Inhaltsverzeichnis - Universität des Saarlandes

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Universität des Saarlandes
Fachrichtung Psychologie
Lehrstuhls für Differentielle Psychologie und
psychologische Diagnostik
Hausarbeit zum Thema:
Das Kölner Opferhilfemodell (KOM)
Ergebnisse und Verfahrensvorschläge
Hausarbeit zum Seminar:
>Borderline-Persönlichkeitsstörungen<
(Wutke WS 2005-2006)
eingereicht von:
Miriam Kolling
und
Manuela Falk
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
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1. Die Restitution des Opfers als staatliche Aufgabe
4
1.1 Forschungsthema des KOM-Projekts
1.2 Tendenzen zur Ausgrenzung und Beschuldigung von Opfern –
psychotraumatische Abwehrmechanismen
1.3 Der Auftrag an die Sozial- und Gesundheitsverwaltung:
Helfen und weitere Schäden vermeiden
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2. Psychische Traumatisierung: die Wirklichkeit vieler Betroffener
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2.1 Versuch einer Prävalenz-Schätzung
2.2 Missstände in der Situation von Gewaltopfern
2.3 Das Trauma und seine Folgen
2.4 Weitere langfristige Auswirkungen
2.5 Traumadiagnostik - 5 Skalen zur Messung relevanter Faktoren -
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3. Das Verlaufsmodell psychischer Traumatisierung
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4. Forschung im Kölner Opferhilfemodell (KOM)
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4.1Der KOM-Fragebogen und Interviews
4.2 Ergebnisse der Kölner Forschung
4.2.1Die untersuchten Gewaltopfer/Stichprobe
4.2.2 Beschreibung objektiver Situationsfaktoren
4.2.3 Dissoziatives Erleben in der traumatischen Situation
4.2.4 Symptomverbreitung und –ausprägung
4.2.5 Einflussgrößen späterer Symptombildung und Beschwerden und deren
Vorhersage
4.3 Ein Analysemodell zur Integration relevanter Komponenten psychischer
Traumatisierung
4.3.1 Erläuterung der einzelnen Faktoren in dem Modell
4.3.2 Lebensgeschichte
4.3.3 Unmittelbare Vorgeschichte
4.3.4 Traumatische Situation
4.3.5 Belastungen
4.3.6 Schützende Faktoren
4.3.7 Langfristige Auswirkungen
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5. Die Strategie der Opferbetreuung im Kölner Opferhilfe Modell
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Schlusswort
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Literaturverzeichnis
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2
Einleitung
Opfer von Verbrechen und Gewalt befinden sich immer in einer Ausnahmesituation. Sie
benötigen Beistand und Hilfe, insbesondere durch ihr persönliches Umfeld. Polizei und
Opferhilfeorganisation haben die Aufgabe ergänzende Hilfe zu leisten. Laut Hans-Detlef
Nöllenburg, Kriminaldirektor und Vertreter der Geschäftsführung des Deutschen Forums für
Kriminalpräventention, ist Opferschutz eine gesellschaftliche Aufgabe, denn Opferschutz
muss von der Gesellschaft wahrgenommen werden. (www.kriminalpraevention.de/
pressearchiv/pressemitteilungen/PM20020321_DFK.pdf) Die Kriminalität erst gar nicht
entstehen zu lassen wird gesellschaftlich immer das vorrangige Ziel sein, aber eine absoluter
Schutz der Bürger vor Gewalttaten ist von staatlicher Seite leider nicht zu verwirklichen. Der
Staat trägt aber eine Führsorgepflicht gegenüber seinen Bürgern, Opfer von Gewalttaten Hilfe
zu Leisten. Diese wurde durch die Schaffung zahlreicher Vorschriften (z.B.
Opferanspruchssicherungsgesetzt, Opferschutzgesetz, Opferentschädigungsgesetz, etc.) auch
Rechnung getragen. Dennoch ist es wichtig, dass die bereits bestehende Angebot an
Hilfestellungen für Gewaltopfer weiter ausgebaut, überprüft und verbessert werden. Eine
Studie in Köln untersuchte den gesamten behördlichen Prozess, den ein Opfer zu durchlaufen
hat - vom ersten Kontakt, über Gerichtsverfahren bis hin zu Rentenanträgen. In der
vorliegenden Hausarbeit wird diese Studie, das Kölner Opferhilfe Modell (KOM), näher
beschrieben. Zunächst wird die staatliche Aufgabe, die Restitutionspflicht gegenüber dem
Opfer erläutert, bevor die Wirklichkeit vieler Betroffener, die psychische Traumatisierung,
dargestellt wird. Dem anschließen wird sich das Verlaufsmodell psychischer Traumatisierung,
die Ergebnisse und die Verfahrensvorschläge des Kölner Opferhilfe Modells. Die Problematik
der Opfer und die Wichtigkeit, dass diese optimale Hilfestellung erfahren, wird im
Schlusswort noch einmal betont.
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1. Die Restitution des Opfers als staatliche Aufgabe
Eine der wichtigsten Aufgaben des Staates ist es, seine Bürgerinnen und Bürger vor
Kriminalität und Verbrechen zu schützen. In das moderne europäische Staatsrecht gehen
rechtsphilosophische Überlegungen aus dem Rousseauschen Vertragsdenken ein, indem der
Bürger auf eine gewaltsame Verfolgung des Täters verzichtet und stattdessen dem Staat das
„Gewaltmonopol“ überträgt. Dass heißt, die Funktion der Strafverfolgung liegt immer beim
Staat, auch wenn es sich bei dem Bürger um den Geschädigten handelt. Im Gegenzug
bedeutet dies aber auch, dass die Pflicht beim Staat liegt soweit es geht seine Bürger vor
Gewalttaten und Verbrechen zu schützen (primäre Prävention von Gewaltdelikten). Da dies
prinzipiell nicht lückenlos gewährleistet werden kann, fällt dem Staat die Aufgabe zu einer
Person den Opferstatus anzuerkennen, falls sie durch ein Gewaltdelikt geschädigt wurde. Es
müssen alle Maßnahmen ergriffen, gefördert und verantwortlich überwacht werden, die
geeignet sind , den schuldlos betroffenen Bürger für das erlittene Unrecht zu entschädigen.
Diese staatliche Verpflichtung gegenüber dem Bürger als Opfer eines Gewaltverbrechens
wird auch als Restitutionspflicht des Staates bezeichnet. Um dieser Restitutionspflicht
nachzukommen, werden an der staatlichen Reaktion auf Verbrechen verschiedene
Institutionen beteiligt: Polizei, Staatsanwaltschaft und Strafgerichte. „Sie haben die Aufgabe,
vor Straftaten zu schützen, sie festzustellen, aufzuklären, zu verfolgen und die Rechtsfolgen
entsprechend zu vollstrecken. Hierfür stellt der Staat feste Verfahrensordnungen zur
Verfügung, die mittelbar dem Schutz des Bürgers vor ungerechtfertigter Strafverfolgung
garantieren.“ (Neue Wege in der Hilfe für Gewaltopfer, Reader über Ergebnisse und
Verfahrensvorschläge aus dem Kölner Opferhilfe Modell (KOM), S.7). Die staatlichen
Reaktionen sind durch ihre mittelbaren Schutzfunktionen zwangsläufig täterorientiert. Die
Ziele eines Ermittlungs- und Strafverfahrens sind die rechtliche Bewertung eines
Sachverhaltes und die Verurteilung eines Täters. In der Vergangenheit standen vielfach
ausschließlich der Täter und die Tat im Mittelpunkt des polizeilichen und justiziellen
Interesses. Die Rolle des Opfers reduzierte sich auf die eines „personenspezifischen
Beweismittels“ Nicht selten führt das vom Opfer als kühl und nüchtern wahrgenommene
Strafverfahren zu einer erneuten, schmerzhaften Erinnerung an das Erlebte. Dies kann zu
einer Verfestigung des traumatischen Ereignisses und einer empfindlichen Störung der
seelischen Gesundung führen. Besonders Opfer von Gewaltdelikten bedürfen häufig eines
sehr behutsamen Vorgehens und besonderen Schutz. (vgl. Gewalt gegen Frauen und sexueller
Missbrauch von Kindern, 3. Bericht zum Handlungskonzept der Landesregierung (NRW),
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S.128) . Dass der Staat eine Restitutionsverpflichtung gegenüber dem Opfer hat, wird in der
Öffentlichkeit meistens weder vom Opfer noch von der allgemeinen Bevölkerung als
selbstverständlich angesehen. Dieser Mangel an Problembewusstsein und zutreffender
Problemdefinition kann man häufig auch an der prekären Lage der Opfer erkennen. Diesem
sind in den staatlichen Institutionen unterschiedliche Rollen zugewiesen. Die Polizei benötigt
die Aussage des Opfers in erster Linie zur Spurensicherung und Tatbestandsermittlung und
für die Justiz ist das Opfer in erster Linie Zeuge. Beide Institutionen handeln zwar auch im
Interesse des Opfers dahingehend, dass sie bemüht sind die Tat aufzuklären und die
Strafverfolgung des Täters übernehmen, das Recht des Opfers auf Wiederherstellung seiner
leiblichen und seelischen Unversehrtheit gehört hingegen nicht oder zumindest nicht primär
zur Aufgabendefinition und zum traditionellen Selbstverständnis von Polizei und Justiz. Nicht
selten können unterschiedliche Interessen von Seiten der Opfer und von Seiten staatlicher
Organe zu Konflikten führen, die sich auch zum Nachteil des Geschädigten auswirken
können. Zum Beispiel wenn Ermittlungsinteressen ohne Rücksicht auf die persönliche
Verfassung des Opfers wahrgenommen werden oder wenn die Zeugenaussage des Opfers bei
diesem zu einer erneuten Opfererfahrung führt.
Das am 1. Dezember 1998 in Kraft getretene „Gesetz zum Schutz von Zeugen bei
Vernehmung im Strafverfahren und zur Verbesserung des Opferschutzes“, kurz
Zeugenschutzgesetz soll dem etwas entgegen wirken. Es hat den Einsatz der Videotechnik im
Ermittlungs- und Strafverfahren erstmals gesetzlich verankert. Das Gesetz ist auf die Situation
besonders sensibler, verletzlicher – insbesondere kindlicher – Zeugen zugeschnitten. Es
regelt unter anderem die Aufzeichnung von Zeugenvernehmungen auf Bild- und Tonträgern
sowie die zeitgleiche Übertragung von Fragen an den Zeugen und deren Aussage in Bild und
Ton zwischen den Vernehmungs- und Sitzungszimmer in der Hauptverhandlung. Ziel ist es
sensiblen und verletzlichen Zeugen quälende Mehrfachvernehmungen im Ermittlungs- und
Strafverfahren und die direkte Konfrontation mit dem Täter in der Hauptverhandlung zu
ersparen. (vgl. Gewalt gegen Frauen und sexueller Missbrauch von Kindern, 3. Bericht zum
Handlungskonzept der Landesregierung (NRW), S.130) Im Fall eines Konfliktes sollte das
Recht des Opfers auf Erholung und bestmöglichste Restitution vor den übrigen bürgerlichen
und staatlichen Interessenspositionen an erster Stelle stehen. Vom Grundsatz her wird das
kaum bestritten und Neuregelungen zum Schutz des Opfers z.B. die Anerkennung des
Opferstatus im Rahmen des Opferentschädigungsgesetzes (OPG) wurden schon durchgesetzt,
dennoch muss weiterhin noch einiges getan werden, damit die persönliche
Interessenvertretung des Opfers mit der gleichen Selbstverständlichkeit und einem gleichen
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Aufgabenbewusstsein wahrgenommen wird wie die täterorientierte Strafverfolgung. Immer
noch fühlen sich viele Opfer allein gelassen und in ihrem eigenen Interesse ungenügend
anerkannt. „So gehört es von Anfang an zum Projektplan des Kölner Opferhilfe Modells, die
psychische Situation von Verbrechensopfern zu erforschen und auf der Basis der
Forschungsergebnisse Prinzipien und Verfahrensvorschläge auch für den angemessenen
Umgang staatlicher Institutionen mit dem Opfer zu erarbeiten, in dessen ideellem Mittelpunkt
die Restitutionspflicht des Staates gegenüber dem physisch und psychisch verletzten Bürger
steht.“ (Neue Wege in der Hilfe für Gewaltopfer, Reader über Ergebnisse und
Verfahrensvorschläge aus dem Kölner Opferhilfe Modell (KOM), S.7). Den Opfern geht es
dabei in erster Linie nicht um materielle Entschädigung, sondern vielmehr um eine
unzweideutige Anerkennung der Opferwerdung und des ihnen zugefügten Unrechts mit
einhergehendem Recht auf Restitution und Rehabilitation (=Wiederherstellung der
persönlichen Würde).
