4. Internationaler Kongress für Psychotherapie und Seelsorge

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4. Internationaler Kongress für Psychotherapie und Seelsorge
Psychotherapie der Krise? Die neue Lust auf Sinn und Werte - Marburg 28. Mai bis 1. Juni 2003
Umgang mit Schuld und Schuldgefühl zwischen
therapeutischer Neutralität und engagierter Werthaltung
Jörg Berger
Das Seminar gibt einen Überblick über verschiedene Arten von Schuldgefühlen und in welchen lebensgeschichtlichen Situationen sie zu einem dominierenden Lebensthema werden. Es
wird untersucht, wie auf den Therapeuten/Seelsorger übertragene Schuldgefühle das Gespräch und die helfende Beziehung beeinflussen. Zuletzt werden Leitlinien für einen heilsamen Umgang mit Schuldgefühlen entwickelt.
Das Schaubild zeigt eine Systematik der unterschiedlichen Ebenen von Schulderleben. Der
neutrale Begriff "Schulderleben" lässt sich differenzieren zu einem Schuldbewusstsein, dem
tatsächliche Schuld zu Grunde liegt, und Schuldgefühlen, bei denen keine persönliche Schuld
vorliegt oder zumindest in keinem realistischen Verhältnis zum Ausmaß des Schulderlebens
steht.
Basisschuldgefühl
"Entschuldigung, dass ich überhaupt da bin!" Schon die eigene Existenz, das eigene Da-Sein
wird als schuldhaft erlebt, deshalb auch "Existenzschuldgefühl".
Beispiel: Eine Patientin, die auf Grund eines durchgängig lebensverneinenden Musters (lebensmüde Gedanken, leichte Selbstverletzungen, abmagern) in die Therapie kommt. Sie war
trotz konsequenter Verhütungsversuche zur Welt gekommen und hat so die beruflichen und
Lebenspläne der Eltern erschüttert. Dies war atmosphärisch und bald auch mit Worten Thema
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in der Familie. In der Behandlung hatte die Grunderfahrung des Da-Sein-Dürfens (etwas längere Behandlungszeit, gegrüßt und gesehen werden, ausgehalten werden) eine besondere Bedeutung.
Schuldgefühl aus Vitalität
Die kindliche Spontanität und Vitalität erfährt im Umgang mit den Eltern immer wieder
Grenzen. Im günstigen Fall kann so ein guter Kompromiss zwischen einem Ausleben der
kindlichen Impulse und einem Sich-einfügen in die notwendigen Rahmenbedingungen des
Zusammenlebens gefunden werden. Geschieht die Begrenzung in einer sehr rigiden und bedrohlichen Weise entsteht in der Verinnerlichung dieser Erfahrungen ein Schuldgefühl aus
Vitalität.
Beispiel: Ein Patient, der wegen Zwangsgedanken zur Therapie kommt. Im Vordergrund steht
die Angst, von Gott verstoßen zu werden, und die Angst, dass schon schlechte Gedanken bedrohliche Ereignisse hervorrufen könnten. Biografisch wurden schon kleine Vergehen drastisch - gelegentlich mit schwerer Prügel - bestraft oder aber mit suizidalen Andeutungen ("Du
bringst mich noch ins Grab.") beantwortet.
Trennungsschuldgefühl
Trennung i. S. von nicht beim anderen sein, aber auch im Sinne von anders sein, seinen eigenen Weg gehen, wird als schuldhaft erlebt.
Beispiel: Eine Patientin, die in einen depressiven Zustand von Lustlosigkeit, Zurückgezogenheit und Unwirklichkeitsgefühlen geraten war. Die Lebenssituation wirkte, als ob sie mit ihren eigenen Leben und mit der eigenen Person nichts anfangen könne. In der Lebensgeschichte habe die Mutter ("eine Übermutter") den Anspruch gehabt, immer alles über die Patientin
zu wissen. Durch Nachfragen, Schweigen und eine bestimmte Art von Blicken habe sie ihre
Tochter dazu gebracht, alles zu erzählen. Das Verhältnis zu ihr sei immer herzlich und eng,
"fast unnormal" gewesen. Ein besonderes Problem in der Therapie ergab sich dadurch, dass
die Patientin dazu neigte, wichtige Entscheidungen zu treffen, ohne sie mit irgendeiner der
therapeutischen Bezugspersonen zu besprechen. So als ob die Gefahr, in einem eigenen Weg
kritisiert oder gar verurteilt zu werden, zu groß wäre.
