprüche, Doppelungen und Wiederholungen, auffällige Abweichungen von Stil und Wortwahl des Autors untersucht, hier allerdings mit dem Ziel, schriftliche Vorlagen nachweisen zu können. So etwa konnte für Mt und Lk mit großer Wahrscheinlichkeit als Vorlage die Redequelle („Q“) nachgewiesen werden, für Joh mit geringerer Wahrscheinlichkeit eine Zeichenquelle () - worauf noch eingegangen wird. 2) Die Traditionskritik will die mündliche Vorgeschichte eines Textes rekonstruieren. Wie die Literarkritik setzt auch die Traditionskritik die Segmentierung des Textes voraus, bleibt aber unsicherer und ist oft von der Literarkritik nicht klar abgrenzbar. Als Faustregel könnte man sagen: wenn zwei (oder mehr) biblische Autoren etwas in nahezu identer sprachlicher Form darstellen und diese Sprachform noch dazu von ihrem persönlichen Sprachgebrauch abweicht, ist mit einer gemeinsamen schriftlichen Quelle zu rechnen. Wo zwei (oder mehr) biblische Autoren eine inhaltlich ähnliche Perikope bringen, doch geprägt von ihrer je eigenen Sprache und ihrem persönlichen theologischen Konzept, liegt wahrscheinlich nur eine mündliche Tradition zugrunde - z.B. finden wir bei allen vier Evangelisten die Erzählung einer Salbung JESU durch eine Frau, doch weisen die Erzählungen einen unterschiedlichen Rahmen, eine andere Akzentsetzung, ein verschiedene Ausgestaltung auf (Mk 14,3-9 // Mt 26,6-13; etwas anders Lk 7,36-50; wieder etwas anders Joh 12,1-8). Schwieriger wird die Abgrenzung von Literar- und Traditionskritik dort, wo eine Perikope nur von einem Autor überliefert wird. Hier darf man vermuten, dass überall dort, wo der Sprachgebrauch deutlich von seinem sonst üblichen abweicht, eine schriftliche Vorlage verwendet wurde, wo dies nicht der Fall ist, mündliche Traditionen (so etwa erweist sich der erste Teil der Pfingsterzählung, Apg 2,1-4, als vorlk., der zweite Teil, Apg 2,5-13 als lk: vgl. die Besprechung der Apg, Kapitel 4). 3) Die Redaktionskritik (Redaktion = endgültige schriftliche Fixierung) "versucht den Vorgang der Redaktion und die Rolle des Redaktors zu rekonstruieren" (E,183).Um unterscheiden zu können, was einem Autor vorgegeben und was sein Gestaltungsbeitrag ist, sind die Ergebnisse der Textabgrenzung und Sprachkritik ebenso zu berücksichtigen wie die der Literar- und Traditionskritik. Wenn sich z.B. bestimmte Themen der Jüngerbelehrung bei 6 Vgl. dazu: LOHFINK G., Jetzt verstehe ich die Bibel. Ein Sachbuch zur Formkritik, KBW/Stuttgart o.J. 12 Mt in einer großen Rede, der Bergpredigt, vereint finden, bei Lk aber z.T. in einer kürzeren Rede, der Feldrede, z.T. verstreut in anderen Kapiteln, so kann man daraus schließen, dass diese Themen beiden Evangelisten durch tatsächliche Predigten JESU vorgegeben waren (Tradition - aufgrund der großen Ähnlichkeit der Paralleltexte wohl durch schriftliche), dass sie aber von den Evangelisten verschieden in ihr Gesamtwerk eingebaut wurden (Redaktion). Aufgrund der Kombination von Literar-, Traditions- und Redaktionskritik lassen sich Rückschlüsse ziehen auf "die Person des Redaktors und seine Arbeitsweise (Textrezeption und Textverarbeitung), die Adressaten und ihre Welt, Ort und Zeit der Entstehung des Werkes" (E, 186). 4) Die Motivkritik untersucht Texte nach Motiven, die auch in anderen Religionen, in Märchen und Sagen, in anderen Kultur- und Gesellschaftsformen zu finden sind, und arbeitet hiebei mit der vergleichenden Religionswissenschaft, mit (Tiefen)Psychologie, Soziologie, Völkerkunde u.ä. Wissenschaften zusammen. 5) Die Auslegungsgeschichte untersucht, wie ein Schrifttext im Laufe der Jahrhunderte von Interpreten verstanden wurde. 6) Die Wirkungsgeschichte schließlich beschäftigt sich mit der Frage, wie eine Texteinheit in der Geschichte weiterwirkte, u.zw. in den verschiedensten Gebieten - wie etwa in der christlichen Lehre, Liturgie und Praxis, in Kunst, Gesetzgebung, Lebensauffassung etc. Exkurs: Die Arbeit eines Redaktors7 Arbeitsaufgabe: Die drei Geschichten lesen, mit ‚Anfang, Zwischenstücken und Schluss versehen, damit eine zusammenhängende Erzählung entsteht – wobei die verschiedenen Reihungsmöglichkeiten durchprobiert werden sollen. Es klingelt ungeduldig an der Tür. Das ist Martina, die von der Schule nach Hause kommt. Sie strahlt über das ganze Gesicht: „Ratet, was ich zu erzählen habe!“ Ohne die auf sie wartende Familie zu begrüßen, sprudelt sie los: “Zusammen mit acht anderen Mädchen und Buben aus meiner Klasse bin ich ausgesucht worden, in den großen Ferien für fünf Wochen nach England zu fahren!“ Martina sitzt an ihrem Schreibtisch und hat den Kopf in ihre Hände gestützt. Sie weint bitterlich. Martina hüpft vergnügt durch die Straßen. – England! Wie sehr sie sich darauf freut! Sie braucht einen Reisepass und Passbilder dazu. Der Photograph wohnt an der nächsten Ecke. 0.2.2 Humanwissenschaftlich geprägte Auslegungsmethoden (Vgl. IBK, 59-71) 1) Die tiefenpsychologische Auslegung Innerhalb der tiefenpsychologischen Auslegung gibt es, entsprechend der verschiedenen tiefenpsychologischen Schulen, unterschiedliche Auslegungsmodelle und unterschiedliche Sichtweisen, Tiefenpsychologie und Theologie zu verbinden. Da FREUD Religion als „Gesellschaftsneurose“ verstand, erscheint sein Denkmodell als Auslegungsbasis problematisch. Anders verhält es sich mit dem Denkmodell C.G. JUNGs, das – bei entsprechender wissenschaftstheoretischer Vorsicht – hilfreich sein kann und vielfach als 7 Aus: SCHÄFER V., Die Redaktion des Mk-Ev, in: LANGER W., Praxis des Bibelunterrichts, Stuttgart 1975, 63-83) 13 moderne Weiterführung der geistlichen (und daher subjektiven!) Schriftauslegung verstanden werden kann. Dieses Denkmodell verwenden u.a. A. GRÜN OSB8 und M. KASSEL9 und interpretieren es ausdrücklich als Ergänzung der historisch-kritischen Exegese: Während die historische Exegese durch das Bewusstmachen des historischen Abstands und durch Beschränkung auf den Verstand uns die biblischen Inhalte entfremdet, will die tiefenpsychologische Exegese den „garstigen Graben“ (LESSING) zwischen Damals und Heute und zwischen Unbewusstem und Bewusstem überbrücken. Noch hilfereicher für die Theologie im allgemeinen und die Exegese im besonderen ist der Ansatz V. FRANKLs (vor allem in: „Der unbewusste GOTT“). Während FREUD das Unbewusste individuell deutete, nahm C.G.JUNG (+1961) an, dass unter der individuellen Triebdynamik noch eine unbewusste Tiefenschicht vorhanden sei, die allen Menschen aller Kulturen gemeinsam ist, das kollektive Unbewusste (auf die erkenntnistheoretische Problematik dieser Annahme kann hier nicht eingegangen werden). Dieses kollektive Unbewusste ist durch Archetypen (Urbilder) strukturiert, die selbst unanschaulich sind, sich aber in Symbolen (archetypischen Bildern) veranschaulichen, wie sie in Traum, in Märchen, Sagen und Mythen, in Kunst und Religionen vorkommen. Diese Symbole sind auf drei Grundarchetypen rückführbar: Der Schatten ist der Negativ-Bereich der eigenen Persönlichkeit, der als unintegrierter nach außen projiziert und an anderen verurteilt wird. Die Anima des Mannes und der Animus der Frau ist der gegengeschlechtliche Archetyp, der als unintegrierter zu Fehlverhalten gegenüber dem anderen Geschlecht führt, zu irrationaler Über- und/oder Unterschätzung. Das Selbst ist das ganzheitliche Idealbild, das das Ich erreichen möchte; als unintegriertes führt es zu falscher Selbsteinschätzung, zu Minderwertigkeitskomplex und/oder Größenwahn. Der Individuationsprozess (Selbstwerdungsprozess) des Menschen besteht darin, die aus dem Unbewussten aufsteigenden Symbole zu verstehen und in das bewusste Leben, in die Persona, zu integrieren, dabei soll vor allem das Ich sich dem Selbst annähern. Da bei der Schriftwerdung der Bibel dasselbe (kollektive) Unbewusste wirksam war wie heute bei der Schriftauslegung, erleichtert das Selbstverständnis das Bibelverständnis und das Bibelverständnis das Selbstverständnis – die Bibel ist ein Buch, das uns zutiefst angeht: nur für den, der sich in vielen Gestalten der Bibel wiederfinden kann, wird die Bibel zu einem Lebensbuch. A. GRÜN10 nennt zwei Grundregeln tiefenpsychologischer Auslegung: 1. Man muss „die Motive einer Geschichte mit Motiven anderer Überlieferungen“ vergleichen, mit Märchen, Sagen, Legenden, Träumen, Kunstwerken... 2. Wir müssen „alle äußeren Gegenstände, Personen und Umstände auf der Subjektstufe deuten, also nicht als Beschreibung eines äußeren, sondern eines inneren Sachverhaltes auslegen“ (z.B. wären in der JAKOBsgeschichte ESAU als sein Schatten, seine Mutter und Ehefrauen JAKOBs Auseinandersetzung mit seiner Anima, das Ringen mit der nächtlichen Erscheinung an der Jabboecksfurt sein Ringen mit GOTT). Letztlich sollte man sich aber darüber klar sein, dass nur solche tiefenpsychologischen Richtungen für ein religiöses Bibelverständnis hilfreich sind, die dem Unbewussten eine religiöse Qualität zuschreiben – am wenigsten geschieht dies bei FREUD, am deutlichsten bei FRANKL: 8 Tiefenpsychologische Schriftauslegung, Münsterschwarzach 1992, bes. S.20-27 KASSEL M., Biblische Urbilder. Tiefenpsychologische Auslegung nach C.G.JUNG, München 1980,3.Aufl. - Der bekanntere Eugen DREWERMANN (bes.: Tiefenpsychologie und Exegese, 2 Bde., Olten 1984f.) ist deutlich einseitiger als KASSEL, weil er - entgegen gegenteiliger Versicherungen - die tiefenpsychologische Auslegung nicht als Ergänzung anderer Auslegungsarten ansieht, sondern praktisch nur diese gelten lässt; zudem schließt er sich stärker an den FREUDschen Ansatz an, der sich selbst als materialistisch versteht. 10 Tiefenpsychologische Schriftauslegung, Münsterschwarzach 1992, S.20-27 9 14 FREUD B FRANKL B UB UB ES (Triebstruktur) ÜBER-ICH (Gesellschaft) ES ÜBER-ICH GOTT Dazu helfen Methoden wie: freie Assoziation, Identifikation, Malen, Körperbewegungen, Rollenspiel, Pantomime, Bibliodrama Die einfachste Form des Bibliodramas: Lesen der Perikope (+ evtl. Einfühlen durch gelenkte oder freie Imagination) Rollenübernahme: role-taking: Rolle selbst übernehmen und sich selbst einrollen role-making: Leiter weist Rolle zu und rollt ein Durch Zuschauer ist durch Identifikation „Vervielfältigung“ der Hauptrollen möglich Spiel Beibehaltung des biblischen Rahmens Spieler leben sich in die Bibel hinein (Nähe zum Rollenspiel) Spieler können frei gestalten Spieler stellen ihre eigenen Lebensprobleme dar (Nähe zum Psychodrama Notwendigkeit der Aufarbeitung, Gefahr, dass Probleme hochkommen, die der nicht-therapeutisch Geschulte nicht mehr in den Griff bekommt) Reflexion: Jeder erzählt, wie es ihm mit der Rolle gegangen ist Jeder wird „ausgerollt“ – besonders wichtig bei negativen Rollen, hier evtl. Zusatzaufarbeitung nötig Während die historisch-kritische Exegese und die tiefenpsychologische Auslegung eine gewisse (vgl. dazu 0.2.4) Allgemeingültigkeit beanspruchen können, sind andere Arten der Bibelauslegung einseitig und nur so weit berechtigt, als sie diese Einseitigkeit selbst bewusst anerkennen - andernfalls würden sie zu verzerrten, ideologischen, Auslegungen. 