Bericht - Institut Mensch, Ethik und Wissenschaft

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8.4.14 Fried Koll
„Autonomie und Selbstbestimmung“ lautet das Jahresthema der Veranstaltungsreihe
Friedrichshainer Kolloquium , die 2014 erneut in Kooperation von IMEW und Fürst DonnersmarckStiftung stattfindet In der bewährten Art das Thema aus zwei Blickwinkeln zu betrachten, gab es zum
Auftakt am 8. April 2014 in der Villa Donnersmarck zwei Vorträge, einmal aus wissenschaftlicher und
aus praxisorientierter Perspektive.
Den ersten Vortrag zum Thema „Capability-Approach und Teilhabe“ hielt Prof. Dr. Dieter Röh von
der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg, Fachbereich Rehabilitation.
Prof. Röh stellte die Eingangsfrage, wie Subjekt-Handeln in sozialen Strukturen verstanden werden
könne. Dazu streifte er verschiedene Bedürfnistheorien (Nussbaum, Arlt, Weisser, Bernasconi,
Dwarkins…) und konzentrierte sich anschließend auf den Capability-Approach, in dem Begriffe wie
gutes Leben, Gerechtigkeit und Freiheit zentrale Rollen spielen (Amartya Sen, Martha Nussbaum). Es
handele sich um ein wertebasiertes Anspruchskonzept, mit dem soziale Teilhabe verstanden werden
könne. Wie kommen wir zu einem „guten Leben“ als Kompass für Gerechtigkeit? Die „Capabilities“
werden von Nussbaum definiert als „die Antwort auf die Frage, was eine Person zu tun oder zu sein
in der Lage ist“. Grundbefähigungen, die nicht durch äußere Bedingungen eingeschränkt werden“,
eine Kombination aus individuellen Fähigkeiten und der Möglichkeit, die die jeweilige Umwelt gibt.
Dieser Ansatz setzt kulturübergreifend zehn verschiedene menschliche Grundbefähigungen, „Central
Capabilities“, als gegeben voraus, z.B. Sozialität, körperliche Integrität – im guten Leben werden
diese Grundbefähigungen entfaltet. Prof. Röh: „Unterhalb dieser Ausstattung beginnt die Not“.
Nussbaums Konzept als Bedürfnistheorie besitzt dem Referenten nach jedoch auch eine große
theoretische Schwierigkeit, nämlich dass die Autorin die Grenzen von Gerechtigkeit festgelegt hat,
und zwar als Mindestvoraussetzung, diese Capabilities auch faktisch nutzen zu können. Was machen
wir jedoch, wenn bestimmte Gegebenheiten, wie z.B. die körperliche Gesundheit als „Fähigkeit“
eingeschränkt sind? Nach dem Capability-Approach wäre damit die „spezifisch menschliche Basis“
nicht erfüllt („Not a human life at all any more“.) Die Nutzung menschlicher Ressourcen ist bei
schwerer Beeinträchtigung nach Nussbaum nicht mehr gegeben. Außerdem müsse die kognitive
Fähigkeit zur Wahl gegeben sein.
Zum Ende seines Vortrages stellte Referent Prof. Dr. Dieter Röh die von ihm für die Sozialarbeit
entwickelte Handlungstheorie der „Unterstützung zur einer daseinsmächtigen Lebensführung“ vor –
als Synthese von Kritik an gesellschaftlichen Bedingungen und Unterstützung subjektiver
Möglichkeiten. In der Sozialarbeit gehe es um Kompetenzerwerb und Chancenverbesserung. Zum
Abschluss folgte eine kurze Aufzählung einiger Handlungsimperative, die sich aus seinem Ansatz
ergeben.