Traumatisches Schuldgefühl
Menschen mit traumatischem Schuldgefühl erleben, dass in ihnen etwas Böses steckt, für das
sie sich schuldig fühlen (und auch schämen). In ganz unterschiedlichen familiären Konstellationen und seelischen Mechanismen wird Kindern eine fremde Schuld gewissermaßen eingepflanzt. Das heute häufigste Beispiel dürften Frauen sein, die sich für den an ihnen verübten
sexuellen Missbrauch schuldig fühlen.
Beispiel: Eine Patientin die auf eine belastende Umstellung am Arbeitsplatz mit vermehrten
Selbstverletzungen und Suizidalität reagierte. Die Kindheit war von der Geschichte des Vaters
geprägt, der als Holocaust-Überlebender in die Familie zurückkehrte, und von Strafen ohne
Ursache ("du guckst wieder so böse") durch die Mutter. In einem Gedicht formuliert die Patientin ihr traumatisches Schulderleben: "Wer war der Gärtner, der diesen unguten Samen in
mich hinein gesät hat? Ungut?... Gibt es ein nettes zu Wort für böse, zerstörerisch, dämonisch?"
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Der Schuldkonflikt
Der Schuldkonflikt liegt auf einer anderen Ebene als die vorangegangene Unterscheidung
zwischen vier Arten von Schuldgefühlen. Bei diesem wird Schuld - genauer gesagt der Konflikt zwischen egoistischen und prosozialen Tendenzen - zum zentralen Thema der Beziehungsgestaltung. Was als schuldhaft erlebt wird, kann im Sinne des Vorangegangenen sehr
unterschiedlich sein (da sein, vital sein, etwas Eigenes tun, böse sein). Eine psychiatrische
Tradition spricht vom "Zeiger der Schuld", der sich entweder gegen andere oder die eigene
Person richtet. Bei Menschen mit einem Schuldkonflikt kommt dieser Zeiger nie zur Ruhe
und muss sich entweder auf andere (oft den Ehepartner) oder vernichtend gegen die eigene
Person richten. Patienten mit einem Schuldkonflikt stellen oft eine besondere Herausforderung in der Psychotherapie da, weil sie oft die Verantwortung für das eigene Leiden zunächst
ganz nach außen weisen. Die Betonung von Eigenverantwortung wird als äußerst bedrohlich
erlebt (i. S. einer vernichtenden Anklage).
Anmerkung
Die Patientenbeispiele sind so vergröbert dargestellt, dass sich für jedes beschriebene Muster
viele Menschen finden würden, für die es zutrifft.
Beeinflussung des Therapeuten/Seelsorgers durch (übertragene) Schuldgefühle
Die folgende Tabelle zeigt, wie sich das Schuldgefühl von Menschen in einer Therapie-oder
Seelsorgesituation gewissermaßen ausbreitet und den Helfer beeinflussen kann.
Veränderung der Rahmenbedingungen
Überziehen der Gesprächszeit
Trennungsschuldgefühl?
Unrealistisches Engagement
traumatisches Schuldgefühl?
(nachts anrufen lassen; sehr häufige
(i. S. von etwas gutmachen müsKontakte, Abnehmen von Lebensent- sen)
scheidungen)
Überangebot machen - mit Hilfe
Basisschuldgefühl?
überhäufen
(i. S. die eigene "Existenzberechtigung" als Therapeut/
Seelsorger beweisen zu müssen)
Verlassen der therapeutischen/ seelsorgerlichen Rolle
Rechtfertigen, erklären, verteidigen
(Selbstvorwürfe, Gefühl seine AufSchuldkonflikt?
gabe schlecht zu machen)
Angeklagter
Beschuldigen, Vorwürfe machen,
festnnageln
(Ärger, Ohnmacht)
Ankläger
Grenze zu privater Beziehung lockern Trennungsschuldgefühl?
("Therapeutin ist meine beste Freundin")
Veränderungen im Beziehungsverhalten
Überbehutsamkeit/Übervorsicht
traumatisches Schuldgefühl?
Eigene Person übermäßig zurückBasisschuldgefühl? Traumatinehmen
sches Schuldgefühl?
Zu weit gehen, Grenzen überschreiten traumatisches Schuldgefühl?
(Dem anderen schuldig sein, ihn
zu seinem Glück zu zwingen)
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Umgang mit Schuld und Schuldgefühlen
Das Schaubild gibt einen Überblick über therapeutische Leitlinien, die im tiefenpsychologischen Sprachgebrauch formuliert sind, aber auch Gültigkeit für den Therapieprozess anderer
Schulen und die Seelsorge haben dürften. (Rechts oben beginnend und dann dem Uhrzeigersinn folgend.)
