Geschichte der Europäischen Integration nach 1945

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Geschichte der Europäischen Integration nach 1945
http://www.youtube.com/watch?v=HgmPe5ri0_0
Die Europäische Integration steht begrifflich für einen „immer engeren Zusammenschluss der
europäischen Völker“ (1. Erwägungsgrund der Präambel des AEUV - Vertrag über die Arbeitsweise
der Europäischen Union). Offiziell wurde dieser Begriff erstmals 1954 bei der Gründung der
Westeuropäischen Union (WEU) verwendet. Mit der Gründung der Europäischen Union durch den
Vertrag von Maastricht 1992 wurde der „Prozess der europäischen Integration auf eine neue Stufe
gestellt“ (1. Erwägungsgrund der Präambel des Vertrages von Maastricht); der Vertrag von Lissabon
2007 kennzeichnet den aktuellen Stand der Entwicklung.
Der europäische Integrationsprozess begann auf der Wirtschaftsebene, zielte aber auch auf die
Ebene des politischen Systems und speziell auf die Justiz- und Innenpolitik sowie auf eine
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik.
Dabei ist die Leitidee der europäischen Integration aber nicht auf die EU beschränkt; denn
neben dieser existieren in Europa eine Vielzahl weiterer internationaler Organisationen, und die
meisten europäischen Staaten gehören mehreren hiervon an.
Allerdings stellt die EU sowohl im Vergleich mit allen anderen europäischen Organisationen als auch
im weltweiten Vergleich das am weitesten fortgeschrittene Beispiel für regionale Integration dar. Die
weitgehende Übertragung einzelstaatlicher Befugnisse auf europäische Institutionen hat dazu geführt,
dass es sich bei den Europäischen Gemeinschaften, aus denen die EU entstanden ist, mehr als bloß
Internationale Organisationen darstellen; für sie wurde der Begriff „Supranationalität“ geprägt.
Die Europäische Union hat aber nicht nur die wirtschaftliche und politische Integration in den Jahren
nach ihrer Gründung Schritt um Schritt vorangebracht, sie hat sich durch Aufnahme neuer
Mitgliedstaaten auch geographisch zunehmend erweitert. Die Europäische Integration wird von
internationalen Organisationen anderer Kontinente teilweise ausdrücklich als Vorbild betrachtet; z. B.
wurde der institutionelle Rahmen der „Andengemeinschaft“ nach dem Modell der EU-Institutionen
gestaltet.
1) Die Anfänge der Europäischen Integration
Als Vorläufer der Europäischen Integration werden heute vor allem die Paneuropa-Bewegung von
Richard Coudenhove-Kalergi sowie die Bestrebungen des französischen Außenministers Aristide
Briand in der Zwischenkriegszeit, einen Zusammenschluss der europäischen Völker herbeizuführen,
angesehen. Das Schlagwort „Vereinigte Staaten von Europa“ wurde bereits 1849 von Victor Hugo
geprägt und noch vor dem Ersten Weltkrieg unter anderem von Karl Kautsky (Neue Zeit vom 28. April
1911) verwendet. Später wurde es von so unterschiedlichen Politikern wie Leo Trotzki und, nach dem
Zweiten Weltkrieg, Winston Churchill in dessen berühmt gewordener Zürcher Rede vom 19.
September 1946 wieder aufgegriffen.
Nach 1945 kam es zu zahlreichen verschiedenen Bestrebungen, europäische Organisationen
zu schaffen. Bis 1989 waren diese Bestrebungen aber von der Spaltung Europas durch den Eisernen
Vorhang überschattet, so dass die heute bestehenden Organisationen zunächst größtenteils auf
Westeuropa beschränkt blieben. Eine erste „Welle“ der Gründung politischer, wirtschaftlicher und
militärischer Zusammenschlüsse umfasst den Zeitraum von 1948 bis 1960.