1.1 Forschungsthema des KOM-Projekts
Im KOM-Projekt werden die psychische und soziale Situation der Gewaltopfer und die
Wirklichkeit der staatlichen und außerstaatlichen Institutionen, mit denen das Opfer nach und
infolge seiner Gewalterfahrung in Berührung kommt, in Verbindung gebracht. Dies stellt
insofern eine Besonderheit dar, da dies nur selten vorkommt. Man will vor allem den Fragen
nachgehen, welchen Verlauf und welche Langzeitfolgen die Opfererfahrung unter
ungünstigen Bedingungen hat und welchen Verlauf sie unter günstigen Bedingungen nimmt.
Auch von Interesse ist, welchen Verlauf dementsprechend der „natürliche Heilungsprozess“
erlittener psychosozialer Verletzungen nimmt. Dabei zeigt sich, dass vor allem von Vorteil ist,
wenn alle Maßnahmen auf den natürlichen Heilungs- und Erholungsprozess abgestimmt sind,
diesen unterstützen, jedoch keinesfalls behindern sollten. Gleichzeitig ist es wichtig, dass man
pathologische Entwicklungen als Tatfolge beim Opfer rechtzeitig erkennt, so dass man gleich
gegensteuernd eingreifen kann. Man ist also bemüht diese pathologischen Entwicklungen
direkt zu unterbrechen und gegebenenfalls gezielte therapeutische Maßnahmen einzuleiten, so
dass weiteres Leiden so gut wie möglich vom Opfer fern gehalten wird. Psychische Traumata,
die einen ungünstigen Heilungsverlauf nehmen, können nämlich zu erheblichen psychischen,
sozialen und somatischen Langzeitfolgen und Folgelasten führen. In diesem Punkt wird also
der Restitutionspflicht des Staates gegenüber den geschädigten Bürgern nachgekommen.
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Als Grundlage des weiteren Vorgehens wurde im KOM-Projekt zunächst eine größere
Opferbefragung im Raum Köln durchgeführt. Und zwar an Betroffenen, deren Opferstatus
vom Versorgungsamt Köln bestätigt war. Hierfür wurden die Kriterien der
psychotraumatischen Belastungsstörungen mit verschiedenen international anerkannten
übersetzten und adaptierten Skalen erfasst. Um einen vertieften und individualisierten
Einblick in die psychosoziale Lage der Opfer zu bekommen, werden zusätzlich ausführliche
Interviews erhoben. Zu einer weiteren Verbesserung der Opferversorgung wurden diese nach
Beschwerden und Änderungsvorschlägen im Umgang mit Institutionen und Behörden
befragt. Folgende Probleme stellten sich heraus:
-
Von Seiten ihrer Umwelt erfahren Opfer häufig keine angemessene Behandlung und
Unterstützung (v.a. betrifft dies Institutionen im medizinischen Bereich und Institutionen
wie Polizei, Versicherungen, Gerichte, etc.) Auch ein Problem ist die mangelnde
Anerkennung des Opferstatus und daraus entstehender Folgebelastungen. Man kann
feststellen, dass Gewaltopfer nicht selten retraumatisierende Erfahrungen machen.
-
Das Wissen um traumatische Erfahrungen und deren Wirkung auf die Opfer und die
Bereitschaft zur Auseinandersetzung damit sind sehr gering. Viele Opfer fühlen sich
unangemessen behandelt; fühlen nicht selten das Misstrauen und den Unglauben anderer
und haben häufig ein Empfinden als seien sie selber schuldig.
-
2/3 der traumatisierten Personen gelingt zwar im Laufe der Zeit eine eigenständige
Verarbeitung der Traumafolgen, dennoch verbleibt ein erheblicher Anteil von betroffenen
Personen, bei denen es nicht zu Spontanremissionen kommt und die erhebliche
körperliche und psychische Schädigungen davontragen.
-
Unangemessener persönlicher Umgang mit den Gewaltopfern. Bei Gewaltdelikten liegt
der Ursprung der Traumatisierung in anderen Menschen, die das Opfer bewusst
schädigen. Im Gegensatz zum Beispiel zu Naturkatastrophen. Daher ist jeder, der mit
Gewaltopfern zu tun hat, in der Folgezeit gefordert, sich korrektiv zu verhalten und daran
mitzuwirken, dass die Gewaltsituation im Laufe der Verarbeitung als eine Ausnahme
normalen mitmenschlichen Umgangs begriffen werden kann. Das heißt, Interaktionen mit
Opfern von Gewalt müssen verständnisvoll, unterstützend und akzeptierend ablaufen,
transparent sein und dem Opfer eine größtmögliche Handlungskontrolle ermöglichen.
-
Opfer sind zu wenig über Hilfsangebote informiert.
-
Aber auch Stellen, mit denen man als Opfer zu tun hat (Polizei, Medizin, etc.) besitzen zu
wenige Informationen zur Hilfestellung.
7
-
Weiter besteht auch noch ein Mangel an Fachwissen. Spezielles psychotraumatologisches
Wissen über typische Erlebnisweisen und Traumafolgen haben weder Betroffene noch
Helfer und spezifische Angebote, zum Beispiel psychologische Beratung oder
Traumatherapien, gibt es kaum.
-
Fehlende Koordination von Hilfseinrichtungen
-
Unsicherer Umgang mit der Diagnose „Posttraumatische Belastungsstörungen“, die bei
sozialrechtlichen Anerkennungs- und Gerichtsverfahren eine zunehmende Rolle spielt.
-
Prozessuale Abläufe in Ermittlungs- und Anerkennungsverfahren sind in der Regel
denkbar schlecht auf den Verarbeitungsverlauf und aufeinander abgestimmt (zu lang, zu
bürokratisch, zu belastende Wiederholungen von Vorfallsschilderungen, etc.). „Jedes
Opfer, das versucht, zu seinem Recht zu kommen bzw. Entschädigungen oder andere
Leistungen zu erhalten, läuft Gefahr, in eine Situation zu geraten, die ihm ein Überwinden
des Opferstatus und die Verarbeitung seiner Erfahrung erschwert oder unmöglich macht.“
(Neue Wege in der Hilfe für Gewaltopfer, Reader über Ergebnisse und
Verfahrensvorschläge aus dem Kölner Opferhilfe Modell (KOM), S.10). Es zeigte sich,
dass Traumafolgen sich verschlimmern können, wenn es zu Demütigungen, Ablehnung
und Misstrauen von institutioneller Seite kommt.
„Im Erhebungsteil des KOM-Projekts musste somit eine erhebliche Diskrepanz zwischen
rechtsstaatlich wünschenswerter Führung und Behandlung der Verbrechensopfer und ihrer
psychischen und sozialen Wirklichkeit festgestellt werden, die es durch wirksame
Maßnahmen schrittweise zu mildern gilt. (Neue Wege in der Hilfe für Gewaltopfer, Reader
über Ergebnisse und Verfahrensvorschläge aus dem Kölner Opferhilfe Modell (KOM), S.10).
1.2 Tendenzen zur Ausgrenzung und Beschuldigung von Opfern –
psychotraumatische Abwehrmechanismen
In moralischer Weise fehlende Hilfsbereitschaft, gar „böser Wille“ der Beteiligten,
Inkompetenz von Behörden oder Desinformation der Öffentlichkeit für die Diskrepanz
zwischen rechtsstaatlichem Anspruch und sozialer Wirklichkeit verantwortlich zu machen,
wäre zu einfach. Verantwortlich dafür ist vielmehr eine psychologisch tief in uns allen
verwurzelte Tendenz, die uns dazu veranlasst uns nicht mit dem oft Grauen erregenden
Schicksal von Gewaltopfern näher zu befassen. Das Schicksal von Gewaltopfern erschüttert
unser eigenes persönliches Sicherheitsgefühl und stößt die Überlegungen an, ob das eigentlich
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auch mir zustoßen könnte und wenn ja, wie ich mich in so einem Fall verhalten würde. Gegen
diese Bedrohung des eigenen Sicherheitsgefühls setzten nun viele Personen
Abwehrmechanismen ein, welche die aufkommende Angst und persönliche Bedrohung
mildern oder überflüssig machen sollen. Die bedrohliche Realität, mit der uns das Schicksal
der Betroffenen konfrontiert, will wieder vergessen werden, damit man weiterhin ein ruhiges
und sicheres Leben führen kann. Es handelt sich also offensichtlich um ein berechtigtes
Anliegen, das allerdings mit Mitteln verwirklicht wird, die auf Kosten der Opfer gehen und
ihre Lage verschlimmern können. Schauen wir uns im Einzelnen einmal ein Beispiel für einen
typischen Abwehrmechanismus an: Die wichtigste, zentrale Bedrohung des persönlichen
Sicherheitsgefühls ist der Gedanke, es könne auch mir passieren. Schaut man in die Statistik
von Gewaltdelikten, dann ist dieser Gedanke durchaus realistisch, da die Mehrheit der
Erwachsenen Bürger in den europäischen Staaten mindestens einmal im Leben Opfer einer
kriminellen Handlung wird (van Dijk 1990). Die Angst scheint also berechtigt zu sein. Doch
um diese Angst nicht spüren zu müssen, schiebt man die realistische Überlegung „es kann
jedem passieren“ zur Seite und sucht die Ursache der Tat in irgendeiner Besonderheit der
Tatsituation oder des Opfers, die so auf uns nicht zutrifft, z.B. gefährliches Wohnviertel,
ungünstige Tageszeit, leichtsinniges Verhalten des Opfers, etc. Es kann mich also eben doch
nicht treffen! Diese subjektive Überzeugung geht über eine realistisch angemessene
Einschätzung oft weit hinaus und nimmt eine irrationale subjektive Gewissheit an. An
wissenschaftlichen Theorien, welche die Ursachen für Gewaltverbrechen überwiegend in den
Persönlichkeitseigenschaften der Opfer suchten, zeigt sich wie stark solche Überzeugungen
um sich greifen können. Dem Opfer die Schuld für das was ihm angetan wurde
zuzuschreiben, ist die radikalste Variante dieses Abwehrmechanismus. Von Seiten der
kirchlichen Organe wird diesem Denken nicht immer genügend entgegengewirkt: Das Opfer
muss (mit)schuldig sein, da der gerechte Gott niemals zulassen würde, dass ein unschuldiger
Mensch so hart und ungerecht getroffen würde. Für Theologen und Seelsorger liegen hier
wichtige Aufgaben der Aufklärung. (vgl. Neue Wege in der Hilfe für Gewaltopfer, Reader
über Ergebnisse und Verfahrensvorschläge aus dem Kölner Opferhilfe Modell (KOM), S.11).
