Erziehung angesichts krimineller Politik

Werbung
Erziehung angesichts krimineller Politik
(1) Hermann Giesecke: Hitlers Pädagogen
Erkenntnisfrage: Welchen Anteil hat die Erziehung an der politischen Kriminalität des NS-Regimes
gehabt?
Gieseckes Thesen [Z. 1 – 382]:
1. Wenn man das damalige Erziehungs- und Bildungssystem dafür verantwortlich machte und kritisierte (autoritäres
Milieu der dt. Schule, politische und soziale Weltfremdheit etc.), würde man das Schreckliche damit nur
verniedlichen! Damit wären die Möglichkeiten von Erziehung weit überschätzt! Die Bildung und Erziehung sind nicht
für die politische Kriminalität verantwortlich.
2. Der Glaube, durch Erziehung könne man Antisemitismus, Kriegslüsternheit, politische Kriminalität verhindern,
mag denen helfen, die sie wichtig machen wollen, führt aber am Kern des Problems vorbei!
3. Nicht mit dem Begriff der Erziehung, wohl aber mit dem Begriff der Sozialisation kann man sich dem Problem
nähern: Die Verbrechen wurden nicht durch eine bestimmte Erziehung, wohl aber durch ein bestimmtes
Sozialisationsarrangement erst möglich: Das Morden setzte dafür ein passendes soziales Milieu voraus, in dem
Sozialisationsbedingungen herrschten, die denjenigen, der nicht mitmachen wollte, wenn nicht sofort physisch, so aber
doch mit dem Entzug seiner Identität bestrafte! Erst das politische Arrangement bestimmter Handlungssituationen
machte ein bestimmtes kriminelles Handeln nicht nur möglich, sondern stellte dieses auch noch positiv dar.
4. Die Menschen, die diese Verbrechen begangen haben, waren nicht nationalsoz. erzogen worden, ihre Erziehung lag
vor der Machtübernahme. Ebenso haben sich diejenigen, die zur Zeit des NS-Regimes erzogen worden sind, später
durchaus nach dem Krieg als demokratische Staatsbürger verhalten. Fazit: Dieselben SS-Männer, die sich an der
Ermordung der Juden beteiligt haben, hätten sich unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen mit anderen
moralischen Rückmeldungen ganz anders verhalten!
5. Nicht die Erziehung, sondern die Politik muss in den Mittelpunkt dieser Problemstellung gerückt werden: „Zu
lernen aus der NS-Zeit ist nicht, wie man die Erziehung verbessern können, um Ähnliches für die Zukunft zu
vermeiden; zu lernen ist vielmehr, dass politische Verhältnisse verhindert werden müssen, in denen nur noch Helden
moralische Prinzipien durchhalten können.“
6. Aus pädagogischer Sicht ist die Frage relevant: In welchem Maße stimmen Erziehung und Sozialisation normativ
überein? Deckt sich das, was die Erzieher, Eltern an normativen Leitmotiven übermitteln, mit dem, was das Kind
außerhalb dieser pädagogischen Einflüsse im gesellschaftlichen Leben erfährt?
7. Die Nationalsozialisten und die sie unterstützenden Pädagogen haben mit der Idee des Erziehungsstaates die Einheit
von Erziehung und Sozialisation wieder herstellen wollen, was ihnen aber nur scheinbar und äußerlich gelungen ist!
8. Erziehung wird erst dann „erfolgreich“, wenn die in ihr vermittelten Werte auch für das Leben des Erwachsenen
zumindest prinzipiell gültig bleiben, wenn sie also in den Lebenssituationen, in denen sich der erwachsene Mensch
bewähren muss, auch auf eine „soziale Resonanz“ treffen, wenn sie nachgefragt und akzeptiert werden, als gut und
richtig gelten, also in das Sozialisationsmilieu „passen“ und damit nicht in zu großen Widerspruch stehen! Genau das
ist der Grund, warum die humanistischen Bildungswerte in der Zeit der NS-Herrschaft keine Wirksamkeit mehr
entfalten konnten.