2) Die politische Exegese macht zu Recht darauf aufmerksam, dass die Verwirklichung des GOTTESREICHES auf Erden und durch unser Bemühen beginnen soll - sie würde aber zur Ideologie, wenn sie das GOTTESREICH ausschließlich auf eine irdische, durch menschliches Bemühen erreichbare Größe reduzieren wollte. 3) Die materialistische Exegese bedenkt die sozio-ökonomische Basis aller kulturellen, somit auch aller religiös verstandener, Ereignisse - auch das ist legitim, so lange nicht (marxistisch) behauptet wird, dass alles Geistige keinen eigenständigen Wirklichkeitswert habe, sondern bloßes Produkt jener sozio-ökonomische Verhältnisse sei. 4) Die befreiungstheologische Auslegung ist eng verwandt mit den beiden vorhergenannten Auslegungsformen. Sie will die Schrift für die eigene sozio-politische Situation aktualisieren und betont daher das Erlösungshandeln GOTTES in der Geschichte, besonders an den Armen und Unterdrückten - ein berechtigtes Anliegen, das allerdings auch in der Gefahr einer Reduktion auf das irdische Heil steht. 5) Die feministische Exegese untersucht die Rolle der Frau in der Bibel inklusive der weiblich-mütterlichen Züge des atl. und ntl. GOTTESbildes, doch mit der ausdrücklichen Tendenz, damit zur Befreiung der Frau beizutragen bzw. männliche Herrschaftsstrukturen zu 15 entlarven - wieder ein berechtigtes Anliegen, wenn es nicht so verabsolutiert wird, dass die väterlichen - und übrigens auch mütterlichen - Züge GOTTES nicht mehr als irdisches Bild für Überirdisches genommen werden, sondern ein vermeintlich "männlicher" GOTT durch einen "weiblichen" ersetzt wird. 0.2.3 Traditionsbetonte Zugänge zur Heiligen Schrift (Vgl. IBK,52-58, 72-75) Die bisher skizzierten Auslegungsmethoden stammen alle aus - wertfreien - Einzelwissenschaften. Können sie religiöse, d.h. zugleich, eine bestimmte Wertordnung repräsentierende Texte adäquat erfassen ? Das Problem (ausführlicher: s.u., 0.2.4) wird vielfach gesehen, allgemein anerkannte Lösungen stehen noch aus. 1) Die Kanonkritik, entstanden vor ca 20 Jahren in den USA, versteht sich als ausdrücklich theologische Interpretationsmethode, "die sich explizit im Rahmen des Glaubens bewegt" (IBK, 53). Eine Unter-Richtung betrachtet dabei mehr den Prozess der Kanonbildung, eine andere dessen Ergebnis; in beiden Fällen bildet die Interpretationsgrundlage die Tatsache, dass diese Schriften in der Gemeinschaft der Kirche entstanden, von dieser Gemeinschaft als "Kanon" (Glaubensregel) anerkannt wurden und daher auch nur im Rahmen dieser Gemeinschaft adäquat interpretiert werden können. Das Anliegen ist berechtigt, doch erscheint es (noch) zu unpräzis. Es fehlt eine Präzisierung, wie sie etwa bzgl. der Unfehlbarkeit des Lehramtes vorgenommen wurde (vgl. DH 3011) vgl. u., 0.2.4. 2) Die fundamentalistische Schriftauslegung lehnt das Verständnis von Inspiration als Realinspiration (Schrift als GOTTESwort in Menschenwort) ab und insistiert auf Verbalinspiration - sie stellt sich somit gegen alle Formen wissenschaftlicher Schriftauslegung. Da diese Form in manchen kirchlichen Kreisen immer noch als "fromm" oder gar "allein seligmachend" gilt, soll hier aus der Verurteilung der fundamentalistischen Auslegung durch die Päpstliche Bibelkommission zitiert werden: "Das Grundproblem dieses fundamentalistischen Zugangs zur Schrift besteht darin, dass er den geschichtlichen Charakter der biblischen Offenbarung ablehnt und daher unfähig wird, die Wahrheit der Menschwerdung selbst voll anzunehmen. Für den Fundamentalismus ist die enge Verbindung zwischen Göttlichem und Menschlichem in der Beziehung zu Gott ein Ärgernis. Er will nicht zugeben, dass das inspirierte Wort Gottes in menschlicher Sprache ausgedrückt und unter göttlicher Inspiration von menschlichen Autoren niedergeschrieben wurde, deren Fähigkeiten und Mittel beschränkt waren. Er hat deshalb die Tendenz, den biblischen Text so zu behandeln, als ob er vom Heiligen Geist wortwörtlich diktiert worden wäre .....Dem Fundamentalismus kann man auch eine Tendenz zu geistiger Enge nicht absprechen. Er erachtet z.B. eine alte vergangene Kosmologie, wie man sie in der Bibel findet, als Realität. Dies verhindert jeglichen Dialog mit einer offenen Auffassung der Beziehungen zwischen Kultur und Glauben. Er stützt sich auf eine unkritische Interpretation gewisser Bibeltexte, um politisches und soziales Verhalten zu rechtfertigen, das von Vorurteilen gekennzeichnet ist, die ganz einfach im klaren Gegensatz zum Evangelium stehen, wie z.B. Rassendiskriminierung und dgl. mehr" (IBK, 73 f.). 0.2.4 Kritische Überlegungen zur Berechtigung und Begrenzung Bibelauslegung mehrdimensionaler Die mehrdimensionale Bibelauslegung besteht also in einer Kombination von Auslegungsmethoden, die aus verschiedenen Einzelwissenschaften stammen. Darin liegt aber eine gewisse Problematik - zumal solange die Theologie noch zu keinem allgemein anerkannten neuzeitlichen Wissenschaftskonzept gefunden hat, woran etwa RAHNER arbeitete. Einzelwissenschaften sind nämlich ausdrücklich auf einen Teilbereich von Wirklichkeit gerichtet und 16 "wertfrei" in dem Sinn, dass sie die Frage nach der Möglichkeit eines allgemeingültigen Wertmaßstabes ausklammern. Theologie aber versucht - ebenso wie Philosophie - eine objektive Deutung der Gesamtwirklichkeit unter Einbezug der Wertfrage. Im Unterschied zur Philosophie bedient sie sich dazu nicht nur der menschlichen Vernunft sondern auch der göttlichen Offenbarung (vgl. DH 3004 f.). Das bedeutet aber nicht nur, dass die genannten Auslegungsarten von einem Teilaspekt her (materialistische, politische etc. Exegese) streng als Erfassung einer besonderen Akzentuierung zu sehen sind, sondern auch, dass die historische und tiefenpsychologische Methode kritisch hinterfragt und allenfalls modifiziert werden müssen 0.2.4.1 Kritische Überlegungen zur historisch-kritischen Exegese Die in der Aufklärungszeit entstandene historisch-kritische Exegese ist eine wertfreie Geschichtsinterpretation, in der daher auch die Frage nach GOTT methodisch ausgeklammert wird ("methodischer Atheismus") 11 Übernimmt man sie unmodifiziert in die Theologie, wie dies heute meist geschieht, so gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man verwischt die Differenz zwischen Weltgeschichte und Heilsgeschichte, zwischen bloß menschlicher Aktion und göttlicher Offenbarung (z.B. ist von einer rein historischen Interpretation her die Erzählung des LUKAS über die Himmelfahrt JESU und die des LIVIUS über die Himmelfahrt des ROMULUS als bloße Legende zu beurteilen), oder man bringt diese Differenz aufgrund seines Alltags- Glaubens in die Theologie ein und verlässt damit den Boden der wissenschaftlichen Argumentation. Um diesem Dilemma zu entgehen, müsste man die historische Methode für die Theologie modifizieren, indem man den Schritt einer nicht willkürlichen, sondern theologisch gerechtfertigten Bewertung in die historische Methode einbaut. Genauer: Eine solche "theologische Hermeneutik" (ein im Mittelalter geläufiger Begriff) müsste die profane historische Methode von der Basis der systematischen Theologie (Fundamentaltheologie, Dogmatik) her ändern, indem sie für den Schritt der Hypothesenbildung den theologischen Rahmen anerkennt: dass GOTT sich in der Geschichte offenbare und dass diese Selbstoffenbarung GOTTES zur Bewertung der für die Hypothesenbildung herangezogenen Inhalte dient12. Die Hypothesenüberprüfung erfolgt wie in der profanen Hermeneutik. Dies soll an einem Beispiel erläutert werden. Jede Zeit bedient sich unterschiedlicher Stilmittel, um die Bedeutung einer Person literarisch zu unterstreichen. In der Antike wurden vor allem Lebenseintritt und Lebensaustritt legendenhaft ausgeschmückt, so etwa die Zeugung des ROMULUS / JESU und die Himmelfahrt des ROMULUS / JESU, bei ersterem von LIVIUS, bei letzterem von LUKAS. Schon diese Gegenüberstellung mag für den Gläubigen provokativ erscheinen - handelt es sich doch für ihm im Falle von JESUS für eine geglaubte Wirklichkeit. Hier zeigt sich die Grenze der historisch-kritischen Exegese: Sie kann zwar die Funktion bildhafter Erzählungen erklären - dass sie auf einen überempirischen Bereich hinweisen wollen -, sie kann aber von sich aus keine Bewertung dieses Bereiches, vor allem im Hinblick auf seine Wirklichkeit / Nichtwirklichkeit vornehmen. Daher die geforderte Modifizierung der historischen Methode von der - als Basis dienenden 11 Ausführlicher: DEIFEL E., Bedeutung und Grenzen einzelwissenschaftlicher Bibelexegese, in: CPB 1991, H.6, 266-268. 12 Nur dann, wenn die Bewertung offengelegt und durch die systematische Theologie begründet wird, ist ein intersubjektiv überprüfbares Kriterium vorhanden, welche mit Offenbarungsanspruch auftretenden geschichtlichen Inhalte diesen Anspruch zu Recht stellen. Die in der Literatur häufige Berufung auf eine Interpretation im Kontext der "Kirche" ist unzureichend, weil dazu der Kirchenbegriff präzisiert werden müsste. Die dogmatischen Definitionen, wann das Lehramt verbindlich entscheidet (Dogmen im engeren und im weiteren Sinn), sind zwar ein Schritt in Richtung Präzisierung, bleiben aber im formal- organisatorischen Bereich. 