Häufig werden Opfer von Seiten der Justiz auch nicht genug mit einbezogen und so nicht als
rationaler Partner betrachtet. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass das Opfer die blinde
Rache verfolge statt einer staatlich kontrollierten Rechtssprechung. So wird letzten Endes das
Opfer ausgegrenzt und entmündigt und diesmal im Namen der vom Rechtsstaat geforderten
unparteilichen Rechtssprechung. Andererseits wird bei angestrebten Verschärfungen des
Strafrechts das angebliche Interesse des Opfers an härterer Bestrafung des Täters betont.
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International repräsentative Opferbefragungen führen jedoch übereinstimmend zu dem
Ergebnis, dass Opfer häufiger als der Bevölkerungsdurchschnitt milde und pädagogisch
sinnvolle Strafen fordern. (van Dijk 1990). Den Opfern ist es häufig wichtig, dass der Täter
einen Lernprozess durchmacht, der ihm das Unrecht seines Verhaltens vor Augen führt und
ihm ermöglicht, sich in Zukunft anders zu verhalten. Für einen günstigen Umgang mit dem
Opfer stehen noch weitere Hindernisse im Weg: Parteinahme und Identifikation mit dem
Täter, Überidentifikation mit dem Opfer, etc.
Da diesen Mechanismen zumeist unbewusste Motivation zugrunde liegt, ist eine bewusste
Kontrolle eine wichtige Voraussetzung dafür, dass der Umgang mit der Opferproblematik
langfristig rational gestaltet werden kann und die vorhandenen und zum Teil
institutionalisierten Tendenzen zur Ausgrenzung und Beschuldigung von Opfern erfolgreich
abgebaut werden können (vgl. Neue Wege in der Hilfe für Gewaltopfer, Reader über
Ergebnisse und Verfahrensvorschläge aus dem Kölner Opferhilfe Modell (KOM), S.11).
1.3 Der Auftrag an die Sozial- und Gesundheitsverwaltung:
Helfen und weitere Schäden vermeiden
Wir als Bürger eines Rechtsstaates stehen in der Pflicht Menschen die zum Opfer von Gewalt
wurden zu helfen oder zumindest dafür zu sorgen, dass weiterer Schaden von ihnen fern
gehalten wird. Eine erste wichtige Anforderung ist, dass das Opfer Information und Führung
benötigt durch eine Instanz, die von ihrem staatlichen Auftrag her primär sein persönliches
Interesse im Auge hat, das mit dem Ziel einer optimalen Restitution zusammenfällt. Es
werden also Einrichtungen benötigt, die den Betroffenen auf dem Weg vom Opfer zum
(Über-)Lebenden des Traumas behilflich sind. Dieses Ziel sollte in enger Zusammenarbeit mit
den übrigen Institutionen der Kriminalitätsbekämpfung verwirklicht werden. Es bedarf jedoch
einer eigenständigen staatlich-institutionellen Repräsentation und Ermächtigung, denn die
primäre Aufgabe für Polizei und Justiz besteht in Beweissicherung, Strafverfolgung,
Rechtssprechung und Strafvollzug (vgl. Neue Wege in der Hilfe für Gewaltopfer, Reader über
Ergebnisse und Verfahrensvorschläge aus dem Kölner Opferhilfe Modell (KOM), S.12).
Außerdem erwies sich in wissenschaftlichen Studien (u.a. im KOM-Projekt), dass eine
gewisse Professionalisierung im Bereich der Opferhilfe unerlässlich ist, denn nicht jede gut
gemeinte Hilfe wirkt sich auch positiv für die Restituierung der Opfer aus. Eine staatliche
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Interessenvertretung der Opfer, die sicherstellt, dass Hilfsangebote effektiv auf die Interessen
des Opfers abgestimmt werden, wäre hilfreich.
Die Beteiligten im Kölner Opferhilfe Modell bemühen sich seit dem Herbst 1995 darum,
Missstände in der Situation von Gewaltopfern aufzudecken, systematisch zu erforschen,
Verbesserungsvorschläge zu entwickeln und umzusetzen. Den Kern des Projekts bildet dabei
die Zusammenarbeit zwischen der Universität Köln (Abteilung Klinische Psychologie und
Psychotherapie), dem Institut für Psychotraumatologie Köln, dem Ministerium für Arbeit und
Soziales, Qualifikation und Technologie Nordrhein-Westfalen, dem Versorgungsamt Köln
und dem Kölner Polizeipräsidium. Ferner bestehen Kontakte zu medizinischen Einrichtungen,
zur Justiz und zu anderen Einrichtungen der Opferhilfe (vgl. Neue Wege in der Hilfe für
Gewaltopfer, Reader über Ergebnisse und Verfahrensvorschläge aus dem Kölner Opferhilfe
Modell (KOM), S.12).
Im Nachfolgenden soll ein Einblick gegeben werden, in die Arbeit des KOM-Projekts und
damit in Missstände und Verbesserungsmöglichkeiten der Opferhilfe.
2. Psychische Traumatisierung: die Wirklichkeit vieler Betroffener
2.1 Versuch einer Prävalenz-Schätzung
(Neue Wege in der Hilfe für Gewaltopfer, Reader über Ergebnisse und Verfahrensvorschläge
aus dem Kölner Opferhilfe Modell (KOM), S.14)
„Diese eher vorsichtig geschätzten Zahlen und die Berücksichtigung der Tatsache, dass bei
den betroffenen Personen eine erhebliche und andauernde symptomatische Belastung besteht,
die oft auch eine starke Verminderung der Arbeits- und Kontaktfähigkeit und/oder des
allgemeinen Gesundheitszustandes bedeutet, lassen einen deutlichen Handlungsbedarf allein
im Bereich der Traumatisierung durch Gewalttaten erkennen. Dies gilt umso mehr, wenn man
11
berücksichtigt, dass sich die Folgen durch frühzeitige Unterstützung des natürlichen
Verarbeitungsprozesses erheblich reduzieren lassen.“ (Neue Wege in der Hilfe für
Gewaltopfer, Reader über Ergebnisse und Verfahrensvorschläge aus dem Kölner Opferhilfe
Modell (KOM), S.14).
2.2 Missstände in der Situation von Gewaltopfern
Im Nachfolgenden soll noch einmal kurz auf die Missstände in der Situation von
Gewaltopfern eingegangen werden und die bereits im Kapitel 1 erwähnten ungünstigen
Umstände für Bürger nach Opferwerdung noch einmal ins Gedächtnis gerufen und ergänzt
werden. Unter vielerlei Aspekten ist die gegenwärtige Situation für Opfer von Gewalttaten
nicht optimal. So kommt es immer wieder zu Erlebnissen, die aus psychotraumatologischer
Sicht den Betroffenen nicht nur nicht helfen, sondern im Gegenteil eine beginnende Erholung
verhindern und/oder zu einer Stagnation und Verschlechterung der psychischen Verfassung
der Opfer beitragen. Langfristig kann sich dieser Umstand nicht nur auf die Psyche
auswirken, sondern auch auf sozialen Beziehungen, Partnerschaft und Familie, das
Arbeitsleben und auf den körperlichen Gesundheitszustand. Negative Erfahrungen von Seiten
der Opfer werden an vielen Stellen gemacht:
-
misstrauische Polizisten, die dem Opfer nicht glauben
-
überforderte Sanitäter
-
Angehörige, die nicht in der Lage sind, ihre eigene Betroffenheit und Verunsicherung zu
verarbeiten und dem Opfer Vorwürfe machen
-
Verschiedene Situationen vor Gericht
-
Antragsstellungen z.B. auf OEG-Entschädigung oder Begutachtungen
Opfer kommen dadurch leicht in eine Spirale aus negativen Umwelterfahrungen, sozialer
Isolation und Rückzug, aus Resignation und Frustration bei gleichzeitigem Leiden an
psychotraumatischen Folgeerscheinungen, wenn sie nicht über ein sehr gutes soziales
Netzwerk -Familie, Freunde- verfügen, welches verständnisvolle andauernde und nicht
bevormundende Unterstützung gewährt. Betroffene wünschen häufig mehr Rat und
Unterstützung, denn es existieren nur wenig spezifische Beratungsstellen oder
Therapieangebote für Gewaltopfer (Ausgenommen Frauenberatungsstellen). Neben den zuvor
erwähnten Abwehrmechanismen spielen auch verschiedene Empfindungen eine Rolle, warum
häufig Opfern nicht auf die effektivste Weise geholfen wird. Wie schon bei den
12
Abwehrmechanismen erwähnt, steckt auch hier keine böse Absicht dahinter. Nicht selten
empfindet man Schuldgefühle, weil man nicht in der Lage war das Opfer zu schützen. Solche
Schuldgefühle können sich in Aggressivität gegen das Opfer verkehren, weil man mit der
eigenen vermeintlichen Unzugänglichkeit nicht fertig wird. Ein anderes Problem, dass häufig
auftritt ist die Desillusionierung, die eintritt durch die Konfrontation mit einem Opfer.
„Desillusionierung bedeutet, dass man sich mit der Möglichkeit, selbst Opfer zu werden, mit
der eigenen Verletzlichkeit, ja sogar mit der Möglichkeit des Todes konfrontiert sieht.“ (Neue
Wege in der Hilfe für Gewaltopfer, Reader über Ergebnisse und Verfahrensvorschläge aus
dem Kölner Opferhilfe Modell (KOM), S.15). Dies ist unangenehm, und wird quasi
automatisch abgewehrt. Ein weiterer Mechanismus der oft in Kraft tritt, ist das Leugnen von
der Schwere der Erfahrung und vor allem von der Ernsthaftigkeit und Hartnäckigkeit der
Folgeerscheinungen. Oft dauert es eine Zeit lang, bis sich ein Opfern bewusst wird, dass das
Unglück tatsächlich geschehen ist. Reaktionen, die in traumatischen Situationen und in den
ersten Minuten oder sogar Stunden danach häufig vorkommen sind:
-
„Das kann nicht wahr sein!“
-
„So etwas liest man nur in der Zeitung.“
-
„Es ist gar nicht passiert.“
-
„Ich bin das gar nicht.“
etc.
Auch Angehörige, Helfer oder Sacharbeiter verspüren nicht selten ähnliche Impulse.
„In der Verarbeitung eines Traumas spielt die Neuorganisation solcher Illusionen und
grundlegende Annahmen über die eigene Person und die Umwelt eine zentrale Rolle.“ (Neue
Wege in der Hilfe für Gewaltopfer, Reader über Ergebnisse und Verfahrensvorschläge aus
dem Kölner Opferhilfe Modell (KOM), S.15). Im positiven Fall kann das Trauma als eine
Ausnahmesituation bei einer gelungenen Differenzierung begriffen werden, ohne dabei die
erschütternde Wirkung zu leugnen. Dieser Differenzierungsprozess muss auch die Umwelt
des Opfers nachvollziehen um eine effektive Hilfestellung zu gewährleisten. Also keine
leichte Aufgabe, die sowohl das Opfer als auch das soziale Umfeld bewältigen muss.
2.3 Das Trauma und seine Folgen
Ein traumatisches Ereignis wird im Rahmen der diagnostischen Kriterien der
Posttraumatischen Belastungsstörung im Diagnostischen Statistischen Manual psychischer
13
Störungen der American Psychatric Association (DSM-III-R) definiert als „außerhalb der
üblichen menschlichen Erfahrung ... und für fast jeden stark belastend“.