Diskussion: Es schloss sich eine spannende, kontroverse Diskussion an. Wieso komme die Frage auf,
wo das Humane aufhöre? Prof. Röh bewertete den Ansatz von Nussbaum als „theoretisch rational
sehr konsequent“. Es gehe darum, wie man Gerechtigkeit verstehen könne. Immerhin könnten von
diesem Konzept 99 Prozent der Bevölkerung profitieren. Der Erkenntnisgewinn sei also groß. Das
Menschenbild würde zwar auf Kosten einer bestimmten Bevölkerungsgruppe gebaut, dennoch könne
man es als „wissenschaftlich“ bezeichnen. Auch wenn eine bestimmte Personengruppe begrifflich
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nach diesem Konzept von Gerechtigkeit ausgeschlossen wäre, hätten diese Personen natürlich ein
Recht auf ein Leben in Würde. Dagegen forderte eine Zuhörerin, man müsse bei theoretischen
Konzepten solange forschen, bis alle Menschen darin aufgehoben seien. Sie stellte auch das Konzept
des „freien Willens“ in Frage.
Der Referent wurde gefragt, wie er den Ansatz von Nussbaum in die sozialarbeiterische Praxis
integrieren würde. Wie könne Individuen, die die „Capabilities“ nicht erfüllen – z.B. ein körperlich
schwerstbehinderter Mensch oder eine Person, die keine Entscheidungen für sich treffen kann – in
das Nussbaum-Konzept integrieren werden? Ein anderer Zuhörer bezeichnete das NussbaumKonzept mit seiner Liste der notwendigen Ressourcen als „totalitär und paternalistisch“. Wenn man
diese Theorie als Grundlage der Sozialarbeit nähme, würde man sich wieder in die 60er Jahre zurück
entwickeln. Aus Sicht des Referenten sei in der Sozialarbeit das Maß der Möglichkeiten für eine
tatsächliche gute Wahl bei weitem noch nicht erreicht. Da gäbe es gegenwärtig noch viele
Handlungsaufträge als professionelle Unterstützung für eine „bessere Wahl“ bzw. für eine bessere
Chancennut
zung
bei
den
Individuen.
Als nachfolgende Referentin sprach Prof. Dr. Ruth Großmaß von der Alice Salomon Hochschule in
Berlin zum Thema „Care-Ethik und Verantwortung“. Sie fokussierte in ihrem Vortrag auf die
grundlegende Schwierigkeit bei der Inklusionsdebatte, wie sich berechtigte Gleichstellungsansprüche
angemessen mit Fürsorge und Verantwortungsübernahme verbinden ließen, Beziehungen der
Gleichstellung einerseits, ungleiche Beziehungsverhältnisse andererseits. Wie verschränken sich
diese beiden unterschiedliche Beziehungsebenen von Egalität und Asymmetrie? Tragfähige Inklusion
kann nach Ansicht der Referentin nur gelingen, wenn man sich dem Widerspruch von
Gleichheitsanspruch versus Verschiedenheit konsequent stellt. Anerkennung und Inklusion
implizieren Begegnung mit dem Mitmensch als Gleicher bzw. Gleiche. Förderung und Unterstützung
bedeuten jedoch, dass eine zu kompensierende Ungleichheit besteht. Wie kann dennoch das
Konzept der Gleichheit in asymmetrischen Beziehungen verwirklicht werden?
Wozu braucht es eine Care-Ethik? „Caring“ definierte die Referentin als fürsorgende, unterstützende
Tätigkeiten, die durch die Asymmetrie von Gebenden und Nehmenden gekennzeichnet sind und
damit auch die Gefahr von Machtmissbrauch und Bevormundung beinhalten. An dieser Stelle setze
für die Referentin Care-Ethik als Reflexionsinstrument an. Wie kann Respekt und Anerkennung in die
Care-Beziehung eingebunden werden? Fürsorge und Verantwortung eignen sich als Kategorien für
die ethische Reflexion asymmetrischer Beziehungen, Beziehungen der Ungleichheit, ungleich an
Macht, Ressourcen und Fähigkeiten. Nach einem kurzen Schwenk auf die Geschichte der Care-Ethik,
führte die Referentin mehrere Basisannahmen verschiedener Care-Ethik-Konzepte zusammen und
bezog sich anschließend auf das Modell von Joan Tronto (1993), die mit kritischem Blick auf die CareTätigkeiten in der Gesellschaft schaut. Für Tronto sind helfende Beziehungen etwas Prozesshaftes
und immer eingebunden in einen gesellschaftlichen Kontext, in dem Ressourcen verteilt werden. In
jeder Situation findet sich die Ambivalenz von Gleichrangigkeit und Bedürftigkeit wieder. Sie
unterscheidet vier Phasen (1. Bedürfnisse wahrnehmen, 2. Abschätzen des Bedarfs und der
Ressourcen, 3. Konkrete Hilfehandlung, 4. Validierung und Abschluss der Hilfe) und zeigte auf, dass in
jeder Phase verschiedene Ansätze für Respekt und Gleichrangigkeit bestehen. So sei es z.B. sehr
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wichtig, eine Hilfehandlung auch als beendet zu definieren, um den Hilfenehmer abschließend
wieder „aus der Bedürftigkeit zu entlassen“.