17 systematischen Theologie her: In die Hypothesenbildung müssen die theologischen Grundvoraussetzungen mitaufgenommen werden, erstens, dass GOTT Sich in der Geschichte offenbare, und zweitens die ausdrückliche Bewertung des mit Offenbarungsanspruch auftretenden Inhaltes von der theologischen Basis her: Die Zeugung des ROMULUS widerspricht dieser Basis (biologische Zeugung durch einen GOTT, Gewalttätigkeit des ROMULUS, Unnötigkeit göttlichen Eingreifens für eine bloße Staatengründung etc.), ist also als inhaltliche Weiterbestimmung der theologischen Basis auszuscheiden und wird zu Recht nicht als (christlicher) Glaubensinhalt angenommen. Die Menschwerdung GOTTES durch Seinen GEIST in einem konkreten Menschen, der die GOTTgewollte Bestimmung des Menschen voll und ganz erfüllt - dies alles entspricht dem theologischen Rahmen. Nach dieser Bewertung ist dann zu untersuchen, ob der Mensch, der diese Selbstoffenbarung GOTTES zu sein beanspruchte, tatsächlich existierte, und vor allem, ob Seine Lehre, Sein Leben und Sein Tod den Rahmenbedingungen entsprechen. Analog ist die Vorgangsweise bei der Beurteilung der beiden sogenannten Himmelfahrten. Die Himmelfahrt des ROMULUS ist die dramatische Darstellung der Bestätigung des Gründers eines Reiches, das heute nicht einmal mehr politische Bedeutung hat theologische hatte sie ohnedies nie. Auch die Himmelfahrt JESU ist ein dramatisches Bild aber ein solches von menschheitsgeschichtlicher Bedeutung: dass der, in dem GOTT Mensch wurde, ganz in das göttliche Leben hineingemommen wird - aber nicht als Privatperson, sondern als "Erster der Entschlafenen" (1 Kor 15,20). Damit ist das Anliegen der obgenannten Kanonkritik aufgenommen, doch präzisiert: Schriftverständnis ist nur im Rahmen der Kirche möglich - aber dadurch, dass man die methodische Vorgangsweise klarlegt: Exegese nicht wertfrei, sondern nur innerhalb des theologischen Rahmens ! 0.2.4.2 Kritische Überlegungen zur tiefenpsychologischen Schriftauslegung Für die tiefenpsychologische Auslegung gelten zunächst dieselben Begrenzungen wie für die historisch-kritische Exegese: Sie übernimmt eine einzelwissenschaftliche Methode in die Theologie, Einzelwissenschaften aber sind ausdrücklich nur auf einen Teilbereich von Wirklichkeit gerichtet und „wertfrei“ in dem Sinn, dass sie die Frage nach der Möglichkeit eines allgemeingültigen Wertmaßstabes ausklammern. Theologie aber versucht – ebenso wie Philosophie - eine objektive Deutung der Gesamtwirklichkeit unter Einbezug der Wertfrage. Im Unterschied zur Philosophie bedient sie sich dabei nicht nur der menschlichen Vernunft, sondern auch der göttlichen Offenbarung (vgl. DH 3004 f.). Bei der tiefenpsychologischen Exegese werden, anders als bei der historisch-kritischen, auch subjektive (unwissenschaftliche) Methoden der Auslegung zugelassen, weil die persönliche Betroffenheit im Vordergrund steht. Damit verschwimmt die Grenze zwischen Alltagsbewusstsein und wissenschaftlichem Denken, zwischen subjektiver und objektiver Auslegung. Doch das wäre nur dann statthaft, wenn die Subjektivität tiefenpsychologischer Auslegung zugegeben würde, vor allem bezüglich der Wertfrage. So etwa mag die persönliche Betroffenheit über die „Erhöhung der Niedrigen“ durch das Märchen ASCHENPUTTEL bei manchen Menschen besser erreicht werden als durch die biblische Erzählung der Erwählung MARIAs – und doch hat letztere für den gläubigen Menschen einen anderen Grad der Verbindlichkeit, der tiefenpsychologisch gerade nicht in den Griff zu bekommen ist. Dieses Problem ist den Tiefenpsychologen nicht entgangen, doch lösen sie es unterschiedlich: FREUD etwa hält an der Forderung nach Wertfreiheit auch in der Therapie fest – ABER: Welches Selbst würde dann verwirklicht? Diese Doppeldeutigkeit des Wörtchens „Selbst“ wird heute bei dem Modeschlagwort „Selbstverwirklichung“ kaum beachtet. Dennoch macht es einen erheblichen Unterschied, ob ich mein „empirisches Selbst“ („kleines Ich“) verwirkliche, d.h. das Bild, das ich von mir habe, oder mein „ideales Selbst“ („großes Ich“), 18 d.h. das Bild, das GOTT von mir hat – so (der späte) JUNG: nur in diesem göttlichen Bild finde ich Anschluss an „das Grenzenlose“, an GOTT – und nur in diesem Anschluss kann Individuation gelingen: nicht Ich als endliches Geschöpf, sondern GOTT „heilt“ mich, macht mich „ganz“ (heilig gehört sprachlich zu whole); noch deutlicher bei FRANKL: mein Lebensweg glückt umso mehr, je mehr ich ihn als Weg zu GOTT verstehe und lebe – wobei JUNG, ähnlich wie TAULER, dies besonders als Aufgabe der 2.Lebenshälfte ansieht. Damit ist aber die Grenze von der Tiefenpsychologie zur Theologie überschritten – und zwar notwendig. Tiefenpsychologen und Psychotherapeuten, die nicht anerkennen, dass letztlich nur GOTT heilen kann, richten meist mehr Schaden als Nutzen an. Sinnfindung ist eben nicht Aufgabe einer Einzelwissenschaft, sondern Aufgabe der Philosophie und Theologie. So dass man heute, unter leichter Modifikation THOMAS´, sagen könnte: Scientiae sunt ancillae theologiae (Einzelwissenschaften sind Dienerinnen der Theologie) – oder: “Wir fühlen, dass selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind“ (WITTGENSTEIN L., Tractatus 6,52). Damit ist der Übergang von der tiefenpsychologischen Exegese zur Geistlichen Schriftlesung vollzogen, das Bemühen, uns unsere Lebensaufgabe aus der Schrift zusprechen zu lassen und dadurch die religiösen Erfahrungen biblischer Personen, so weit es uns möglich ist, in unserem Leben nachzuvollziehen. Als Faustregel muss also gelten: Wo immer einzelwissenschaftliche Methoden in die Theologie übernommen werden, muss die (systematische) Theologie ihr Maß bleiben ! 1. Die Entstehung der Hl Schrift 1.1 Die Entstehung des AT In der Antike neigte man dazu, Bücher einem berühmten Mann zuzuschreiben – z.B. Tora dem MOSE, Psalmen dem DAVID, Sprichwörter dem SALOMO, das ganze Jes-Buch dem JESAIA etc ABER: Die Frage nach dem Verfasser ist zu unterscheiden von der Frage nach der Inspiration! In der Frage der Kanonizität bestimmter Bücher des AT unterscheiden sich kath. und ev. Kirche voneinander: Bücher, die beide Kirchen anerkennen = protokanonisch Bücher, die nur die kath. Kirche anerkennt = deuterokanonisch. Diese Unterscheidung beruht darauf, dass die kath. Kirche der LXX folgt, die ev. der Biblia Hebraica. Der jüdische Kanon entstand im 1. Jh. n. und – in bewusster Abgrenzung zum jungen Christentum, das immer nach der LXX zitierte, - legten die jüdischen Schriftgelehrten als Kriterium der Kanonizität fest: - in hebr. oder aram. Sprache verfasst und vorliegend - im Mutterland und vor 440 (NEHEMIA und ESRA) geschrieben Daher sind deuterokanonisch: - ganz: Bar – Tob – Jud - 1 / 2 Makk – Sir - Weish - die griech. Teile von Dan und Est Auch in der Gliederung unterscheiden sich die hebr. und die kath. Bibel: Hebr.: TeNaK (Tora & Nebiim & Ketubim), also 3Teilung: - Tora - Propheten: „ältere“ Propheten (Jos – Ri - 1/ 2 Sam - 1 / 2 Kön) & „jüngere“ Propheten (Schriftpropheten) 19 - Schriften der Lebensweisheit Kath: 4Teilung: - Tora - „Geschichtliche Bücher: Jos – Ri – Rut – 1 / 2 Sam – 1 / 2 Kön - Schriften der Lebensweisheit - Propheten Diese Umstellung soll die Propheten als Übergang zum NT ausweisen: NT als Erfüllung des AT Das AT hat eine viel längere Entstehungszeit als das NT (ca 1000 Jahre); der Schriftwerdung gingen ca 500 Jahre mündliche Tradition voraus, in der GOTTESerfahrungen von Patriarchen und ihren Sippen in Legendenform weitererzählt wurden und auch die ersten Lieder (MIRJAMlied) und Weisungen (Vorformen des Dekalogs) entstanden 1.1.1 Die Tora („Wegweisung“) Gen & Ex & Lev & Num & Dtn Literar. Besonderheit : Gesetzestexte in Erzählungen eingebettet, 4 Quellschichten: J=Jahwist: großer Erzähler, S-Milieu, 10./ 9. .Jh.v. (Datierung heute umstritten, evtl. wie P) E=Elohist: stärker moralisierend, 8. Jh.v., N-Milieu Dtn=Deuteronomium: Predigtstil, Team-Work, 7.Jh.v. (vor 622 v.), N-Milieu P=Priesterschrift: formelhaft, 6.Jh.v. (Exil), S-Milieu Nachexilisch von Neh & Esr zu einem Werk vereint Genesis: „Urgeschichte“ = bildhafte Erzählungen über Ur-Fragen jedes Menschen: 2 Schöpfungstexte: Gen 1 : P: Schöpfungsgedicht & Gen 2 : J: Erzählung: GOTT stellt den Menschen in optimale Relationen („Paradies“), der Mensch vertreibt sich schuldhaft aus dem Paradies - ABER: GOTTES Heil umgreift die Sünde „Vätergeschichten“: J (+ E + P), Gen 12-50 Die Patriarchen sind Scheiks (halb-)nomadischer Sippen; sie tragen kaum individuelle Züge, sondern in ihnen verdichten sich die GOTTESerfahrungen vieler Generationen. Die „Vätergeschichte“ (Gen 1250) und der Beginn der „Volksgeschichte (Ex, Num, Dtn) werden - mittels Genealogien - in eine chronologische Reihenfolge gebracht und als Geschichte eines bereits seit ABRAHAM bestehenden Volkes dargestellt. Historisch handelt es sich um parallel bestehende akephale prä-israelitische Gruppen, ca 1500-1200v. Chr. Gen 12-24: ABR(AH)AM und ISAAK: Erwählung als Gabe und Aufgabe, ABRAHAM muss seine Vergangenheit aufgeben; Bundesschlüsse (J und P). JIZHAAK (zu zachak=lachen): Geburt, „Opferung“, Heirat REBEKKAs Gen 25-36: ESAU und JAKOB: JAKOB als Stammvater der 12 Stämme (Erklärung der Volksgemeinschaft durch gemeinsame Abstammung) und als Urbild des Volkes ISRAEL, das unverdient erwählt wird (JAKOB hat weder rechtlichen – durch Erstgeburt – noch moralischen – durch sittliches Verhalten – Anspruch auf GOTTES Segen Gen 37-50: JOSEPHSnovelle: Sonderstellung unter den Patriarchenerzählungen: JOSEPH begeht keine moralischen Verfehlungen, durchkomponierte Erzählung – Grundgedanke: GOTTES Mitsein bewahrt nicht vor Leid, doch setzt GOTT letztlich Heil durch Exodus J + E + D + P + Gesetzeskorpora Zentrum der Tora, 3 Erzähltraditionen zusammengestellt: 1. Herausführung aus Ägypten – 2. GOTTESerscheinung und Bundesschluss am Sinai – 3. Wüstenwanderung Israels Grundlage des biblischen Glaubens: GOTT als JAHWE (der, der für uns da ist) => GOTTESherrschaft = wahre Freiheit. Historischer Hintergrund: Fronarbeiter („Hebräer“ hapiru) prä-israelitischer Gruppen unter RAMSES II – Flucht unter MOSE (ägyptischer Name), negative („Plagen“) und positive („Schilfmeer“, Wachteln, Manna, Wasser) Naturereignisse als Hilfe GOTTES gedeutet Ex 19-20: Epiphanie-Erzählung am Sinai, sekundär Dekalog (altes Nomadenrecht) eingebaut; noch später weitere „Gesetze“ eingeschoben, um ihre Würde zu erhöhen 20 Leviticus P Kern: Sinai-Erzählungen, kultische und soziale Weisungen später eingeschoben (Opfer-, Priester-, Reinheitstora, Jom Kippur, Heiligkeitsgesetz, Ablösen für Gelübde und Weihegaben) Numeri P + anderes Material Erzählungen, Listen ( Name) und weitere Weisungen eingeschoben Deuteronomium Eigene Schicht, die sich später im dtn. Geschichtswerk (Jos, Ri, 1 / 2 Sam, 1 / 2 Kön) fortsetzt. Verfasser: Priesterteam des N-Reiches, das den jüdischen Glauben in einer schwierigen Situation mittels der „modernen“ Kategorie des Bundes aktualisieren will Literarische Gattung: Abschiedsrede des MOSE Aufbau: Predigten (mit sch´ma jisrael) (Dtn 1-11), „zweites Gesetz“ (Dtn 12-26), Predigten (27-30), Abschied, Segen und Tod des MOSE (31-34) 1.1.2 Die „geschichtlichen“ Bücher Die Bezeichnung ist irreführend, da es sich nicht um Geschichtsbücher im heutigen Verständnis handelt, sondern GOTTES Heilswirken in der Geschichte aufgezeigt werden soll. Insofern ist die jüdische Bezeichnung „ältere Propheten“ passender. Hierher gehören: - Das dtn. Geschichtswerk: Jos – Ri – 1 / 2 Sam – 1 / 2 Kön: umfasst die Geschichte von der Landnahme bis zum Exil, von der Bundestheologie des Dtn. beeinflusst, daher die Bezeichnung; wohl längere (mündliche und schriftliche) Vorformen, zusammengefasst in der Exilszeit. In der kath. Bibel ist nach Ri die Erbauungserzählung RUT eingeschoben. Die Bücher im einzelnen: JOSCHUA Ältere Traditionen (meist episch) dtn. (meist paränetisch) überarbeitet. Landnahme als erfolgreiche Militäraktion dargestellt – unhistorisch. Ergebnis: Landverteilung, Bundeserneuerung in Sichem Richter Name irreführend: GEISTerfüllte Retter. Dtn. Grundkonzept: Landnahme durch wiederholte Untreue Israels erschwert, Rettung immer durch GOTTES Hilfe – Berufung von „Richtern“, die nach Erfüllung ihrer Mission wieder abtreten 1 / 2 SAMUEL Dtn. Redaktion älterer Quellen 1 Sam: Übergang zum Königtum schwierig, da JAHWE als König Seines Volkes galt; doch wegen der Philistergefahr notwendig König als „Sohn“ und „Gesalbter“ (MESSIAS) JAHWEs. 