Beispiele dafür sind:
-
ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der körperlichen Integrität
-
ernsthafte Bedrohung nahe stehender Personen
-
plötzliche Zerstörung des eigenen Zuhauses bzw. der Gemeinde
-
Zeuge von Verletzung oder Tod anderer zu sein
Typische traumatische Ereignisse:
-
Unfälle
-
Betroffensein von Naturkatastrophen
-
Diagnosemitteilungen bei tödlichen Krankheiten
-
Verlust nahe stehender Personen
-
Sexuelle Übergriffe
-
Vergewaltigungen
-
Folter
-
Gewalttätigkeiten
-
Wohnungseinbrüche in Abwesenheit
(vgl. Neue Wege in der Hilfe für Gewaltopfer, Reader über Ergebnisse und
Verfahrensvorschläge aus dem Kölner Opferhilfe Modell (KOM), S.15).
Das Kriterium „außerhalb der üblichen menschlichen Erfahrung“ wurde in der nächsten
Auflage (DSM IV) wieder fallen gelassen. Ein Grund dafür mag sein, dass die oben
skizzierten Ereignisse zu häufig vorkommen, um sie außerhalb üblicher menschlicher
Erfahrung zu klassifizieren. ... Im DSM IV wurde stattdessen als Kriterium eine Reaktion von
intensiver Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen der betroffenen Personen hinzugenommen.“
(Neue Wege in der Hilfe für Gewaltopfer, Reader über Ergebnisse und Verfahrensvorschläge
aus dem Kölner Opferhilfe Modell (KOM), S.15).
Traumatische Situationen lassen sich zudem auch danach unterscheiden, ob es sich bei ihnen
um singuläre Ereignisse handelt oder ob sie nur ein Teil einer Kette weiterer, oft ähnlicher,
Erfahrungen sind, ob sie antizipierbar waren oder überraschend, inwieweit noch
Handlungsspielraum währenddessen bestand, etc. Meist hinterlassen traumatische Erfahrung
Spuren bei den Betroffenen. Am häufigsten und Übereinstimmend beschrieben werden
Syndrome
-
auf der Ebene des Erlebens,
-
auf der Ebene des Verhaltens
14
-
und auf der Ebene der physiologischen Ebene
(vgl. unten Kriterien B-D)
In der von dem KOM-Projekt verwendeten Terminologie wird das Symptombild als Basales
Psychotraumatisches Belastungssyndrom benannt.
Das Basale Psychotraumatisches Belastungssyndrom umfasst folgende Kriterien nach dem
DSM IV:
A. Die Person wurde mit einem traumatischen Ereignis konfrontiert, bei dem die beiden
folgenden Kriterien vorhanden waren:
1) die Person erlebte, beobachtete oder war mit einem oder mehreren Ereignissen
konfrontiert, die tatsächlichen oder drohenden Tod oder ernsthafter Verletzung oder
eine Gefahr der körperlichen Unversehrtheit der eigenen Person oder anderen
Personen beinhalten.
2) Die Reaktion der Person umfasst intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen.
Beachte: Bei Kindern kann sich dies auch durch aufgelöstes oder agiertes Verhalten
äußern.
B. Das traumatische Ereignis wird beharrlich auf mindestens eine der folgenden Weisen
wiedererlebt:
1) Wiederkehrende und eindringliche belastende Erinnerungen an das Ereignis, die
Bilder, die Gedanken oder Wahrnehmungen umfassen können.
Beachte: Bei kleinen Kindern können Spiele auftreten, in denen wiederholt Themen
oder Aspekte des Traumas ausgedrückt werden können.
2) Wiederkehrende, belastende Träume von dem Ereignis.
Beachte: Bei Kindern können stark beängstigende Träume ohne wieder erkennbaren
Inhalt auftreten.
3) Handeln oder Fühlen, als ob das traumatische Ereignis wiederkehrt (beinhaltet das
Gefühl, das Ereignis wiederzuerleben, Illusion, Halluzination und dissoziative
Flashback-Episoden, einschließlich solcher, die beim Aufwachen oder bei
Intoxikationen auftreten).
Beachte: Bei kleinen Kindern kann eine traumaspezifische Neuinszenierung auftreten.
4) Intensive psychische Belastung bei der Konfrontation mit internalen oder externalen
Hinweisreizen, die einen Aspekt des traumatischen Ereignisses symbolisieren oder an
Aspekte desselben erinnern.
15
5) Körperliche Reaktionen bei der Konfrontation mit internalen oder externalen
Hinweisreizen, die einen Aspekt des traumatischen Ereignisses symbolisieren oder an
Aspekte desselben erinnern.
C. Anhaltende Vermeidung von Reizen, die mit dem Trauma verbunden sind, oder eine
Abflachung der allgemeinen Realität (vor dem Trauma nicht vorhanden). Mindestens
drei der folgenden Symptome liegen vor:
1) Bewusstes Vermeiden von Gedanken, Gefühlen oder Gesprächen, die mit dem
Trauma in Verbindung stehen.
2) Bewusstes Vermeiden von Aktivitäten, Orten oder Menschen, die Erinnerungen an das
Trauma wachrufen.
3) Unfähigkeit, einen wichtigen Aspekt des Traumas zu erinnern.
4) Deutlich vermindertes Interesse oder verminderte Teilnahme an wichtigen Aktivitäten.
5) Gefühl der Losgelöstheit oder Entfremdung von anderen.
6) Eingeschränkte Bandbreite des Affekts (z.B. Unfähigkeit, zärtliche Gefühle zu
empfinden).
7) Gefühle einer eingeschränkten Zukunft (z.B. erwartet nicht, Karriere, Kinder oder
normal langes Leben zu haben).
D. Anhaltende Symptome erhöhten Arousals (vor dem Trauma nicht vorhanden).
Mindestens zwei d folgenden Symptome liegen vor:
1) Schwierigkeiten ein- oder durchzuschlafen
2) Reizbarkeit oder Wutausbrüche
3) Konzentrationsschwierigkeiten
4) Übermäßige Wachsamkeit (Hypervigilanz)
5) Übertriebene Schreckreaktion
E. Das Störungsbild (Symptome unter Kriterium B, C und D) dauert länger als 1 Monat
F. Das Störungsbild verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder
Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.
Bestimme, ob:
Akut: Wenn die Symptome weniger als 3 Monate andauern.
Chronisch: Wenn die Symptome mehr als 3 Monate andauern.
16
Bestimme, ob:
Mit verzögertem Beginn: Wenn der Beginn der Symptome mindestens 6 Monate nach
dem Belastungsfaktor liegt.
(Tabelle 2-1 Diagnostische Kriterien der Posttraumatischen Belastungsstörung nach DSM-IV)
Das Störungsbild lässt sich frühestens einen Monat nach dem traumatischen Ereignis
diagnostizieren. (vgl. Neue Wege in der Hilfe für Gewaltopfer, Reader über Ergebnisse und
Verfahrensvorschläge aus dem Kölner Opferhilfe Modell (KOM), S.16f).
In den ersten vier Wochen nach einer traumatischen Erfahrung können natürlich die selben
Symptome auftreten. Das geschieht auch bei einem größeren Anteil traumatisierter Personen.
Im DSM-IV wurde dafür die Akute Belastungsstörung neu aufgenommen. Die akute
Belastungsstörung umfasst die folgenden Kriterien:
A. Die Person wurde mit einem traumatischen Ereignis konfrontiert, bei dem die beiden
folgenden Kriterien vorhanden waren:
1) die Person erlebte, beobachtete oder war mit einem oder mehreren Ereignissen
konfrontiert, die tatsächlichen oder drohenden Tod oder ernsthafter Verletzung oder
eine Gefahr der körperlichen Unversehrtheit der eigenen Person oder anderen
Personen beinhalten.
2) Die Reaktion der Person umfasst intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen.
Beachte: Bei Kindern kann sich dies auch durch aufgelöstes oder agiertes Verhalten
äußern.
B. Entweder während oder nach dem extrem belastenden Ereignis zeigt die Person
mindestens drei der folgenden dissoziativen Symptome:
1) Subjektives Gefühl von emotionaler Taubheit, von Losgelöstsein oder Fehlen
emotionaler Reaktionsfähigkeit.
2) Beeinträchtigung der bewussten Wahrnehmung der Umwelt (z.B. „wie betäubt sein“).
3) Derealisationserleben
4) Depersonalisationserleben
5) Dissoziative Amnesie (z.B. Unfähigkeit, sich an einem wichtigen Aspekt des Traumas
zu erinnern).
C. Das traumatische Ereignis wird ständig auf mindestens eine der folgenden Arten
wiedererlebt: wiederkehrende Bilder, Gedanken, Träume, Illusionen, Flashback-
17
Episoden oder das Gefühl, das Trauma wiederzuerleben oder starkes Leiden bei Reizen,
die an das Trauma erinnern.
D. Deutliche Verminderung von Reizen, die an das Trauma erinnern (z.B. Gedanken,
Gefühle, Gespräche, Aktivitäten, Orte oder Personen).
E. Deutliche Symptome von Angst oder erhöhtem Arousal (z.B. Schlafstörungen,
Reizbarkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, Hypervigilanz, übertriebene
Schreckreaktionen, motorische Unruhe).
F. Das Störungsbild verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder
Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen
oder beeinträchtigt die Fähigkeit der Person, notwendige Aufgaben zu bewältigen, z.B.
notwendige Unterstützung zu erhalten oder zwischenmenschliche Ressourcen zu
erschließen, indem Familienmitglieder über das Trauma berichtet wird.
G. Die Störung dauert mindestens 2 Tage und höchstens 4 Wochen und tritt innerhalb
von 4 Wochen nach dem traumatischen Ereignis auf.
H. Das Störungsbild geht nicht auf die direkte körperliche Wirkung einer Substanz
(Z.B. Drogen, Medikamente) oder eines medizinischen Krankheitsfaktors zurück, wird
nicht besser durch eine kurze psychotische Störung erklärt und beschränkt sich nicht
auf die Verschlechterung einer bereits vorher bestehenden Achse I- oder Achse IIStörung.
(Tabelle 2-2 Diagnostische Kriterien der Posttraumatischen Belastungsstörung nach DSM-IV)
Aufgrund vorliegender Untersuchungen (Kleber (unveröffentlicht), Koopman et. al. 1995)
lässt sich vermuten, dass mindestens 50% von traumatisierten Personen eine akute
Belastungsstörung zeitweise entwickeln. Daher lässt sich annehmen, dass ein großer Teil
einer traumatisierten Population in der ersten Zeit an Folgesyndromen leiden, dass es aber bei
einem Teil dieser Personen zu Spontanremissionen kommt. Diejenigen, bei denen später die
Diagnose PTBS gestellt wird, stammen zu einem großen Teil aus der Gruppe der Personen
mit frühen akuten Belastungsreaktionen. Die akute Belastungsreaktion kann somit bis zu
einem gewissen Grade als Prädiktor langfristiger Schädigungen angesehen werden.
Um die Diagnose psychotraumatische Belastungsstörungen zu erhalten, müssen nicht
unbedingt alle Elemente der Bereiche intrusives Wiedererleben, Vermeidungsverhalten und
Hyperarrousal vorliegen. Es gibt nicht selten Verläufe, in denen z.B. das
Vermeidungsverhalten überwiegt, während intrusives Wiedererleben zumindest zeitweise
18
nicht auftritt. (vgl. Neue Wege in der Hilfe für Gewaltopfer, Reader über Ergebnisse und
Verfahrensvorschläge aus dem Kölner Opferhilfe Modell (KOM), S.17f).
