1 Günter Gerhardinger Pädagogik Arbeits- und Übungsblätter für soziale und therapeutische Berufe 2 Zum Begriff der Pädagogik: PÄDAGOGIK Oberbegriff für alle Formen des praktischen Erziehungsgeschehens = Erziehungspraxis die wissenschaftliche Erhellung der Erziehungswirklichkeit, der Erziehungspraxis = Erziehungswissenschaft Darstellung nach Hobmair u.a. 1996 3 Eine Lehrerin versucht ihren SchülerInnen einen Sachverhalt zu erklären. Eine Polizistin verwarnt eine Verkehrssünderin und erklärt ihr ihr Fehlverhalten. Ein Dozent hält einen alle begeisternden Vortrag . Eine Promoterin überzeugt KaufhauskundInnen in Zukunft ein anderes Produkt zu kaufen. Eine Therapeutin arbeitet mit einem schwerstbehinderten erwachsenen Klienten. Ein Fahrlehrer bringt seiner Schülerin die Vorfahrtsregeln bei und läßt sie am Halteschild anhalten, erklärt ihr, den Leerlauf zu schalten, nach links und rechts zu schauen und dann im ersten Gang zügig über die Kreuzung zu fahren. Ein Schiedsrichter verweist einen Spieler wegen eines groben Fouls beim Fußball vom Platz. Eine Mutter hält ihr Kind dazu an, Klavier zu üben Alle loben das Verhalten des gut erzogenen Hundes von Herrn Meier. 4 Wesentliche Elemente von Erziehung: ErzieherIn Zu-Erziehende(r) Erziehungsabsicht ErzieherIn Erziehungswille Erziehungsbedürftigkeit ZuErziehende(r ) Gegenseitige Beeinflussung ErzieherIn ZuErziehende(r) päd. Verhältnis/ päd. Bezug 5 Erziehungsziele ZuErziehende(r) ErzieherIn Erziehungsinhalte Erziehungsziele ErzieherIn ZuErziehende(r) Erziehungsinhalte Aktuelle/ persönliche Bedingungen Bedingungen der Erziehung Sozio-historische/ sozio-kulturelle Bedingungen 6 Erziehung ist an Personen gebunden. Es muss mindestens eine Person geben, die als Erziehende fungiert und eine als zu-Erziehende. Es wird zwar häufig auch davon gesprochen, dass Umstände (etwa Medienkonsum) erziehen. Dieses sollte jedoch nicht als personenungebunden gesehen werden, sondern als von Personen vermittelte indirekte Erziehung. Erziehende(r) Direkte Erziehung im Kontakt mit der zuErziehende(n) Indirekte Erziehung: z.B. Gestaltung der Erziehungsumwelt; Ermöglichung von Erfahrungen Bei den an Erziehung beteiligten Menschen wird es sich meist um einen Erwachsenen als Erziehenden handeln. Auf der Seite des zu Erziehenden steht meist ein Kind oder Jugendlicher. 7 Erziehung geht davon aus, dass der zu-Erziehende erziehungsbedürftig ist. Dies schließt nicht unbedingt ein, dass dieser die Erziehungsbedürftigkeit einsieht. Die evtl. nicht beidseitige Einsicht in die Erziehungsbedürftigkeit macht eine besonders sorgfältige Begründung eben dieser notwendig! Erziehungsbedürftigkeit bedeutet, dass "das Gefüge der psychischen Dispositionen anderer Menschen in irgendeiner Hinsicht dauerhaft" verbessert "oder seine als wertvoll beurteilten Komponenten ..... erhalten" werden (Brezinka 1990). Es geht um die positive Förderung der Persönlichkeit eines Menschen. zu verbessern versuchen psychische Dispositionen Erziehende mit sozialen Handlungen Erziehungsbegriff nach Brezinka (zit. nach Gudjons 1997) zu erhalten zu beseitigen 8 Erziehung ist immer zielgerichtet und absichtsvoll. Es wird zwar von funktionaler und intentionaler Erziehung gesprochen, wobei funktionale Erziehung als nicht beabsichtigte erzieherische Beeinflussung gesehen wird und intentionale als an festen Absichten ausgerichtete. In der Erziehungswissenschaft besteht mittlerweile Konsens, dass nur dann von Erziehung gesprochen werden soll, wenn sie zielgerichtet und absichtsvoll stattfindet. "Funktionale Erziehung" sollte eher unter "Enkulturation" abgehandelt werden. Erziehung "Funktionale Erziehung" nicht von einzelnen Personen geplante wirksame Einflüsse auf den zu-Erziehenden, sondern eher Einflüsse der herrschenden Kultur "Enkulturation" Intentionale Erziehung Absichtsvolle, zielgerichtete Maßnahmen durch die Erziehenden in Richtung zuErziehender 9 Erziehung ist ein Prozess der gegenseitigen Beeinflussung Erziehung ist, obwohl von seiten der ErzieherIn zielgerichtet und absichtsvoll gestaltet kein einseitiger Prozess, sondern vielmehr eine soziale Interaktion. "Erziehung ist stets soziale Interaktion: Erzieher und zuErziehender reagieren ständig aufeinander, beeinflussen und steuern sich gegenseitig; Erziehung ist immer ein Wechselspiel von Aktionen und Reaktionen, jedoch ist nicht jede soziale Interaktion gleich Erziehung" (Hobmair u.a. 1996) In diesem interaktiven und kommunikativen Geschehen verändern sich Erziehende(r) und zu-Erziehende(r) fortlaufend. Modifiziert werden dabei auch die Erziehungsziele und die Erziehungsinhalte. Damit ist die AdressatIn pädagogischer Einwirkungen keineswegs nur Objekt des pädagogischen Handelns. Erzieherisches Handeln ist immer auch normatives Handeln Sowohl Erziehungsziele als auch Erziehungsinhalte und auch Erziehungsmittel sind abhängig von grundlegenden Wertentscheidungen des Erziehenden. Der Erziehende wird dabei beeinflusst von den sozio-historischen und sozio-kulturellen Bedingungen, in denen Erziehung stattfindet. 10 Definition von Erziehung Erziehung ist das in einer konkreten Situation stattfindende absichtliche, zielorientierte aber auch dialektische Geschehen zwischen einem Erziehenden und einem zu-Erziehenden, welches Bezug nimmt auf sozio-historische und soziokulturelle Bedingungen. 11 Wichtige Fragen zum erzieherischen Geschehen Warum ist überhaupt Erziehung notwendig? Was gibt der ErzieherIn das Recht zu erziehen? (Wie kann sie ihr Handeln legitimieren?) Erziehungsbedürftigkeit des Menschen Erziehbarkeit des Menschen Anthropologische Grunderkenntnisse In welche Richtung soll erzogen werden? Wie kommen die Ziele von Erziehung zustande? Erziehungsziele Entstehung Begründung Funktionen Auf welche Art und Weise sollen diese Ziele erreicht werden? Warum werden manche Erziehungsmaßnahmen und -mittel als sinnvoll angesehen und andere nicht? Erziehungsstile Erziehungsmittel Lob und Strafe Bedeutung des Spiels Welche Rolle spielen die Rahmenbedingungen von Erziehung? Wie mischt die Gesellschaft sich in Erziehung ein? Enkulturation Sozialisation Wie kommt die Erziehung in den zu-Erziehende(n)? Der Mensch als lernendes Wesen 12 Anthropologische Grundlagen der Erziehung Auch wenn der Mensch viele Gemeinsamkeiten mit Tieren aufweist, so unterscheidet er sich doch in einigen Punkten grundsätzlich von ihnen, der Mensch nimmt also unter den Lebewesen eine Sonderstellung ein. Der Mensch kommt im Vergleich zu Tieren zu früh zur Welt. Er ist eine "normalisierte Frühgeburt" Mit Portmann (1956) kann man drei typische Geburtszustände bei Mensch und Tier unterscheiden: Nesthocker (z.B. niedrige Säuger wie Mäuse und Katzen). kommen nach kurzer Tragezeit in völlig hilflosem Zustand zur Welt nicht fähig zur Fortbewegung und mit nicht voll ausgeprägter Sinneswahrnehmung Nestflüchter (z.B. höhere Säugetiere wie Pferde und Affen) Neugeborene können sich schon nach der Geburt artspezifisch verhalten, weil die Entwicklung im Mutterleib viel länger dauert funktionsfähige Sinnesorgane und Bewegungsapparate Sekundäre Nesthocker Charakterisierung des menschlichen Geburtszustandes "Das neugeborene Menschenkind ist ein 'hilfloser Nestflüchter', dessen Sinnesorgane bereits funktionieren, der jedoch die spezifisch menschlichen Verhaltensweisen, nämlich den aufrechten Gang, die Sprache und das einsichtige (intelligente) Handeln noch nicht zu vollbringen vermag. Diese Fähigkeiten beginnt der Mensch erst nach der Geburt, in der Regel bis gegen Ende des ersten Lebensjahres, unter dem Einfluss seiner Umwelt zu erlernen" (Weber 1975). 13 Nach Portmann kommt der Mensch generell zu früh zur Welt. Wenn er bei seiner Geburt den Reifestand der übrigen höheren Säugetiere haben wollte, müsste er etwa 21 Monate im Mutterleib verbringen. Der Mensch ist damit eine "Das Kind muss als 'normalisierte Frühgeburt' das, was die Natur noch nicht zureichend hervorgebracht hat, nämlich die menschliche Lebensweise, erst im 'sozialen Mutterschoß' der Familie erlernen. Dabei steht das Menschenkind nicht mehr unter den allgemein gültigen naturgesetzlichen Bedingungen des Mutterleibes, sondern bereits unter dem Einfluß der jeweils besonderen geschichtlichen, soziokulturellen Verhältnisse" (Weber 1975). Portmann: 1. Lebensjahr als Der neugeborene Mensch ist damit besonders schutzbedürftig, verletzbar und gefährdet. Gleichzeitig eröffnet sich mit dieser Hilflosigkeit die Chance der enormen Lernfähigkeit. 14 Der Mensch kann sich nicht auf ausgeprägte Instinkte verlassen. Er ist ein "instinktreduziertes Wesen" Instinkte sind auf Vererbung zurückgehende Verhaltensweisen, die ausgelöst durch Schlüsselreize, artspezifisches gleichförmiges und automatisches Handeln und Reagieren ermöglichen. Durch solche Instinkte wird das Leben der Tiere weitgehend geregelt (Brutpflege, Fortpflanzung, Nahrungsaufnahme etc.). Beim Menschen sind nur noch Restbestände von Instinkten vorhanden (z.B. Klammerreflex und Saugverhalten an der Mutterbrust). Zum Überleben reichen die Restbestände aber nicht. Sie müssen kulturell überformt werden (z.B. Sexualverhalten). 15 Instinktarmu t als Voraussetzu ng zur Befreiung von den Zwängen der Natur "Infolge der Instinktreduktion wird die Lebensweise des Menschen nicht primär durch gattungsspezifische, genetisch programmierte Steuerungsmechanismen der Natur, sondern durch kulturelle Verhaltensmuster reguliert. Sie werden vom Menschen schöpferisch hervorgebracht und überliefert und müssen erlernt werden" (Weber 1975). Auch in diesem Zusammenhang hat der Mangel wieder eine positive Seite: Mensch wird, weil er nicht festgelegt ist, in seinem Verhalten frei zur Wahl und Abwägung ist aber auf Erziehung und Lernen angewiesen 16 Instinktarmut macht den Menschen zu einem weltoffenen Wesen Tiere sind in ihre Umwelt eingebunden, der Mensch kann aber die Welt als Ganzes erfassen (Hobmair u.a. 1996) "Der Lebensvollzug des Tieres bleibt auf das lebensökonomisch eingeschränkte Ausschnittsmilieu begrenzt, ohne daß es um diese Ausschnitthaftigkeit weiß" (Weber 1975) Der weltoffen lebende Mensch aber ist nicht beschränkt auf seine artgebundene Umwelt. Er hat "Welt, über die er verfügen kann" Möglichkeit der Überwindung der natürlichen Sinnesgrenzen mit Hilfe technischer Mittel Fähigkeit der Vorstellung von räumlich fernen Zonen, Vergangenheit und Zukunft Fähigkeit des Denkens von Ideen über das faktisch Gegebene hinaus Distanzierungsmöglichkeit sich selbst gegenüber Grundlage, sich selbst als Person zu erfassen und Ermöglichung von Selbstreflexion (vergl. Weber 1975) 17 "Mit der Weltoffenheit ist dem Menschen ..... die Chance zum freien und produktiven, mündigen Handeln gegeben sowie seine große Plastizität und Anpassungsfähigkeit" (Weber 1975) Weltoffenheit Lebensablauf des Menschen ist nicht biologisch und umweltgebunden vorgegeben. Mensch ist den vielfältigen Einflüssen seiner jeweiligen Umwelt ausgesetzt. Er muss lernen, in seiner Umwelt zurechtzukommen Notwendigkeit von Erziehung 18 Der Mensch ist wenig spezialisiert, er ist ein "biologisches Mängelwesen" Wird bereits deutlich an seiner mangelnden Instinktausstattung Gehlen (1961): Der Mensch "ist 'organisch mittellos', ohne natürliche Waffen, ohne Angriffs- oder Schutzoder Fluchtorgane, mit Sinnen von nicht besonders bedeutender Leistungsfähigkeit, denn jeder unserer Sinne wird von den 'Spezialisten' im Tierreich weit übertroffen." Im Tierreich gibt es viele Arten, die von Natur aus mit besseren Sinnen, effektiveren Fortbewegungsmöglichkeiten, besserem Schutz gegen Witterung etc. ausgerüstet sind als der Mensch. Trotzdem überlebt der Mensch unter unterschiedlichsten Umweltbedingungen. 