9. Gerade die NS-Zeit hat bewiesen, wie bedeutungslos Erziehung wird, wenn später diejenige soziale und kulturelle
Kultur nicht mehr vorhanden ist, für die sie gedacht war: Weder die Schule der preußischen Armee, noch das
humanistische Gymnasium, noch die katholische Konfessionsschule haben die Barbarei verhindern können.
10. „Erziehung allein also kann die Barbarei nicht verhindern, wenn nicht zugleich die Politik dafür sorgt, dass die
Alltagsverhältnisse die Menschen nicht zur Inhumanität zwingen oder diese ermutigen.“
11. Die pädagogischen Gedanken und Konzepte Kriecks, Baeumlers und Schirachs sind nur insoweit real wirksam
geworden, soweit sie in das politische Kalkül der NS-Ideologie passten oder von ihr benutzt werden konnten; von
einer eigenmächtigen nationalsozialistischen EW oder Pädagogik kann keine Rede sein.
12. Diese pädagogischen Gedanken (vgl. z.B. bzgl. der „Gemeinschaft“ etc.) sind systemunabhängig und ideologielos;
darum sind sie aber auch von jedem System, jeder Ideologie „verwertbar“!
Gieseckes Thesen [Z. 383 – 490]:
Pädagogik bedarf der Politik, um erfolgreich handeln zu können (Z. 399f.)
-
Institutionen müssen politisch im Hinblick auf Stabilität und Zwecksetzung gegeben und garantiert sein
(Z.388ff.)
Pädagogik muss wissen, wie das spätere Leben der Kinder aussieht und welche Aufgaben auf diese
zukommen (Z.395ff.)
Der politische Wille ist dem pädagogischen nicht vollständig aufzwingbar (Z.413f.)
-
Politik schafft Rahmenbedingung (Z.415)
Pädagogik ist relativ autonom (Z.418)
Politik kann durch Personalentscheidungen eingreifen
-
während der Nazi-Zeit wurden jegliche als politische Gegner geltende Lehrpersonen aus ihrem Amt entlassen
(jüdische Lehrer, Mitglieder kommunistischer oder sozialdemokratischer Parteien) (Z.426ff.)
politisch-ideologische Gesinnung gehöre zum pädagogischen Erfolgserlebnis (Z.434ff.)
Politische Einwirkungs- und Behinderungsmöglichkeiten reichen nicht aus, um eine spezifische nationalsozialistische Pädagogik zu rekonstruieren (Z.440ff.)
-
Befürworter und Gegner der Nazis hatten dieselbe Erziehung erfahren (Z.447ff.)
Art und Weise der Erziehung liefert keine Prognose für späteres Handeln (Z.450ff.)
Versuch, durch Erziehung Einfluss auf die Zukunft nehmen zu können oder diese gar zu verbessern, ist
illusorisch (Z.452ff.)
Pädagogische Möglichkeiten sind:
-
über Natur und Gesellschaft aufklären (Z.457)
sozial bedeutsame Tugenden und Verhaltensweisen fördern (Z.457ff.)
zur Identifikation mit positiven Vorbildern ermutigen (Z.459f.)
Was Erzogene später daraus machen, ist weder erziehbar noch vorhersehbar (Z.460ff.)
Öffentliche Erziehung war nicht spezifisch nationalsozialistisch, sondern das Arrangement des öffentlichen
Lebens (Z.469ff.)
-
kultische Selbstinszenierung der Machthaber (Z.472)
Fehlen jeglicher politischen Kontrolle und Gegenmacht (Z.472ff.)
Gleichschaltung der veröffentlichten Meinung (Z.474f.)
kulturelle Zensur auf allen Ebenen (Z.475)
allgemeines Klima von Drohung und Einschüchterung (Z.476f.)
auch zu Friedenszeiten wirkten diese Faktoren auf die Gesellschaft ein (Z.477ff.)
diese wurden dann vom Krieg bestärkt (Z.480ff.)