Zur Schuld der Täter: In den Fallbeispielen wurde deutlich, dass ein Übermaß an Schuldgefühlen immer auch mit fremder Schuld - meist der Eltern - zu tun hat.
Zum Aufdecken von Übertragungen: hier geht es um das Verständnis, wie das Schuldthema
in der eigenen Wahrnehmung und im eigenen Verhalten immer weiter fortgesetzt wird. Zum
Beispiel indem andere Menschen immer wieder als Ankläger wahrgenommen werden und
sich Betroffene zu Rechtfertigungen und (vermeintlichen Gegen-) Vorwürfen gedrängt fühlen. In der weiteren Bearbeitung geht es darum, zu Unrecht tabuisierte Verhaltensweisen zu
überwinden (sich Raum nehmen können, spontan sein und Fehler machen können, anders sein
und einen eigenen Weg gehen können, etwas tun können, was andere für böse halten).
Ansatzpunkte für Interventionen, die vom christlichen Glauben getragen sind
Das Schaubild zeigte, wie wichtig eine Haltung, die auf Anklage verzichtet, für den Umgang
mit von Schuldgefühlen bedrängten Menschen ist. Martin Luther formulierte, in welcher Situation ein Christ ist: simul iustus et peccator - gleichzeitig gerecht und Sünder. Ein im Umgang
mit Schuldgefühlen wirksamer Seelsorger/Therapeut braucht einen Zugang zu diesen beiden
Seiten christlicher Existenz: das Wissen um die eigene Schuld, das hilft sein Gegenüber nicht
auf die Anklagebank zu setzen, gleichzeitig aber auch das Wissen, in einer tiefen existenziellen Weise "in Ordnung" zu sein. Letzteres hilft, mit den Schuldgefühlen umzugehen, die sich
im Gesprächsprozess in subtiler Weise auf den Helfer übertragen.
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Bei der Überwindung der Bindung an die Täter ist ein Vergebungsprozess von großer Bedeutung. Dieser Prozess geht über eine das Leid zudeckende und emotional kaum mitgetragene
Vergebung hinaus. In den Konzepten und Erfahrungen von Hanne Bahr (siehe Literaturliste)
und Wolram Soldan - beide Seminarreferenten des Kongresses - finden sich dazu wertvolle
Anregungen.
Für den Prozess, eine gesunde Verantwortung (und damit auch Schuldfähigkeit) für das eigene Leben zu entdecken, stellt die Bibel eine Fülle von Anregungen und Impulsen bereit (z. B.
das Gleichnis von den anvertrauten Pfunden oder von den Arbeitern im Weinberg). Zu beachten ist nur, dass Betroffene die befreienden biblischen Inhalte bei der Auslegung nicht ihren
schuldhaften Wahrnehmungsstrukturen anpassen.
Diskussion
Aus der Diskussion nach dem Seminar möchte ich einen Punkt herausgreifen. Die Frage nämlich, inwiefern man Menschen überhaupt die Verantwortung (und damit Schuld) für ihr Erleben und Verhalten zuweisen kann, wenn dieses ohne das Wissen der Betroffenen biographische Muster fortsetzt.
Hier kommt das dialektische Verhältnis zur Sprache, in dem das Problem derVerantwortung
in der Psychotherapie steht. Einerseits laufen viele schädliche Verhaltensmuster automatisch
ab und entziehen sich damit der bewussten Steuerung des Betroffenen. (Dies mag eine theologische Entsprechung haben, wenn Paulus im siebten Kapitel des Römerbriefes (Vers 17)
formuliert: so tue nun nicht ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt.) Andererseits setzt
eine Veränderung persönliche Freiheitsgrade und damit auch persönliche Verantwortung voraus. In dem Maß, in dem ein Betroffener in Seelsorge oder Therapie Einsicht in sein Verhalten erhält, wird er verantwortlicher und auch schuldfähiger. Kein Wunder, dass an diesem
Punkt Therapie- und Seelsorgeprozesse gelegentlich ins Stocken geraten...
Literatur
Arbeitkreis OPD. Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik.Grundlagen und Manual.
Huber.
Bahr, Hanne. Wie man wahnsinnig werden kann. Hymnus.
Hirsch, Mathias. Schuld und Schuldgefühl. Vandenhoeck & Ruprecht
Dipl.-Psych. Jörg Berger
Klinik Hohe Mark
Friedländerstr. 2
61440 Oberursel
[email protected]
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