19 Der Mensch kompensiert seine biologische Mangelausstattung durch seine in der Natur einmaligen geistigen Fähigkeiten (insbesondere durch seine Fähigkeit zu planendem und schöpferischem Handeln): "Die Mängel der angeborenen Fähigkeiten werden überspielt von der positiven, den Menschen auszeichnenden Gabe - und das ist die wichtigste Interpretation dieser biologischen Fakten: nämlich von einer unendlichen Lernfähigkeit" (Roth 1966) Gehlen (1962): Der Mensch ist ein "handelndes Wesen". Er muss sich nicht der ihn umgebenden Natur anpassen, sondern ist zur voraussehenden, die Natur an seine Ansprüche anpassenden sowie zur kulturschaffenden Lebensweise fähig (vergl. Weber 1975) 20 Der Mensch ist von Natur aus aufgrund seiner biologischen Mängel ein Kulturwesen Der Mensch ist aufgrund seiner mangelhaften natürlichen Grundausstattung gezwungen, die fehlenden Fähigkeiten im "Umgang" mit seiner Umwelt zu kompensieren. Er ist zu kultureller Lebensführung gezwungen. Kultur ist dabei alles, was der Mensch im Umgang mit seiner natürlichen und sonstigen Umwelt aufgrund seiner besonderen Fähigkeiten selbst schafft, um diese Umwelt besser beherrschen zu können. Zu denken ist hier an Norm-, Symbol- und Sinnsysteme wie Sprache, Wissenschaft und Religion aber auch an Überformungen von natürlichen Notwendigkeiten wie Sexualität, Ernährungs- und Wohnverhalten. Der Mensch ist in doppelter Hinsicht ein kulturelles Wesen: Mensch schafft Fähigkeit, Kultur zu gestalten Erziehung Hineinwachsen in Kultur beeinflusst Kultur 21 Der Mensch ist ein soziales Wesen, er ist nicht als einzelnes Wesen denkbar Er ist von vorneherein in all seinen Lebensbezügen auf andere Menschen bezogen, er ist ohne Kontakt zu anderen Menschen nicht überlebensfähig. Dies unterscheidet ihn zwar nicht grundsätzlich vom Tier, die Tatsache aber, dass der Mensch sich auch über andere Menschen definiert, macht ihn einzigartig. Verweist auf den Menschen als kulturelles Wesen! "In allen menschlichen Gesellschaften werden die Formen des Zusammenlebens sozial geregelt, d.h. durch Normen (= Sollensforderungen, die der Verhaltenssteuerung dienen) reguliert. Die kulturelle Lebensweise sowie die Kulturinhalte werden nicht vererbt, sondern überliefert. Diese Tradition erfolgt durch erzieherisch unterstützte Lernprozesse." (Weber 1975). "Eine wichtige Voraussetzung dafür ist die menschliche Fähigkeit, sich Sachverhalte vorstellungsmäßig und gedanklich repräsentieren zu können, ohne sie sinnlich wahrgenommen haben zu müssen. Dadurch wird es möglich, daß in kultureller Hinsicht nicht jede Generation wieder am Nullpunkt beginnen muß, sondern sich in einem erzieherisch unterstützten und deshalb verkürzten Lernprozeß den lebendig gebliebenen Kulturertrag der vorausgegangenen Generationen aneignen kann." (Weber 1975) Der Mensch ist also ein soziales und kulturelles, ein soziokulturelles Wesen 22 Erziehungsziele teils bewusst reflektierte, langfristige Ziele Erziehung ist immer zielgeleitet. teils vordergründige und kurzfristige Intentionen nicht selten unbewusste Intentionen (teilweise auch die bewussten Ziele überlagernd und verändernd) Erziehungsziele können verschiedenst differenziert werden: Hinsichtlich der Art der Ziele ethisch, ästhetisch, theoretisch, pragmatisch, religiös (Klafki, zit. n. Domke 1975); hinsichtlich der Ausrichtung der Ziele auf den kognitiven Bereich (Wissen, Kenntnisse), auf den emotionalen Bereich (Einstellungen, Gefühle, Motive), auf den Handlungsbereich (Fertigkeiten, Gewohnheiten) (vergl. Heimann, zit. n. Domke 1975) 23 Immer stellt sich aber die Frage, "Warum soll gerade dieses Ziel bei meinem Vorgehen in der Erziehung angestrebt werden?" Bei der Auswahl von Zielen muss eine werden. Entscheidung getroffen Die Entscheidung für ein Erziehungsziel ist immer abhängig von Normen und Werten. Normen "Überzeugungen/ Sollvorstellungen, die sich in längeren Zeitabschnitten entwickelt haben und für einen größeren Kulturkreis gelten ....." (Gudjons 1997) Normen "kristallisieren" teilweise in gesellschaftlichen Anknüpfungspunkten, wie Menschenrechtsdeklarationen, Verfassungen, Gesetzestexten, Vorschriften, Lehrplänen etc. Sie sind aber teilweise auch "unausgesprochen" gültig, äußern sich dann in zeittypischen Einstellungen zu bestimmten Sachverhalten. In demokratischen Gesellschaften kann man hier vom jeweiligen "Stand des normativen Diskurses" sprechen. 24 Verweist auf die Tatsache, dass von Normen Werte unterschieden werden müssen, die für diese konstituierend sind. Werte sind die grundlegenden Entscheidungen, an denen Menschen und Gruppen von Menschen ihr Leben ausrichten wollen ( Grundwerte) z.B. "Alle Menschen sind gleich" Norm en Ziele sind die eher verhaltensbezogenen Ausformulierungen von Werten z.B. "Menschen dürfen nicht auf Grund ihres Aussehens, ihrer Herkunft etc. diskriminiert werden" geben den Punkt im Zusammenleben der Menschen an, an dem die Werte und Normen praktisch geworden sind. z.B. "Toleranz" als Erziehungsziel 25 Normen und Werte sind keine statischen Angelegenheiten, sondern ergeben sich aus dem soziohistorischen und soziokulturellen Kontext. Sie sind wandelbar. Die Einstellung von Menschen zu bestimmten Angelegenheiten verändert sich mit der Zeit und relativiert damit auch die Erziehungsziele. Erziehungsziele müssen also permanent reflektiert werden und auf die ihr zugrundeliegenden Normen und Werte überprüft werden. Normen und Werte und daraus resultierende Erziehungsziele sind aber nicht völlig relativ und beliebig. Verweis auf die grundlegende Reflexion von Fragen des Zusammenlebens von Menschen. Dies muss sicher außerhalb der Pädagogik geleistet werden ungelöstes Problem der Legitimationen von Normen und Werten. 26 Erziehungsziele sind immer in Verbindung stehend mit der Normen- und Werteentwicklung der Gesellschaft, in der Erziehung stattfindet und mit der Normen- und Werteentwicklung der Erziehung durchführenden Menschen. Soziale Werte und Normen allgemein Werte und Normen, die in der Erziehung wirksam werden Werte und Normen, die unreflektiert, meist nicht bewußt in der Erziehung mitwirken Werte und Normen, die ausdrücklich und bewußt in der Erziehung gesetzt werden = Erziehungsziele (Abb.: Hobmair u. a. 1996) Werte und Normen, die außerhalb des Erziehungsprozesses bleiben 27 Begründung von Erziehungszielen Erziehungsziele hängen mit der Werte- und Normenentwicklung einer Gesellschaft zusammen. Unsere moderne demokratische Gesellschaft ist auch eine werte- und normenpluralistische Gesellschaft Es kann von daher keine richtigen oder falschen Erziehungsziele geben! Die jeweils vertretenen Erziehungsziele müssen daher begründet werden Verschiedene Möglichkeiten der Begründung: Anthropologische Begründung Erziehungsziele werden vom "Wesen des Menschen" abgeleitet Normative Begründung Erziehungsziele orientieren sich "an für das menschliche Zusammenleben als wichtig erachteten" Normen und Werten Normen und Werte, die sich im gesellschaftlichen Diskurs durchgesetzt haben Pragmatische Begründung Erziehungsziele ergeben sich aus Anforderungen und Notwendigkeiten der Zeit und der Zukunft. (vergl Hobmair u.a. 1996) 28 Beteiligung der Betroffenen an der Zielfindung Erziehungsziele betreffen immer Maßnahmen, die von konkreten Menschen erduldet werden müssen. Daraus kann abgeleitet werden, dass die betroffenen Menschen in die Zielfindung mit einbezogen werden müssen. Partizipative Zielfindung Es stellt sich die Frage, inwieweit betroffene Menschen in die Erziehungszielfindung mit einbezogen werden können. Probleme: Offenheit des pädagogischen Systems ist evtl. nicht gegeben; das Lernziel selbst lässt Beteiligung nicht zu. Alter und Reife des zu Erziehenden lassen Partizipation unmöglich erscheinen Zu Erziehende müssen aufgrund von Sozialisationsschäden als nicht einsichtig beurteilt werden. Trotzdem: Wichtig ist immer, dass eine Auseinandersetzung des Erziehenden bei der Formulierung von 29 Erziehungszielen mit den Vorstellungen des zu Erziehenden stattfindet. Auseinandersetzung mit dem Anderen, auch wenn er als nicht artikulationsfähig in Bezug auf die Formulierung von Erziehungszielen, angesehen werden muss (kleine Kinder, geistig Behinderte, stark geschädigte Menschen wie z.B. Süchtige etc.) ist geeignet, diesen kennenzulernen und evtl. die eigene Sichtweise von ihm zu relativieren. Verweist in Richtung "Emanzipation als Ziel von Erziehung" Begriff wurde in der Erziehungswissenschaft von Klaus Mollenhauer (1968) eingeführt. Wird seitdem kontrovers und teilweise missverständlich diskutiert. Emanzipation kann eigentlich kein Ziel sein, da der Begriff der Emanzipation nicht konkretisierbar ist. Es geht eher um den Zustand des "EmanzipiertSeins", der aber in der Praxis mit unterschiedlichsten Zuständen konkretisiert werden muss. Bei Emanzipation als Erziehungsziel geht es also nicht darum, konkrete Zustände als zu erreichende Ziele zu betrachten, sondern darum, dass der betroffene zu Erziehende möglichst selbstbestimmt zu von ihm selber gewünschten Zielen kommt. 30 In der breiten Erziehungspraxis erscheint dies zunächst als weitgehend unmöglich und weltfremd. Was versteht man unter Emanzipation? Emanzipation ist dann erreicht, "wenn die Wahrnehmung sich neu strukturiert hat und eine größere Verfügungsmöglichkeit über innere und äußere Barrieren erreicht ist." (Hege 1979) 31 muss Lernprozesse in Gang setzen, durch die es den Betroffenen zunehmend möglich wird, eigene Erwartungen und Bedürfnisse zu artikulieren! ist daher nicht unproblematisch, da der Anspruch "Emanzipation als Ziel" eigentlich ein Widerspruch ist! Emanzipation ist ein offenes, nicht fassbares Geschehen und damit auch nicht konkret als Ziel zu formulieren. Es muss bedacht werden, dass Konkretisierung von Emanzipation immer bedeutet, dass der Emanzipationsprozess gefährdet wird. 32 Erziehungsstile Stil eines bestimmten Verhaltens (also auch dessen einer ErzieherIn) ist die relativ konstante Weise im (interaktiven) Verhalten eines Menschen; die relativ konstante Weise eines Menschen, auf seine Umwelt zu reagieren, mit seiner Umwelt umzugehen. Hobmair u.a. (1996): meint die Art und Weise, wie ein Erzieher dem ZuErziehenden gegenübertritt. Dabei handelt es sich um relativ konstante Verhaltensweisen des Erzieher gegenüber dem Zu-Erziehenden." "Erziehungsstil kann man umschreiben als ein relativ einheitliches und konstantes System von Erziehungsmaßnahmen, die von einer Person im Rahmen erzieherischer Aktivitäten realisiert werden" (Huppertz/ Schinzler 1995). 33 Erziehungsstile haben viel mit den der ErzieherInnenpersönlichkeit grundlegenden Normen und Werten zu tun: Normen und Werte der ErzieherIn Methode/ Plan des ErzieherInnenverhaltens Techniken des ErzieherInnenverhaltens Erzieh ungsstil Der Erziehungsstil ist nicht identisch mit einem konkret beobachtbaren Erziehungsverhalten! Erziehungsstil ist nur erschließbar aus der Interpretation des Erzieherverhaltens auf einem Zeitkontinuum (vergl. Huppertz/ Schinzler 1995) Er ist eigentlich die Bewertung des größeren zusammenhängenden Verhaltenskontextes. Erziehungsstil erschließt sich aus der Beobachtung des ErzieherInnenverhaltens über einen längeren Zeitraum hinweg und dessen Bewertung vor dem Hintergrund eines bestimmten Klassifikationsschemas. 34 Unterschiedliche Möglichkeiten: Charakteristische Merkmale des beobachtbaren Erzieherverhaltens werden in ihrer Häufigkeit festgehalten und zu einem bestimmten Erziehungsstil geformt. Klassisches Beispiel: Erziehungstiltypologie nach Kurt Lewin Das Erzieherverhalten wird von vorneherein auf bestimmten Skalen bestimmten Ausprägungen zugeordnet. Erfordert eine vorgängige Bewertung von Erziehungsverhalten. Konkretes Verhalten wird nur noch eingeordnet. Klassisches Beispiel: Das dimensionsorientierte Konzept nach Anne-Marie und Reinhard Tausch. 35 Grundsätzliche Problematik: Erziehungsstile gehen aus Bewertungen hervor. Bewertungen können nur mit Hilfe eines Maßstabs geschehen. Maßstab ist in der Regel aber ein theoretisches Konstrukt, das entweder aus der Beobachtung der (Erziehungs-)Wirklichkeit abgeleitet wird, oder vorher zur Beobachtung dieser Erziehungswirklichkeit erstellt wird. Wechselwirkung zwischen Maßstab und Wirklichkeit. Wirklichkeit wird nur noch mit Hilfe des Maßstabs wahrgenommen Differenzierungen gehen verloren. 36 Erziehungsstiltypologie nach Kurt Lewin Forschungsarbeiten von Kurt Lewin in den 1930er Jahren bezogen sich eigentlich auf Führungsstile ( nicht ganz unproblematisch Führungsstile mit Erziehungsstilen gleichzusetzen!) Ausgangspunkt von Kurt Lewin (aus vielen Beobachtungen): 3 mögliche Führungsstile autoritär demokratisch laissez-faire Experimente Lewins mit verschiedenen außerschulischen Gruppen (Freizeitgruppen), in denen unterschiedliche Führungsstile praktiziert wurden Interesse an Auswirkungen der Führungsstile 37 Kennzeichnung der Führungsstile: autoritär (autokratisch) - - starke Dominanz des Leiters (bestimmt die Aktivitäten); Befehlsorientierung Leiter übernimmt für alles die Verantwortung; Leiter lobt und tadelt personenbezogen; zwar freundliche aber distanzierte, eher unpersönliche Haltung des Leiters; Leiter ist bestimmend bezüglich Gruppenzugehörigkeit; Leiter läßt Gruppenteilnehmer über Perspektiven im Unklaren Demokratisch (sozialintegrativ) - - - - - - Leiter bezieht die Gruppe bezüglich aller Aktivitäten ein Überblick über Verlauf, Inhalte, Ziel; wichtige Entscheidungen werden in der Gruppe diskutiert. Leiter unterstützt und ermutigt. Verantwortung wird auf die Gruppenmitglieder delegiert. Lob und Tadel erfolgt sachbezogen. Leiter sieht sich als Gruppenmitglied; Asymmetrien werden abgebaut. Probleme der Gruppenmitglieder werden ernstgenommen. Verhalten des Leiters ist nicht-direktiv (keine Befehle, Kommandos). 38 Laissez-faire - - - Das Verhalten des Leiters ist weitgehend passiv; Eher unbeteiligtes, gleichgültiges Verhalten des Leiters. Leistungen der Teilnehmer werden nicht bewertet kein feed-back; freundliches, distanziertes, neutrales Verhalten des Leiters. Dimensionsorientierung nach Tausch und Tausch Tausch und Tausch versuchten das ErzieherInnenverhalten differenzierter zu erfassen, indem sie Dimensionen entwickelten, denen jegliches ErzieherInnenverhalten zugeordnet werden kann und nicht nur wie bei den klassischen Erziehungsstiltypen deren extreme Ausprägungen. Aus umfangreichen Beobachtungen heraus kamen Tausch/ Tausch zu der Erkenntnis, das das ErzieherInnenverhalten entlang zumindest zweier Dimensionen verläuft: die Lenkungsdimension und die emotionale Dimension. 