1. König SAUL von JAHWE verworfen (historisch: der zu föderalistische Stammesverband scheiterte an den Philistern) 2 Sam: DAVID als Idealkönig: NATAN verheißt seiner Herrschaft ewigen Bestand (2 Sam 7), doch auch DAVID sündigt (BATSCHEBA, 2 Sam 11) und wird bestraft (Thronwirren und Aufstand des ABSCHALOM, 2 Sam 13-19). 1 / 2 Kön Dtn. Redaktion verschiedener Quellen. Stereotyper Aufbau („Als x starb, kam y an die Macht“), unterbrochen nur durch SALOMO (1 Kön 1-11), die Reichsteilung ( 1 Kön 12-14) und die Propheten ELIJA und ELISCHA ( 1 Kön 17-19 und 2 Kön 1-10). Die Beurteilung der Könige erfolgt nach dtn. Normen („Gesetz des MOSE“) alle Könige des N-Reiches verworfen, vom S-Reich nur HISKIJA und JOSCHIJA anerkannt - 1 / 2 Chr: deutender Geschichtsüberblick von ADAM bis Exil, wohl in priesterlichen Kreisen um 400 v. entstanden - Esr und Neh: Rückkehr und Wiederaufbau nach dem Exil religiös gedeutet: zweiter Exodus und Widerbegründung der GOTTESherrschaft in Israel - 1 / 2 MAKK: Deuterokanonisch, in der 2. Hälfte des 2.Jhs. v. entstanden; schildern den Freiheitskampf glaubenstreuer Juden unter Führung der Familie der HASMONÄER (Ehrenname: MAKKABÄER =“Hämmerer“) gegen die Hellenisierungsmaßnahmen der SELEUKIDEN 21 - Erbauungsbücher: Erzählungen, die in Verfolgungszeiten zur Glaubenstreue ermutigen sollen: RUT: (Rolle des Schawuot-Festes): Die Moabiterin RUT versorgt ihre Schwiegermutter NOOMI und gewinnt BOAS zur Leviratsehe ESTER (Rolle des Purim-Festes): Die Jüdin ESTER wird Gemahlin des Perserkönigs ARTAXERXES und kann so die von HAMAN durch Los (pur) festgesetzte Judenverfolgung verhindern TOBIT (deuterokanonisch): GOTT hilft dem gesetzestreuen, doch vom Unglück verfolgten TOBIT und dessen Sohn TOBIAS durch den Erzengel RAFAEL JUDIT (deuterokanonisch): Die fromme Witwe JUDIT rettet das vom assyrischen Feldherrn HOLOFERNES belagerte Betulia, indem sie diesem den Kopf abschlägt 1.1.3 Weisheitsliteratur Sehr verschiedene literarische Formen, Gemeinsamkeit: Weisheit = GOTTESfurcht zu verschiedenen Zeiten entstanden. Psalmen Im Buch der Psalmen wurden 150 dieser zu verschiedenen Zeiten entstandenen Gebete nachexilisch gesammelt, doch gibt es solche auch sonst im AT (z.B. Lied der MIRJAM, der DEBORA, der HANNA) und im NT (z.B. Magnificat, Benedictus, Nunc dimittis). Sie bringen Grundanliegen des Menschen – Bitte und Dank, Lob und Klage – vor GOTT und erlauben daher, dass auch Menschen anderer Zeiten und Kulturen sich mit diesen Anliegen identifizieren ( Stundengebet). Ursprünglicher Sitz im Leben: Tempelkult Einteilung: I: 1-41. II: 42-72, III: 73-89, IV: 90-106, V: 107-150. Hohelied 4.Jh.v. (?), Festrolle für Pessach, persische und ägyptische Einflüsse, Symbolismus matrimonialis ( // Hos, Jer, Ez; NT): Liebe zwischen Bräutigam SCH´LOMO und Braut SCHULAMIT = Bild der Liebe JAHWEs zu Seinem Volk: Problem des Verhältnisses von absoluter und endlicher Liebe IJOB Nachexilisch, Prolog und Epilog Prosa, Hauptteil lyrisch, Frage nach dem Leid des Gerechten hat viele Parallelen, doch Antwort neu: der Mensch muss erkennen / anerkennen, dass er keine Antwort auf diese Frage finden kann (Ablehnung der Strafleidtheorie und der pädagogischen Leid-Deutung) und dass er nur GOTTES Größe anerkennen kann KOHELET 3.Jh.v. (PTOLEMÄERzeit: noch positives Verhältnis zum Hellenismus und zur griechischen Popularphilosophie). Angesichts des Todes stellt sich für den Menschen radikal die Sinnfrage, verbunden mit gesellschafts-, religions- und ideologiekritischen Gedanken die Sinnfrage ist für den Menschen unlösbar „Fürchte GOTT und halte die Gebote“ Sprichwörter Um 200 v. abgeschlossen, Parallelen in Ägypten und Mesopotamien (Schreiberschulen): religiös akzentuierte Lebensweisheit JESUS SIRACH (deuterokanonisch) Inhaltlich von den Sprichwörtern abhängig: Weisheit = GOTTESfurcht Weisheit (deuterokanonisch, 1.Jh.v. – jüngstes Buch des AT) Reflexionen über Weisheit schlechthin und in der Geschichte 1.1.4 Propheten Griech.: prophetes = der, der im Auftrag eines anderen spricht, hebr.: nabi = der berufene Rufer Propheten sind nicht Wahrsager, sondern Wahrheitssager, sie sprechen im Auftrag JAHWEs (daher oft mit Botenformel), meist stark bildhaft, oft unterstrichen durch Zeichenhandlungen, primär für ihre eigene Gegenwart, wobei fallweise Zukunftsaspekte mitenthalten sein können Ihre Botschaft kann sein: negativ (Kritik an religiösen und sozialen Missständen) oder positiv (Verheißung eines neuen Heilshandelns JAHWEs); fast jeder Prophet zeigt beide Aspekte, doch unterschiedlich akzentuiert - in Zeiten des Übermuts überwiegt die 22 Gerichtspredigt (vorexilisch), in Zeiten der Niedergeschlagenheit die Trostpredigt (nachexilisch) Das atl. Prophetentum entwickelte sich zusammen mit dem Königtum – es war das machtlose Korrektiv der Königsmacht -, am ausgeprägtesten von der Reichsteilung bis zum Exil. Die ersten Propheten waren keine Schriftpropheten (z.B. NATAN, ELIJA, ELISCHA). In der hellenistischen Epoche, besonders in der MAKKABÄERzeit, entwickelte sich aus der Prophetie die Apokalyptik: Resignation über politische Ohnmacht, beginnender Jenseitsglaube, vielleicht Einfluss des persischen Dualismus (Mazdaismus) und des griechischen Dualismus (Soma-Sema). In der Prophetie wurde das Heil in dieser Welt erwartet, als „Koproduktion“ von JAHWE und Seinem Volk - in der Apokalyptik wird das Heil im Jenseits erwartet, als Gnadengeschenk GOTTES. 8.Jh.v. : AMOS („von JAHWE geschützt“): 9 Kap., 8.Jh.v., S N. Bauer aus Dekoa bei Betlehem, als Prophet in den N nach Bet-El berufen: Kultkritik: schon JEROBEAM I hatte JAHWE-Kult dem BAALSKult angenähert (Stierbilder in Bet-El und Dan) & Sozialkritik: Wirtschaftsblüte unter JEROBEAM II (8.Jh.) Steigerung der sozialen Gegensätze und Ungerechtigkeit HOSEA („Retter“): 14 Kap. , 8.Jh., N. Einziger Schriftprophet des N. Treue JAHWEs Treulosigkeit Israels durch seine eigene Ehe symbolisiert (Kultdirne oder untreue Frau ?): symbolismus matrimonialis Jes, Jer, Hld, NT MICHA („Wer ist wie GOTT“): Drohreden gegen falsche Sicherheit & Verheißung eines MESSIAS aus Betlehem 7.Jh.v. : JESAIA I („JAHWE rettet“): 1-39: Zum Großteil 2.H. 8.Jh. (nicht die beiden apk. Teile, 24-27 und 3435; der historische Appendix 36-39: doch sind wohl auch andere Texte – bes. Teile von 9-11 – exilische Relecture): Jes 6: Berufung (739 v. oder relecture): JAHWE als „Heiliger Israels“, Seine Größe nur indirekt beschrieben. - Jes 7-12: IMMANUEL-Zyklus: 7: Syro-ephraimit. Krieg – „junge Frau“ gebiert Sohn als Zeichen, später messianisch gedeutet; 9: Geburtsproklamation eines RetterKönigs, Doppeltitel wie auf ägyptischen Königskartuschen, später messianisch gedeutet; 11: DAVIDsspross bringt neues Paradies ZEFANJA („JAHWE möge bergen“): Die Armen sind der „Hl. Rest“ NAHUM („der Getröstete“): Untergang Assyriens als Zeichen dafür, dass GOTT der HERR der Geschichte HABAKUK („Basilikum“): Bedrohung durch die Neubabylonier („Chaldäer“) als Gericht JAHWEs gedeutet 6-Jh.v. : JEREMIA („GOTT möge aufrichten“): 645 in Anatot bei Jerusalem, aus Priesterfamilie - + nach 586, wohl im Exil in Ägypten. Schwieriges Leben: Seien Mahnungen wurden weder von den Königen JOJAKIM und ZIDKIJA noch vom Volk akzeptiert, er wurde wiederholt verfolgt, erlebte aber auch den Zustand der GOTTverlassenheit. Die „Urrolle“ wurde um 605 von JOJAKIM verbrannt. Der Prophet verfasste eine erweiterte Neufassung (Ergänzungen durch seinen Sekretär BARUCH und später). Der Prophet ergänzte seine Worte oft durch Zeichenhandlungen: Gürtel (13), Töpfer (18), Joch (27 – Israel soll Joch NEBUKADNEZZARs tragen). Darstellungen seines persönlichen Schicksals (1: Berufung, 15 und 20: Last der Berufung). – Grundbotschaft: Ein Neuanfang ist nur durch das Gericht hindurch möglich EZECHIEL („GOTT möge stärken“): Prophet und Priester, vor und im Exil Wandlung vom Gerichts- zum Heilspropheten.1. Teil (bis 32): Drohsprüche (16: Märchenmotiv vom treulosen Findelkind) , 2. Teil (bis 37): Verheißungen (Neuschöpfung Israels) Deutero-JES.: Jes 40-55: Verheißt am Ende des Exils neues Heilshandeln des „Goel“ JAHWE (Parallelisierung von Exodus und Exil), besonders durch den GOTTESknecht vermittelt ( GOTTESknechtlieder: 42, 49, 50,53) HAGGAI („Pilger“): Aufforderung zum Wiederaufbau nach der Rückkehr, bes. zu dem des Tempels; messian. Sicht der DAVIDIDEN SACHARJA I („GOTT sei eingedenk“): apk. gefärbte Visionen (Reiter, Ölbäume) 5.Jh.v. : Trito-JES.: Jes 56-66: Zunehmende Vergeistigung und Universalisierung der Heilsvorstellung – Gerichtsworte (bes. gegen Formalisierung des Kultes) und Heilsverheißungen Gr. Jes-Apk: Jes 24-27: eschatolog. Gedichte über Gericht und Erlösung, Israel als Weinberg 23 OBADJA („Diener JAHWEs“): Jom JAHWE als Gericht über die Völker & Rettung Israels MALEACHI („mein Bote’“): Ringen mit GOTT, weil Wiederaufbau nicht so prächtig, wie erhofft – stärkere Zukunftshoffnung, ELIJA als Vorläufer des MESSIAS vom kath. Kanon als letzter