Das erste Projekt der politischen Zusammenarbeit stellt der 1949 unter maßgeblichem Einfluss von
Winston Churchill gegründete Europarat dar: Der Europarat verfügt kraft seiner Satzung (Art. 1) über
ein breites Aufgabenfeld, das neben der Beratung von Fragen von gemeinsamem Interesse und dem
Abschluss von Abkommen auch wirtschaftliche, soziale, kulturelle und wissenschaftliche
Zusammenarbeit sowie „den Schutz und die Fortentwicklung der Menschenrechte und
Grundfreiheiten“ umfasst. Dabei verbleibt seine institutionelle Form jedoch – abgesehen von der
Errichtung eines supranationalen Gerichtshofs, nämlich des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte mit Sitz in Straßburg – auf der Ebene einer zwischenstaatlichen Organisation
(Intergouvernementalismus). Die im Rahmen des Europarats 1950 geschlossene Europäische
Menschenrechtskonvention, mit der der Grundrechtsschutz in Europa auf eine neue Stufe gestellt
wurde, ist ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen den Mitgliedstaaten. Der Schwerpunkt der Arbeit
des Europarats liegt heute im Bereich der Menschenrechte und der Förderung der
Demokratisierung.
Als ersten Schritt der wirtschaftlichen Integration gründeten 18 westeuropäische Staaten, die in den
Genuss von US-amerikanischer Unterstützung im Rahmen des Marshall-Plans kamen, 1948 die
Organization for European Economic Co-operation (OEEC), durch die diese Staaten in den
Entscheidungsprozess über die Verwendung der Mittel zum Wiederaufbau der westeuropäischen
Staaten eingebunden wurden. Pläne zur Schaffung einer großen, alle OEEC-Staaten umfassenden
Freihandelszone scheiterten jedoch. Aus der OEEC ging 1961 die OECD hervor.
Keimzelle der heutigen EU war die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Die EGKS ging
auf den sogenannten Schuman-Plan sowie eine Erklärung des französischen Außenministers Robert
Schuman vom 9. Mai 1950 zurück und bestand von 1952 bis 2002. Der Schuman-Plan stellt eine
Fortentwicklung der französischen Ruhrpolitik dar. An der EGKS nahmen sechs Staaten – Belgien,
die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande – teil. Am
25. März 1957 unterzeichneten dieselben Staaten die Römischen Verträge, mit denen die
Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) sowie die Euratom gegründet wurden. Der Vertrag
zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft trat am 1. Januar 1958 in Kraft, er sah die
Verwirklichung eines Gemeinsamen Marktes innerhalb einer Übergangszeit von zwölf Jahren vor.
Nach dem Scheitern einer großen (west-)europäischen Freihandelszone unter dem Dach der OEEC,
wurde lediglich 1960 die „kleine“ Europäische Freihandelszone (EFTA) geschaffen, an der jene
westeuropäischen Staaten teilnahmen, die nicht Mitglieder der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
(EWG) waren.
Die militärische Integration geht zurück auf den 1948 gegründeten Brüsseler Pakt, aus dem 1949 die
NATO und 1954 die Westeuropäische Union (WEU) hervorgingen.
Nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) 1954, wurde die Westeuropäische
Union (WEU; frz. UEO, Union de l’Europe occidentale gegründet). Sie war ein kollektiver militärischer
Beistandspakt, der am 23. Oktober 1954 von Frankreich, Großbritannien, Belgien, den Niederlanden, Luxemburg,
der Bundesrepublik Deutschland und Italien gegründet wurde. Sie ging aus dem Brüsseler Pakt hervor, in dem
Frankreich, Großbritannien und die Benelux-Staaten bereits Mitglied waren. Die Gründungsdokumente, die
Pariser Verträge, traten am 5. Mai 1955 in Kraft. Am 31. März 2010 teilte die Ratspräsidentschaft der WEU mit,
dass die Organisation aufgelöst wird.