39 ist gekennzeichnet durch das Gegensatzpaar "minimale Lenkung" vs. "maximale Lenkung" verläuft entlang "Geringschätzung/ Verständnislosigkeit" vs. "Wertschätzung/ Verstehen" (vergl. Tausch/ Tausch 1971). In dieses Koordinatensystem können auch die klassischen Erziehungsstiltypen eingeordnet werden: Maximale Lenkung, Dirigierung und Kontrolle autokrat isch Geringschätz ung, Emotionale Kälte, Abneigung demokra tisch Laissezfaire Minimale Lenkung, Dirigierung und Kontrolle Wertschätzung, emotionale Zuneigung und Kontrolle 40 Folgen für das Verhalten von Adressaten des Autoritären/ autokratischen Erziehungsstiles - - - - - - "Verminderte Vielfalt und Individualität in Äußerung und Verhalten Eingeschränkte Spontaneität, Aktivität und Bewegungsfreiheit Eingeschränkte soziale Aktivität der Kinder, größere Abhängigkeit vom Leiter Größere Spannung, Reizbarkeit, Aggression und Dominanz der Kinder untereinander Begrenzter Zusammenschluß der Kinder durch Rebellion gegen den Leiter Struktur der Gruppe und Untergruppen relativ starr Geringe gemeinsame Gruppenaktionen; Auflösung jeglicher Gruppenstruktur durch Leiter möglich Wunsch nach Beendigung der Tätigkeiten und Zusammenkünfte Individuelles Besitzstreben bei Verteilung des fertigen Materials 82 % des Sprachverhaltens egozentrischer Natur, 18 % des Sprachverhaltens mit Gefühlen für Gruppengemeinschaft Größere Häufigkeit der Pronomina 'ich', 'mein', 'mir', 'mich'; weniger Pronomina 'wir', 'unser', 'uns Bei Zuspätkommen des Leiters: Kein Arbeitsanfang Bei Verlassen des Raumes durch den Leiter: Erhebliches Absinken der Arbeitsaktivität Zwischenmenschliches Beziehungsverhältnis zum Leiter: Einige Kinder: Abhängige Anlehnung, 'Ducken' und untertäniger Gehorsam, geringe Frustrationsspannung, Apathie, häufige Forderung nach Aufmerksamkeit des Leiters, Unfähigkeit zur Einleitung von Gruppenaktionen - Einige Kinder: Gegen Leiter gerichtete Aggression, Rebellion, Opposition, beträchtliche Frustration." Zusammenstellungen von Tausch/ Tausch 1971 Untersuchungsbefunde von Lewin, Lippitt und White (1939) auf Grund der 41 demokratischen/ sozialintegrativen Erziehungsstiles - - - - - - - - - - - - "Größere Vielfalt der Verhaltensweisen, mehr schöpferische und konstruktive Arbeitsprodukte als bei autokratischem Gruppenverhalten Zufriedenere Atmosphäre als bei autokratischem Leiter. Kein größerer Grad von Spannung, geringeres Maß an Unzufriedenheit mit dem Leiter Freundlichere, persönlichere Zuwendung zum Leiter als bei Autokratie, größere Spontaneität in Gesprächen mit ihm Beziehungen zum Leiter freier und mehr auf der Basis von Gleichheit Leiter wird oft wie gleichwertiges Gruppenmitglied behandelt, mit mehr Freundlichkeit und Objektivität und 2mal geringerer Unterwürfigkeit im Vergleich zum autokratischen Leiter Zahlreiche persönliche Gespräche mit dem Leiter über Gebiete jenseits der speziellen Arbeit (8mal häufiger als bei autokratischem Verhaltensstil), vermutlich bedingt durch die freundschaftliche, vertrauensvolle Beziehung zwischen Leiter und Kindern Freie Bildung von Untergruppen Struktur der Gruppe und Untergruppen längere Zeit hindurch stabil, obwohl der einzelne hinsichtlich des Wechsels völlige Freiheit hat Jedes Kind hat verstärkten sozialen Einfluß auf die übrigen Kinder Vermehrtes Bitten der Kinder um Beifall und Aufmerksamkeit von seiten der Gruppenmitglieder Vermehrte gegenseitige Anerkennung Zwischenmenschliche Beziehungen der Kinder untereinander spontaner, freundlicher und sachbezogener als bei autokratisch geleiteten Gruppen Häufige Vorschläge für gemeinsame Gruppenaktionen Das Arbeitsgeschehen ist Angelegenheit von Gruppendiskussionen und Gruppenentscheidung, unter aktiver Hilfe des Leiters Die Kinder teilen sich selbst Arbeitsabschnitte und einzelne Pflichten zu und übernehmen die Verantwortung Bei verspätetem Eintreffen des Leiters: Gruppen bereits aktiv bei der Arbeit Bei zeitweiliger Abwesenheit des Leiters: Keine wesentliche Änderung der Tätigkeit und Leistung Bei Wechsel des Leiters starker Widerstand gegen autokratische Leiter 19 von 20 Jungen ziehen einen sozialintegrativen einem autokratischen Leiter vor." Von Tausch/ Tausch (1971) zusammengestellt auf Grund der Untersuchungsergebnisse von Lewin, Lippitt und White (1939). 42 des laissez-faires-Stiles - planloses, wenig zielstrebiges Verhalten Unterbreitung von Vorschlägen, die dann nicht verwirklicht wurden Enttäuschung und Gereiztheit in der Gruppe Aggressionen gegenüber anderen Gruppenmitgliedern Nur lockere, instabile Beziehungen der Gruppenmitglieder Ohne Anwesenheit des Leiters, Leitung durch Gruppenmitglied; Ansteigen der Arbeitsaktivität. (vergl. Hobmair u.a. 1996) 43 Erziehungsmittel Der Begriff des Erziehungsmittels ist ein sehr vieldeutiger Mehrere Begriffe, die synonym oder zumindest verwandt gebraucht werden: Erziehungsmaßnahme, -verfahren, methode, -technik ....... Begriffsklärung: Erziehungsmaßnahmen: Einzelne Maßnahmen einer ErzieherIn, die im Erziehungsgeschehen eingesetzt werden als Mittel, um bestimmte Ziele zu erreichen. Erziehungsmethoden: Der bewußte oder unbewußte "Plan" einer ErzieherIn, wie im Erziehungsgeschehen bestimmte Erziehungsziele erreicht werden sollen. Erziehungstechniken (ähnlich -verfahren): Isolierte, abgegrenzte und beschriebene Einzelmaßnahmen. Hier handelt es sich meist um ganz bewußt eingesetzte Maßnahmen. Brezinka (1995): Erziehungsmittel sind "Mittel zur Erreichung (zum Eintreten) einer Änderung im psychischen Dispositionsgefüge (in der Persönlichkeit) eines anderen Menschen gemäß einem für ihn gesetzten Ideal (Norm, Soll-Zustand)". 44 In der Regel werden mit dem Begriff Erziehungsmittel bestimmte Handlungsweisen in der Erziehung identifiziert: "Zu den 'Erziehungsmitteln' zählen die Ermutigung, das Lob, die Belohnung, aber auch der Tadel, die Ermahnung, die bloße Erinnerung; das Gespräch, das Spiel, die Arbeit, der Wetteifer. Selbst die Autorität wird von manchen Pädagogen als Erziehungsmittel betrachtet" (Dietrich 1998) Mit Brezinka (1995) kann die bloße Aufzählung von sog. Erziehungsmitteln als problematisch angesehen werden, weil damit der falsche Eindruck erweckt wird, dass das Erziehungsgeschehen sich auf diese Maßnahmen beschränkt und Angelegenheiten, wie z.B. Lob und Strafe in ihrer Bedeutung für ebendieses Geschehen überschätzt werden. Der Bereich möglicher Mittel in der Erziehung ist viel umfassender, "als jene Klasse typischer Handlungsformen, die bisher hauptsächlich als 'Erziehungsmittel' bezeichnet worden sind. Zu ihm gehören nicht bloß Handlungen, sondern auch andere Klassen von Phänomenen, die durch das Handeln der Erzieher in deren Versuche zur Verwirklichung ihrer Zwecke einbezogen werden, ohne daß ihnen als solchen ein Bezug zur Erziehung bzw. zur Verwirklichung von Erziehungszielen zukommt. Zu den möglichen Mitteln zählen also auch psychische Objektivationen wie Institutionen, Organisationen, Sitten, Bräuche und Traditionen; ferner materielle Gegenstände wie Bücher, Geräte, Gebäude usw.; schließlich auch Personen, soweit sie in den Dienst der Zweckverwirklichung treten, soweit sie 'Mittel', 'Werkzeug' oder 'Instrument' sind." (Brezinka 1995). 45 Bedeutsam für den Begriff des Erziehungsmittels ist es, dass Mittel immer eingesetzt werden, um bestimmte Zwecke, Ziele zu erreichen. Erziehungsmittel Erziehungsziel "Erziehungsmittel sind Maßnahmen, die Erzieher in einer konkreten pädagogischen Situation auf junge Menschen einwirken lassen, um so ein von ihnen verfolgtes Ziel zu erreichen." (Huppertz/ Schinzler 1995) Nicht die einzelne Maßnahme ist ein Erziehungsmittel, die Maßnahme wird zum Erziehungsmittel durch ihr Verhältnis zum Erziehungsziel oder zum Zweck. Es gibt keine Erziehungsmaßnahme an sich, sondern jede einzelne Maßnahme kann zum Erziehungsmittel werden, wenn sie zum verfolgten Ziel führt. (vergl. Brezinka 1995). Einzelne Maßnahme Erreichung des Erziehungsziel s Erziehungsmitte l 46 Gegen dieses Zweck - Mittel - Denken gibt es eine Reihe von ontologischen und moralischen Einwänden: Der zu Erziehende darf nicht zum Objekt eines Mitteleinsatzes gemacht werden, deshalb kann auch nicht jedes Mittel, mit dem ein bestimmtes Erziehungsziel erreicht werden würde, gerechtfertigt werden! "Das 'Objekt' der Erziehung ist in Wahrheit stets ein 'Subjekt', mit eigenen, inneren Antrieben, Strebungen und Willenssetzungen; es kann sich der Beeinflussung entziehen und ihr sogar Widerstand entgegensetzen. Erziehung ist also keine Psycho- oder Pädo-Technik und damit kein exakt vorausberechenbarer Prozeß. Sie 'ereignet' sich immer an einem lebendigen Wesen, das selbst agiert und die 'Reize' kreativ beantwortet und auswertet." (Dietrich 1998) 47 Auch unter Aspekten der Selbstbestimmung der zu Erziehenden und des Hinarbeitens auf Mündigkeit im Erziehungsgeschehen wird auf den Begriff des Erziehungsmittels nicht verzichtet werden können. Auch wenn das heute das allgemein anerkannte Erziehungsziel Mündigkeit, Eigen- und Selbständigkeit oder Emanzipation lautet, werden bestimmte Mittel notwendig sein, den zu Erziehenden zu diesem Ziel zu bringen. "Das Zweck-Mittel-Schema ist als Denkmuster wertneutral, d.h. es wird dazu benutzt, Gedanken über Ziele und die Bedingungen der Zielerreichung zu ordnen, unabhängig davon, wie die Ziele und die Mittel moralisch bewertet werden." (Brezinka 1995) Daraus folgt aber eine Pflicht zur Reflexion und zur Überprüfung der Angemessenheit von Erziehungsmitteln. Die "Qualität eines Mittels (muß) immer und in jeder pädagogischen Situation danach bemessen werden, ob es der Verselbständigung dient; ob das Mittel folglich dazu einen Beitrag leistet, daß es überflüssig wird". (Huppertz/ Schinzler 1995) Pädagogische Konsequenz: 48 "Die Qualität eines Erziehungsmittels darf nicht nur daran gemessen werden, ob sich momentan ein gewünschtes Verhalten einstellt; vielmehr ist danach zu fragen, ob sich nach und nach ein höheres Maß an Selbständigkeit, Urteilsfähigkeit und Eigenverfügbarkeit des jungen Menschen zeigen wird." (Huppertz/ Schinzler 1995) "Unter 'Erziehungsmittel' verstehen wir also Maßnahmen des Erziehers, die mit der Absicht eingesetzt werden, das Verhalten eines Menschen auf die Normen und Ziele hin auszurichten und entsprechend zu verbessern, und zwar so lange, bis Erziehung schließlich in die eigene Verantwortung des Menschen übergeht." (Dietrich 1998) Zusammenhang zwischen Erziehungsmitteln, Erziehungsziel und Erziehungsstil "Bei gehäufter Anwendung bestimmter Erziehungsmittel ergibt sich daraus ein bestimter Erziehungsstil: autoritäre Mittel, im Übermaß angewandt, machen den autoritären Erziehungsstil aus und führen beim Zu-Erziehenden zur autoritären Persönlichkeit. Sozialintegrative Mittel ergeben einen partnerschaftlichen Erziehungsstil und sind geeignet für das Erziehungsziel der verantwortungsfähigen Persönlichkeit." (Huppertz/ Schinzler 1995) 49 Einteilung von Erziehungsmitteln Verschiedene Systematiken sind möglich: direkte vs. indirekte Erziehungsmittel direkte Erziehungsmittel: Lob, Strafe, Tadel etc. indirekte Erziehungsmittel: Spiel etc. (vergl. Geißler 1982) psychologische vs. machtorientierte Erziehungsmittel psychologische: ausgerichtet auf innere psychische Zustände der Kinder; verbal-emotionale Verhaltensweisen des Erziehers, wie Liebesentzug machtbezogene: haben eher physischen als psychischen Charakter; Gewähren materieller Vorteile; körperliche Bestrafung; Beschimpfen, Verspotten etc. (vergl. Caesar 1972) unterstützende vs. gegenwirkende Maßnahmen unterstützende Maßnahmen: "Handlungen, durch die ein angenehmer Zustand dargeboten bzw. hinzugefügt oder ein unangenehmer Zustand beseitigt, weggenommen bzw. entfernt wird"; Aufbau bzw. Erlernen von Verhaltensweisen gegenwirkende Maßnahmen: "Handlungen, durch die ein unangenehmer Zustand dargeboten bzw. hinzugefügt oder ein angenehmer Zustand beseitigt, weggenommen bzw. entfernt wird"; Abbau bzw. Verlernen von Verhaltensweisen (Domke, zit. n. Hobmair u.a. 1996) 50 Erziehungsmittel im Sinne positiver vs. negativer Verstärker Ausgangspunkt ist die Lernpsychologie Positive Verstärker wie Lob, Belohnung und Bekräftigung; eingesetzt, um erwünschte Verhaltensweisen aufrechtzuerhalten bzw. zu stärken; Negative Verstärker wie Tadel, Strafe, Nichtbeachtung etc. zum Abbau bzw. zur Unterdrückung von unerwünschten Verhaltensweisen; Differenzierung jeweils in primäre, soziale, materielle, symbolische Verstärker 51 Die klassischen Erziehungsmittel Strafe als Erziehungsmittel Großer Widerspruch im Erziehungsverhalten unserer Gesellschaft: Ein Großteil der Bevölkerung lehnt Strafe, insbesondere körperliche Strafe als Teil des Erziehungsgeschehens zumindest verbal ab. Der Erziehungsalltag sieht aber so aus, dass Strafe, auch körperliche, weit verbreitet sind. Ist Strafe überhaupt ein Erziehungsmittel? A.S. Neill (1971): "Eine Strafe kann nie gerecht verhängt werden, denn niemand ist gerecht ..... Strafen lehren ein Kind nur, wie man bestraft, Schelten lehrt es nur, wie man schilt. Indem wir ihm zeigen, daß wir es verstehen, lehren wir es, andere zu verstehen" Ansicht, dass Strafe in Widerspruch steht zu dem eigentlichen Zweck von Erziehungsmitteln, nämlich ein Erziehungsziel zu erreichen, dass in der Regel mit eigenständigem, einsichtigen Verhalten verbunden ist. 52 Strafe hat immer mit Macht und Kontrolle zu tun; ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen oder "die Gesellschaft" ist der Meinung, dass ein bestimmtes Verhalten eines Menschen nicht geduldet werden kann oder nicht den langfristigen Erwartungen entsprechend ist Diese Auffassung widerspricht grundsätzlich dem allgemein akzeptierten Erziehungsziel der Mündigkeit und Selbstbestimmung. Pädagogische Konsequenz: Strafe kann nur dort als Erziehungsmittel in Frage kommen, wo die Strafe den Charakter der Unterstützung in Bezug auf die Hinführung auf das größere Ziel der Mündigkeit hat. Schleiermacher (1768-1834), zit. n. Dietrich 1998: "Aus rein ethischen Prinzipien betrachtet, möchte nichts zum Lobe der Strafe gesagt werden können; auch nicht mit Beziehung auf das gemeinsame Leben und irgendein Gemeinwesen ..... und nur da, wo entweder noch kein ethisches Verhältnis gestiftet ist, oder wo es an jeder Verständigung fehlt, lassen sich Strafen entschuldigen. Die Strafe ist ..... ein Zeichen der Unvollkommenheit der Gemeinschaft ..... Nur ausnahmsweise dürfte die Strafe vorkommen, bessern kann die Strafe in keiner Weise ..... Als Erziehungsmittel darf die Strafe durchaus nicht gebraucht werden, sondern sie kann nur entschuldigt werden. Jede Strafe beweist, daß früher schon hätte