gereiht, denn er endet mit „Bevor der HERR kommt, wird Er Seinen Boten schicken, nämlich ELIJA, der die Väter mit den Söhnen versöhnen wird“ – vom NT auf JOH.d.T. gedeutet 4.Jh.v. : JONA („Taube“): Lehrerzählung: JAHWE erzieht Sein Volk, symbolisiert durch JONA, von der Engstirnigkeit zur Barmherzigkeit JOEL („JAHWE ist GOTT“): Jom JAHWE als Gericht im Tal Joschafat ( Höllenvorstellungen), endzeitliche GEISTausgießung auf das ganze GOTTESvolk ( Pfingsten) SACHARJA II: Sach 9-14: GOTT wirkt Heil durch einen armen, wehrlosen MESSIAS (auf Eselin; guter Hirte; Durchbohrter) 2.Jh.v. : DANIEL („mein Richter ist GOTT“): Abgeschlossen im 2.Jh. v. (MAKKABÄER-Zeit, doch älteres Material eingearbeitet). Hebr. (1-2; 8-12) und aram. (2-7); griech ( Teile 3; 13; 14) – deuterokanonisch. -1-6: midraschartig (Erzählung über JAHWEtreue DANIELs und seiner Gefährten am babylon. Königshof) , 7-12: apokalyptisch (Jenseitsglaube) 1.1 Die Entstehung des NT Das NT hat, verglichen mit dem AT, eine relativ kurze Entstehungszeit - etwa 50 bis 70 Jahre. Die Worte und Taten JESU, vor allem aber Sein Tod und Seine Auferstehung (um 30 n.) wurden zunächst mündlich, dann sicher auch schon schriftlich tradiert, wovon aber nichts erhalten, doch manches rekonstruierbar ist. Ab 27 (?) Worte und Taten JESU ab 30 I. mündliche und schriftliche Überlieferung II. ab 50 vor 70 um 80 um 100 B R I E F E Q SMt Mt Mk Lk (Ev,Apg) Joh-Ev III. SLk Joh-Offb Die ältesten erhaltenen Schriften sind die Briefe des PAULUS (etwa zwischen 50 und 60 n.; auf PAULUS und seine Briefe wird später ausführlicher eingegangen, vgl. Kap.5). Es folgen die vier Evangelien, und zwar in der Reihenfolge Mk (vor 70), Mt und Lk (um 80) und Joh (um 100). 24 Exkurs: "Evangelium" Im Profangriechischen meint euangelion (lat.: evangelium) "gute Nachricht" oder auch "Lohn für den Überbringer einer guten Nachricht". Im antiken Herrscherkult kam eine besondere Verwendung dieses Begriffs hinzu: freudige Ereignisse im Leben des Herrschers, später besonders des römischen Kaisers, wie Geburtstag, Thronbesteigung, Sieg über Feinde etc. wurden als "Frohe Botschaften" (evangelia) im ganzen Römischen Reich verkündet (z.B. Inschrift von Priene / Kleinasien, 9.v.Chr., zum Geburtstag des AUGUSTUS). Im AT kommt der Begriff profan und theologisch vor, letzteres etwa Jes 52,7 (GOTT hat seine Herrschaft angetreten) oder Jes 61,1 f. (Ausrufung eines Gnadenjahres des HERRN, was JESUS in Lk 4,16-21 auf sich bezieht). Im NT wird der Begriff für den religiösen Bereich reserviert, macht aber eine Entwicklung durch: Zunächst werden urkirchliche Kurzformeln des Glaubens (z.B. 1 Kor 15,3-5) als euangelion bezeichnet. - Für PAULUS ist das euangelion die Botschaft vom Gekreuzigten und Auferstandenen, und zwar sowohl ihrem Inhalt nach als auch im Vollzug dieses Inhalts in Verkündigung und Leben (1 Kor 9,14). - Bei Mk 1,1 weitet sich der Begriff Evangelium auf das ganze CHRISTUSereignis aus, das bei ihm mit dem öffentlichen Wirken des Erwachsenen beginnt, bei Mt und Lk mit den Kindheitsgeschichten und bei Joh mit dem präexistenten LOGOS. Die literarische Gattung Evangelium wurde von Mk geschaffen und erst nachbiblisch für diese Literaturgattung reserviert. Es ist kein bloßer Bericht über Leben und Lehre JESU, sondern eine Deutung des Wirkens JESU aus dem Glauben und für den Glauben. Daher ist zu beachten: Nur in wenigen Fällen - und auch hier nicht mit absoluter Sicherheit - ist es möglich, ureigene JESUSworte ("ipsissima vox") zu identifizieren, nämlich dann, wenn Aussprüche JESU weder zu Seiner jüdischen Umwelt noch zur nachösterlichen Gemeinde passen. Meist aber können wir nicht mit Sicherheit entscheiden, was der irdische JESUS sagte und was Gemeindebildung ("Herrenworte") ist. Allerdings sollte man, wenn man die neue Gegenwart CHRISTI in Seiner Kirche oder, was dasselbe meint, die Inspiriertheit der Schrift, ernst nimmt, diesen Unterschied nicht überbetonen. Auch die Unterscheidung von Historie (tatsächlicher Geschichte) und Kerygma (Verkündigung, Glaubensbotschaft) wird der Bibel wenig gerecht. Denn die Bibel ist an bloßer Historie überhaupt nicht interessiert, sondern immer an der gläubigen Deutung eines Ereignisses - biblische Texte sind daher immer "Geschichten um Geschichte" 13, und zwar in untrennbarer Einheit. Wir müssten uns wieder stärker daran gewöhnen, dass "wahr" und "wirklich" nicht unbedingt identisch sein müssen - dass etwa ein "unwirkliches" (d.h. der Wirklichkeit nicht entsprechendes) Gemälde eine viel tiefere Wahrheit aussagen kann als ein "wirkliches" (der Wirklichkeit entsprechendes) Photo. Ich bringe dazu ein von Prof. KREMER oft verwendetes Beispiel: Auf dem Isenheimer Altar steht JOHANNES der Täufer unter dem Kreuz und zeigt auf CHRISTUS - historisch ist das falsch, und dennoch ist damit eine wahre Aussage getroffen, nämlich, dass die Bibel JOHANNES als den Vorläufer CHRISTI darstellt. Ein differenzierteres Wahrheitsverständnis wurde auch vom Vat.II bestätigt (DV 3,11): Die Heilswahrheit ist in der Schrift irrtumsfrei enthalten, auf anderen Gebieten sind - etwa aufgrund eines überholten Weltbildes oder menschlicher Unkenntnisse des Verfassers - Irrtümer möglich. Eine Zeitlang wurde, vor allem seitens der evangelischen Theologie, eine Entmythologisierung der Bibel gefordert, ein von dem evangelischen Theologen Rudolph BULTMANN geprägter Begriff. Man meinte, die im Rahmen des antiken Weltbildes entworfenen biblischen Bilder in unsere Zeit übersetzen zu müssen - was aber, entgegen aller gegenteiligen Beteuerungen, vielfach nicht zu einer Übersetzung, sondern zu einer Eliminierung dieser Bilder führte. Letztlich dürfte der Forderung nach Entmythologisierung ein Missverständnis zugrundeliegen: Die Bibel, vor allem das NT, enthält kaum Mythen im eigentlichen Sinn, da diese auf einem noch undifferenzierten 13 Vgl. dazu das gleichnamige Werk von KREMER J., Die Osterevangelien - Geschichten um Geschichte, KBW/Stuttgart und Klosterneuburg, 1977. 25 und ungeschichtlichen Denken beruhen, wohl aber bedient sie sich häufig bildhafter Symbole, um mit irdischen Bildern Geistig-Geistliches auszudrücken - sämtliche Gleichnisse können hiefür als Beispiel gelten (s.u.,2.1.3). Diese Art der Symbolik ist aber nicht eliminierbar, weil wir Geistiges gar nicht anders als symbolisch veranschaulichen können. Kurz: man muss nicht entmythologisieren, weil die Schrift keine Mythen enthält, und man darf nicht entsymbolisieren, weil die Schrift sonst ihren Sinn verliert14. _____________________ Auf Mk geht aber nicht nur die Erfindung der Gattung Evangelium zurück, sondern auch die Idee, das Leben, Sterben und Auferstehen JESU mithilfe des Wegmotivs sinnvoll zu ordnen - als Weg von Galiläa nach Jerusalem. Der geographische Weg als Bild des Lebensweges ist ein allgemeinverständliches und insofern "wahres" Symbol; historisch ist es falsch, da JESUS als frommer Jude natürlich weit öfter in Jerusalem war, wahrscheinlich zumindest seit Seiner Volljährigkeit drei Mal im Jahr zu den großen Wallfahrtsfesten. Die Tatsache, dass sich viele Perikopen bei Mt, Mk und Lk in ziemlich ähnlicher Form finden, war in der Kirche früh bewusst. Daher nannte man diese drei Evangelisten die Synoptiker ("Zusammenschauer"). Die sog. "synoptische Frage" beschäftigt sich damit: "Wer hat von wem abgeschrieben ?" (KREMER). Hier die bekanntesten Erklärungsversuche: 1. Urevangeliumshypothese (LESSING u.a.): schriftliches aramäisches Urevangelium der Nazarener, das HIERONYMUS im 4. Jh. noch vorfand. 2. Traditionshypothese (HERDER): mündliches aramäisches Urevangelium für Predigt. 3. Fragmentenhypothese (SCHLEIERMACHER): Aufzeichnung von JESUSworten und taten durch die Apostel, Sammlung durch interessierte Gemeinde. Diese drei Hypothesen sind unwahrscheinlich, weil sie keinen direkten literarischen Zusammenhang zwischen den drei Synoptikern annehmen, was die große Nähe vieler Texte nicht nur bzgl. des Inhaltes, sondern auch in der Wortwahl nicht zureichend erklärt. 4. Benutzungshypothesen, z.B.: Mt Mk Lk (AUGUSTINUS; diese Hypothese war einer der Gründe für die bis heute übliche Reihung der Evangelien) 2-Quellen-Theorie (LACHMANN, HOLTZMANN: heute üblich !): Gründe: Es ist mit einem 3fachen Sitz im Leben zu rechnen ( Formgeschichte: WREDE, WELLHAUSEN, GUNKEL), d.h. 1. Worte und Taten JESU - 2. mündliche und z.T. schriftliche Überlieferung der Urkirche - 3. Redaktion durch die Evangelisten Die Gemeinsamkeiten zwischen Mk, Mt und Lk sind bei vielen Perikopen so groß, dass eine direkte literarische Abhängigkeit bestehen muss - d.h. sie haben nicht bloß eine gemeinsame Vorlage (wie die drei erstgenannten Hypothesen meinen) benützt (da würden sich ihre sprachlichen und theologischen Eigenheiten stärker bemerkbar machen), sondern voneinander abgeschrieben. Für die Frage, wer von wem abgeschrieben hat, ist zu beachten: Erstens, dass Mt und Lk Mk häufig sachlich und/oder stilistisch verbessern - das spricht für eine Priorität des Mk -, dass Mt und Lk dies aber unabhängig voneinander tun; zweitens, dass die Reihenfolge von Mt und Lk nur dort übereinstimmen, wo sie mit Mk übereinstimmen; drittens, dass Mk alle politischen Anklänge in seinem MESSIASbild vermeidet, Mt und Lk hier aber sorgloser sind: das spricht dafür, dass Mk in einer politisch brisanten Zeit schrieb (unmittelbar vor oder im Jüdischen Krieg, 67-70 n.), Mt und Lk aber später (auf dieses inhaltliche Argument gehen wir noch ausführlicher ein). Doch weisen Mt und Lk auch viele Texte auf, die sich bei Mk überhaupt nicht finden auch das spricht dafür, dass sie nach Mk geschrieben und noch weiteres Material verarbeitet haben. Unter diesen lassen sich zwei Gruppen unterscheiden: 14 Ausführlicher: DEIFEL E., 1990/122.Bd./H.1,30-48. Wahrheit und Wert von Symbol und Mythos, in: ZkTh 26 Einerseits Sondergut, d.h. Perikopen, die sich entweder nur bei Mt oder nur bei Lk finden (z.B. sind gerade die bekanntesten und schönsten Gleichnisse des NT Sondergut des Lk, wie das des barmherzigen Samariters und das des barmherzigen Vaters). Andererseits finden sich bei Mt und Lk Gemeinsamkeiten, die bei Mk nicht vorhanden sind, und diese Gemeinsamkeiten bestehen in Reden JESU. Man nimmt daher an, dass Mt und Lk nicht nur Mk als Quelle verwendeten, sondern dass ihnen eine weitere, heute verlorene, schriftliche Quelle zur Verfügung stand. Diese Quelle muss, wegen der genauen Entsprechungen