Im sowjetischen Machtbereich wurde 1949 der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe gegründet, 1955
der Warschauer Pakt geschlossen. Diese Organisationen wurden 1990/91 aufgelöst. Die meisten ihrer
ehemaligen Mitgliedstaaten beziehungsweise der aus ihnen hervorgegangenen Staaten sind
mittlerweile Mitglieder von EU und NATO; mit Ausnahme Weißrusslands gehören sie alle dem
Europarat an.
Die erste gesamteuropäische, d. h. die beiden Blöcke verbindende Organisation war die Konferenz
für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die erstmals von 1973 bis 1975 in Helsinki
tagte. Aus ihr ging 1995 die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE)
hervor, der jedoch neben allen europäischen Staaten auch die USA und Kanada sowie die
zentralasiatischen Nachfolgestaaten der UdSSR angehören.
2) Der Integrationsprozess der EG/EU nach 1957
1968 wurden die letzten Binnenzölle innerhalb der EG-Staaten abgeschafft und ein gemeinsamer
Zolltarif gegenüber Drittländern eingeführt. Damit war die Integrationsstufe der Zollunion erreicht. In
den siebziger Jahren begann die Zusammenarbeit im Währungsbereich.
1972 wurde das System der Währungsschlange eingeführt, 1979 das Europäische
Währungssystem (EWS). Ein nächster wichtiger Schritt war die 1986 unterzeichnete Einheitliche
Europäische Akte (EEA), die die Organe der EG stärkte, sowie die Kompetenzen der EG und die
Ziele der Integration im Hinblick auf die Schaffung eines europäischen Binnenmarkts bis 1992
erweiterte. 1985 erfolgte die Unterzeichnung des Schengener Abkommens zum Abbau der
Grenzkontrollen zwischen den Mitgliedstaaten, das 1995 in Kraft trat.
Der Vertrag von Maastricht über die Gründung der Europäischen Union wurde 1992
unterzeichnet. Er hob die europäische Integration auf eine neue Ebene, indem er die
Wirtschaftsgemeinschaft zu einer politischen Union ausbaute. Zum stärksten Pfeiler der
europäischen Integration, den drei EG-Verträgen, fügte er zwei neue Pfeiler hinzu: die Gemeinsame
Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und die Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in
Strafsachen. Bezüglich des ersten Pfeilers wurde die Errichtung einer Wirtschafts- und
Währungsunion zum zentralen Ziel erklärt. Der europäische Binnenmarkt wurde kurz nach
Unterzeichnung des Vertrags von Maastricht zum 1. Januar 1993 verwirklicht.
Seit 1992 wurde die Vertiefung der europäischen Integration vor allem durch zwei weitere Verträge
vorangebracht: den Vertrag von Amsterdam von 1997, der die Säulen zwei und drei, die
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die innenpolitische und justizielle Zusammenarbeit,
gestärkt und eine Sozialcharta eingeführt hat, sowie den Vertrag von Nizza 2000, der die
Europäische Union „fit“ für die EU-Osterweiterung machen sollte. Der nächste wichtige Schritt erfolgte
nunmehr zum 1. Dezember 2009 mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, nachdem zuvor
in 2005 die In-Kraft-Setzung des Vertrags über eine Verfassung für Europa gescheitert war.
Ein besonders wichtiger Integrationsschritt war die Einführung des Euro als Zahlungsmittel
zum 1. Januar 2002, denn damit erwies sich Europa für jeden Bürger, dessen Staat Mitglied der
Eurozone ist, im Alltagsleben und bei Auslandsaufenthalten innerhalb dieses neuen gemeinsamen
Währungsraumes unmittelbar nützlich und noch einmal „greifbarer“ als bis dahin – im bargeldlosen
Zahlungsverkehr war der Euro ja schon 1999 eingeführt worden.