auf die Gesinnung gewirkt werden sollen; ...." "Die Strafe ist also aus 'rein ethischen Prinzipien' zu verwerfen, da sie den Menschen nicht bessern kann. Wo sie dennoch angewendet wird, kann man sie nur 'entschuldigen'. Ein 'Erziehungsmittel' ist sie nicht. Nur dort, wo die Strafe den Charakter der 'Unterstützung' annimmt, wo sie das sittliche Gefühl und den sittlichen Willen 'anstößt', also die aufbauenden Kräfte in Bewegung setzt, kann man sie verteidigen." (Dietrich 1998) 53 Praxis des Strafens (die möglichst vermieden werden sollte!) Bestrafung soll erreichen, daß ein Verhalten in Zukunft weniger häufig auftritt Die Darbietung einer unangenehmen Verhaltenskonsequenz. Das Beenden eines angenehmen Zustandes, das Verwehren der Möglichkeit, einen solchen zu erreichen Auszeit (Hobmair u.a. 1996) Folgekosten 54 Probleme und Gefahren beim Strafen im Erziehungsgeschehen: Der erhoffte Abbau von unerwünschtem Verhalten tritt nach Strafen meistens nicht ein. Es stellen sich häufig unerwünschte Nebenwirkungen ein, die teilweise auch kontraproduktiv sind (Lügen, Täuschen, sich Anbiedern etc.) Strafe kann paradoxe Auswirkungen haben: Auch negatives Verhalten des Erziehers kann als Zuwendung und Aufmerksamkeit interpretiert werden. Strafe könnte so den Effekt eines positiven Verstärkers bekommen. Beim Strafen werden meist keine Verhaltensalternativen aufgezeigt. Das Kind kann nicht zu Einsicht und Verbesserung des Verhaltens kommen. Strafe zeigt in der Regel keine längerfristige Wirkung (auf die Erziehung aber angelegt ist). Sie wirkt höchstens situativ. Der Erziehende gibt mit seinem Strafverhalten als Vorbild für den zu Erziehenden, wie man sich verhält, wenn man Macht erreichen möchte. Häufiges Strafen führt zu einer Vergiftung des Erziehungsklimas, zu einer feindseligen und ablehnenden Grundeinstellung. Dauerndes Strafen gibt dem Kind ein Gefühl der Ohnmacht und führt ihm seine Unzulänglichkeit vor Augen. So wird ein Kind günstigstenfalls zur Passivität erzogen. (vergl. Huppertz/ Schinzler 1995; Hobmair u.a. 1996) 55 Strafe macht höchstens dann Sinn, wenn ihr das Prinzip der "natürlichen Strafe" (Rousseau) zugrundeliegt: Dieses "beruht auf einem für das Kind einsehbaren sachlichen Zusammenhang zwischen Vergehen und Strafe, d. h., die Strafe erfolgt als eine Konsequenz aus der Art des Vergehens. Sie hat jedoch ihre Grenze, und zwar dort, wo sie sowohl für das Kind als auch für den Strafenden eine zu große Härte bedeutet. Grundsätzlich gilt zwar, daß ein Schaden wieder in Ordnung gebracht werden muß. Was man aber von einem Kind fordern kann, hängt von seiner Belastbarkeit ab." Die Gefahren des Strafens vermindern sich: a) b) c) d) " Der Bestrafte muß wissen, wofür er bestraft wird. ..... Die Strafe muß dem Fehlverhalten angemessen sein. .... Die Strafe muß gerecht sein. Ein Erzieher darf nicht launenhaft strafen oder ein Kind bevorzugen. Die Strafe soll in einem engen inhaltlichen oder thematischen Zusammenhang zum Vergehen stehen, der auf zweierlei Weise hergestellt werden kann: durch Wiedergutmachung und durch sogenannte sachliche Folgen.'" (Domke, zit. nach Hobmair u.a. 1996) 56 Nicht zu rechtfertigen sind körperliche Strafen! Körperliche Strafen verletzen die Würde des Menschen Körperliche Strafen sind gefährlich; Verletzungen sind nicht selten und nicht zu vernachlässigen; die Übergänge zur Misshandlung sind fließend. Körperliche Strafen sind auch Misshandlungen im psychischen Sinne, da sie sich gegen das Selbstwertgefühl der Menschen richten. Körperliche Strafen sind rein machtorientiert, da sie ein Konfliktlösungsmuster darstellen, dass der Erziehende an sich nicht gelten lassen würde. (vergl. Huppertz/ Schinzler 1995) 57 Spiel als Erziehungsmittel Zum Begriff Spiel Eine einheitliche Fassung des Begriffs bzw. eine einheitliche Definition ist nur schwer zu bewerkstelligen. Definitionsversuche von bekannten Menschen wie ROUSSEAU, SCHILLER, FREUD ....... Ansätze einer Theorie des Spiels (vergl. van der Kooij 1991; Flitner 1972): Die klassischen und aktuellen Theorien des Spiels gehen die Thematik von sehr unterschiedlichen Seiten an (integrieren das Spiel teilweise erst nachträglich in ihre Persönlichkeitstheorien) Es fehlt vor allem eine integrative Theorie des Spiels! (van der Kooij 191) 58 SPENCER (1886): "Kraftüberschusstheorie" Spiel als Folge eines "Kraftüberschusses", der sich aus der Differenz Kraftpotential minus Kraftverbrauch (für Nahrungsbeschaffung und Fortpflanzungsaktivitäten) ergibt. HALL (1904): Kind wiederholt in seinen Spielen phylogenetisch bisher Dagewesenes, rekapituliert also die Geschichte der Kultur (z. B. primitive Techniken, die Stufe der Sammler und Jäger). ("phylogenetisches bzw. psychogenetisches Grundgesetz") Groos (1899) Betonung der Bedeutung des Spielens für die Zukunft des Kindes: Im Spiel wird der spätere Zustand des Erwachsenseins vorweggenommen Spiel als Einübung Triebtheoretiker: Hypothese eines "Spieltriebes" Spiel als zur Natur des Menschen gehörend Psychoanalyse: Spieltheorie der Reinigung oder Katharsis, was heißt, dass das Individuum im Spiel die Gelegenheit hat, aggressive Triebe und Wünsche gesellschaftlich sanktioniert abzureagieren. "Dampfkesselmodell: Das Individuum muss, um seiner Psychohygiene willen, von Zeit zu Zeit "Dampf " ablassen können. 59 Adler: Individualpsychologie, besonders gekennzeichnet durch die Dimension "Machtstreben" Spiel als Scheinbefriedigung dieses Macht- und Geltungstriebs. Kinder würden ihr Minderwertigkeitsgefühl der Machtlosigkeit gegen Erwachsene ausspielen, indem sie die Realität gemäß ihren Machtwünschen verändern. Erikson: Spiel als eine Form kindlichen Experimentierens, mit deren Hilfe es seine Umwelt erfahren und bewältigen kann. Piaget: Spieltheorie, die unmittelbar an Theorie der Entwicklung kindlichen Denkens anschließt. Drei Spielarten im Laufe der Entwicklung: 1. Übungsspiel (Üben einfacher Funktionen 2. Symbolspiel (Spielen mit Vorstellungen, Symbolen), 3. Regelspiel (Einbeziehung der sozialen Außenwelt). kindliches Spielen vor dem Hintergrund der Intelligenzentwicklung. SCHEUERL (1954): Kinderspiele werden um ihrer selbst willen durchgeführt; sie setzen sich von den üblichen Zwängen des Daseins ab; sie sind äußerst variabel, aber auch strukturiert (Spielregeln); sie erzeugen hohe innere Spannung; Kinderspiele sind begleitet von freudigen Gefühlsäußerungen; 60 Sie sind begleitet von Spontaneität in Bezug auf Entstehung und Abklingen. Trotz aller Definitionsprobleme in Bezug auf den Begriff Spiel können mit Heckhausen (1964/ 1973) fünf gemeinsame Merkmale aller Spiele oder des Spielverhaltens (vergl. van der Kooij 1991) ausgemacht werden: 1. " Die Zweckfreiheit; 2. der 'Aktivierungszirkel', d. h. das Aufsuchen eines Wechsels von Spannung und Lösung, der in vielen Wiederholungen abrollt; 3. die handelnde Auseinandersetzung mit einem Stück real begegnender Welt; 4. die undifferenzierte Zielstruktur und die unmittelbare Zeitperspektive; 5. die Quasi-Realität" "Spielen ist eine der vielen zweckfreien Tätigkeiten, die um ihres eigenen Anregungspotentials willen aufgesucht und ausgeführt werden. Anregend wirken verschiedenartige Diskrepanzstrukturen zwischen Wahrnehmungen, Erwartungen und Tendenzen ..... . Die Basismotivation besteht in der Gewinnung und Aufrechterhaltung eines mittleren, optimalen Aktivierungsgrades, der in sog. Aktivierungszirkeln ständig ein wenig über- und unterschritten wird, was zu angenehm-lustvollem Erleben führt, anregende Wirkung ausübt und die momentane Funktionstüchtigkeit der kognitiven und motorischen Fähigkeiten günstig beeinflußt. " (Heckhausen 1973 ; Markierungen G.G.) 61 "Unter den zweckfreien Tätigkeiten läßt sich Spielen nicht inhaltlich, sondern nur durch seine besonderen Modi spezifizieren, und zwar: 1. durch handelnde und nicht lediglich kognitive Auseinandersetzung mit einem Gegenüber, das der Handelnde nicht völlig in der Hand hat. 2. Durch eine relativ rasche Periodik von Aktivierungszirkeln um einen mittelhohen Aktivierungspegel bei einfacher Zielstruktur und unmittelbarer Zeitperspektive, d.h. bei niedrig-organisierter Handlungsstruktur, 3. Durch Quasi-Realität des Handelns und Erlebens, die als solche empfunden, häufig vor allem durch Spielregeln aufrechterhalten, zeitlich und räumlich und durch besondere Bedeutungssetzungen gegen die Realität des alltäglichen Lebens, aber auch gegen die Irrealität abgegrenzt und gesichert wird. ....." (Heckhausen 1973). 62 Zur Phänomenologie des Spiels Schenk-Danzinger (1974): Drei Arten des Spiels im Vorschulalter: 1. Das Rollenspiel, gekennzeichnet durch die "Als-ob-Einstellung", die "willkürliche Symbolsetzung oder Umdeutung (Metamorphose von Gegenständen)", die "Verlebendigung von Leblosem (Anthropomorphismus)", die "fiktive Verwandlung von Personen (Rollen)" sowie die "Nachahmung von Handlungen oder Handlungsabläufen" 2. Das Funktionsspiel bezeichnet die Art von Spiel, "die das Kind aus Freude an der Bewegung und an den zufällig bewirkten Veränderungen vollführt." 3. Das werkschaffende Spiel unterscheidet sich vom Funktionsspiel durch "eine wichtige Akzentverschiebung: von der Freude an der Betätigung zur Freude am Produkt. "In den Vordergrund treten Plan und zielstrebige Durchführung des Vorhabens in Richtung eines erkennbaren Produkts. 63 van der Kooij (1991): Vier Hauptkategorien des Spiels: - - "Wiederholungsspiel, oft auch Funktionsspiel oder sensomotorisches Spiel genannt: Man sieht, daß Kinder immer wieder Bewegungen wiederholen, manchmal, ohne Rücksicht auf deren Folgen zu nehmen, nicht selten auch als Exploration der Umgebung. Imitationsspiel, auch Phantasiespiel, Identifikations- oder symbolisches Spiel genannt: Es handelt sich immer um eine Sinngebung an einer Bewegung. - Konstruktionsspiel: Bedeutungslose Spielzeugelemente werden zusammengefügt, um ein sinnvolles Ganzes zu schaffen, wobei ein Kontakt zwischen den Elementen hergestellt wird. - Gruppierungsspiel, meistens 'Weltspiel' genannt: Sinnvolle Spielzeugelemente, die schon etwas darstellen, wie Häuser, Bäume und Tiere, werden aufgestellt und gruppiert." 64 Im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Theorien des Spiels werden dem Spiel verschiedene Funktionen zugewiesen: Schäfer (2001): Spiel als Einübung in spezifische Lebensweisen und Aufgaben Spiel als Möglichkeit, notwendige Informationen für eine effektive Lebensgestaltung zu erhalten Spiel als Möglichkeit, die kognitive Entwicklung zu bereichern: Neben der Entwicklung logischen Denkens eröffnen sich im Spiel Felder, in denen sich Neugier, Exploration und Erfindung platzieren können. Spiel als Bereich, in dem sich Möglichkeiten ergeben, "sich spielerisch verschiedenste Wirklichkeiten zu 'vergegenwärtigen' und im Bereich des Als-Ob zu durchdenken ....." Spiel hat "eine Selbstheilungsfunktion für emotionale Problemkonstellationen" Möglichkeit, "im Spiel emotionale Beziehungen zu vergegenwärtigen, zu strukturieren und ein Stück weit zu bewältigen." Spiel als Bereich, in dem durch dessen interaktiven Charakter soziale und moralische Verhaltensweisen eingeübt werden. 65 (vergl. van der Kooij 1991; Hobmair u.a. 1996) 66 Aus diesen Funktionen des Spiels und der besonderen Bedeutung für die Entwicklung der Kinder wird regelmäßig die Legitimation des Spiels als Erziehungsmittel abgeleitet und auch versucht, Spiel im Sinne einer effektiven Förderung der Entwicklung der Kinder zu gestalten. "Da das Spiel ein Mittel ist, mit dessen Hilfe Kinder Verhalten und Einstellungen erlernen, können Erzieher dieses Mittel gut als Erziehungsmaßnahme einsetzen" (Hobmair u.a. 1996) Nicht ganz unproblematisch, da Einsatz (Instrumentalisierung) des Spieles zu Erziehungszwecken eigentlich seinem grundlegenden Wesen der Zweckfreiheit widerspricht. Wenn der eigentliche Charakter des Spiels verloren geht, gehen evtl. auch die ihm zugeschriebenen Funktionen verloren. 67 Die pädagogische Bewertung des Spiels hat also zwei Orientierungsmöglichkeiten: Setzen auf die funktionalen Förderungsmöglichkeiten: "Dann ist jedoch auch die besondere Qualität des Spiels zweitrangig. Es wird als Trojanisches Pferd für Lernprozesse benutzt ....." Setzen "auf die besondere Struktur des Spiels, seine Freiheit, die subjektive Handlungsautonomie, die Spannung zwischen begrenzenden Regeln und überraschenden Handlungsfreiräumen. Dann muss sie in Kauf nehmen, dass Spielprozesse sich nur schlecht in die Ökonomie von Erziehungs- und Bildungsprozessen einbauen lassen." (Schäfer 2001) "Um die pädagogische Bedeutung des Spiels zu erfassen, wird man daher darauf verwiesen, die unplanbaren Momente in der Pädagogik in Betracht zu nehmen und zu nutzen. Was dabei zum Vorschein kommt, sind die kindlichen Möglichkeiten, aus eigener Kompetenz und Initiative, sich ihrer sozialen und sachlichen Wirklichkeit zu stellen." (Schäfer 2001) Paradoxon, dass Möglichkeiten des Spiels für die Entwicklung der Kinder dann am besten "genutzt" werden können, wenn der Anspruch, sie zu nutzen, relativ gering ist, z.B. im Rahmen einer auf Mündigkeit, Emanzipation etc. ausgerichteten Erziehung. 