Fazit: Politik kann Ereignisse wie Auschwitz verhindern, Pädagogik kann diese Einsicht nur
verbreiten! (Z.487ff.)
(2) Wolfgang Keim: Erziehung unter der Nazi-Diktatur
1. These: Die gesamtgesellschaftliche Bedeutung des Erziehungswesens bestand und besteht
offensichtlich darin, dass sie sich von nicht aus den gegebenen gesellschaftlichen Zusammenhängen
herauslösen oder darüber hinweg setzen kann, gleichwohl kann sie aber nach der einen (inhumanen)
oder anderen (humaneren) Seite verstärkend wirken.
(Z.1-42): (Z.1-23): - „gesamtgesellschaftliche Bedeutung des Erziehungswesens“ (Z.2-4)
- nationalsozialistisches Verhalten und Unterordnung unter dem Führer
sind durch Erziehungs- und Sozialisationsprozesse entstanden. Diese
sind jedoch nicht „neu“ entstanden (s. Mann/Horkheimer/Adorno)
(Z.24-42): - s.o. gleichermaßen für z.B. Oppositionelle
- auffallend ähnliche Sozialisation
- Erziehung
- abhängig von geschichtlichen Umständen und Gesellschaft
- tendiert immer zu nur einer Seite, wirkt dort verstärkend
2. These: Die philosophischen und gesellschaftspolitischen Grundannahmen der damaligen EW
wiesen durchaus Affinitäten zur damaligen NS-Ideologie auf, eine andere Pädagogik hätte den
Faschismus aber auch nicht verhindern können, denn letztlich ist das Erziehungswesen nur ein Teil
der gesamtgesellschaftlichen Prozesse!
(Z. 43-66): - philosophische und gesellschaftspolitische „Grundannahmen und Konzepte“
(Z.47/48) der Erziehungswissenschaft waren der NS-Ideologie ähnlich
 Erziehung: -„generell“
- Selbstbestimmung
- Menschenrechte
- zur Demokratie
=> andere Pädagogik hätte Faschismus nicht verhindern können, da sie nur
ein Teil der Sozialisation ist
3. These: Das systemkonforme Verhalten der Pädagogik unter der NS-Diktatur, ihr späteres
Verschweigen und Verdrängen dieses Verhaltens legt auch heute die Frage an die heutige EW nahe,
ob und inwieweit sie auf reale Menschenrechtsverletzungen oder einen Rückfall in die Barbarei besser
vorbereitet ist.
(Z. 67-85): - „systemkonformes Verhalten der Disziplin“ (Z. 77/78)
 Vergleich zur heutigen Erziehungswissenschaft
- Möglichkeit zur Entwicklung von Reflexivität und Kritikfähigkeit
(=> Aufmerksamkeit gegenüber möglichen nationalsozialistischen
Strömungen) wird gehemmt durch: - Abhängigkeit Wissenschaft von
Wirtschaft
- Perspektivlosigkeit angehender
Akademiker
4. These: Für die heutige Pädagogik stellt sich die Aufgabe, am Ausgangspunkt unserer
Gesellschaftsform, nämlich zur Aufklärung und ihren Werten, anzuknüpfen und im Verbund mit
anderen Sozial- und Humanwissenschaften die Voraussetzungen und Bedingungen eines vernünftigen
und menschenwürdigen Zusammenlebens zu erforschen und damit den Rückfall in bzw. neue Formen
der Barbarei zu verhindern.
(Z. 86-101): - „Aufklärung“ (Z.90)
- Faschismus: Rasse und Instinkt statt Vernunft
-> Mündigkeit und Humanität reduziert
=> u.a. Pädagogik: Erziehung zu diesen Werten => Verhinderung Rückfall
Herunterladen