Diskussion: Das Tronto-Modell rege laut Referentin vor allen Dingen zur Reflexion an, wie in
Helferbeziehungen – also in Beziehungen, in denen grundsätzlich Asymmetrien durch einseitige
Bedürftigkeiten bestehen – effektive Hebel gegen Machtmissbrauch und paternalistische
Abhängigkeiten angesetzt werden können. Auch in privaten Helferbeziehungen werde z.B. das
„Entlassen aus der Bedürftigkeit zu oft vergessen“. Der Idealfall wäre, moralische Gleichheit trotz
faktischer Ungleichheit herzustellen, so Prof. Röh. Ein Teilnehmer betonte, wie grundlegend es sei,
Differenzen anzuerkennen. Vielleicht gebe es ja keine symmetrischen Beziehungen? Meist relativiere
sich auf der Makroebene das Problem der Asymmetrie, da es nur wenige Menschen gäbe, die nur
empfangen oder nur geben würden. Meist sei der gebende Partner in anderen Beziehungskontexten
auch wieder nehmender Teil. Wir seien als Menschen auf Hilfe angewiesen, bei der Geburt, bei dem
Heranwachsen und beim Älterwerden, schloss ein Diskussionsteilnehmer. Gerade deswegen müsse
der Blick auf faktische Asymmetrien in Beziehungen gelenkt werden. Auch in privaten Beziehungen
stelle die faktische Asymmetrie eine große Belastung dar.
Für Prof. Großmaß gibt es Differenzen in Beziehungen, die besonders anfällig für Machmissbrauch,
Diskriminierung und Paternalisierungen sind – da bevorzuge sie das Modell von Tronto. Ein
Teilnehmer erwähnte Situationen, die man nur aushalten müsse, in denen kein „lösungsorientierter
Ansatz“ mehr helfe, weil es keine Lösungen mehr gebe. Doch auch solche Situationen müsse man
gestalten, so Prof. Großmaß, dabei sei das Tronto-Konzept hilfreich. Schließlich führte die Diskussion
zum Thema Inklusion und Schule. Welche Ressourcen müssen erfüllt sein (Hilfeabschätzung, Phase
2), damit Ausgliederung von Schülern nicht mehr nötig sei? Was braucht der Einzelne, um am
Unterricht teilzunehmen? In einigen Fällen seien sichtbare Hilfen wie Rampen nötig, in anderen
Fällen, z.B. bei so genannten geistig behinderten Kindern, seien es eventuell Assistenten. Als großes
Problem wurde die falsch adressierte Verantwortung an die Schüler bewertet. Wie könne man
Verantwortung tragen, wenn es zu viel sei? Müssten Kindern lernen, sich um Schwache kümmern zu
wollen? Das sei ein Missbrauch der Kategorie Verantwortung. Die Erwachsenen hätten
Verantwortung für den institutionellen Rahmen, z.B. für entsprechende Klassengrößen oder
bestimmte Quoten zu sorgen, nicht die Kinder. Es könne nicht sein, dass die schlauen Kinder für das
Klima in der Klasse verantwortlich seien.
Insgesamt war auch diese Veranstaltung wieder ein lebhaftes Kolloquium, das für viel anregende
Diskussionen sorgte.
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