68 Grundsätze zum Einsatz von Spiel als Erziehungsmittel Spiel hat mit freiem, lustvollen, nicht von außen gelenktem Handeln zu tun. Es entsteht meist spontan und aus einer nicht zielgerichteten Motivation heraus. Der Einsatz des Spiels (das Anhalten der Kinder zum Spielen) widerspricht eigentlich dem Wesen des Spiels. So kommt es auch, dass Kinder nicht gerne Spielen, wenn sie dazu von Erwachsenen aufgefordert werden. Pädagogik hat deshalb nicht zu überlegen, wie Spiele geplant eingesetzt werden könnten, sondern wie sie Situationen gestalten (Rahmenbedingungen schaffen) kann, innerhalb derer Kinder zu spielen beginnen und die dem Spielen zugeschriebenen positiven Erfahrungen machen können. Es kommt also weniger auf das Was des Spiels und des Spielens an als auf die Möglichkeit dazu. "Kinder sollen spielen können, wenn es ihnen Freude macht, sie brauchen ausreichend Spielzeit und benötigen ausreichenden Spielraum." (Hobmair u.a. 1995) 69 Das zur Verfügung gestellte Spielmaterial (Spielzeug) sollte anregen und nicht von den Möglichkeiten her einengen. Beim Spiel soll die Fantasie der Kinder zum Tragen kommen, allzu realistisches Spielzeug ist deshalb ungeeignet. Neben der Art des Spielzeugs ist zu berücksichtigen, dass die Qualität des Spielens auch durch soziale Faktoren beeinflusst wird. Kinder sollten zum Spielen angeregt und ermuntert (nicht genötigt!) werden; das Spiel muss von den Erwachsenen ernst genommen und positiv bewertet werden. Die Ermöglichung sozialer Kontakte zu anderen Kindern ist ebenfalls die Qualität des Spiels positiv beeinflussend. 70 Erziehung und Gesellschaft Sozialisation als Voraussetzung menschlicher Entwicklung Der einzelne Mensch ist, wenn er geboren wird, zum Leben völlig untüchtig. Dass er zum lebensfähigen Menschen wird, setzt eine Vielzahl von Lernprozessen voraus, unabhängig davon, was man unter vollem Menschsein im einzelnen versteht. Relativ lang andauerndes Lernen ist somit eine fundamentale Bedingung menschlicher Existenz. Der Mensch wird zwar unfertig und außerordentlich instinktund orientierungslos geboren, er ist aber sehr formbar und grundsätzlich in der Lage, sich auf mannigfache Weise zu entfalten und sich in jede Gesellschaft einzugliedern. Den Vorgang des Hineinwachsens des Einzelnen in eine bestimmte Gesellschaft bezeichnet man im wissenschaftlichen Sprachgebrauch (synonym dazu Sozialisierung). manchmal auch 71 Sozialisation steht für "die komplexen Prozesse des Hineinwachsens jeder neuen Generation in die spezifische Kultur, in die äußere Lebensform ihrer Gesellschaft oder bestimmter Gruppen, aber auch in die Vorstellungen, Einstellungen und Gefühlsproportionen der umliegenden Primär- und Sekundärgruppen, zu welcher als Variablenkomplex noch zahlreiche spezifische Wahrnehmungs- und Denkvorgänge zählen" (Vaskovics zit. nach Lüdtke 1978). Vermittlung und Verbindlichmachung von in einer Gesellschaft herrschenden Werten, Normen und Techniken des Lebens an den Einzelnen. Dabei wird dem Individuum mit diversen Methoden direkter und indirekter Belohnung und Bestrafung "gleichzeitig angesonnen und ermöglicht, gesellschaftlich erlaubtes und gefordertes Verhalten zu erlernen, d. h. es zu können und es zu wollen" (Neidhardt 1977). Es handelt sich um den "Prozess der Entstehung und Bildung der menschlichen Person in ihrer Interaktion mit ihrer spezifischen materiellen, kulturellen und sozialen Umwelt" (Geulen 2001) 72 Unter Sozialisation wird nicht nur die "Sozialmachung" von Individuen verstanden, sondern auch deren "Sozialwerdung" "Sozialisierung als 'Sozialmachung' bezeichnet die Summe aller Tätigkeiten von beeinflussenden Personen, wie z.B. die Disziplinierungstechniken der Eltern, während mit Sozialisierung als 'Sozialwerdung' auf die Veränderungen und den Aufbau der Persönlichkeit auf Grund soziokultureller Beeinflussung Bezug genommen wird. Im ersten Fall bietet eine Person kulturelle Inhalte an (making social), im zweiten Fall lernt eine Person kulturelle Inhalte (becoming social)". (Fend 1976) 73 Enkulturation - Sozialisation - Erziehung Enkulturation als Basisprozess (Kron 1991) Ein Basisprozess jeglicher Pädagogik ist das Hineinwachsen der jungen Menschen in die Kultur einer Gesellschaft. Es geht darum, diese Kultur zu erlernen. "Das Lernen der Kultur ist der eigentümliche und ganze Gegenstand der Pädagogik, zu dessen Bezeichnung wir von der Kulturanthropologie den Terminus 'Enkulturation' übernehmen" (Loch, zit. nach Kron 1991) "Der Begriff der Enkulturation bezieht sich auf die kulturspezifischen Veränderungen und Aufbauprozesse der Persönlichkeit von Heranwachsenden. Enkulturation hat also ..... die allgemeine Bedeutung von Lernen der Kultur, Lernen von Kulturmustern, Lernen des Wertund Normensystems, Lernen der kulturspezifischen Technologien, der Sprache, des kulturspezifischen Denkstils, der kulturspezifischen Gefühlslage usw. In diesem Prozeß werden umfangreiche Ideen-Systeme (belief-system, cognitive map) gelernt, und eine Hierarchie bevorzugter Handlungsweisen wird aufgebaut." Fend (1976) 74 Sozialisation (Sozialisierung) als spezifischer Subprozess der Enkulturation (Fend 1976) kann "man allgemein als Lernen der Werte und Normen kennzeichnen." (Fend 1976) Beispiel Sprache: Im Prozess der Enkulturation lernt der Mensch die Sprache selbst, Satzbau, Morphologie und Syntax. In der Sozialisation lernt der Mensch die Sprache so zu gebrauchen, dass sie mit sozialen und moralischen Normen in Einklang gebraucht wird. "Während mit dem Begriff 'Enkulturation' auf das Lernen aller kulturellen Inhalte angespielt wird, bezeichnet Sozialisierung das Lernen einer besonderen Klasse kultureller Inhalte: Das Lernen der moralischen Ordnung einer Gesellschaft" (Fend, zit. nach Kron 1991) 75 Sozialisation unterscheidet sich von Erziehung dadurch, dass nicht nur die intentionalen Prozesse des Lernens und der Anpassung berücksichtigt werden, sondern auch die nichtintentionalen (vergl. Lüdtke 1978). Sozialisation ist damit der weiter-, Erziehung der enger gefasste Begriff. Während in die Sozialisation alle Vorgänge der "Sozialwerdung" und der "Sozialmachung" eingeordnet werden können, kommt im Begriff der Erziehung hauptsächlich das bewusste, absichtliche, zielgerichtete pädagogische Verhalten zum Ausdruck (vergl. Weinert 1978). Enkulturation als Lernen der und Hineinwachsen in die Kultur Sozialisation als Lernen und Internalisieren der Normen- und Werte einer Gesellschaft Erziehung als bewußte und gesteuerte Prozesse der Sozialisation 76 Theorie der Sozialisation Über die Art und Weise, wie sich Sozialisation im einzelnen vollzieht, "welcher Art die intraindividuellen Prozesse der Sozialisation sind" besteht noch weitgehend Unklarheit. Man kann annehmen, dass Sozialisation "durch einen Prozeß der kognitiven, sprachlichen und motivationalen Differenzierung, an dem Triebverdrängung, Symbolaneignung, Internalisierung von Erwartungen, Imitationslernen und andere Mechanismen interdependent beteiligt sind", erfolgt (Lüdtke 1978). Sozialisation als Erlernen von sozialen Rollen Sozialisation wird häufig unter dem Blickwinkel der Rollenanalyse betrachtet. Danach kann Sozialisation als Lernen, das den Lernenden befähigt, soziale Rollen auszuüben, bezeichnet werden (vergl. Rolff 1973). Die zu erlernenden Rollen sind Bündel von Erwartungen, die sich an das Verhalten der Träger von Positionen knüpfen und die durch Sanktionen gesichert werden" (Rolff 1973). 77 Auf der Grundlage der Rollenanalyse im Ablauf Sozialisationsprozesses stehen folgende Tatsachen außer Frage: des a) "Sozialisierung wird erreicht durch die kindliche Bindung an Erwachsene, zuerst an die Mutter oder deren Ersatz, an den Vater, dann allmählich an andere Menschen; d.h. sie gründet sich darauf, dass das Kind diese Erwachsenen als Objekte seiner Handlungen wünscht. b) Die Art dieser Bindung ist diffus und generalisiert; d. h. sie ist auf die Gesamtpersönlichkeit dieser Erwachsenen gerichtet, auf ihre allgemeinen Dispositionen dem Kind gegenüber (ihre Liebe zum Kind), und nicht - wenigstens zunächst nicht - auf spezifische Handlungen. c) Die Sicherheit einer solchen Bindung ist eine grundlegende Voraussetzung für die Entwicklung eines Kindes zu einem sozialen Wesen, also für die Entfaltung seiner Befähigung zu Rollenerwartungen und für Rollenausübungen. d) Auf dem Weg der Sozialisierung (wie sie vor allem in der Familie erfolgt) entwickelt das Kind generalisierte, primäre Rollenprädispositionen. e) Auf der Grundlage dieser allgemeinen Prädispositionen werden dann einzelne, spezifische Rollen in verschiedenen spezifischen Situationen erlernt. Die Möglichkeit zur Interaktion mit anderen Menschen - besonders mit Erwachsenen - und die Sicherung einer beständigen Bindung an sie stellen wohl die Grundbedingung für die Persönlichkeit dar, ohne die ihre Entwicklung nicht erreicht und ihre Integration nicht erhalten werden kann."' (Eisenstadt zit. nach Weinert 1978) 78 Neben dem rollentheoretischen Ansatz gibt es eine Reihe weiterer Erklärungsansätze für das Geschehen im Sozialisationsprozess: Psychoanalytischer Ansatz Verhaltenstheoretischer Erklärungsansatz Interaktionstheoretischer Erklärungsansatz Strukturell-funktionaler Erklärungsansatz (vergl. Huppertz/Schinzler 1995; Kron 1991; Fend 1976) 79 Der Mensch ist im Sozialisationsprozess kein total der Prägung durch seine Umwelt ausgesetztes passives Wesen. Es gibt viele Belege für spontane und aktive Auseinandersetzung schon des Kleinkindes mit seiner Umwelt. Sozialisation ist sowohl die Bedingung der Möglichkeit für konformes wie für autonomes Handeln, und die individuelle Persönlichkeit ist zugleich das Ergebnis sozialen Schicksals, wie ihrerseits auch wieder Gestalter einer kulturellen Umwelt (vergl. Weinert 1978; Geulen 2002). 80 Das Ziel der Sozialisation kann darin gesehen werden, "den einzelnen im Rahmen der kulturellen, sozialen und materiellen Bedingungen seiner eigenen Gesellschaft lebensund funktionstüchtig zu machen"' (Neidhardt 1977). Rolff 1973: "Sozialcharakter" als Ergebnis eines Sozialisationsprozesses beim einzelnen Menschen. "die mehr oder weniger dauernde sozial und historisch bedingte Organisation der Triebe und Befriedigungen eines Individuums, sozusagen die 'Verfassung', in der der Mensch der Welt und seinen Mitmenschen gegenübertritt" (Rolff 1973). Der Sozialisationsprozess endet nicht mit dem Abschluss der Erziehung in Elternhaus und Schule lebenslanger Vorgang. Mensch muss im Laufe seines Lebens immer wieder neue Rollen erwerben. 81 Es ist allerdings noch ungeklärt, inwieweit bestimmte Grundmuster in früher Kindheit erworben werden und dann weitgehend unveränderbar bleiben. Die Tiefenpsychologie sieht z.B. eine bleibende Fixierung der Persönlichkeitsstruktur durch die frühe Erziehung (vergl. Rolff 1973). Zu denken ist dabei an eine pessimistische bzw. optimistische Weltbetrachtung (vergl. Weinert 1978). Die Bedeutung der Familie für die Sozialisation Es besteht in der Fachliteratur weitgehend Übereinstimmung darüber, dass der Familie für die Sozialisation der Kinder eine universelle Bedeutung zukommt (vergl. Lüdtke; Weinert 1978; Rolff 1973). Familie als wichtigste Sozialisationsinstanz Unter Familie wird in diesem Zusammenhang in der Regel die moderne Klein- oder Kernfamilie verstanden, in der die beiden Generationen der Eltern und Kinder zusammenleben. 82 Die Familie besitzt eine Reihe von Struktur- und Funktionsmerkmalen, die für die Sozialisationswirksamkeit von größter Bedeutung sind: a) In der Familie können die persönlichen Beziehungen zwischen den Mitgliedern umfassend, intensiv, individuell und emotional sein. b) Die Familie hat Modellcharakter für das Rollenverhalten und den Rollenerwerb der Kinder. Trotz einer nicht mehr so klar abgegrenzten Rollenverteilung in der Familie bestätigen neuere Untersuchungen die immer noch geltende Bedeutung der Rollen und Rollenunterschiede von "Vater", "Mutter", "Sohn" und "Tochter". c) Da die Familie eine recht stabile Einheit darstellt, wird sie dem frühkindlichen Bedürfnis nach einer Dauerpflegeperson gerecht. d) Das Leben in der Familie erfüllt die Bedürfnisse des Menschen nach sozialer Zugehörigkeit, Sicherheit, Geborgenheit und Selbstbestätigung (vergl. Weinert 1978). Die in erster Linie in der Familie stattfindende Sozialisationsphase wird im Gegensatz zur durch Schule und Ausbildung - bezeichnet (vergl. Lüdtke 1978). 83 Das Kleinkind, das zunächst völlig an das Elternhaus gebunden ist, erfährt und verinnerlicht dort die grundlegenden und allgemeinen Werte und Verhaltensmuster. Das Kind kann sich dagegen nicht abschirmen, da es kaum mit anderen Menschen in Berührung kommt. Auf Versuche der Abwehr reagieren die Eltern mit Sanktionen, die das Kind nicht permanent ertragen kann (vergl. Rolff 1973) Folgende Aspekte sind bei der primären Sozialisation in der Familie von besonderer Bedeutung: a) Die Entfaltung der menschlichen Intelligenz findet bereits in früher Kindheit statt. Bloom (zit. nach Rolff 1973) stellt fest, dass sich von der im Alter von 17 Jahren gemessenen Intelligenz die Hälfte bereits im Alter von 4 Jahren entwickelt habe. b) Das Kind erfährt in der Familie die Anfangsgründe der Sprache. Es reagiert auf sprachliche Anhaltspunkte und vervollkommnet die Sprache in Wortschatz und Kultur. c) Das Kind lernt, durch Veränderungen seiner Triebstruktur die eigene Natur zu beherrschen. Das Kind muss erlaubte Wege der Triebbefriedigung finden und verbotene und erlaubte Verhaltensweisen unterscheiden lernen. Ferner muss gelernt werden, auf Umwegen zu Lustgewinn zu kommen oder Unlustvermeidung zu erreichen: Das Kind muss erkennen, dass von ihm geforderte mit Unlust besetzte Verhaltensweisen durch das anschließende Lob zu Befriedigung führen können (vergl. Rolff 1973). d) Das Kind lernt in der primären Sozialisation per Identifikation mit den Eltern "die erfolgreiche Unterscheidung und Verinnerlichung primärer Rollen (Alters- und Geschlechtsrollen) (vergl. Lüdtke 1978). 