bei Mt und Lk, eine schriftliche gewesen sein, und wird, weil wohl hauptsächlich Reden enthaltend, als Redequelle bezeichnet und mit "Q" ("Quelle") abgekürzt 15. Weil also Mt und Lk zwei schriftliche Quellen benützten, nämlich Mk und Q, spricht man von einer "Zweiquellentheorie". - Um etwa 90 schrieb Lk als Fortsetzung seines Evangeliums die Apg (ausführlicher: Kap.4): War im Evangelium CHRISTUS der GEISTträger, so geht diese GOTTESverbindung in der Apg auf die Kirche über. Um 100 schrieb ein oder - wahrscheinlich mehrere - Verfasser das Joh-Ev (vgl. auch 0.5), das das Wegmotiv zugunsten eines anderen Konzepts aufgibt: JESUS als der Offenbarer GOTTES offenbart Sich zuerst in der Öffentlichkeit, dann, als Er zunehmend auf Ablehnung stößt, in Seinem Jüngerkreis und schließlich endgültig durch Tod und Auferstehung. Um die Wende des 1. zum 2.Jh. entstanden weitere Briefe (Kap. 6) und die Offenbarung eines Sehers namens JOHANNES (Kap.7). Exkurs: Entstehung des Kanons "Kanon" meint in der Grundbedeutung (Schilf)Rohr, Maßstab, im übertragenen Sinn: Norm hier die Zahl und Art der Schriften, die das GOTTESvolk als seine Norm anerkennen wollte und will. Dieser Kanon entwickelte sich aber erst allmählich, da im Rahmen der Kirche viel mehr Evangelien, religiöse Briefe und Apokalypsen entstanden. Es bedurfte eines Entscheidungsprozesses, welche Schriften die kirchliche Gemeinschaft als ihr Richtmaß, eben als Kanon, anerkennen wollte und welche sie ausschied. Letztere werden als "Apokryphe" (wörtl.: Verborgene) bezeichnet und hatten einen starken Einfluss auf die Volksfrömmigkeit. Die Art der Auswahl aber der kanonischen Bücher zeigt ein "GEISTgewirktes" Gespür, weil keine Konzessionen an die Legendensucht des Zeitgeschmacks gemacht wurden. Abgeschlossen war die Kanonbildung im 4.Jh., lehramtlich definiert sogar erst im 16. Jh. durch das Tridentinum. Die Geschichte der Kanonentwicklung: Bzgl. des AT übernahm die Urkirche die LXX (Septuaginta, d.i. die bedeutendste griechische Übersetzung des AT, und damit auch die "deuterokanonischen" Schriften Tob, Jdt, Bar, Weish, Sir, Makk und die griechisch überlieferten Ergänzungen zu Dan). Für die Entstehung des NT sind die ersten Wurzeln eine Sammlung der PAULUSbriefe, erstmals zitiert 2 Petr 3,15; eine Sammlung der Evangelien: PAPIAS v. Hierapolis (+um 120) kennt zumindest die Synoptiker, JUSTINUS der Märtyrer (+165) vier. Verschiedene Zeitströmungen zwangen zur bewussten Entscheidung: Erstens eine starke Vermehrung der christlichen Literatur (später als "Apokryphe" ausgeschieden), 15 Die Quelle Q scheint nach Sachgruppen geordnet gewesen und vor 68 entstanden zu sein - Datierungshilfe: Lk 11,50 f // Mt 23, 35 erwähnen den gesteinigten SACHARJA, S.d.JOJADA (2 Chr 24,20 f.), Lk richtig (aus Q), Mt verwechselt ihn mit dem Propheten SACHARJA, S. d. BERECHJA, der bei JOS.FLAV., Bell IV 335-343, zitiert wird. 27 zweitens der Minimalkanon des MARCION (Ablehnung des AT, von NT nur Lk-Ev und 10 PlBriefe), drittens das Aufkommen von Irrlehren, vor allem zahlreicher gnostischer Sekten (vgl. 0.7.1). Der kirchliche Kanonbildungsprozess lässt sich nicht mehr im einzelnen nachkonstruieren, doch sind als wichtige Stationen zu nennen: Der Kanon MURATORI, um 200 entstanden (im 18.Jh. in der Ambrosiana / Mailand entdeckt und nach seinem Entdecker benannt), kennt 23 Schriften des NT: 4 Evv, Apg, 13 Pl, Jud, 1/2 Joh, Offb, PetrApk Der bedeutende alexandrinische Theologe ORIGENES (+254) unterscheidet anerkannte Schriften (4 Evv, Apg, 13 Pl, 1 Petr, 1 Joh, Offb) - umstrittene (2 Petr, 2/3 Joh, Hebr, Jak, Jud) - apokryphe (Ägypter-, THOMAS-, BASILIDES-, MATTHIAS-Ev) Der Osterfestbrief des ATHANASIUS v. Alexandrien 367 n. nennt erstmals alle bis heute anerkannten 27 Schriften, dies wurde von Regionalsynoden bestätigt (Rom: 382, Hippo Regius: 393, Karthago: 397 und 419). Da Regionalsynoden aber keine allgemeine Verbindlichkeit haben, blieben Differenzen noch längere Zeit erhalte (umstritten waren noch Hebr, Offb, 2/3 Joh, 2 Petr und Jud; verbreitet waren noch 3 Kor und ein Laodicener-Brief) Erst das Ko.v.Trient legte die 27 Bücher des NT dogmatisch fest (1546). Heute sieht der Kanon des NT bei allen christlichen Konfessionen gleich aus, sowohl bezüglich der Zahl als auch bezüglich der Anordnung der Bücher: 4 Ev (Mt,Mk,Lk,Joh) / 1 Apg (Lk) / 21 Br / 1 Offb (Joh): 27 Bücher 2 Die vier Evangelisten - wer waren sie, und was war ihr theologisches und literarisches Anliegen ? In der gesamten Antike ist mit vielen pseudonymen Werken zu rechnen, sog. "Pseudepigraphien", d.h. mit Werken, die einem falschen (pseudos=Betrug) Verfasser zugeschrieben wurden (vgl. u., 5.2.1): Der Begriff "geistiges Eigentum" wurde anders als heute verstanden: Schüler schrieben häufig im Namen ihres Lehrers - vgl. Deutero- und TritoJESAIA im AT, DeuteroPAULINEN (unechte PAULUSbriefe) im NT: dies war sowohl ein Kompliment für den Lehrer als auch eine Möglichkeit für einen unbekannten Autor, sich unter einem bekannten Namen Gehör zu verschaffen. In der bildenden Kunst war dieses Vorgangsweise bis in die Neuzeit üblich. So entwickelte sich auch gegenüber den Evangelisten die Tendenz, sie zu Aposteln (Mt, Joh) oder zumindest zu Apostelschülern (Mk, Lk) zu machen. 2.1 MARKUS Zur Person: Nach altkirchlicher Tradition war er Dolmetscher des PETRUS und identisch mit JOHANNES MARKUS, einem Verwandten des BARNABAS und Begleiter zunächst des PAULUS, dann des PETRUS (Apg 12,25 und 13,13). Dagegen spricht: Der Verfasser begeht geographische Fehler (z.B. Gerasa wird in der Nähe des Sees von Gennesaret angenommen, Mk 5,1-20; Betfage und Betanien werden am Ölberg lokalisiert, Mk 11,1); der Verfasser zeigt keine spezifisch petrinische Überlieferung und arbeitet auch die Autorität des PETRUS nicht stärker heraus als die anderen Evangelisten. Heute meint man daher: Das Evangelium könnte orthonym sein, d.h. sein Verfasser könnte den damals häufigen Namen MARKUS getragen haben; er war kein Augenzeuge und kaum aus Judäa. Er war eher ein Heidenchrist als ein Judenchrist aus der Diaspora. Seine Adressaten waren 28 jedenfalls Heidenchristen, denn MARKUS erklärt für sie jüdische Sitten (z.B. das HändeWaschen Mk 7,3 f.11) und übersetzt aramäische Begriffe ( 5,41; 7,34). Geschrieben hat MARKUS vor 70, denn die Zerstörung Jerusalems ist nirgends erwähnt. Bis vor kurzen herrschte die ziemlich einhellige Meinung vor, dass er knapp vor 70 geschrieben haben müsse, weil eine politisch unruhige Zeit als Hintergrund seines Evangeliums deutlich spürbar ist (Mk 13). Neuerdings könnte ein Papyrusfund eine frühere Datierung veranlassen. Allerdings erscheint die Frage eher historisch als theologisch interessant, da für die Inspiriertheit des Verfassers ein paar Jahre auf oder ab keine Rolle spielen können. Nach altkirchlicher Überlieferung wurde das Mk-Ev in Rom geschrieben, weil es lateinische Lehnwörter verwendet (15,14) und das Römische Recht voraussetzt (10,11 f.). Diese Begründung ist aber nicht stichhältig, da die lateinische Sprache und das Römische Recht im ganzen Römischen Reich bekannt waren. Der Entstehungsort bleibt also ungewiss. Zum Werk: Aufbau: Einleitung und Wirken in Galiläa (1-9) - Weg nach Jerusalem (10) - Wirken in Jerusalem (11-13) - Passion und Auferstehung (14-16; 16,9-20 ist eine spätere Ergänzung aus der M.d.2.Jhs. und stellt eine Synthese der Osterevangelien nach Mt, Lk und Joh dar). Sprache: einfach und volkstümlich, manchmal sogar vulgär (2,11), gelegentliche Aramäismen (5,41; 7,34; 14,36; 15,34). Theologie: JESUS ist von Anfang an SOHN GOTTES, doch verhüllt im Menschlichen man nennt diese Darstellungsweise "sub contrario", "unter dem Gegenteil", d.h. die göttliche Macht wird in der menschlichen Ohnmacht dargestellt. Daher nimmt die Passion einen relativ breiten Raum ein. Dieser Grundakzent der mk. Theologie zeigt sich auch darin, dass der Evangelist eher Taten als Worte JESU erzählt; dass JESUS - trotz seiner machtvollen Taten - immer wieder auf Unverständnis, auch bei seinen eigenen Jüngern, stößt (Mk 8,30 u.ö. - Dieses Unverständnis wird noch tragisch unterstrichen dadurch, dass JESUS einerseits von "Dämonen" erkannt wird (1,24; 5,7), andererseits von Heiden (Syrophönikierin: 7,24-30; heidnischer Hauptmann: 15,39); dass JESUS häufig ein Schweigegebot erlässt ("Er verbot ihnen, es <z.B. eine wunderbare Heilung> weiterzusagen" u.ä.), womit er wohl ein politisches MESSIASverständnis abwehren wollte - man spricht daher auch von "MESSIASgeheimnis" -, was sicher im Leben JESU wurzelt. Dazu passt: Das MESSIASgeheimnis wird ab Beginn der Passion aufgegeben, denn von hier an ist ein politisches Missverstehen unmöglich geworden - JESUS erweist sich gerade in seinem Leiden und Sterben als MESSIAS ! Daher steht das MESSIASgeheimnis auch im Dienste der mk. Kreuzestheologie, dass JESUS erst von Tod und Auferstehung her richtig verstanden werden kann (vgl. Mk 9,9). Nur Mk hat diesen Zug aus dem Leben JESU überliefert, da er in einer politisch aufgewühlten Zeit schreibt; die später schreibenden Evangelisten geben das MESSIASgeheimnis auf, weil in ihrer Zeit die politischen Hoffnungen ohnedies vernichtet waren. MARKUS betont also, dass GOTT Sich gerade im Menschlichen, sogar - oder besonders? in der menschlichen Schwachheit, in Leid und Tod, offenbart. 2.2 MATTHÄUS Zur Person: Die altkirchliche Tradition identifizierte den Verfasser mit dem bekehrten Zöllner MATTHÄUS-LEVI (9,9; 10,3) - eine Annahme, die in der katholischen Kirche bis in unser Jh. bestand (Erklärung der Bibelkommission 1911). Dagegen spricht: Wäre der Verfasser ein Augenzeuge gewesen, würde er nicht NichtAugenzeugen als Quellen benützen (Mk); ferner zeigt sein Evangelium eine gediegene, wohl rabbinische, theologische Bildung, die nicht zu einem Zöllner passt. 