2.4 Weitere langfristige Auswirkungen
„ Das PTSD aus dem DSM IV scheint eher die Kriterien festzuhalten, die sich aus der
psychobiologischen Antwort des Organismus und seinen spontanen Versuchen ergeben, das
Trauma zu verarbeiten. Unter besonderen Bedingungen werden weitere Symptome
hinzukommen oder einzelne Kriterien des mehr physiologisch definierten Syndroms können
durch psychologische oder psychosomatische Folgen ersetzt werden.“ (Neue Wege in der
Hilfe für Gewaltopfer, Reader über Ergebnisse und Verfahrensvorschläge aus dem Kölner
Opferhilfe Modell (KOM), S.18). Daher wird das PTSD von den Mitarbeitern des KOMProjekts auch als das allgemeine psychotraumatische Belastungssyndrom bezeichnet und von
komplexeren oder auch speziellen Belastungssyndromen unterschieden. Als Folge einer
Opferwerdung müssen also nicht unbedingt die Symptome des basalen psychotraumatischen
Belastungssyndroms auftreten, sondern je nach näheren Umständen können auch andere
Veränderungen auftreten bzw. hinzukommen. Das komplexe psychotraumatische
Belastungssyndrom beschreibt die Folgen andauernder externer Traumatisierung. Teilweise
lassen sich die Symptome aus diesen Syndrom auch bei Gewaltopfern beobachten. Die
nachfolgende Aufzählung der möglichen Symptome sind dem Reader des Kölner Opferhilfe
Modells entnommen (S.18f):
Der Patient war über einen längeren Zeitraum (Monate bis Jahre) totalitärer Herrschaft
unterworfen, wie z.B. Geiseln, Kriegsgefangene, Überlebende von Konzentrationslagern oder
Aussteiger aus religiösen Sekten, aber auch Menschen, die in sexuellen oder familiären
Beziehungen totale Unterdrückung erlebten, beispielsweise von Familienangehörigen
geschlagen, als Kinder psychisch misshandelt oder sexuell missbraucht wurden oder von
organisierten Banden sexuell ausgebeutet wurden.
1. Störung der Affektregulation, darunter
-
anhaltende Dysphorie
-
chronische Suizidgedanken
-
Selbstverstümmelung
-
aufbrausende oder extrem unterdrückte Wut (eventuell alternierend)
-
zwanghafte oder extrem gehemmte Sexualität (eventuell alternierend)
19
2. Bewusstseinsveränderungen, darunter
-
Amnesie oder Hyperamnesie, was die traumatischen Ereignisse
-
zeitweilig dissoziative Phasen
-
Depersonalisation/Derealisation
-
Wiederholungen des traumatischen Geschehens, entweder als intrusive Symptome
der posttraumatischen Belastungsstörung oder als ständig grüblerische
Beschäftigung
3. Gestörte Selbstwahrnehmung
-
Ohnmachtsgefühle, Lähmung jeglicher Initiative
-
Scham- und Schuldgefühle, Selbstbezichtigung
-
Gefühl der Beschmutzung und Stigmatisierung
-
Gefühl, sich von anderen grundlegend zu unterscheiden (der Patient ist etwa
überzeugt, etwas ganz besonderes zu sein, fühlt sich mutterseelenallein, glaubt,
niemand könne ihn verstehen oder nimmer eine nichtmenschliche Identität an)
4. Gestörte Wahrnehmung des Täters, darunter
-
Ständiges Nachdenken über die Beziehung zum Täter (auch Rachegedanken)
-
unrealistische Einschätzung des Täters, der für allmächtig gehalten wird (Vorsicht:
Das Opfer schätzt die Machtverhältnisse eventuell realistischer ein als ein Arzt)
-
Idealisierung oder paradoxe Dankbarkeit
-
Gefühl einer besonderen oder natürlichen Beziehung
-
Übernahme des Überzeugungssystems oder der Rationalisierung des Täters
5. Beziehungsprobleme, darunter
-
Isolation und Rückzug
-
gestörte Intimbeziehung
-
wiederholte Suche nach einem Retter (eventuell alternierend mit Isolation und
Rückzug)
-
anhaltendes Misstrauen
-
wiederholt erfahrene Unfähigkeit zum Selbstschutz
6. Veränderung des Wertesystems, darunter
-
Verlust fester Glaubensinhalte
-
Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung
20
Einen differenzierten Vorschlag für ein Victimisierungssyndrom hat Ochberg vorgelegt:
A) Die Erfahrung einer oder mehrerer Episoden von psychischer Gewalt oder
psychologischem Missbrauch oder Nötigung zu sexueller Aktivität entweder als Opfer oder
als Zeuge
B) Die Entwicklung von x (Anzahl noch nicht festgelegt) der folgenden Symptome, welche
vor der Victimisierungserfahrung nicht vorhanden waren.
1. Ein Gefühl, den täglichen Aufgaben und Verpflichtungen nicht mehr gewachsen zu
sein, welches über das Erlebnis von Ohnmacht in der speziellen traumatischen
Situation hinausgeht (z.B. allgemeine Passivität, mangelnde Selbstbehauptung oder
fehlendes Vertrauen in die eigene Urteilsfähigkeit).
2. Die Überzeugung, das man durch Victimisierungserfahrung dauerhaft geschädigt ist (z.B.
wenn ein missbrauchtes Kind oder ein Opfer von Vergewaltigung der Überzeugung sind, dass
sie für andere nie mehr attraktiv sein können).
3. Gefühle von Isolation, Unfähigkeit, anderen zu vertrauen oder mit Ihnen Intimität
herzustellen.
4. Übermäßige Unterdrückung oder exzessiver Ausdruck von Ärger.
5. Nicht angemessene Bagatellisierung von zugefügten psychischen oder physischen
Verletzungen.
6. Amnesie des traumatischen Erlebnisses.
7. Die Überzeugung des Opfers, an dem Vorfall eher die Schuld zu tragen als der Täter.
8. Eine Neigung, sich der traumatischen Situation erneut auszusetzen.
9. Übernahme des verzerrten Weltbildes des Täters in der Einschätzung von sozial
angemessenem Verhalten. (z.B. die Annahme, dass es in Ordnung ist, wenn Eltern sexuelle
Beziehungen zu ihren Kindern unterhalten oder, dass es in Ordnung ist, wenn ein Ehemann
seine Frau schlägt, damit sie gehorcht.)
10. Idealisierung des Täters.
C) Dauer des Syndroms von mindestens einem Monat.
(Ochberg, 1993 in dtsch. Übersetzung in Fischer & Riedesser 1998)
Zusätzlich führt er noch folgende Victimisierungssymptome auf :
(Übersetzung Düchting, 1997)
-
Scham:
Tiefe Verlegenheit, oft charakterisiert als Demütigung oder Schande, Kränkung
21
-
Selbstbeschuldigung:
Übertriebene Gefühle von Verantwortung für das traumatische Ereignis, mit Schuld und
Reue, trotz deutlicher Unschuld
-
Unterwerfung:
Sich abgewertet fühlen, entmenschlicht, mit vermindertem Einfluss, kraftlos als ein
direktes Resultat des Traumas
-
Krankhafter Hass:
Besessene Rachegefühle, Fantasien, den Täter zu schlagen oder zu erniedrigen, mit oder
ohne Ausbruch von Zorn oder Wut
-
Paradoxe Dankbarkeit:
Positive Gefühle gegenüber dem Täter, vom Mitleid bis zu Liebe, einschließlich
Zuneigung, aber nicht notwendigerweise Identifikation. Die Gefühle werden
Üblicherweise ironisch erlebt, gründen sich aber auf die Dankbarkeit über das Geschenk
des Lebens von jemandem, der seinen Willen zum Töten demonstriert hat. (Ebenso
bekannt als pathologische Übertragung oder „Stockholm Syndrom“)
-
´defilement`:
sich schmutzig oder eklig fühlen, oder sich vor etwas ekeln
-
Sexuelle Hemmung
-
Resignation :
Zustand von gebrochenem Willen oder Verzweiflung
-
Sinken des sozio-ökonomischen Status, auch Änderungen im Lebensstil
Wie schon oben erwähnt, findet man diese Symptome mehr oder weniger häufig auch in
Aussagen von Gewaltopfern wieder, die auch im Rahmen des KOM-Projekts untersucht
wurden. Es treffen allerdings nur selten viele oder gar alle Beeinträchtigungen zu. Dies hängt
auch mit der Art der Gewalttat zusammen, die das Opfer zu bewältigen hat. Einige sind
besonders bei Vergewaltigungen oder Kindesmissbrauch anzutreffen, andere bei sehr
schweren anderen Traumatisierungen. Wichtig ist es aber, und das soll in diesem
Zusammenhang noch einmal betont werden, dass man sich die ganze Bandbreite möglicher
Traumafolgen vor Augen hält und bei der dargebotenen Hilfestellung berücksichtigt. Zu
achten ist auch auf Schwierigkeiten in der Affektregulation, auf Depressionen und auf
suizidale Neigungen. Und auf kognitiver Ebene sollte man spezielle auf Änderungen im
Selbst- und Weltbild der Betroffenen reagieren.
22
2.5 Traumadiagnostik
- 5 Skalen zur Messung relevanter Faktoren „Das Erleben traumatischer Situationen wird besonders deutlich an dissoziativen
Erlebnisweisen, die sehr häufig – vorübergehend- während des Traumas auftreten. Das
Ausmaß peritraumatischer Dissoziationen ist der wohl am besten bestätigte Prädiktor
langfristiger Belastungsstörungen.“ (Neue Wege in der Hilfe für Gewaltopfer, Reader über
Ergebnisse und Verfahrensvorschläge aus dem Kölner Opferhilfe Modell (KOM), S.20). Im
folgenden werden fünf der zahlreichen Fragebögen und Tests kurz vorgestellt, die sich zur
Feststellung psychotraumatischer Belastungsreaktionen eignen und die alle auch im KOMProjekt eingesetzt wurden:
-
Peritraumatic Dissoziative Experiences Questionaire (PDEQ) (Marmar, Charles R./
Weiss, Daniel S./ Metzler, Thomas 1996) :
o
Es wird retrospektiv nach dissoziativen Erlebnissen während des traumatischen
Ereignisses gefragt (z.B. Ich hatte Momente in denen ich nicht mehr wusste was
vor sich ging. Ich fühlte mich so, als ob ich nicht Teil von dem war, was passierte.
etc.)
o
Es kann jeweils auf einer Skala von 1-5 angekreuzt werden, ob die Aussage gar
nicht (1) bis ganz genau (5) zutrifft.
o
-
Dieser Fragebogen wurde auch im KOM-Projekt eingesetzt.
Posttraumatic Symptom Scale mit 10 Items (PTSS-10) (Raphael, R ; Lundin,T ;
Weisaeth, L ; 1989) :
o
Messung psychotraumatischer Folgeerscheinungen
o
Es wird nach aktuellen Psychotraumatischen Belastungssymptomen gefragt, die in
den letzten 7 Tagen vor Beantwortung der Skala aufgetreten sind.
o
Ankreuzen auf einer Skala von 0-6, ob das Symptom nie (0) bis immer (6)
aufgetreten ist
o
Die Skala ist als kurzes, leicht auszufüllendes und auszuwertendes Instrument gut
geeignet, eine erste Verdachtsdiagnose zu stellen.
-
Impact of Event Scale (IES-r) (Weiss, Daniel S.; Marmar, Charles R. 1997):
o
Dieser Test enthält drei Subskalen, die die drei wesentlichen diagnostischen
Kriterien B-D der PTSD-Definition im DSM-IV abdecken:
23

Wiedererleben der Situation

Vermeidung von Reizen, die mit dem Trauma verbunden sind, oder eine
Abflachung der allgemeinen Reagibilität

o
Erhöhtes Erregungsniveau
Auch hier geht es um akute Symptome, es ist gefragt, wie häufig die genannten
Erlebnisphänomene in den letzten 7 Tagen aufgetreten sind (Skala von 1-4,
überhaupt nicht bis oft).