84 Problematik familiärer und öffentlicher Sozialisation Der einzelne Mensch Sozialisationsprozesses ist während des gezwungen, zwei verschiedene Wertsysteme zu erlernen, die in einer gewissen Spannung zueinander stehen. Dies resultiert aus der komplexen Struktur unserer Gesellschaft (vergl..Neidhardt 1977). Auf der einen Seite stehen die in der Familie herrschenden Werte, die die sich diffus, emotional und partikularistisch darstellen. Gegenüber stehen die spezifischen, instrumentalen und universalistischen Werte, die im gesamten öffentlichen Leistungsbereich (Betriebe, Verbände, Behörden, Schulen usw.) anzutreffen sind. Diese nennt man (vergl. Neidhardt 1977). 85 Die Familie ist nicht in der Lage, alle beiden Wertsysteme zu vermitteln, da die gesellschaftliche Reichweite der modernen Familie äußerst beschränkt ist. Es gingen deshalb immer mehr Teile des Sozialisationsprozesses an außerfamiliale Sozialisationsagenturen über: Kindergärten, Schulen, Lehrwerkstätten der Betriebe, Universitäten usw. In ihnen vollzieht sich ergänzend zur "familialen" eine "öffentliche" Sozialisation (vergl. Neidhardt 1977). Da jedoch immer noch eine institutionelle Dominanz der Familie im Sozialisationsprozess besteht, kommt es "zu einem Übergewicht der Vermittlung 'privater Tugenden' (Partikularismus) gegenüber 'öffentlichen Tugenden' (Universalismus), .... während gerade letztere in einer dynamischen und sich demokratisierenden Gesellschaft für sozial adäquates Verhalten des Einzelnen konstitutiv wären" (Lüdtke 1978). 86 Erfolg der Gesamtsozialisation ist davon abhängig, inwieweit sich familiale und öffentliche Sozialisation positiv entsprechen, denn diese positive Entsprechung ermöglicht eine optimale kontinuierliche Persönlichkeitsund Leistungsentwicklung. Eine unvollständige Sozialisation resultiert demgemäß aus einer unzureichenden Komplementarität der Sozialisationsleistungen von Familie und Schule. Nicht in allen Familien gelingt die familiale Vorbereitung auf außerfamiliale Ansprüche gleich gut (vergl. Neidhardt 1977). Problem sozialer Benachteiligung bestimmter Bevölkerungsgruppen. 87 Lernen Enkulturation, Sozialisation und Erziehung werden häufig mit Lernprozessen gleichgesetzt Lernen als Basisprozess umgekehrt können die das Lernen beeinflussenden sozialen Faktoren unter dem Begriff der Sozialisation zusammengefasst werden. (vergl. Kron 1991) "Erziehung ist ein Vorgang, der auf das Erreichen von Zielen angelegt ist ..... . Zur Erreichung dieser Ziele ist die Auseinandersetzung mit Aufgaben, mit Inhalten, mit Gegenständen notwendig. Und genau diesen Prozeß der Auseinandersetzung kann man global als Lernprozeß bezeichnen. Lernen ist also ein Teilmoment am Erziehungsvorgang." (Kaiser/ Kaiser 1991). 88 Lernen kann allgemein umschrieben werden als relativ dauerhafter Erwerb einer neuen oder die Veränderung einer schon vorhandenen Fähigkeit, Fertigkeit oder Einstellung. (vergl. Kaiser/ Kaiser 1991; Weber 1975) bezieht sich also auf "die Veränderung im Verhalten oder im Verhaltenspotential eines Organismus in einer bestimmten Situation, die auf wiederholte Erfahrungen des Organismus in dieser Situation zurückgeht." (Bower/ Hilgard zit. n. Gudjons 1997) Lernen ist abzugrenzen von entwicklungsbedingten Veränderungen aber auch von Verhaltensänderungen, die durch direkten äußeren Einfluss oder vorübergehenden bzw. dauerhaften organischen Veränderungen (Drogeneinfluss, Müdigkeit, Verletzungen, Erkrankungen etc.) zustande gekommen sind. (vergl. Weber 1975,; Kron 1991; Gudjons 1997) " Lernen ist also von Reifen, Wachsen, von instinktmäßigem Verhalten zu unterscheiden....." (Kaiser/ Kaiser 1991) 89 Lernen ist zwar immer Erwerb von Fähigkeiten/ Fertigkeiten und Kenntnissen ist jedoch nicht identisch mit bloßem Anhäufen von Wissen. Lernen wird häufig gleichgesetzt mit dem sichtbaren Erfolg, dem Lernergebnis. Jedoch: Das was als Lernen bezeichnet werden kann, ist ein Vorgang, der nicht beobachtet, identifiziert werden kann. Beim Lernen geht es um "Verhalten, - also etwas Beobachtbares, das sich zwischen zwei Zeitpunkten t1 und t2 ergeben hat. Veränderung ist dabei das zu Erklärende ..... , es umfaßt auch das 'Verlernen'. Auf Veränderungen im Verhaltenspotential kann man nur durch Beobachtung von Verhalten (rück)schließen" (Gudjons 1997) 90 Wichtig ist, zu begreifen, dass Lernprozesse mit der Veränderung der Persönlichkeitsstruktur eines Menschen zu tun haben. Lernprozesse sind angesiedelt "auf einer kognitiven, emotionalen, sensomotorischen und motivationalen Ebene" (Kron 1991). Sichtbar wird dieser innere Vorgang auf der äußeren Verhalten des Menschen. Ebene, im Ursache/ Auslöser Zusammenhang nicht direkt herstellbar Nicht sichtbar/ messbar Veränderung im Inneren des Menschen Kognitive, emotionale, sensomotorische, motivationale Dispositionen Verhaltensänderung sichtbar 91 Verhaltensänderung kann nur dann als Ergebnis von Lernen betrachtet werden, wenn die neue Verhaltensweise einigermaßen dauerhaft ist. weist wiederum auf innere Vorgänge hin! "Da ..... nur ein Lernen vorliegt, wenn das veränderte Verhalten nicht nur einmal gelingt, z.B. nur zufällig zustande kommt, sondern ein den Augenblick überdauernden, relativ beständiger Lernerfolg erreicht wird, muß angenommen werden, daß sich durch den Lernprozeß im Organismus selbst etwas verändert hat, das später in der gleichen oder ähnlichen Situation erneut ein entsprechendes Verhalten ermöglicht. Die dazu erforderlichen, nicht unmittelbar beobachtbaren, aber aus der Beobachtung erschließbaren Befähigungen und Bereitschaften zur Verwirklichung des erlernten Verhaltens bezeichnet man als Weber 1975) "Wenn das Gelernte nicht gleich wieder verloren geht, muß der Lernprozeß Dispositionsänderungen hervorgebracht haben." (Weber 1975) 92 Lernen ist somit ein "Prozeß der inneren Organisation von Denken, Fühlen, Werten, Streben und Wollen ....., durch welchen sich der Mensch sozusagen seine Persönlichkeit in gesellschaftlicher und individueller Hinsicht aufbaut. Lernen hilft daher dem Menschen, sich selbst und seine Welt zu verstehen. Dadurch wird der Mensch in die Lage versetzt, nicht mehr nur auf äußere 'Reize' zu 'reagieren' oder 'sich zu verhalten', sondern er kann auch selbst agieren, also 'handeln'" (Kron 1991) Lernen bedeutet also: "die Änderung bzw. Verbesserung der (den) Verhaltens- und Leistungsformen vorausgehenden und sie bestimmenden seelischen Funktionen ....., also eine Veränderung der inneren Fähigkeiten und Kräfte, aber auch der durch diese Fähigkeiten und Kräfte aufgebauten inneren Wissens-, Gesinnungs- und Interessensbestände des Menschen." (Roth, zit. nach Kron 1991). "Diese Leistung der inneren Organisation macht das Lernen aus und ermöglicht es dem Menschen sich nach außen hin zu organisieren, also sich selbst und seine Umwelt zu gestalten, kurzum kulturell tätig zu sein und sozial zu handeln." (Kron 1991) 93 Beim Lernen finden drei fast simultan ablaufende Prozesse statt: 1. Informationsaufnahme neue Informationen, oftmals Information, die dem zuwiderläuft oder das ersetzt, was die Person vorher stillschweigend oder ausdrücklich gewußt hat"; zumindest Verfeinerung früheren Wissens. (Bruner, zit. n. Kron 1991). 2. Transformation der Information Umwandeln, ummodeln "von Wissen, um dieses für neue Aufgaben tauglich zu machen." "Wir lernen, Wissensstoff zu demaskieren oder zu analysieren, um, ihn so zu ordnen, daß wir ihn extrapolieren oder interpolieren oder in eine andere Form bringen zu können. Der Ausdruck Transformation beeinhaltet die Art und Weise, in der wir mit Informationen umgehen, um über sie hinauszugelangen." (Bruner, zit. n. Kron 1991) 3. Evaluation der Information und der Transformation bedeutet die Prüfung Bewertung, "ob die Art, wie wir die Informationen zurechtgemacht haben, dem neuen Anwendungszweck adäquat ist ....." (Bruner, zit. n. Kron 1991) 94 Lernen ist im pädagogischen Sinne kein wertneutraler Begriff (wie z.B. in weiten Teilen der Lernpsychologie), sondern beinhaltet immer die Annahme, dass ein Fortschritt erzielt wurde, "eine irgendwie verbessernde Veränderung des Verhaltens und der zugrunde liegenden Dispositionen." (Weber 1975) Der Lernerfolg ist keine objektiv messbare Angelegenheit, sondern abhängig von Wertund Normensystemen der Erzieher und der dahinter stehenden Gesellschaft (vergl. Weber 1975). Dieses müsste immer wieder kritisch hinterfragt werden! Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Lernen eine Angelegenheit der inneren Organisation ist und die sichtbaren äußeren Ergebnisse (Lernerfolg) von den zugrunde liegenden Maßstäben abhängig sind, ergeben sich kritische Überlegungen hinsichtlich Lernerfolgsbewertung und Lernförderung: 2 Positionen: Pädagogische Sichtweise legt nahe, dass Erziehungsprozesse auch in ihrer Intentionalität letztlich auf die Motivation der Lernenden zielen sollten. Die Lernpsychologie weist eher in die Richtung, sich auf die sichtbaren Ergebnisse zu konzentrieren, da nur diese messbar sind und an sie ein Maßstab angelegt werden kann. 95 Erklärung von Lernen - Die Lerntheorien "Der Versuch, die Kenntnisse über Lernen, d.h. über Lernbedingungen und Lernergebnisse, sowie deren Zusammenhänge zu systematisieren, führt zu (Skowronek, zit. n. Gudjons 1997) Lerntheorien sind vor allem deshalb notwendig, weil der Vorgang des Lernens nicht direkt beobachtet werden kann. Deshalb muss die Differenz zwischen der Ausgangssituation und dem, was als Lernergebnis bezeichnet wird, erklärt werden. Einteilung der Lerntheorien in zwei große Bereiche: Behavioristische Lerntheorien Bekannteste Beispiele sind das klassische Konditionieren (Pawlow) und das operante Konditionieren (Skinner) Theorien der kognitiven Organisation Theorien der Informationsverarbeitung, die sowohl soziale Lernprozesse als auch aktive Handlungsprozesse einschließen (Lernen am Modell, Lernen durch Einsicht) (vergl. Gudjons 1997). 96 Die didaktische Dimension des Lernens Didaktik - Begriffsklärung Grundsätzlich geht es bei der Didaktik um die Effektivierung von Lehr- und Lernprozessen. Unterrichtsweisen, "durch welche die Lehrer weniger zu lehren brauchen, die Schüler dennoch mehr lernen; in den Schulen weniger Lärm, Überdruß und unnötige Mühe herrsche, dafür mehr Freiheit, Vergnügen und wahrhafter Fortschritt." (Comenius, Johannes, Didactica magna, 1657) Gegenstand der Didaktik: Die Didaktik kümmert sich um die Frage, wer was wann mit wem wo wie womit warum und wozu lernen soll. (Jank/ Meyer 1991) 97 Definitionen des Begriffs Didaktik Es gibt Definitionen in sehr engem Sinne, z.B. Didaktik als Wissenschaft vom Unterricht (Schulz 1968) aber auch sehr weit gefasste z.B. Didaktik ist die Wissenschaft und Lehre vom Lernen und Lehren überhaupt. Sie befasst sich mit dem Lernen in allen Formen und dem Lehren aller Art auf allen Stufen ohne Besonderung auf den Lehrinhalt (Dolch 1965) Für das Handeln in sozialpädagogischen und therapeutischen Berufen macht nur ein sehr weiter Begriff von Didaktik Sinn! Didaktik = Theorie und Praxis des Lehrens und Lernens (Jank/ Meyer 1991) Wobei für die sozialpädagogischen und therapeutischen Handlungsfelder die Begriffe Lehren und Lernen in die spezifischen Handlungsformen transformiert werden müssen! 98 Martin 1989: Didaktik in sozialpädagogischen (und auch therapeutischen) Einrichtungen ist nicht als "Bildungslehre" zu verstehen, "sondern als umfassende und kritische Betrachtungsweise der Arbeitsfelder, in denen beabsichtigt sind". Didaktik für Sozialpädagogen und Therapeuten ist also nicht festgelegt auf bestimmten Lernort und bestimmte Lernform: Buchka 1992: "Eine sozialpädagogische Didaktik ..... muß Analyseund Planungshilfen für die Auswahl und Umsetzung von Zielen, Inhalten, Vermittlungshilfen und Interaktionsprozessen geben können, bezogen auf die jeweilige pädagogisch-didaktische Situation und die jeweiligen Adressaten des pädagogisch-didaktischen Handelns". Trotzdem muss angemerkt werden, dass die Terminologie der Didaktik weitgehend aus dem schulischen Bereich stammt. Wenn sie auf den außerschulischen Bereich übertragen wird, muss kritisch geprüft werden, ob sie auch passend ist. Didaktik im weiten Sinne einer Theorie des Lernen und Lehrens überhaupt ist im sozialpädagogischen und therapeutischen Bereich dann passend, 99 wenn Verhaltensänderung angestrebt ist und diese Verhaltensänderung als Lerngeschehen aufgefasst wird. Didaktik - Methodik Vulgärdefinition: = Beschäftigung mit Zielen und Inhalten ("was" und "wozu" = Überlegung hinsichtlich der Vermittlung ("wie") Unterscheidung ist nicht falsch, aber auch nicht ganz korrekt! Didaktik im weiten Sinne Wissenschaft vom Lehren und Lernen in allen Formen Didaktik im engeren Sinne Wissenschaft von den Zielen und Inhalten des Unterrichts. Sie befasst sich mit der Frage "Wozu" und "Wofür?" und klärt die Frage nach dem "Was?". (Buchka 1992) Methodik ist die Wissenschaft von den angemessenen Unterrichtsformen und Vermittlungsverfahren und effektiven Medien (Lehr- und Lernmittel). Sie befasst sich mit den Fragen "Wie?" und "Womit?". Die Methodik stellt auch Instrumente bereit, um zu prüfen, ob gelernt wurde. 