29 Heute nimmt man an, dass der Verfasser ein Judenchrist war - das zeigen die jüdischen Sprachgewohnheiten, den GOTTESnamen ehrfurchtsvoll zu umschreiben (Mt sagt daher Himmelreich statt GOTTESreich). Vieles spricht für eine rabbinische Bildung (Art der Auslegung des AT, Argumentation besonders in Streitgesprächen; vielleicht ist 13,52 ein verstecktes Selbstportrait: ein Schriftgelehrter, der zum Himmelreich gelangte). Seine Adressaten waren Judenchristen - anders als Mk erklärt er weder jüdische Sitten noch übersetzt er aramäische Ausdrücke; doch hält Mt manchmal seinem Volk einen Spiegel vor (Mt 2) oder wendet sich scharf gegen Schriftgelehrte und Pharisäer (Mt 23), er gibt die Schuld am Tod JESU den Juden (27,24 f.) und entlastet die Heiden (21,43; 22,14) und PILATUS (27,24). Dies alles verrät - ähnlich wie bei PAULUS -, dass ihn die Ablehnung des Christentums durch die Mehrheit der Juden schmerzte. Leider wurden diese Stellen (und analoge Texte bei Lk und vor allem Joh), aus ihrem Kontext gerissen, im Laufe der Kirchengeschichte zur Basis eines unchristlichen Antisemitismus. Die Abfassungszeit liegt nach der Zerstörung des Tempels (70 - vgl. Mt 22,7) und setzt die beginnende, doch noch nicht vollendete Trennung von Synagoge und Kirche voraus - also wohl um 80. Das wahrscheinlichste Entstehungsgebiet ist Syrien, das nahe bei Palästina liegt und früh aus Juden- und Heidenchristen gemischte Gemeinden aufwies. Zum Werk: Der Aufbau ist gegenüber Mk, dessen Grundgerüst Mt übernimmt, erweitert: Kindheitsevangelium (1-2) - Einleitung und Wirken in Galiläa (3-16) - Weg nach Jerusalem (16-20) Wirken in Jerusalem (21-25) - Passion und Auferstehung (26-28). Der Einschub von fünf großen Reden charakterisiert JESUS als den neuen MOSE und betont das Lehrhafte stärker. Die Sprache ist gepflegter als bei Mk, die Erzählungen der Taten JESU werden auf das Wesentliche hin gestrafft, die Reden JESU hingegen breit ausgeführt. Zur Theologie: Der Verfasser betont, dass JESUS die Erfüllung des AT darstellt, daher: Der Verfasser verwendet häufig "Reflexionszitate" ("Erfüllungszitate"), d.h. Zitate, die das NT als Erfüllung des AT ausweisen sollen ("Damit die Schrift sich erfülle" u.ä.; besonders 5,17-20). Entsprechend der zeitgenössischen rabbinischen Auslegung erfolgt der Umgang mit dem AT oft sehr frei, d.h. im Hinblick auf den gewünschten Akzent - bei Mt das CHRISTUSereignis -, nicht immer unter Berücksichtigung des urspr. gemeinten Sinnes (z.B. Mt 1,23 in Rückbezug auf Jes 7,14). Der Verfasser sucht JESUS als den neuen MOSE auszuweisen: Im Kindheitsevangelium (Mt 1-2) wird das Schicksal des JESUSknaben mit dem des MOSEknaben parallelisiert (Ex 1-2). Der tradierte Redestoff wird in fünf großen Reden - analog zu den fünf Büchern der Tora - zusammengefasst; besonders die Bergpredigt (Berg - Erinnerung an den Sinai) zeigt JESUS als den wahren Lehrer des Volkes. Der Auferstandene erteilt seinen Sendungsauftrag auf einem Berg (Mt 28). JESUS wird - den jüdischen MESSIASerwartungen entsprechend - auch als DAVIDSOHN gezeichnet (1,1-17). Der Verfasser betont die Ablösung des atl. GOTTESvolkes durch ein neues, die Kirche ein Begriff, der sich im NT so nur bei Mt findet (16,18; 18,17). Damit zusammenhängend: Der irdische JESUS weiß sich und seine Jünger nur zum Volk Israel gesandt (10,5 f.; 15,24) - der Auferstandene sendet seine Jünger zu "allen Völkern dieser Erde" (Mt 28,16-20), d.h. es findet ein Wandel vom Heils-Partikularismus zum HeilsUniversalismus statt. Die Autorität, aber auch Verantwortung der Kirche (18,18) und ihres Oberhauptes PETRUS (16,18) wird betont - zugleich aber, worauf sie basiert, auf der Gegenwart des Auferstandenen bis zur Vollendung der Welt (28,20). Gerade die Lehrhaftigkeit und Kirchlichkeit dieses Ev. trug zu seiner Hochschätzung bei - ein weiterer Grund, warum es an die erste Stelle gereiht wurde. 30 2.3 LUKAS Zur Person: Die Tradition sah in ihm einen Arzt (Kol 4,14) und zeitweiligen Begleiter des PAULUS (vgl. Phlm 24 u. 2 Tim 4,11). Als Begründung für den Arztberuf führte man die gegenüber den anderen Synoptikern angeblich genaueren Krankheitsbefunde an (4,38; 5,12; 8,44; 13,11) und die Streichung des mk. Tadels an Ärzten (8,43), für die PAULUSbegleitung auch die Wir-Berichte der Apg. Dagegen lässt sich einwenden: Seine Terminologie ist nicht spezifisch medizinisch, sondern entspricht der üblichen Redeweise eines Gebildeten. Wir-Berichte allein sind kein ausreichender Beweis für eine tatsächliche Begleitung des PAULUS, sondern können ebensogut ein Stilmittel sein. Auch die Erwähnung eines LUKAS im pl. Schrifttum reicht nicht, da LUKAS ein sehr häufiger Name war. Andererseits scheint mir das heute oft vorgebrachte Gegenargument gegen eine persönliche Bekanntschaft von PAULUS und LUKAS - LUKAS zeige keine Abhängigkeit von der pl. Theologie - ebenso unzureichend: gerade kluge Schüler entwickeln oft eigene Denkmodelle (man denke an PLATON und ARISTOTELES !). Mit wesentlich größerer Wahrscheinlichkeit spricht gegen eine direkte Bekanntschaft von PAULUS und LUKAS die Tatsache, dass LUKAS in der Apg mehrfach gegenüber dem pl. Selbstzeugnis ungenaue Darstellungen bietet, worauf wir bei der Besprechung der Apg einerseits, der PLBriefe andererseits noch eingehen werden. So lässt sich also nur mit Sicherheit sagen: LUKAS war ein hochgebildeter Heidenchrist, der auch für Heidenchristen schrieb. Die Abfassungszeit liegt nach der Zerstörung Jerusalems (21,20.24), wohl auch schon nach dem endgültigen Ausschluss der Christen aus der Synagoge (6,22), also etwas nach dem Mt-Ev. Der Abfassungsort ist unsicher. Zum Werk: Auch Lk übernimmt und erweitert den Aufbau des Mk: Kindheitsevangelium (1-2) - Wirken in Galiläa (3-9) - Weg nach Jerusalem (9-19) - Wirken in Jerusalem (19-21) - Passion und Auferstehung (22-24). Die Sprache ist nach dem Hebr das schönste Griechisch des NT. Der Verfasser liebt eine materialisierende Schreibweise, d.h. die Verdeutlichung durch Bilder ("Schweiß wie Blut": 22,44; "Brausen wie Sturm" und "Zungen wie von Feuer": Apg 2,2 f.). Anstößiges lässt er gern weg oder unterspielt es zumindest (was etwa in der Apg zu einem sehr verklärten Bild der jungen Gemeinden führt - ganz anders als in den PL-Briefen, die die Probleme dieser Gemeinde widerspiegeln !). Gegenüber Mk wird oft geglättet und verbessert, typisch Jüdisches weggelassen (z.B. Mk 7,1-23), dafür Hellenistisches aufgenommen (Lk 5,19: Ziegel - anders Mk 2,4). Theologie: Lk gehört schon einer Generation an, die mit der Verzögerung der Parusie, der Wiederkunft CHRISTI, fertig werden müssen. Er entwickelt dazu ein eigenes Geschichtskonzept: Die Zeit Israels als des atl. GOTTESvolkes Klammer: Die an die atl. Propheten angelehnten Gestalten ZACHARIAS, ELISABETH, JOHANNES d.T., SIMEON, HANNA Die Zeit JESU CHRISTI als Mitte der Geschichte Klammer: "Himmelfahrt" JESU, die als Vollendung JESU am Ende des Ev (Lk 24,5053) und als eine Wurzel der Kirche am Anfang der Apg (Apg 1,9-11) erzählt wird. Die Zeit der Kirche als des neuen GOTTESvolkes. Damit verbunden die Betonung Jerusalems - die atl. "Tochter Zion" und DAVIDsstadt, die im Buch EZECHIEL (4048) vorgeprägte Vorstellung eines neue Jerusalem. Das Lk-Ev beginnt und endet in Jerusalem, die Apg beginnt in Jerusalem, die Jerusalemer Gemeinde wird als ideale christliche Gemeinde geschildert. 31 In diesem Geschichtskonzept hat das CHRISTUSereignis von vornherein weltweite Bedeutung ("Retter der Welt" - Lk 2,11 -, vermutlich in bewusster Abgrenzung zur römischen Kaisertitulatur; Jüngeraussendung 10,1-20). Das Lk-Ev zeigt eine starke soziale Ausrichtung - JESUS als Heiland: JESUS warnt wiederholt vor asozialem Verhalten (6,24-26; 12,16-21; 16,9.19-31). JESUS wendet sich betont sozialen Außenseitern zu - Frauen (8,1-3; 10,38-42), Hirten (2,8-20), Armen und Verachteten (6,20-22), Sünderinnen und Sündern (7,3650; 19,1-10), Samaritern (10,25-37; 17,11-19). Der Verfasser betont besonders die Bedeutung des GOTTESGEISTES: Im Lk-Ev ist JESUS als der GEISTträger charakterisiert - er wird vom GEIST in MARIA geschaffen (1,36), wird vom GEIST berufen und bestätigt ((3,21 f.), tritt im GEIST auf (4,1.14.18), verkündet den GEIST als gute Gabe (11,13) und verheißt diesen GEIST seinen Freunden (24,49). In der Apg sendet der Auferstandene den GEIST als Grundlage der Kirche (Apg 2,114). 2.4 JOHANNES Zur Person: Die Verfasserfrage gestaltet sich gerade beim Joh-Ev besonders schwierig. Die Tradition schrieb das Evangelium dem Apostel JOHANNES, dem Sohn des ZEBEDÄUS und Bruder JAKOBUS d.Ä. zu und identifizierte diesen JOHANNES mit dem "Lieblingsjünger", der im zweiten Teil des Evangeliums an markanten Stellen vorkommt, aber im Ev. selbst nie mit dem Zebedaiden JOHANNES identifiziert wird: beim Letzten Abendmahl ruht er an der Brust des HERRN (Joh 13,23), als einziger Jünger unter dem Kreuz stehend vertraut ihm JESUS seine Mutter an (Joh 19,26 f.), am Ostermorgen eilt er mit PETRUS zum Grab und scheint als einziger schon durch das leere Grab zum Glauben zu kommen (Joh 20,1-10) und schließlich erkennt er den Auferstandenen am See Gennesaret als erster und wird durch diesen indirekt bestätigt (Joh 21,7.20-23). Heute herrscht Einigkeit, dass dieser Apostel nicht direkt der Autor gewesen sein kann : die Sprache und Denkweise ist nicht die eines Fischers, sondern eines hochgebildeten Mannes; die Freiheit der Darstellung ist kaum die Darstellungsweise eines Augenzeugen; das Evangelium stand früh unter Häresieverdacht, weil umstritten war (und z.T. noch heute ist), ob die gnostischen Anklänge (s.u.) auf gnostische Einflüsse oder auf Polemik gegen gnostische Strömungen zurückzuführen sind; dass eine spätere Überarbeitung stattgefunden hat: das 21. Kapitel spricht aus, dass es eine spätere Ergänzung ist; an anderen Stellen ist die spätere Überarbeitung nicht so deutlich, aber durchaus möglich. Uneinigkeit herrscht darüber, ob zwischen dem Autor (bzw. den Autoren) und dem Apostel JOHANNES eine Beziehung bestand oder nicht; unmöglich wäre diese Annahme keineswegs, da die Jünger wieder Jünger um sich sammelten und es in der Antike üblich war, dass Schüler ihr Werk ihrem Lehrer zuschrieben (in der Malerei war dies bis in die Neuzeit gebräuchlich); ob der Lieblingsjünger der Verfasser des Evangeliums ist 16 Versucht man, die strittigen Punkte mit gewisser Wahrscheinlichkeit zu entscheiden, könnte man sagen: dass der Apostel JOHANNES die "Graue Eminenz" hinter dem Evangelium war, ist von antiken Gewohnheiten her nicht unwahrscheinlich – wir müssen damit rechnen, dass die Jünger JESU ihrerseits Jünger um sich scharten; dass der an pointierten Stellen erwähnte "Lieblingsjünger" der Verfasser des Evangeliums war, ist sogar wahrscheinlich, da die Art, wie er eingeführt wird, ihn offenbar als zuverlässigen Garanten bestätigen will - besonders 16 Vgl. NORDSIECK R., Johannes, zur Frage nach Verfasser und Entstehung des 4. Evangeliums, Neukirchen-Vluyn 1998. 