-
Gießener Beschwerde Bogen nach Brähler (1983):
o
-
Mit diesem Verfahren werden psychosomatische Symptome erfasst.
Das Kölner Trauma Inventar (KTI , Fischer Schedlich 1995b):
o
Das KTI ermöglicht die Diagnostik weiterer traumatischer Erfahrungen in der
Lebensgeschichte.
3. Das Verlaufsmodell psychischer Traumatisierung
Im Folgenden wird kurz auf das Verlaufsmodell psychischer Traumatisierung von Fischer und
Riedesser (1998, Fischer 1995) eingegangen, welches den Prozess der Traumatisierung in drei
Phasen unterteilt:
1. Die traumatische Situation.
2. Die traumatische Reaktion als unmittelbare Antwort auf die Situationserfahrung.
3. Den traumatischen Prozess, d.h. den Versuch, mit der unbewältigten traumatischen
Erfahrung zu leben.
„Eine traumapsychologische Untersuchung nach dem traumatologischen Verlaufsmodell
versucht, den inneren Zusammenhang zwischen Elementen der traumatischen Situation, der
individuellen Reaktion darauf und dem persönlichkeitstypischen traumatischen Prozess zu
untersuchen, wie er sich in der Lebensgeschichte der Betroffenen entwickelt. Eine Definition
von „Trauma“ muss dem systematischen Zusammenhang zwischen subjektiven und
objektiven Faktoren gerecht werden, indem sie beide Gesichtspunkte systematisch
aufeinander bezieht. Um diesem „ökologisch“ oder bisweilen auch als „transaktional“
bezeichneten Aspekt der traumatischen Erfahrung gerecht zu werden, definiert Fischer et al.
(1995a) das Trauma als „ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen
24
Situationsfaktoren und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von
Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von
Selbst- und Weltverständnis bewirkt.“ “ (Neue Wege in der Hilfe für Gewaltopfer, Reader
über Ergebnisse und Verfahrensvorschläge aus dem Kölner Opferhilfe Modell (KOM), S.21).
Durch das Trauma wird unser Selbst- und Weltverständnis dahingehend erschüttert, als dass
wir einige, allerdings lebenswichtige Illusionen verlieren. Wir glaubten zuvor an die
Unverletzlichkeit unseres Selbst und dass Ereignisse, die uns betreffen, auch von uns
kontrolliert, beherrscht oder zumindest verstanden werden können. Unter dem Begriff
„individuelle Bewältigungsmöglichkeit“ ist die subjektive Fähigkeit der Traumaverarbeitung
zu verstehen. Diese spielt bei der Verarbeitung eine ebenso wichtige Rolle wie objektive
Situationsfaktoren. Es handelt sich bei einem Trauma also um ein relationales Phänomen.
Für Menschen, die eine traumatische Situation erlebt haben, bedeutet dies eine vital
bedrohliche Herausforderung von außen, die sowohl kognitiv als auch handelnd nicht adäquat
beantworten kann. Genau dies ist aber in einer solchen Lage eigentlich dringend erforderlich.
Dieser Gegensatz von Möglichem und Erforderlichem führt zu extremer physiologischer
Erregung, zu Dissoziationserlebnissen während der traumatischen Situation und zu
(Teil)Amnesien danach. Das Trauma verlangt nach einer Verarbeitung, die aufgrund extremer
Überforderung nicht zeitgleich mit dem Erlebten erfolgen konnte, sondern die nachträglich
geschehen muss.
Von Horowitz wird angenommen, dass die traumatische Erfahrung in einer Art „working
memory“ gespeichert wird und von dort aus solange immer wieder (portionsweise) ins
Bewusstsein drängt, bis eine Integration in das Selbst- und Weltverständnis des Individuums
gelungen ist. Bis also eine realistische Einschätzung und eine Rekonstruktion der
traumatischen Erfahrung inklusive der zugehörigen Affekte möglich geworden ist. Eine
realistische Einschätzung heißt, dass die subjektiven und objektiven Komponenten der
traumatischen Erfahrung und deren Differenz berücksichtigt werden können. Der Motor
dieses Prozesses ist eine „Completion Tendency“, eine inhärente Tendenz, die unterbrochene
Sequenz von Wahrnehmung und Handeln zu Ende zuführen. Gelingt diese Verarbeitung
nicht, kommt es nach Fischer und Riedesser zu einer „Einkapselung“ der gemachten
Erfahrung. Psychosomatische Erkrankungen, Charakterveränderungen, aber auch Alkoholoder Drogenmissbrauch, bzw. allgemeine Veränderungen und Störungen der Arbeits- und
Liebesfähigkeit können Folgeerscheinungen davon sein.
Die Forschungen des KOM-Projekts haben gezeigt, dass es unmittelbar nach der eigentlichen
traumatischen Situation weichenstellend für den weiteren Verarbeitungsverlauf sein kann,
25
inwieweit es beteiligten Dritten gelingt, Betroffene zu beruhigen, zu vermitteln, dass es jetzt
vorbei ist, ein wenigstens minimales Sicherheitsempfinden wiederherzustellen und die
Wahrnehmung Betroffener ernst zu nehmen (vgl. Neue Wege in der Hilfe für Gewaltopfer,
Reader über Ergebnisse und Verfahrensvorschläge aus dem Kölner Opferhilfe Modell
(KOM), S.22). „Wichtig hierbei ist, dass ein Trauma per definitionem eine Situation ist, die
den gegenwärtig vorhandenen Wissensbestand und den Handlungsspielraum beim
Betroffenen übersteigt bzw. die zu den vorhandenen Schemata inkompatibel ist.“ (Neue Wege
in der Hilfe für Gewaltopfer, Reader über Ergebnisse und Verfahrensvorschläge aus dem
Kölner Opferhilfe Modell (KOM), S.22). Es handelt sich also nicht um ein Trauma, wenn
diese Inkongruenz nicht vorliegt. Insofern sind Reaktionen wie Dissoziationen während
traumatischen Situationen oder Verleugnungen nicht nur ganz normal, sondern sogar adaptiv.
Sie stellen sog. Schutzreaktionen des durch die Situation überforderten und existenziell
bedrohten Individuums dar. Laut Fischer und Riedesser gibt es einen natürlichen
Verarbeitungsverlauf eines Traumas. „Die prinzipielle Unabgeschlossenheit des Traumas
bedingt eine Verarbeitung im Nachhinein, einen Verarbeitungsverlauf mit einer
unterschiedlichen zeitlichen Ausdehnung, bei dem eine Integration der traumatischen
Erfahrung in die Selbst- und Weltschemata des Individuums bzw. ein entsprechender Prozess
von Assimilation und Akkomodation von Schema und Erfahrung schließlich gelingen kann,
der manchmal aber auch nicht zum Abschluss kommt.“ (Neue Wege in der Hilfe für
Gewaltopfer, Reader über Ergebnisse und Verfahrensvorschläge aus dem Kölner Opferhilfe
Modell (KOM), S.22). Falls es nicht ganz zum Abschluss kommen kann, werden mehr oder
weniger gelungene Kompromisse in Form von kompensatorischen Bemühungen oder
Desillusionierungsschemata oder chronifizierter Symptomatik gebildet.
Während der traumatischen Reaktion versucht das Individuum sich der traumatischen
Erfahrung zu stellen und beginnt sie zu verarbeiten. Wichtig scheint dabei zu sein, dass die
gemachten Erfahrungen mit allen negativen Aspekten eine gewisse Zeit im Bewusstsein
gehalten werden und so eine Durcharbeitung ermöglicht wird. Nach einer gelungenen
Verarbeitung kann das Erlebnis als etwas Vergangenes, aber Reales akzeptiert werden. Durch
eine Differenzierung wird die traumatisierende Situation als Ausnahme betrachtet und die vor
dem Ereignis bestehende Selbst- und Weltordnung kann wieder größtenteils hergestellt
werden. Das soll nicht heißen, dass das Erleben eines Traumas das Leben nicht mehr oder
weniger tief greifend verändert. Man kann eine solche Erfahrung nicht einfach löschen.
Wenn es nach einer angemessenen Verarbeitungszeit immer noch nicht gelungen ist, die
gemachte Erfahrung zu integrieren, dann wird von einem traumatischen Prozess gesprochen.
26
Mit einer graphischen Übersicht über Komponenten psychischer Traumatisierung soll dieser
Abschnitt abgeschlossen werden.
Zur Erklärung: Im rechten Teil (grauer Untergrund) geht die Grafik in ein Diagramm über,
das nach rechts durch die Zeitachse und nach oben durch Symptomstärke definiert ist. Die
dicken Pfeile in diesem Bereich symbolisieren idealtypische Verläufe, in denen anfänglich
gleich hohe Symptome – die durchaus als adaptive Schutzmechanismen fungieren – entweder
chronifizieren oder in einem Erholungsprozess übergehen. Zu ergänzen wären hier Verläufe,
bei denen auch anfänglich keine auffälligen Reaktionen festgestellt werden können, und die
auch keine späteren Symptome zeigen. Ob in solchen Fällen ein (objektiv) weniger
traumatisierender Einfluss anzunehmen ist oder eine besondere Wiederstandskraft der
betroffenen Person, kann hier nicht beantwortet werden. Der dünne Pfeil, der sich von links
nach rechts durch die gesamte Graphik zieht, soll die individuelle Bedeutungszuschreibung
symbolisieren, die sich aus der Lebensgeschichte und Situationsfaktoren entwickelt,
postexpositorische Einflüsse und eigendynamische Effekte entstandener Symptome aufnimmt
und schließlich das individuell konstellierte Belastungssyndrom determiniert.
(Neue Wege in der Hilfe für Gewaltopfer, Reader über Ergebnisse und Verfahrensvorschläge
aus dem Kölner Opferhilfe Modell (KOM), S.24)
27
4. Forschung im Kölner Opferhilfemodell (KOM)
4.1 Der KOM-Fragebogen und Interviews
Im
KOM-Projekt
war
man
an
der
Erforschung
von
Verarbeitungsformen
und
psychotraumatischer Folgeerscheinungen bei betroffenen Personen interessiert. Zu diesem
Zweck wurde ein Fragebogen (KOM-Fragebogen) entwickelt. Hierfür bediente man sich
Teilen anderer Fragebögen, wie z.B. dem Kölner Trauma Inventar KTI
von
Fischer/Schedlich und entwickelte offene Fragen.
Fünf Skalen zur Messung relevanter Faktoren wurden hinzugefügt, von denen vier aus dem
Englischen übersetzt sind (siehe Kap.2.5). Zusätzlich zu diesen Skalen wurden die
Betroffenen
befragt,
ob
sie
bereits
frühere
Gewalterfahrungen
im
Laufe
ihrer
Lebensgeschichte gemacht hatten. Somit sollte eine zusätzliche Belastung aufgrund weiterer,
früherer oder späterer Gewalttraumatisierungen erfasst werden.
Im Folgenden sind zwei der offenen Fragen aufgeführt:

Hat sich in Ihren sozialen Kontakten seit dem Vorfall etwas geändert?

Wie ging es Ihnen unmittelbar nach dem Ereignis?