100 Bildungstheoretische Didaktik Im Zentrum der Bildungstheoretischen Didaktik steht der Begriff Bildung. Ausgangspunkt für Klafki: umfassende Untersuchung traditioneller Bildungsbegriffe Einteilung der "überkommenen" Bildungstheorien in zwei große Bereiche materiale Bildungstheorien "'Materiale Bildungstheorien' gehen von den Inhalten bzw. der jeweils in Frage stehenden 'Sache' aus; sie fragen, welche Inhalte aus der vielfältigen Wirklichkeit so wertvoll oder wichtig sind, daß Schüler sie lernen bzw. erfahren sollen." formale Bildungstheorien "'Formale Bildungstheorien' gehen von den zu erziehenden Schülern und ihren (vermuteten) subjektiven und/ oder objektiven Bedürfnissen aus; sie fragen, welches Verhalten und welche Handlungsformen für sie gegenwärtig und/ oder zukünftig wichtig sein könnten" (Jank/ Meyer 1991) Im Zentrum steht das Kulturgut Ausbildung der Kräfte der Schüler und seine bildende Wirkung 101 (Kron 1994) 102 Klafkis Studie liegt die "Metapher der Begegnung" zugrunde. Differenzierung der Bildungstheorien, jenachdem, welcher Seite der Begegnung sie größere Bedeutung für den Bildungsvorgang zusprechen: "Die materialen Bildungstheorien sind vorwiegend an der Objektseite, die formalen vorwiegend an der Subjektseite des Bildungsgeschehens orientiert" (Peterßen 1992) Klafki: Weder materiale noch formale Bildungstheorien genügen dem Anspruch, "den Wesenskern des Bildungsphänomens und des Bildungvorgangs theoretisch in den Griff zu bekommen". Er sieht jedoch in jedem der Ansätze ein "Wahrheitsmoment" 103 Kategoriale Bildung als Versuch, "den Einseitigkeiten vorwiegend objektbezogener (materialer) und vorwiegend subjektbezogener (formaler) Didaktiken durch dialektische Verschränkung beider Ansätze auf didaktischinhaltlicher Ebene zu entgehen" (Jank/ Meyer 1991) Bildung ist nach diesem Verständnis "Erschlossensein einer dinglichen und geistigen Wirklichkeit für einen Menschen - das ist der objektive oder materiale Aspekt; Erschlossensein für diese seine aber das heißt zugleich: dieses Menschen Wirklichkeit - das formale Aspekt ....." (Klafki 1973) ist der subjektive oder 104 "Diese doppelseitige Erschließung geschieht als Sichtbarwerden von allgemeinen, kategorial erhellenden Inhalten auf der objektiven Seite und als Aufgehen allgemeiner Einsichten, Erlebnisse, Erfahrungen auf der Seite des Subjekts." (Klafki 1973) "Bildung ist kategoriale Bildung in dem Doppelsinn, daß sich dem Menschen eine Wirklichkeit 'kategorial' erschlossen hat und daß eben damit er selbst - dank der selbstvollzogenen 'kategorialen' Einsichten, Erfahrungen, Erlebnisse - für diese Wirklichkeit erschlossen worden ist" (Klafki 1973) Besondere Bedeutung erhalten in diesem Kontext die die vermittelt werden sollen und mit denen der gebildete, also doppelseitig erschlossene Mensch erreicht werden soll. 105 ? Relevanz des Bildungsbegriffs für eine außerschulische pädagogische und auch therapeutische Praxis? Bildung ist ein sehr schillernder Begriff, er muss definiert, mit Leben erfüllt werden. Er ist kein objektiv bestimmbarer Begriff, sondern er hängt von vielerlei Faktoren ab. Pädagogische Praxis ist immer auf bestimmte ausgerichtet, diese Ziele müssen vorher (meist im außerpädagogischen Raum) bestimmt werden. Sie sind im weitesten Sinne Bildungsziele (im Klafkischen Sinne). z.B.: Ziel eines Sozialarbeiters im Jugendhaus, die deutschen Jugendlichen zu tolerantem Verhalten zu bewegen. Ziel einer Gesundheitspädagogin, ältere Menschen zu gesunder Ernährung zu bewegen. Ziel einer Logopädin, ein sprachentwicklungsverzögertes Kind auf den altersgemäßen Stand zu fördern. 106 Bei Maßnahmen zur Erreichung dieser Ziele stellt sich immer die Frage, welche Inhalte sollen angeboten werden, um das angestrebte Ziel zu erreichen. Nur solche Inhalte sind geeignet, mit denen die Ziele tatsächlich erreicht werden können. 107 Bildung im Klafkischen Sinne: Allgemeine Einsichten = Elementaria Inhalt mit erhellender Wirkung "Schlüsselkat egorie" ist, was am besonderen Fall bzw. Beispiel ein dahinterliegendes allgemeines Prinzip erfahrbar macht. Elementar ist jenes Besondere, das - über sich selbst hinausweisend - ein Allgemeines aufdeckt" (Jank/ Meyer 1991) 108 Formen des Elementaren nach Klafki: Fundamentales - Exemplarisches - Typisches - Klassisches - Repräsentatives - Einfache Zweckform - Einfache ästhetische Form - Nur als Erlebnis existent und erfahrbar Allgemeines wird am Besonderen erfahren Allgemeines wird am Besonderen erfahrbar Allgemeines wird als Wert erfahren Allgemeines wird als Vergegenwärtigung erfahrbar Allgemeines (Form) und Besonderes (Zweck) fallen zusammen Allgemeines und Besonderes fallen zusammen - - - - - - - z.B. in einer Grenzsituation sich selbst erfahren an einem fallenden Stein das Fallgesetz im Ulmer Münster (beim Betrachten usw.) der gotische Baustil an der Geschichte vom barmherzigen Samariter die Nächstenliebe An der Stadtmauer wird Vergangenheit lebendig durch Lesen das Lesen lernen (Lesefertigkeit) am Bild der "Goldene Schnitt" Bildung wird über diese Elementaria begründet! 109 Überprüft wird, ob der angebotene Inhalt für Bildungsvorgänge geeignet ist oder nicht in der Kern jeder Vorbereitung eines organisierten Lernvorgangs (z.B. Unterricht) Entwurf einer oder mehrerer Möglichkeiten zu fruchtbarer Begegnung mit bestimmten Bildungsinhalten .....soll Aufschluss darüber geben, "ob der vorgesehene Unterrichtsinhalt geeignet ist, den SchülerInnen im Sinn der kategorialen Bildung Inhalte der Wirklichkeit zu erschließen und umgekehrt die SchülerInnen für eben diese Inhalte empfänglich zu machen" (Jank/ Meyer 1991). Untersuchung der Bildungs inhalte auf gehalt hin ihren Bildungs 110 Inhalte werden zu Bildungsinhalten durch ihren Bildungsgehalt Aufgabe der Didaktischen Analyse: .....die Bildungsgehalte aufzuspüren und zu heben, die den AdressatInnen helfen sollen, in sich und zugleich in seiner Beziehung zur Welt eine gewisse Ordnung herzustellen (Klafki 1973) Vorgehen: Frage nach Gegenwartsbedeutung Zukunftsbedeutung Sachstruktur Exemplarischer Bedeutung Zugänglichkeit 111 Zweifache Relativität der Bildungsinhalte Der Bildungsgehalt eines Bildungsinhaltes kann nicht ein für alle mal bestimmt werden, sondern ist abhängig von der jeweiligen AdressatIn und von der jeweiligen spezifisch historischen Situation Bildungsgehalt muss so beschaffen sein, dass die AdressatIn in der Lage ist, die Relation Besonderes - Allgemeines zu durchschauen. Von seiner persönlichen Situation (psychisch, physisch, sozial, mental) hängt es ab, ob der Bildungsinhalt zur Schlüsselkategorie seines zukünftigen Lebens wird. Nur in der konkreten historischen Situation kann entschieden werden, welche Schlüsselkategorien ein Mensch besitzen muss, um die Wirklichkeit bewältigen zu können 112 Lerntheoretische Didaktik (Hauptvertreter: Paul Heimann 1962, Gunter Otto, Wolfgang Schulz) Ausgangspunkt: Entschiedene Kritik an der bildungstheoretischen Didaktik und insbesondere am Bildungsbegriff Abgehobenheit des Bildungsbegriffes von der pädagogischen Praxis; Überfrachtetheit des Bildungsbegriffes mit Werten und Ideologien; Einschränkung des didaktischen Denkens auf einen Teilbereich Lerntheoretische Didaktik ersetzt Bildungsbegriff durch den Lernbegriff schlichter, neutraler, umfassender 113 Lerntheoretische Didaktik versucht unterrichtliches bzw. pädagogisches Geschehen in seiner Gesamtheit zu erfassen. Aufgrund der Kompliziertheit, Vielschichtigkeit, Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit kaum mögliches Unterfangen Deshalb Konzentration auf elementare Strukturen, die konstitutiven Elemente des Unterrichts Heimann nimmt an, dass es Strukturen gibt, die für jedes unterrichtliche Geschehen gleich sind und sich in der jeweils aktuellen Situation konkret ausgestalten. 114 Sechs grundlegende Strukturen eines jeden Unterrichts: - Intensionen - Inhalte - Methoden - Medien - Anthropologisc he Voraussetzung en - Sozialkulturelle Voraussetzung en Entscheidung sfelder PädagogIn muss sich hinsichtlich der Ausgestaltung entscheiden Bedingungsfel der bedingen pädagogisches Handeln 115 Damit in Zusammenhang stehende Fragen: 1. In welcher Absicht tue ich etwas? 2. Was bringe ich in den Horizont der Adressaten? 3. Wie tue ich das? 4. Mit welchen Mitteln verwirkliche ich das? 5. An wen vermittle ich das? 6. In welcher Situation vermittle ich das? Alle Faktoren (Entscheidungs- und Bedingungsfelder stehen in zueinander! heißt aber nicht, dass zwingende Interdependenzverhältnisse bestehen abhängig von konkreter pädagogischer Situation 116 Heimann: konstituieren Den Gegenstand als Lerngegenstand Mögliche Intensionen Ziele regulieren die Zweckmäßigkeit unterrichtsmethodisc hischer Entscheidungen Didaktische Entscheidungen sind nicht nur von individuellen und sozialen Voraussetzungen abhängig, sondern sie wirken auch auf diese zurück! 117 Differenzierung der Elementarstrukturen des Lehr-LernGeschehens 1. Intensionen Zwecksetzung und Sinngebung des Unterrichts 3 Möglichkeitsklassen „kognitivaktive“ „affektivpathische“ „Daseinserfüllun g „Daseinserhell ung“ „pragmatischdynamische“ „Daseinsbewältig ung“ 118 Unterricht steht nicht unter einer einzigen Zielsetzung viele unterschiedliche Zielsetzungen spielen eine Rolle keine Aussage über die Wertigkeit der einzelnen Intensionen 2. Inhalte Drei konstante, strukturell vorgegebene Grundformen Wissenschaften Techniken Pragmata 119 Problem der Auswahl von Inhalten: Für die lerntheoretische Didaktik ist die Orientierung am Bildungsgehalt spekulativ und wird zurückgewiesen. Entscheidung über Inhalte kann nicht von der didaktischen Theorie getroffen werden, sondern sie fällt im Vorfeld. Hier bringen sich „Mächte, Ideologien und Faktizitäten des gesellschaftlichen Raumes ..... zur Geltung“ (Heimann 1962). 120 3. Methoden Methodisch notwendige Unterrichtsentscheidungen können nicht nur nach einem Gesichtspunkt getroffen werden, sondern müssen gleichzeitig auf 5 unterschiedlichen Ebenen erfolgen: bezeichnet die Phasenfolge des Unterrichtsprozesses soziale und räumliche Ordnung der am Unterricht beteiligten Personen einzelne Aktionen von Lehrern und Schülern der didaktischen Theorie der didaktischen Methodenlehre 121 Die methodisch notwendigen Unterrichtsentscheidungen hängen zwar voneinander ab, lassen sich aber keinesfalls auseinander deduzieren. Entscheidung auf einer Ebene schließt zwar manche Entscheidungen auf anderer Ebene aus, erzwingt aber keine bestimmten Maßnahmen. 4. Medien Repräsentieren die Unterrichtsinhalte. Heimann nennt: „Rede, Buch, Bild, Formel, Diagramm, Tonband, Film, Bildschirm, Naturgegenstände, Modelle, Apparaturen und Maschinen“ (1962) Medien können nach dem Grad ihrer Erfahrungsnähe bzw. –ferne in einem Kegel dargestellt werden: „verbale Symbole“ „Unmittelb are Erfahrung“ 122 Trennung Medienwahl – methodische Entscheidungen Wegen der Eigengesetzlichkeit von Medien Können im Unterricht solche Dominanz erlangen, dass Inhalte und Methoden dem gewählten Medium angepasst werden müssen, wenn der Unterricht noch effektiv sein soll! 123 5/6. Bedingungsfelder Anthropologisch – psychologischeSozial – kulturelle Voraussetzungen normenbildend bedingungssetzend formschaffend lernpsychologische Fragen (Lernkapazität der Schüler); entwicklungspsychologische Momente (Altersstufenmentalität) Individuallage der Adressaten Klassensituation, Klassenklima, Eingebundenheit der Lernsituation in soziale, materielle, ökologische Situation/ Kontexte „formal konstant bleibende“ Elementarstrukturen des Lehr-Lerngeschehens, deren Aktualisierung von geschichtlich-situativ wirksamen Entscheidungen und Bedingungen abhängig ist. 124 2 Ebenen der Reflexion: „Die beschreibt, über welche Strukturmomente von Unterricht prinzipiell und unabhängig von der Spezifik konkreter Einzelstunden Entscheidungen gefällt werden müssen. Die vier Strukturmomente der intentionalen, thematischen, methodischen und medienwählenden Entscheidungen benennen also Felder, in denen LehrerInnen Entscheidungen fällen müssen, ohne dass mit diesen Feldern schon die Entscheidungen vorgegeben sind. Deshalb nannten Heimann und Schulz die Strukturanalyse ‚wertfrei’. Die beschreibt, welche Faktoren auf diese Entscheidungen Einfluß haben können bzw. gehabt haben. Weil es bei der Faktorenanalyse um die Beurteilung und Gewichtung der den Unterricht bedingenden Faktoren geht, kann sie nicht mehr wertfrei sein. Sie ist vielmehr hermeneutisch vermittelt und ideologiekritisch.“ (Jank/ Meyer 1991) 125 Aufgaben der Faktorenanalyse: „’Normenkritik’ soll die normativen Einflüsse auf den Unterricht aufdecken. Ihr Ziel ist ‚die permanente Ideologie-Kritik ..... von unterrichtsbezogenen Entscheidungen. Die ‚Faktorenbeurteilung’ dient dazu, mit Hilfe der Humanwissenschaften ermittelte Fakten daraufhin zu überprüfen, ob und gegebenenfalls in welcher Weise sie Einfluß auf den Unterricht haben (können). ‚Formenanalyse’ dient der Aufdeckung gegenwärtig und in der Vergangenheit bevorzugter Unterrichtsmethoden und der Überprüfung ihres Erfolgs bzw. ihrer Wirkungen.“ (Jank/ Meyer 1991) 126 Die besondere Bedeutung der Gruppe für erzieherische Vorgänge "Wo sich die Lebens- und Erlebens - Linien mehrerer Wesen mehr oder minder fest und dauerhaft verknoten, haben wir eine Gruppe vor uns" (Hofstätter 1957) Sader (1991): Begriff der Gruppe ist "ein Konstruktbegriff, den wir an die Phänomene um uns herum herantragen, um etwas Ordnung in unsere Gedanken und Wahrnehmungen zu bekommen" Es gibt nicht die Gruppe an sich. So ist es auch sehr schwierig den Begriff zu definieren bzw. von verwandten Begriffen abzugrenzen: Menge, Masse etc.. 127 Imker (1984): Der Begriff der Gruppe ist also Definitions sache! "Unter 'Gruppe' verstehen wir jede soziale Aggregation von zwei oder mehr Personen, die miteinander in unmittelbarer oder mittelbarer Interaktion und Kommunikation stehen. Intensität, Qualität und Dauer von Interaktion und Kommunikation werden durch eine Aufgabe oder ein Ziel bestimmt, die (das) die zu einer Gruppe gehörenden Personen sich stellen oder die (das) ihnen gestellt wird." 127 128 Sader (1991): Gruppendefinitionen werden immer aus folgenden Bestimmungsstücken zusammengesetzt: Mitglieder einer Gruppe " erleben sich als zusammengehörig definieren sich explizit als zusammengehörig verfolgen gemeinsame Ziele teilen Normen und Verhaltensvorschriften für einen bestimmten Verhaltensbereich entwickeln Ansätze von Aufgabenteilung und Rollendifferenzierung haben mehr Interaktionen untereinander als nach außen identifizieren sich mit einer gemeinsamen Bezugsperson oder einem gemeinsamen Sachverhalt oder einer Aufgabe sind räumlich u./o. zeitlich von anderen Individuen der weiteren Umgebung abgehoben" 128 129 Gesamtheit der Gruppenbeziehungen, -entwicklungen und -veränderungen, die im Gruppenleben geschehen (Murphy) "Die Antriebskräfte des Gruppenprozesses werden durch die Art und Qualität der Beziehungen zwischen den Mitgliedern bestimmt. Um dies Geflecht der Interaktion zu verstehen und um den Einzelnen darin behilflich zu sein - müssen wir diesen sich ständig wandelnden Prozeß erkennen" (Konopka). 