32 auffällig ist sein Ruhen an der Brust JESU (Joh 13,23), das eine kaum zufällige Parallele zum Joh-Prolog darstellt: nur der, der am Herzen des VATERS ruhte, konnte zuverlässiger Offenbarer GOTTES sein (Joh 1,18) - sodass der Evangelist gleichsam das Wirken GOTTESSOHNES in der Welt fortsetzt, und zwar gerade durch sein Evangelium; und seine Erwähnung im Nachtragskapitel 21 (Joh 21, 24). Zum Werk: Die Abfassungszeit dürfte um 100 n. liegen, der Abfassungsort könnte Ephesus oder Antiochien sein, beides ist aber unsicher. Der Verfasser des Joh-Ev geht als einziger vom Wegmotiv als Gliederungsprinzip ab und wählt ein anderes: 1: Einleitung: Prolog, Täufer, erste Jünger 2-12: Offenbarung in einer breiten Öffentlichkeit 13-17: Offenbarung im Jüngerkreis: Letztes Abendmahl 18-20: Erhöhung durch Tod und Auferstehung 21: Nachtrag In Datierungsfragen bietet Joh wahrscheinlichere Angaben als die Synoptiker: JESUS wandert zwischen Galiläa und Jerusalem hin und her; bei Joh stirbt JESUS am Rüsttag zum Pessachfest, bei den Synoptikern am Fest selbst - letzteres ist sehr unwahrscheinlich. Das Joh-Ev ist durch ein dualistisches Denken gekennzeichnet, z.B. Licht / Finsternis (1,5; 3,19-21; 8,12; 12,35.46), himmlisch / irdisch (3,12.31), Geist / Fleisch (3,5), Freiheit / Knechtschaft (8,33f), Wahrheit / Lüge (8,44f). In der Umwelt des Verfassers gab es zwei Strömungen, die ebenfalls durch dualistisches Denken gekennzeichnet waren (vgl. auch u., 0.8): Die ordensähnlich Gruppe der Essener in Qumran (vgl. u., 0.7.2) stellte ihre eigenen Mitglieder aufgrund ihrer strengen Gesetzeseinhaltung als "Söhne des Lichts" den übrigen Menschen als "Söhnen der Finsternis" gegenüber. Auch Joh bezeichnet die Gläubigen als Söhne des Lichts (12,36). Die Gnosis (w.: Erkenntnis) ist die Sammelbezeichnung einer in viele Untergruppen zerfallenden religiösen Bewegung, die zwei Grundgemeinsamkeiten aufweisen: Erstens die Mischung griechischer (Popular)Philosophie und verschiedener Religionen (des Alten Orients, aber auch Judentum und später Christentum) und zweitens einen Dualismus von Geist (Licht, Gutem) / Materie (Finsternis, Bösem). Die Welt entstand dadurch, dass ein Funke aus der göttlichen Lichtsphäre abstürzte, sich mit der Materie verband und nun dort eingeschlossen ist. In den vernunftbegabten materiellen Lebewesen, also in den Menschen, schlummert daher die Sehnsucht nach der göttlichen Lichtwelt; der Gnostiker wird sich dieser Sehnsucht bewusst und will zu seinem Ursprung zurückkehren. Viele gnostische Sekten erwarteten für ihre Erlösung einen himmlischen Retter, der vom Himmel kommt, die Lichtfunken auf Erden befreit und wieder in die himmlische Sphäre zurückkehrt. Wenn auch der Verfasser des Joh-Ev. essenische und gnostische Gedanken aufgreift, setzt er sich doch kritisch mit ihnen auseinander: Mit den Essenern hat Joh die Art des Dualismus gemeinsam: gut / böse sind nicht als Geist / Materie, damit als zwei der menschlichen Entscheidung vorgegebene Bereiche einander gegenübergestellt, sondern es kommt auf die konkrete Glaubensentscheidung des einzelnen an - man spricht von heilsgeschichtlichem oder sittlich-religiösem Dualismus. Im Unterschied zu den Essenern begründet diese Grundentscheidung aber keinen Selbsterlösungsprozess, sondern besteht darin, an JESUS CHRISTUS als "den" Offenbarer GOTTES zu glauben und durch diesen Glauben erlöst zu werden. Mit dieser Glaubensentscheidung hängt die sog. präsentische Eschatologie des Joh-Ev zusammen, z.B. "Amen, amen, ich sage euch: Wer glaubt, hat das ewige Leben" (6, 47, vgl. 3,18; 5,24; 8,51; 11,25). Das Joh-Ev betont also besonders stark die Bedeutung der in diesem Leben 33 erfolgenden Glaubensentscheidung für die Eschatologie, für die endgültige Zukunft; nicht bedeutet es, dass Joh keine endgültige Vollendung erwartet (wie das manche frühchristlichen Sekten taten) - "Denn es ist der Wille meines Vaters, dass alle, die den Sohn sehen und an ihn glauben, das ewige Leben haben und dass ich sie auferwecke am Letzten Tag (6,40). Vom gnostischen Dualismus unterscheidet sich das Joh-Ev dadurch, dass der gnostische Dualismus ein kosmisch-metaphysischer ist, denn die geistige und materielle Sphäre ist dem Menschen ohne sein Zutun vorgegeben. Daher dürfte vieles, was im Joh-Ev an Gnostisches erinnert, eher eine Auseinandersetzung mit der Gnosis, also eine antignostische Tendenz verraten; abgesehen von dem eben erwähnten Unterschied zwischen gnostisch-metaphysischem und johanneisch-heilsgeschichtlichen Dualismus ist hier vor allem auf die Betonung der "Fleischwerdung" des Retters hinzuweisen (Joh 1,14) - ein für die Gnosis nicht nachvollziehbarer Gedanke. An die Gnosis erinnert aber, dass Joh "die Welt" fast immer negativ sieht (Joh 1,10; 15,18-25; 17,14-16). Ein anderer, im Laufe der Geschichte verhängnisvoller Dualismus ist die meist negative Sicht "der" Juden (Joh 1,19; 10,31; 18,22) - dass JESUS und auch der Verfasser selbst Juden waren, bleibt unberücksichtigt. Diese negative Sicht wird aus der Zeitsituation des Verfassers verständlich: nach der Tempelzerstörung hatten die Juden die Christen aus der Synagoge ausgeschlossen und beteten täglich eine Verwünschungsformel gegen sie. Eine solche zeitbedingte Gegnerschaft darf aber nicht das Verhältnis der Christen zu ihrer Mutterreligion bestimmen ! Auch das CHRISTUSbild des vierten Evangeliums unterscheidet sich deutlich von dem der Synoptiker. Die Göttlichkeit JESU wird weit stärker herausgearbeitet, was sich vielfach zeigt: Nur JESUS ist "der" Offenbarer GOTTES, weil er von GOTT kommt (Joh 1,18). Daher werden die "Wunder" JESU auch viel stärker als Zeichen der durch JESUS durchschimmernden Herrlichkeit GOTTES gedeutet (vgl. Joh 2,11; 20,30). Joh bringt zwar nur sieben Wundererzählungen, doch in steigernder Anordnung (von der Hochzeit in Kana bis hin zur Auferweckung des LAZARUS) und immer symbolisch über sich hinausweisend auf die Herrlichkeit GOTTES (hebr. kabod, griech. doxa). Möglicherweise geht diese Darstellung auf eine eigene Zeichenquelle oder Semeia-Quelle (semeion=Zeichen, abgk.: ) zurück. In JESUS wird der präexistente LOGOS Mensch ("Fleisch", vgl. Joh-Prolog, Joh 1,118). In dem kaum adäquat übersetzbaren Begriff LOGOS sind die jüdische Vorstellung des Tat-Wortes GOTTES (dabar) und die griechische Vorstellung einer Weltvernunft vereint (vgl. auch u.,1.7.2). Das Joh-Ev ist das einzige, das JESUS nicht nur als SOHN oder SOHN GOTTES bezeichnet, sondern direkt als GOTT Joh 1,1; 20,28). Damit hängt ein spezifisches Verständnis der Begriffe "Erhöhung" und "Stunde" zusammen. Erhöhung ist nicht nur die Auferstehung, sondern die Einheit von (räumlicher) Erhöhung am Kreuz und (endgültiger) Erhöhung zum VATER. "Stunde" meint nicht die Uhrzeit, sondern - parallel zur griechischen Kairos- Vorstellung - die Schicksalsstunde: diese ist letztlich ident mit der Stunde der Erhöhung, bestimmt aber von Anfang an das öffentliche Wirken JESU - sie besagt nichts anderes, als dass JESUS sein ganzes Leben und Wirken vom Willen des VATERS bestimmt weiß. Der GEIST (oft als parakletos =Beistand, Tröster bezeichnet) wird als der gesehen, der das Werk JESU nach dessen Heimkehr zum VATER fortsetzt - eine gewisse Ähnlichkeit zum lk. Konzept. Zu dem johanneischen CHRISTUSbild passt der Stil: Der Stil ist feierlich, bildreich, symbolträchtig; der Autor kreist oft meditierend um ein Thema - daher die spätere Bezeichnung "geistiges Ev." Zwei weitere stilistische Besonderheiten leiten zum johanneischen CHRISTUSbild über, das die Göttlichkeit stärker betont: Das vorangestellte und verdoppelte "Amen, amen": gewöhnlich antwortete die Synagogengemeinde auf einen atl. Text mit "Amen" ("so ist es ", "so sei es"), wie es auch 34 wir übernommen haben. Der joh. CHRISTUS wartet diese Bestätigung durch seine Hörer nicht ab, sondern leitet wichtige Reden mit "Amen, amen" ein. Die "Ich-bin-Reden" oder Offenbarungsreden. Sie kommen in zweifacher Form vor: verbunden mit einem symbolträchtigen Bildwort (Brot, Licht, Leben, guter Hirte, Weinstock, Weg, Wahrheit,...) oder absolut, d.h. alleinstehend, im Deutschen dann wiederzugeben mit "Ich bin es". In beiden Ausprägungen hörte der gläubige Jude die Selbstvorstellung GOTTES als "Ich bin der `Ich-bin-für-euch-Da'" (Ex 3,14; 20,2) mit, so dass diese Ich-bin-Reden einen ungeheuren Anspruch ausdrückten. Während die Anspielung auf den atl. GOTTESnamen durch die Ich-bin-Reden unumstritten ist, ist unklar, ob und wie weit in ihnen auch gnostische (s.u.) Einflüsse greifbar sind, da sich auch gnostische Wanderprediger dieser Sprachform bedienten. 3 LITERATUREMPFEHLUNGEN (Hinweis: die eingeklammerten Werke erfordern Griechischkenntnisse, die mit "!" bezeichneten Werke sind besonders zu empfehlen) Ausgaben ! Einheitsübersetzung der Hl. Schrift (EÜ), Stuttgart 1972. Das NT. Nach der Übersetzung Martin LUTHERS, Stuttgart 1976. Die Gute Nachricht. Das NT in heutigem Deutsch, Stuttgart 1971, 3.Aufl. Die Bibel. Deutsche Ausgabe mit den Erläuterungen der Jerusalemer Bibel, ed. D. ARENHOEVEL u.a., Freiburg 1975, 7.Aufl. Das NT. Übersetzt und kommentiert von U.WILCKENS, Hamburg 1970. (Novum Testamentum Graece, ed. E.NESTLE-K.ALAND, Stuttgart 1979, 26.Aufl.) Lexika BAUER J.B., Bibeltheologisches Wörterbuch, Graz 1994. ! Kleines Stuttgarter Bibellexikon, Stuttgart 1977,4.Aufl. (KITTEL-FRIEDRICH, Theologisches Wörterbuch zum NT, 10 Bde, Stuttgart 1933 ff.) Konkordanzen (Speziallexika, die die biblischen Begriffe in alphabetischer Reihung mit genauen Stellenangaben bringen) Konkordanz zur EÜ ! Praktisches Bibelhandbuch, KBW/Stuttgart 1968, 9.Aufl. (Computer-Konkordanz, ed. BACHMANN-SLABY, Berlin-New York 1980). 35 Synopsen (Stellen Parallelstellen nebeneinander, meist die drei Synoptiker und in einer 4.Spalte vergleichbare Texte aus dem Joh-Ev oder den Briefen) ! SCHIERSE F.J., Patmos-Synopse, Düsseldorf 1972, 5.Aufl. ! PESCH-WILCKENS, Synoptisches Arbeitsbuch zu den Evangelien, Zürich 1980. (ALAND K., Synopsis quattuor Evangeliorum Stuttgart 1976, 9. Aufl.) Kommentar-Reihen ! EKK: Evangelisch-katholischer Kommentar, Neukirchen, seit 1975. (HThK: Herders Theologischer Kommentar zum NT, ed. VÖGTLE- SCHNACKENBURG, seit 1953). ! Die Neue Echter Bibel. Kommentar zum NT mit der Einheitsübersetzung, J.GNILKAR.SCHNACKENBURG, Würzburg. ! NTD: Das Neue Testament Deutsch, ed. FRIEDRICH-STUHLMACHER, Göttingen, seit 1932. RNT: Regensburger NT, ed. 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