Neben dem Bearbeiten der Fragebögen wurde den Betroffenen die Möglichkeit gegeben über
ihre Erfahrungen in einem ausführlich klinischen, teilstrukturierten Interview zu sprechen,
was dazu beitragen sollte, dass hier Fragen geklärt werden, die sich allein durch das
Beantworten von Fragebögen nicht klären lassen. Um beispielsweise herauszufinden, welches
die ausschlaggebenden Faktoren für eine Entwicklung und Chronifizierung von PTBSSymptomen sind, wurden sie aufgefordert detaillierte Angaben zu den lebensgeschichtlichen
Erfahrungen, vorhergehenden Traumata, zu Einzelheiten der traumatischen Situation und
deren Verarbeitung zu machen. Um die Interviewstudien auswerten zu können, wurden sie
auf Tonband aufgezeichnet Diese Möglichkeit der Interviewbefragung wurde zum
Untersuchungszeitpunkt von 25 Personen wahrgenommen.
Die Hauptaufgabe der Interviews ist es detailliert Umstände und Verlauf des Einzelfalls zu
untersuchen, wobei der Versuch unternommen wird, systematisch die Einflussgrößen und
deren individuell gesetzmäßiges Zusammenwirken aufzuzeigen um dann Vergleiche solcher
Verlaufsscripte durchzuführen.
28
4.2 Ergebnisse der Kölner Forschung
4.2.1 Die untersuchten Gewaltopfer/Stichprobe
Die zwei Stichproben der Kölner Forschungsuntersuchung setzen sich aus 107 Personen
zusammen, von denen 59 Männer sind und 48 Frauen. Hiervon handelt es sich bei 68 Fällen
um Gewaltereignisse, die mehr als ein Jahr zurückliegen. Die Personen waren zum Zeitpunkt
der Tat zwischen 6 bis 88 Jahre alt. Das Durchschnittsalter beträgt 32,6 Jahre. Die meisten der
Befragten (55%) machten die Angabe 2 bis 3mal Opfer einer Gewalttat gewesen zu sein, einer
von ihnen sogar bis zu 10mal.
In der Untersuchung ergab sich ein Spektrum sehr unterschiedlich geschilderter Situationen,
weshalb es notwendig erschien die Schwere der traumatisierenden Einflüsse einzuschätzen.
Da sich die Einteilung jedoch als nicht ganz einfach erwies, wurden die gesamten
Fallschilderungen zusammen mit Angaben über Alter, Geschlecht und erlittene Verletzungen
sechs Personen vorgelegt, die ein Rating bezüglich des Schweregrades der traumatischen
Situation vornehmen sollten (von 0 bis 6 → ’gering’ bis extrem).
Der Schweregrad der objektiven Situationseinflüsse weist eine signifikante Korrelation mit
späteren Symptomen auf (0,35***, Rangkorrelation), determiniert diese aber nicht alleine!
52,3% der betroffenen Personen bezeichnen das Ereignis als lebensbedrohlich. Bei 29,9% der
Täter handelte es sich um einen Bekannten.
4.2.2 Beschreibung objektiver Situationsfaktoren
4.2.3 Dissoziatives Erleben in der traumatischen Situation
Bei einem Großteil der Betroffenen kam es während der traumatischen Situation zu
dissoziativen Erfahrungen. Dies ließ sich neben der retrospektiven Ermittlung dieser
Erfahrungen mit Hilfe der PDEQ-Skala, auch in zahlreichen Interviews und Beantwortungen
der Fragebögen erkennen.
Dass ein hohes Maß an dissoziativem Erleben vorlag, zeigt sich darin, dass 72% der 107
Befragten angaben, eine oder mehrere der 10 auf der PDEQ-Skala beschriebenen
Dissoziationsformen in der extremsten Ausprägung erlebt zu haben.
Bei 53% sind es zwei und mehr, bei 36% drei und mehr.
29
4.2.4 Symptomverbreitung und –ausprägung
Ferner fand bei der Untersuchung die IES-R (revidierte Impact of Event Scale) von Weiss
und Marmar (1997) Verwendung. Sie enthält neben den Subskalen Intrusion (überflutetes
Wiedererinnern, mit oder ohne auslösende Momente) und Avoidance (Vermeidungs- und
Verleugnungsverhalten) eine Subskala zum erhöhten Erregungsniveau (Hyperarrousal),
womit die klassischen Symptome einer PTBS wie sie im DSM IV enthalten sind, messbar
sind. Es zeigt sich, dass diese Symptome bei einem relativ hohen Prozentsatz der Opfer
vergleichsweise in hoher Ausprägung auftreten.
Um den Anteil der Personen mit PTBS zu bestimmen, wurde die PTSS-10 verwendet. Aus
der Berechnung der Summenwerte der PTSS lassen sich
folgende drei Gruppen
klassifizieren:
,,kein PTBS’’= 55,3%
,,Verdacht auf PTBS’’= 26,2%
PTBS= 18,4%
Betrachtet man die Extremantworten, zeigt sich, dass über 1/3 der Stichprobe (38,3%)
innerhalb der letzten Woche vor Bearbeiten des Fragebogens mit den entsprechenden Leiden
,,immer’’ zu tun hatte. Zu diesen Beschwerden zählen in 20,6% der Fälle ’Schreckhaftigkeit’,
zu 22,4% ’Angst vor Erinnerungsauslösern’ und bei 11,2% Schlafprobleme.
Da nach Traumatisierungen häufig psychosomatische Beschwerden vermehrt im Vergleich
zur Normalbevölkerung auftreten, untersuchte man diesen Aspekt mit dem GBB.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die Traumatisierung durch eine Gewalttat nicht
in spezifischen psychosomatischen Beschwerden zeigt, der Patient aber dennoch durch diese
insgesamt beeinträchtigt wird.
In der Studie hat sich ebenso gezeigt, dass ein größerer Zeitabstand zum Vorfall nicht gleich
eine Verbesserung der einmal aufgetretenen Symptombildung bedingt, denn man erhielt keine
signifikanten negativen Korrelationen mit den Symptomskalen.
Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die Schwere der erfahrenen Gewalt eine Rolle spielt bei
der Ausbildung der Symptome.
30
4.2.5 Einflussgrößen späterer Symptombildung und Beschwerden und deren Vorhersage
Man stellte sich ferner die Frage, ob gewisse Einflussgrößen existieren, die für die Entstehung
lang anhaltender psychotraumatischer Symptome verantwortlich sind.
Dabei stieß man in den bisherigen Analysen auf folgende Faktoren, die es nun in weiteren
Untersuchungen als näher zu betrachten gilt:
1. Antezendente Einflussgrößen:
-
Vorliegen und Anzahl von Mehrfachtraumatisierungen
2. Objektiv situative Einflussgrößen
-
Schwere der traumatischen Situation
-
Deliktart/ Schwere des Delikts
-
Lebensbedrohlichkeit der Situation
-
die Dauer der traumatischen Situation
-
die Schwere der Verletzungen
-
Bekanntschaft zum Täter
3. Subjektiv situative Einflussgrößen
-
Erhöhtes Maß an Dissoziationen
4. zusätzliche Belastungen, Retraumatisierungen
-
tendenziell retraumatisierende Erfahrungen mit öffentlichen Funktionsträgern
-
kein Verständnis im sozialen Umfeld
-
Arbeitslosigkeit als zusätzlicher Risikofaktor
5. protektive Faktoren (negative Korrelation)
-
höhere Schulbildung
Sie weisen allesamt eine signifikant positive Korrelation zu den späteren Symptomen auf. Die
Autoren machen jedoch auch hier auf die starke Streuung der Werte und der damit
verbundenen Schwierigkeit einer zufrieden stellenden Diagnose aufmerksam. Aus diesem
Grund sei es im Einzelfall ratsam, das genaue Zusammenspiel aller oben genannten Faktoren
zu
betrachten um eine genaue Aussage darüber treffen zu können wie die Symptome sich
ausbilden können.
Nicht bei jeder traumatisierten Person besteht ein deutliches Risiko für einen ungünstigen
Verarbeitungsverlauf, einige kommen auch ohne professionelle Betreuung zurecht. Ziel sollte
es deshalb sein, in einem frühen Stadium diejenigen zu identifizieren, bei denen eine deutliche
Gefahr einer späteren Chronifizierung der Symptome als Folge des Traumas besteht. Um dies
zu diagnostizieren, können nicht die Kriterien der posttraumatischen Belastungsstörung wie
31
sie dem DSM-IV oder ICD 10 zu entnehmen sind oder mit Skalen wie z.B. der Impact of
Event Scale gemessen werden , herangezogen werden, da die dort genannten Kriterien als
ganz ,,normale’’ Reaktionen nach einem Trauma auftreten können und nicht automatisch eine
spätere Chronifizierung bedeuten. Aus diesen Überlegungen heraus, entwickelten die
Forscher im KOM-Projekt eine so genannte ’Traumaformel’, deren Bestandteile die oben
genannten objektiven Situationsfaktoren sind. Mit ihrer Hilfe soll es möglich werden eine
Prognose ungünstiger Verarbeitungsabläufe bei Traumapatienten zu erstellen. Als eine erste
mögliche Ausarbeitung dieser entwickelten Formel wurde eine Art Checkliste erstellt, mit der
die Anzahl der Risikofaktoren beim Patienten erhoben werden kann. Die Aufmerksamkeit der
Berater soll hiermit im Gespräch mit Traumapatienten auf die entscheidenden Aspekte
gelenkt werden. Berater können in diesem Fall auch aus Behörden oder medizinischen
Diensten stammen, deren Aufgabe darin bestünde, die Patienten bei auftretenden
Auffälligkeiten in der Checkliste an psychologische Beratungsstellen zu verweisen.
Unabhängig davon, wie hoch der ermittelte Risikowert ausfällt, soll aber in folgenden Fällen
immer eine Empfehlung an eine Beratungsstelle gegeben werden:

im Falle einer Vergewaltigung

bei anderen schweren Delikten, wie z.B. Geiselnahmen

wenn der bearbeitende Beamte trotz eines unterschwelligen Wertes ein ,,ungutes’’
Gefühl hat, besonders wenn zudem mehrere Fragen aufgrund mangelnder
Informationen nicht beantwortet werden konnten
An folgendem Fallbeispiel lässt sich die Verwendung der Checkliste verdeutlichen:
Ein Mann- zum Tatzeitpunkt 45 Jahre alt- wird abends auf seinem Nachhauseweg von vier
unbekannten Jugendlichen angegriffen und mit einem Baseballschläger niedergeschlagen. Die
Dauer der traumatischen Situation ist kurz. Dabei dissoziiert er heftig; fünf der zehn
Dissoziationsformen der Skala PDEQ treffen für ihn in der stärksten Ausprägung zu. Es
werden von ihm später keine weiteren negativen Erfahrungen nach dem Ereignis mit der
sozialen Umwelt angegeben. Es liegt bei ihm kein zusätzlicher Risikofaktor in Form von
Arbeitslosigkeit vor. Seine Schulbildung ist gering. Vor Gericht kam es zu negativen
Erfahrungen, man glaubte ihm nicht. Der Vorfall ist aufgrund des Gebrauchs eines
Baseballschlägers als schwere Körperverletzung und lebensbedrohlich anzusehen. Die
Schwere der objektiven Situationsfaktoren wird mit 0,6 eingestuft. Er hatte bereits mehrere
weitere Gewalterfahrungen im Laufe seiner Lebensgeschichte erleben müssen. Nimmt man
32
diese Informationen als Grundlage zum Ausfüllen der Checkliste, so lassen sich in der rechten
Spalte mit Hilfe der Kriterien in der mittleren Spalte folgende Werte abtragen:
(Neue Wege in der Hilfe für Gewaltopfer, Reader über Ergebnisse und Verfahrensvorschläge
aus dem Kölner Opferhilfe Modell (KOM), S.33)
Wenn die am Ende ermittelte Summe einen Wert größer als 6,4 übersteigt, kann man nach
bisherigen Erkenntnissen davon ausgehen, dass sich einer hohen Wahrscheinlichkeit nach
spätere posttraumatische Belastungssyndrome entwickeln.