3) Konzepte für die Zukunft des europäischen Integrationsprozesses
Ein Grundsatz des Integrationsprozesses im Rahmen der EG/EU war über lange Zeit die verbindliche,
einheitliche Anwendung des „Acquis communautaires“, d. h. die einheitliche Geltung aller
gemeinschaftlichen Rechtsnormen für alle Mitgliedstaaten. Lediglich für Neumitglieder wurden
ursprünglich Übergangszeiten bis zur Umsetzung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts
vorgesehen. Mit der Zahl der Mitgliedstaaten wuchsen jedoch auch die Unterschiede zwischen diesen,
sowohl was die wirtschaftlichen und sozialen Rahmendaten betrifft als auch im Hinblick auf die an den
Integrationsprozess gerichteten politischen Erwartungen und die damit verbundenen Ziele. Hieraus
ergab sich zum einen eine grundsätzliche Debatte über die Finalität der europäischen Integration, die
um Begriffe wie Staatenbund/Intergouvernementalismus, Staatenverbund/Supranationalität und
Bundesstaat bzw. „Vereinigte Staaten von Europa“ kreist. Zum anderen werden seit Beginn der
1990er Jahre verschiedene Konzepte zur „Flexibilisierung“, d. h. zu einer geregelten Abweichung
vom Grundsatz der Einheitlichkeit des „Acquis communautaires“, diskutiert.
Staatenbund, Staatenverbund oder Vereinigte Staaten von Europa
Vor dem Hintergrund eines immer enger verbundenen Europas stellt sich die Frage, wie weit dieses
Zusammenwachsen gehen soll und welche Kompetenzen auf der europäischen Ebene und welche
auf der Ebene der Nationalstaaten angesiedelt werden sollen. Während Europaskeptiker schon heute
zu viele Aufgaben in europäischer Verantwortung sehen, sind die Europabefürworter für eine weitere
Europäisierung der bisherigen Aufgaben der Mitgliedstaaten der EU. Als besonders stark integriertes
Modell wird ein Bundesstaat diskutiert („Vereinigte Staaten von Europa“), in dem die Nationalstaaten
zugunsten eines neuen europäischen Staats aufgehen sollen. Aufgrund der kulturellen, sprachlichen,
politischen und wirtschaftlichen Unterschiede innerhalb Europas gilt dieses Modell auf absehbare Zeit
als unrealistisch. Vermutlich wird die Europäische Union auf lange Zeit ein Verbund weitgehend
souveräner Staaten bleiben. Aufgrund ihres institutionell verankerten Mischcharakters wird die Union
als Gebilde sui generis angesehen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Rechtsprechung zum
Maastricht-Vertrag hierfür den Begriff „Staatenverbund“ geprägt.
Um Zentralisierungstendenzen innerhalb der Union zu begegnen, die mancherorts das kritische
Schlagwort von der „Eurokratie“ speisen, wurde die Union auf das Subsidiaritätsprinzip verpflichtet,
wonach jede Aufgabe auf der untersten Ebene, auf der sie erledigt werden kann, angesiedelt werden
soll. Das Subsidiaritätsprinzip ist seit dem Vertrag von Maastricht fester Bestandteil der
Verfassungsordnung von EG und EU (vgl. Art. 5 (3) EUV).
Kerneuropa
1994 durch ein Papier von Wolfgang Schäuble und Karl Lamers geprägt, bezeichnet der Begriff
Kerneuropa eine Gruppe derjenigen europäischen Staaten, die durch die weitestgehende politische,
wirtschaftliche und militärische Integration miteinander verbunden sind. Konkret können hierunter
gegenwärtig die Staaten verstanden werden, die zugleich Mitglieder nicht nur der EU, sondern
auch der Eurozone, des Schengener Abkommens und der NATO sind.