129 130 Gruppen unterscheiden sich nach verschiedenen Merkmalen Dies hat Auswirkungen auf das, was in den Gruppen vorgeht (Möglichkeiten der Interaktion und Kommunikation) und das, was mit den Gruppen möglich ist (Möglichkeiten der Arbeit mit den Gruppen) Unterscheidungen in der formalen äußeren Struktur in der Binnenstruktur (Gruppengröße, zeitliche Erstreckung, PrimärSekundärgruppe, formale Organisation) (Rollen/ Status, Gruppenbindung, Gruppenkonflikte) 130 131 Die Einteilungen von Gruppen ihrer Größe nach sind relativ willkürlich und von AutorIn zu AutorIn unterschiedlich. als die kleinstmögliche Form einer Gruppe ("face to face-Gruppe") wohl die am ausführlichsten untersuchte Gruppenform gleichzeitig Streit darüber, ob Dyade bereits eine Gruppe ist Franck (1976): Zweiergruppe wird als "die elementare Einheit menschlicher Beziehungen, ..... als Grundbaustein, auf dem alle Sozialformen fußen", gesehen. 131 132 Paar ist die intensivste Form zwischenmenschlicher Beziehung Höchstmaß an Privatheit und Intimität Paarbeziehung ist aber auch besonders bedroht wenn ein Partner geht, ist Beziehung beendet. Dyade als Gruppe? Es erscheint sinnvoll, die Dyade nicht als Gruppe zu bezeichnen, da diese "Form der Gruppenbildung" immer eine ganz besondere Art darstellt. Dasselbe sollte für andere Sonderformen von Gruppen gelten. Auch eine Familie ist eine so besondere Form von Gruppe mit so eigenständigen Merkmalen, dass sie nur unter der Bezeichnung Familie abgehandelt werden kann. 132 133 (etwa 3-6 Personen) In der Dreiergruppe tun sich exemplarisch Strukturen größerer Gruppe auf: Verlust der totalen Konfrontation mit einem Partner; Möglichkeit des Ausweichens auf einen Dritten; Möglichkeit der Konfrontation in Form von Koalitionen. Kleine Gruppen mit ungerader Mitgliederzahl seien weniger konfliktträchtig, da die Möglichkeit der Entscheidung durch Mehrheitsbeschlüsse sehr wahrscheinlich sei (vergl. Franck 1976). In diesem Zusammenhang ist jedoch zu beachten, dass hier ein eher formales Demokratieverständnis auf Prozesse in Gruppen übertragen wird. Es erscheint sehr unwahrscheinlich, dass Gruppenkonflikte über Abstimmungen gelöst werden können. In Kleinstgruppen ist die Möglichkeit dauerhafter sozialer Kontrolle und des Bewußtseins von Einheit sehr groß (Lattke 1962). 133 134 (3 - etwa 30 Personen) Bei einer Gruppengröße von etwa 20 Personen ist das Kriterium der kommunikativen Wechselbeziehung nicht mehr gegeben (Belardi 1980) (zumeist über 25 Personen) Bei dieser Mitgliederstärke sind die allgemein akzeptierten Definitionskriterien für Gruppen nur noch teilweise erfüllt Menge oder Masse (Belardi 1980) "Gemeinschaftshaltung" von geringer Intensität kennzeichnend eher "perönliche Fremdheit und Gleichgültigkeit" IntegrationsProzess schwieriger und verwickelter als in kleinen Gruppen Tendenz zu starker Differenzierung (Aufgaben an Untergruppen) (Lattke 1962) 134 135 Sader (1991): Unterscheidung hinsichtlich "ad-hoc-Gruppen über regelmäßige Arbeitsgruppen (einmal wöchentlich zwei Stunden) und Dauerarbeitsgruppen (werktäglich etwa 8 Stunden) bis hin zu Gruppen ....., die ..... auf Monate hinaus 24 Stunden täglich gemeinsam verbringen". In Praxisanleitungen zur Sozialen Arbeit mit Gruppen wird hinsichtlich der zeitlichen Erstreckung häufig als Idealform die Gruppe bezeichnet, die sich regelmäßig etwa einmal in der Woche für ca. 2 Stunden über einen längeren Zeitraum hinweg trifft. Die anderen zeitlichen Erstreckungsmöglichkeiten werden damit in ihrer Bedeutsamkeit für die Soziale Arbeit gleichzeitig abgewertet. Dieses Denken begeht aber den Fehler, dass ein therapeutisches Setting kritiklos auf die Praxis aller psychosozialer Arbeit übertragen wird. Was in psychotherapeutischen Kontexten sich als günstig erwiesen hat, muß nicht unbedingt z.B. auch für die Soziale Arbeit mit Gruppen gelten. 135 136 z.B. Herkunftsfamilie (aber auch Wohngemeinschaft, Nachbarschaftsgruppe) Gruppenzugehörigkeit qua Geburt ("Schicksal") bleibt in der Regel dauerhaft bestehen; sehr stabile Struktur Primärgruppen sind die "Gruppen, in denen der Mensch seine sozialen Beziehungen entfalten und bilden kann ..... Sie sind für das Werden der Persönlichkeit entscheidend" (Franck 1976) große psychologische Bedeutsamkeit der Primärgruppen: Psychosoziale Befindlichkeit hat einen Ursprung in den Primärgruppenerlebnissen. 136 137 Zugehörigkeit während bestimmter Lebensabschnitte: Freundeskreis, Schulklasse, Kollegenkreis, Vereinszugehörigkeit etc. Gruppen, "die durch Planung oder andere äußere Umstände willkürlich zustande gekommen sind". Sekundärgruppen auch deswegen, "weil wir sie immer nur vor der bereits vorhandenen Erfahrung in den Primärgruppen erleben und verstehen werden" trotzdem von großer Bedeutung für die Entwicklung neuer Motive (Franck 1976). Primärgruppe häufig mit Familie identifiziert Hervorhebung der Bedeutung der Familie für die Entwicklung des Menschen. Es wird hier eine quasi natürliche Bedeutung der Familie für das Werden des Menschen konstatiert. Allerdings wird nicht berücksichtigt, dass sowohl der Begriff der Primärgruppe als auch der der Familie ein Konstrukt ist Definitionsprozessen unterworfen . Es ist also durchaus wichtig zu hinterfragen, ob Familie, so wie wir sie verstehen, tatsächlich die entwicklungsfördernste Gruppenform ist. 137 138 Einzelner wird mit zunehmendem Alter Mitglied in mehr formellen Gruppen Formelle Organisation "kennzeichnet die Ordnung einer ..... Gruppe durch Macht und Entscheidungsbefugnis" vorgegeben durch Gesamtorganisation der Gruppe (z.B. Betrieb); beruht zumeist auf formalen Qualifikationsnachweisen (Franck 1976) 138 139 laufen meist neben den formellen Gruppen bei formellen Gruppen steht die Aufgabe im Vordergrund, für die informelle Gruppe ist die Pflege der sozialemotionalen Beziehungen charakteristisch (Franck 1976). FORMELL und INFORMELL steht eigentlich nicht für die Bezeichnung einer Art von Gruppe, sondern für Dimensionen jeder Gruppe! (Belardi 1980) Informelle Organisation einer Gruppe kann sich von der formellen unterscheiden. Sie können in bestimmten Konfliktsituationen in Widerspruch geraten. 139 140 140 141 Unterscheidungen in der Binnenstruktur von Gruppen Strukturierungsversuche neuer Gruppen führen zur Ausprägung verschiedener Rollen ("z.B. des offiziellen oder inoffiziellen Leiters, des Anhängers, des Gegenleiters, des Spaßmachers, des stillen Zuhörers, des Außenseiters u.a.") (Belardi ) Rollen sind "Aktionsmuster, die die Position des Individuums und seinen entsprechenden Status - in einer Gruppe ..... angeben" (Lindgren) untrennbar mit dem Begriff der Rolle verbunden 141 142 "Status heißt, daß in jeder Gruppe ein Trend zur Hierarchisierung vorhanden ist". Frage nach der Macht Status ist der Rangplatz, den die anderen in der Gruppe zuteilen. häufig in unterschiedlichen Gruppen unterschiedlicher Rangplatz Status kann von eigener Selbsteinschätzung abweichen. (Franck) Die beiden wohl am häufigsten beschriebenen Rollen, die mit eindeutigem Status versehen sind, sind die Führerrolle und die Außenseiterrolle. 142 143 Verschiedene Möglichkeiten der Einteilung von Rollen und damit verbundenem Status Beispiel: Schindler, Raoul: Emotionaler Mittelpunkt der Gruppe, Gruppenliebling; größte Zustimmung der anderen Gruppenmitglieder; Beachtung der Gesprächsbeiträge und Argumente; andere Mitglieder suchen positiven Kontakt. 143 144 Gegenposition zu Alpha, Gruppenopponent kritisch gegen Alpha; häufig auch Rolle des "schwarzen Schafes" oder "Sündenbocks" "die Mittragenden" größter Teil der Gruppe; Übernahme und Ausführung der von Alpha ausgehenden Impulse; Druck auf die Omegaposition 144 145 Fachmann, der situativ die notwendigen Informationen in die Gruppe einbringen kann gewisse emotionale Distanz; gute Ausgangslage für Gruppenleiter oder Gruppentherapeut. 145 146 Einteilungen tragen zur Übersicht und Verständigung bei, sind aber nicht unproblematisch. Solche Einteilungen werden als Etikettierungen an Personen festgemacht. Es handelt sich dabei aber in der Regel um Rollenzuschreibungen und nicht um Eigenschaften der betreffenden Person. Diese kann sich in anderen Situationen ganz anders verhalten. Zuordnungen werden meist vom Leiter oder Beobachter getroffen. Sie sollten durch Rückmeldungsprozesse der Gruppe relativiert werden. Solche Zuordnungen sollten nicht das Ende, sondern den Anfang eines Lernprozesses markieren! (Sader) 146 147 147 148 das für Gruppenexistenz notwendige Gefühl der Zusammengehörigkeit einer Gruppe (Konopka) wird in der sozialpsychologischen Literatur auch unter den Stichworten Attraktion (in dyadischen Beziehungen) oder Kohärenz (bei Gruppen als Einheit) abgehandelt. für Kohärenz teils synonym, teils unterscheidend auch Begriffe wie Kohäsion, Zusammenhalt, Syntalität, Solidarität oder Attraktivität. (Sader) 148 149 Wichtig für den Zusammenhalt der Gruppe ist die (Mucchielli) Persönliche Bindung resultiert aus mehreren in der Gruppe wirksamen Faktoren: Grad der gegenseitigen Bekanntschaft; Vertrauen zu den übrigen Gruppenmitgliedern; Persönliche Implikation in die Ziele der Gruppe; Anpassung an die Gruppennormen. (Mucchielli) 149 150 "Als sozialer Konflikt läßt sich eine soziale Beziehung verstehen, in der zwei oder mehr Parteien, die voneinander abhängig sind, mit Nachdruck versuchen, gegensätzliche Handlungspläne zu verwirklichen und sich dabei ihrer Gegnerschaft bewußt sind." (Rosenstiel) Fünf grundlegende Merkmale eines sozialen Konflikts: 1. "Konflikt erfordert mindestens zwei Parteien oder zwei analytisch unterscheidbare Einheiten (.....) 2. Konflikt entsteht aufgrund von Positions- und Ressourcenknappheit. 3. Konfliktverhalten ist darauf ausgerichtet, die andere Partei zu zerstören, zu verletzen, zu hindern oder in anderer Weise zu kontrollieren; und eine Konfliktbeziehung liegt vor, wenn die Parteien nur auf Kosten der anderen relative Gewinne bzw. Vorteile gewinnen können. 4. Konflikt erfordert gegensätzliche Aktionen und Gegenreaktionen der Parteien. 5. Konfliktbeziehungen beinhalten stets Versuche, knappe Ressourcen und Positionen zu erlangen bzw. Verhalten in bestimmte Richtungen zu lenken; d.h. die Ausübung von Macht." (Grunwald) 150 151 Grobklassifikation interpersoneller Konfliktkonstellationen und deren Kernprobleme Zwischen Zwischen Zw. Zw. Zwischen Zwischen formellen Individuel formellen Individuel formellen informelle Positionen len Positionen ler Gruppen n Gruppen Eigenscha und Eigenart ften Gruppe und Gruppe Formell bedingte Rollenkon kurrenzpr obleme Informell Rollenakz Persönlich Formell Informell bedingte eptierungs keitsakzep bedingte bedingte Personenk probleme tierungspr Gruppenri Cliquenriv onkurrenz obleme valitätspro alitätsprob probleme bleme leme 151 152 Entstehungszusammenhänge bei Konflikten - soziometrische - Wahrnehmung Struktur - Eindrucksbildung - Machtstruktur - Kommunkationsst ruktur - Rollenstruktur 152 153 Art, in der sich Eindrücke, Wahrnehmung sozialer Meinungen und Gefühle über Prozesse; Wahrnehmung der andere Personen bilden Beziehungen einer Person zu einer anderen einschließlich Wahrnehmungen von Gruppen und Institutionen 153 154 Vereinheitlichungsprozesse (Generalisierungen) bei der Eindrucksbildung Allgemein: - zeitliche Ausdehnung - Kategorisierung - Analoge Schlußfolgerung Auf den konkreten Einzelfall bezogen: - implizite Persönlichkeitstheorien - allgemeine Bewertungsbereitschaften - Neigung, von sich auf andere zu schließen - Tendenz, von bekannter auf fremde Person zu schließen - "Halo"-Effekt - etc. 154 155 Literatur zur Lehrveranstaltung: Brezinka, Wolfgang (1995): Erziehungsziele, Erziehungsmittel, Erziehungserfolg, 3. Aufl., München Caesar, Beatrice (1972): Autorität in der Familie, Hamburg 1972 Dolch, Josef (1965): Grundbegriffe der pädagogischen Fachsprache, 6. Auflage, München Domke, Horst (1975): Pädagogik. Eine Einführung 2, Erziehungsmethoden, Donauwörth Flitner, Andreas (1972): Spielen-Lernen. Praxis und Deutung des Kinderspiels, München Gehlen, Arnold (1961): Anthropologische Forschung, Reinbek bei Hamburg Geißler, E. E.(1982), Erziehungsmittel, Bad Heilbrunn Gudjons, Herbert (1997): Pädagogisches Grundwissen, 5. Aufl., Bad Heilbrunn Heckhausen, Heinz (1973): Entwurf einer Psychologie des Spielens, In: Graumann, C.F./ Heckhausen, H.: Pädagogische Psychologie. Grundlagentexte 1, Entwicklung und Sozialisation, Frankfurt/ Main Hege, Marianne (1979): Engagierter Dialog, 2. Aufl., München - Basel Heimann, Paul (1962): Didaktik als Theorie und Lehre, In: Die Deutsche Schule 54, S. 407-425 Hobmair, Hermann, (Hrsg.) (1996): Pädagogik, 2. 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