33
4.3 Ein Analysemodell
Traumatisierung
zur
Integration
relevanter
Komponenten
psychischer
In den vorangegangenen Kapiteln wurde über die vielfältigen möglichen Folgeerscheinungen
einer
Traumatisierung
psychotraumatischen
berichtet,
die
zusätzlich
zum
oder
statt
des
basalen
Belastungssyndroms auftreten können. Im vorhergehenden Abschnitt
wurden Risikofaktoren für die Entwicklung von langfristigen Symptomen aufgeführt. Um
wichtige Komponenten psychischer Traumatisierung zu integrieren, wurde ein Modell
entwickelt, das sich in abgewandelter Form am Verlaufsmodell psychischer Traumatisierung
(siehe Kapitel Miri?), orientiert. Bedeutsam ist dieses Modell, das im Folgenden vorgestellt
werden soll, auch für diagnostische Zwecke und Begutachtungen.
(Neue Wege in der Hilfe für Gewaltopfer, Reader über Ergebnisse und Verfahrensvorschläge
aus dem Kölner Opferhilfe Modell (KOM), S.37)
4.3.1 Erläuterung der einzelnen Faktoren in dem Modell
4.3.2 Lebensgeschichte
Wie bereits weiter oben erwähnt wurde, können sich früher erlebte Traumatisierungen negativ
auf die Verarbeitung eines erneut erlebten Traumas auswirken. Vor allem dann, wenn sie
häufiger, schwerer und evtl. ähnlich waren. Allerdings kann es auch positive Effekte geben,
34
so z.B., wenn die frühere Erfahrung konstruktiv verarbeitet wurde oder es Personen gab, die
versuchten das Opfer zu schützen. Weiter wurde in der KOM-Untersuchung herausgearbeitet,
dass der Faktor Schulbildung ebenfalls einen positiven Einfluss haben kann, was laut der
Untersucher dadurch zu erklären ist, dass man bei höherer Schulbildung auf eine nötige
Differenzierungsfähigkeit schließen kann, die wiederum zur Verarbeitung des Traumas
benötigt wird.
4.3.3 Unmittelbare Vorgeschichte
Unter diesen Punkt fällt unter anderem die Tagesverfassung (z.B. eine labile Verfassung oder
Übermüdung), die einen nicht unerheblichen Einfluss darauf haben kann, ob dissoziative
Erlebnisweisen auftreten. Ein weiterer Aspekt, der hier zu berücksichtigen ist liegt darin, zu
klären, ob das traumatische Geschehen überraschend auftrat oder vorhersehbar war
(Antizipation), wie dies zum Beispiel bei einer Naturkatastrophe der Fall ist.
4.3.4 Traumatische Situation
Auf der objektiven Seite sind einige Aspekte zu nennen, die bereits weiter oben erwähnt
wurden wie zum Beispiel die ,,Schwere’’ Art des traumatisierenden Einflusses, war die
Situation lebensbedrohlich und wie lange dauerte sie an, waren die Verletzungen schwer, ist
der Täter bekannt?
Unter dem Punkt ,Art des Traumas’ wird hier verstanden, ob ein
Sexualdelikt, Beziehungsdrama oder körperliche Verletzungen usw. vorliegt. In der Grafik
wird im nächsten Punkt wiederum darauf eingegangen, dass es einen positiven Einfluss hat,
wenn in der traumatischen Situation eine Person versucht zu helfen.
Die in der Grafik kursiv gedruckten Komponenten werden von beiden Seiten beeinflusst, zum
einen vom objektiven Pol und zum anderen vom subjektiven Pol.
Auf der subjektiven Seite wird vor allem dissoziatives Erleben genannt, insbesondere
Derealisation (das Gefühl, es sei nicht wirklich, was geschieht), und Depersonalisation (das
Gefühl es sei nicht der eigene Körper betroffen).
35
4.3.5 Belastungen
Zu der schwersten zusätzlichen Belastung, die auftreten kann, zählt die Retraumatisierung.
Ihr vorausgehen können negative Erfahrungen mit offiziellen Stellen oder dem privaten
Umkreis, die sich in Misstrauen oder Bagatellisierung der erlebten traumatischen Situation
seitens dieser zeigen. Solche Geschehnisse wirken einer Verarbeitung und Integration
traumatischer Erlebnisse entgegen. Ebenfalls kontraproduktiv auswirken kann sich
anderweitiger Stress, wie z.B. eine gleichzeitige Bewältigung einer Trennung vom Partner.
4.3.6 Schützende Faktoren
Ebenso gibt es Faktoren, die die Verarbeitung von Traumafolgen begünstigen. In der Grafik
werden hier genannt: eine räumliche und zeitliche Erholung für das Opfer, ein sorgsames und
beruhigendes soziales Umfeld, materielle Entschädigung seitens des Täters, die vollständige
Rekonstruktion des Tatverlaufs und Gerechtigkeit seitens der Justiz.
4.3.7 Langfristige Auswirkungen
Wie im Modell zu erkennen, herrscht auch hier eine bipolare Aufteilung mit zum einen dem
Folgesyndrom von Krankheitswert und zum anderen einer Integration des Traumas in die
Lebensgeschichte. Auf die verschiedenen Arten von Folgesyndromen gehe ich hier nicht
näher ein, da sie in Abschnitt 2.4 bereits beschrieben wurden. Ein weiterer wichtiger Punkt
ist der in der Grafik mit ,Rückkopplung, Eigendynamik’ bezeichnete Kreis. Darunter versteht
man den Vorgang, dass Folgeerscheinungen in spiralförmigen Bewegungen jeweils wieder
auf die weiteren Folgeerscheinungen mit einwirken. So kommt es z.B. vor, dass eine
traumatisierte Person aus Angst bestimmte Situationen meidet, die unerträgliche
Erinnerungen hervorrufen. Dies wiederum kann zu Isolation und sozialem Rückzug führen,
was dann die Verarbeitung des Traumas erschwert.
Das hier vorgestellte Modell soll den Zusammenhang und das Zusammenwirken der
einzelnen Komponenten verdeutlichen und somit eine Beschreibung und Analyse
traumatischer Reaktionen möglich machen.
36
5. Die Strategie der Opferbetreuung im Kölner Opferhilfe Modell
Um einen positiven Heilungsprozess bei Personen, die einem Gewaltverbrechen zum Opfer
fielen
zu
gewährleisten,
sollte
er
ausreichend
über
die
vorhandenen
Unterstützungsmöglichkeiten informiert werden. Am Vorteilhaftesten für den Patienten wäre
eine einzelne Ansprechperson, die ihm im ,,Institutionendschungel’’ den Weg weist und ihm
Ratschläge im Bezug auf die komplexen psychischen Prozesse gibt.
Die Forschungsergebnisse im KOM-Projekt liefern auf die Frage, welche Kernkompetenz
solch eine Beratungsinstanz haben sollte, folgende zwei Antworten:

Eine genaue Kenntnis der Verwaltungsabläufe und des Gestaltungsspielraums, der
dem Opfer überlassen bleibt

Eine genaue Kenntnis des psychotraumatischen Verlaufsprozesses und seiner
Deviationen
Dieses Kompetenzprofil wird im KOM-Projekt durch die Kooperation zwischen dem
Versorgungsamt,
dem
Institut
für
Psychotraumatologie
und
der
Psychologischen
Beratungsstelle für Kriminalitätsopfer verwirklicht. Neben einer psychotraumatologisch
fundierten Beratungskompetenz wird von den Mitarbeitern gefordert, dass sie Kenntnisse und
Kompetenzen im Umgang mit dem regionalen Netzwerk der lokalen Hilfseinrichtungen und
Initiativen zur Opferbetreuung haben.
Neuere Ergebnisse der Traumaforschung zeigen, dass bei Opfern von Gewalttaten die
bewusste Erinnerung an das Erlebnis oft längere Zeit oder auch dauerhaft unzugänglich bleibt,
da sie andernfalls in einen Überflutungszustand (Intrusion) gelangen könnten, der einer
Retraumatisierung gleichkommen kann. Man kann sagen, dass Erinnerungslücken und
Vermeidung dazu beitragen können, das seelische Gleichgewicht des Betroffenen zu halten.
Daher sollte man daraus auch Konsequenzen ziehen im Bezug auf den gerichtlichen Umgang
mit Gewaltopfern. Gedächtnislücken und Inkohärenz der Erinnerung sind traditionell
Kriterien für mangelnde Glaubhaftigkeit, hier sprechen sie jedoch für den Realwert der
Zeugenaussage. Man sollte deshalb das Opfer in der Vernehmungspraxis nicht zu vorzeitigen
und erlebnisfremden Aussagen drängen, sondern vielmehr dafür sorgen, dass das Opfer das
traumatische Erlebnis erfolgreich durcharbeitet. Vorraussetzung dafür ist, wie bereits weiter
oben erwähnt, dass alle Beteiligten über psychotraumatologische Grundlagenkenntnisse
verfügen und der Betroffene außerdem ausreichend über den Ablauf der Befragung in einem
Prozess aufgeklärt wird.
37
Schlusswort
Urplötzlich und ohne Vorwarnung werden Personen durch ein lebensbedrohliches Ereignis
aus ihrem alltäglichen Lebensrhythmus gerissen. Körperliche und/ oder sexuelle Gewalt oder
andere schwerwiegende Ereignisse erschüttern das Selbst- und Weltbild. In Deutschland
werden, so ….statistik" jährlich allein etwa 40000 Menschen Opfer von unterschiedlichen
Gewalttaten, wie z.B. schwere und gefährliche Körperverletzung, Raubüberfälle und
Straftaten gegen sexuelle Selbstbestimmung" (NRW-Justiz, 2/2000, S.6).
Solche gravierenden von außen kommenden Eingriffe in das Leben bleiben meist nicht ohne
schwere Folgen für den Betroffenen und dessen Angehörige. Viele Menschen, die durch eine
Gewalttat zum Opfer wurden, können eine seelische Verletzung ohne Langzeitfolgen mit
Hilfe des Umfelds und der Selbstheilung überwinden. Einem Großteil der Betroffenen gelingt
dies allerdings nicht.
Im Verlauf dieser Hausarbeit sollte dargestellt werden, wie wichtig es ist, den betroffenen
Personen eine schnelle und effektive Hilfe zukommen zu lassen, die sich nicht nur auf
psychotherapeutische Intervention reduziert, sondern dem Opfer von Anfang an umfangreiche
Hilfen zur Selbsthilfe im Umgang mit dem Trauma an die Hand gibt. Wird dem Betroffenen
schnellstmöglich und wirksam geholfen, besteht die Möglichkeit, dass sich Langzeitfolgen
erst gar nicht bilden und die psychische Verletzung ausheilen kann.
Das Kölner-Opferhilfemodell wurde als Initiative des Sozialministeriums und des Instituts für
Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Köln gegründet um die Hilfen für
Gewaltopfer zu verbessern. Das Konzept wird auf
alle anderen Städte und Gemeinden
übertragen um Betroffene direkt vor Ort über Einrichtungen im Bereich der Opferhilfe
beraten zu können.
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Literaturverzeichnis
Neue Wege in der Hilfe für Gewaltopfer, Reader über Ergebnisse und Verfahrensvorschläge
aus dem Kölner Opferhilfe Modell (KOM)
Gewalt gegen Frauen und sexueller Missbrauch von Kindern, 3. Bericht zum
Handlungskonzept der Landesregierung (NRW)
www.kriminalpraevention.de/ pressearchiv/pressemitteilungen/PM20020321_DFK.pdf
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