Europa der zwei Geschwindigkeiten
Der politische und wirtschaftliche Integrationsprozess innerhalb der Europäischen Union hat in den
letzten Jahren gezeigt, dass es durchaus möglich ist, dass einige Mitgliedstaaten der EU weitere
Schritte gehen, während andere vorerst zurückbleiben oder sich nur punktuell an weiteren
Integrationsschritten beteiligen. Hierbei ist zu unterscheiden zwischen dem freiwilligen Voranschreiten
bzw. Zurückbleiben von Mitgliedstaaten einerseits und der Qualifikation von Mitgliedstaaten für einen
bestimmten Integrationsschritt auf der Grundlage vertraglich definierter Kriterien andererseits.
So ist der Euro als gemeinsame Währung bisher erst in 17 der 27 EU-Mitgliedstaaten
gesetzliches Zahlungsmittel. Von den übrigen 10 Staaten haben sich jedoch nur Großbritannien,
Schweden und Dänemark „aus freien Stücken“ entschieden, an der Währungsunion (vorerst) nicht
teilzunehmen („Opting-Out-Klausel“), während 7 Staaten die Kriterien währungspolitischer Stabilität,
die Voraussetzung für eine Teilnahme sind, noch nicht erfüllen. Jedoch wollen (mit Ausnahme
Großbritanniens, wo eine Volksabstimmung zur Euro-Einführung geplant ist, und Schweden) die
übrigen Mitgliedstaaten bis etwa 2014 den Euro eingeführt haben.
Das Schengener Abkommen zur weitgehenden Abschaffung der Kontrollen an den gemeinsamen
Grenzen wurde 1985 von Deutschland, Frankreich und den Benelux-Ländern unterzeichnet. Erst nach
und nach traten weitere Staaten bei, darunter auch die Nicht-EU-Staaten Norwegen, Schweiz und
Island.
Das Sozialprotokoll zum Vertrag über die Europäische Union von 1992 war ebenfalls ein Beispiel für
ein „Europa der zwei Geschwindigkeiten“. Hier wurde jedoch die Einheitlichkeit des „Acquis
communautaires“ wieder hergestellt, als Großbritannien seinen Widerstand gegen diesen
Integrationsschritt aufgab.
Verstärkte Zusammenarbeit
Mit dem Vertrag von Amsterdam wurde das Konzept einer verstärkten Zusammenarbeit von Gruppen
integrationswilligerer EU-Mitgliedstaaten in bestimmten Politikbereichen erstmals dauerhaft im EUVertrag (ex Art. 43 EU, aktuell Art. 20 EUV bzw. Art. 326-334 AEUV) verankert. Hierfür gelten
bestimmte Regeln, z. B. darf die Zusammenarbeit nicht dem für alle Mitgliedstaaten verbindlichen
„Acquis communautaires“ widersprechen, und sie muss grundsätzlich allen Mitgliedstaaten offen
stehen.
Variable Geometrie
Innerhalb der EU meint der Begriff „variable Geometrie“ die Möglichkeit einander überlappender
Mitgliedschaften der Staaten in verschiedenen Gruppen verstärkter Zusammenarbeit mit jeweils
unterschiedlicher Zusammensetzung. Analog hierzu bezeichnet der Begriff aber auch die
Überlappungen zwischen den verschiedenen europäischen Organisationen.
Europa „à la carte“
Während unter einem Europa der zwei Geschwindigkeiten eine Zukunft der EU verstanden wird, in der
weitere Integrationsschritte überwiegend von der gleichen Staatengruppe vollzogen werden, benutzt
man den Begriff „Europa à la carte“, wenn sich aus weiteren Integrationsschritten jeder einzelne
Mitgliedstaat individuell die Schritte zur Übernahme heraussucht, die ihm behagen.
4) Charakteristika des europäischen Integrationsprozesses
Unregelmäßiger Verlauf der Integration
Die europäische Integration ist nicht gleichmäßig verlaufen, vielmehr haben bisher Phasen
augenscheinlich beschleunigter Integration mit solchen der Stagnation abgewechselt. Es gab
beachtliche Schübe im europäischen Einigungsprozess, bei denen die Integration stark
vorangetrieben wurde (Sandholtz/Zysman 1989), aber auch Phasen des Stillstands – man denke hier
nur an die Politik des leeren Stuhls – und sogar Austrittsdrohungen einzelner Mitgliedstaaten.
Der europäische Integrationsprozess hat sich also nicht gemäß einer einmal ausgelegten Leitlinie oder
gar eines konkreten Konzepts entwickelt; vielmehr haben sich Phasen, in denen die supranationale
Dynamik des Integrationsprozesses in den Vordergrund rückte, gegenüber solchen abgehoben, die
stärker von intergouvernementalen Konstellationen und damit von der schwierigen Kompromiss- und
Konsensfindung zwischen den Mitgliedstaaten bestimmt waren.
Dieser unregelmäßige Verlauf hat auch seinen Niederschlag in der Entwicklung der
politikwissenschaftlichen Integrationstheorien gefunden, die je nach politischer „Konjunktur“ zwischen
neofunktionalistischen, föderalistischen und institutionalistischen Ansätzen in Phasen beschleunigter
Integration und intergouvernementalistischen Ansätzen in Phasen der Stagnation schwankte.
Integration als selektiver, asymmetrischer Prozess
Der europäische Integrationsprozess basiert auf der Auswahl der zum jeweiligen Zeitpunkt
akzeptablen Optionen. Obwohl in jeder Phase weit reichende und vielfältige Integrationsschritte,
Reformkonzepte oder gar Visionen lanciert wurden und werden, sind es offensichtlich nur wenige und
begrenzte Vorhaben, die den Konsens der Beteiligten finden und somit den tatsächlichen Prozess
konstituieren.
Auch deshalb stellt sich der europäische Integrationsprozess als ein einseitiger oder
asymmetrischer Prozess dar: Während die wirtschaftliche Integration der EU durch den
gemeinsamen Binnenmarkt seit 1993 und die Euro-Einführung ab 1999 ein hohes Maß erreicht hat,
ist man in der Sozialpolitik sowie in Außen- und Sicherheitsfragen noch weit von einer
gemeinsamen Politik entfernt. Es besteht aber eben auch kein einheitliches Leitbild der Integration,
wie z. B. die kontroverse Diskussion über ein Europäisches Sozialmodell zeigt.
Eine mögliche Erklärung hierfür besteht darin, dass die wirtschaftliche Integration bis zur Stufe des
Binnenmarktes vor allem auf dem Abbau von Handelsbeschränkungen („negativer Integration“)
beruht; Integration z. B. im Bereich der Sozialpolitik erfordert hingegen die Entwicklung
gemeinschaftlicher Schutzmechanismen („positive Integration“), die durch die bestehenden, sehr
unterschiedlichen Sozialsysteme der EU-Mitgliedstaaten erschwert wird. Allerdings ist dieser
Erklärungsansatz insofern unbefriedigend, als die Europäische Union eine ausgeprägt
protektionistische und deutlich diskriminierende Außenhandelspolitik betreibt, bei der auch
Handelsbeschränkungen aufgebaut wurden.
5) Kritik am Integrationsprozess
Das „Demokratiedefizit“ der EU
Aus politikwissenschaftlicher Perspektive wird das mit dem Einigungsprozess verbundene
Demokratiedefizit der EU kritisch betrachtet. Diese Kritik richtet sich zum einen gegen die
institutionelle Struktur der EU selbst, zum anderen gegen den mit fortschreitender Integration
einhergehenden Verlust politischer Steuerungsfähigkeit auf der Ebene der Nationalstaaten.
Weitere Kritikpunkte

Elitenprojekt

Euroskepsis in weiten Teilen der Bevölkerung

Dominierender Einfluss der EU-Kommission (bei regulativer Politik)

Vertiefung und Erweiterung arbeiten nicht Hand in Hand

Aufnahmefähigkeit der EU für weitere Beitritte

Unklare Finalität der EU und ungeklärte Zukunftsperspektiven
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