Narzissmus aus existenzanalytischer Sicht

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Auf der Suche nach sich selbst.
Narzissmus aus existenzanalytischer Sicht
Abschlussarbeit zur Ausbildung für Logotherapie und Existenzanalyse
Mag. Judith Fink
Wien, Februar 1997
I. PSYCHOANALYTISCHE NARZISSMUSTHEORIEN
Der Begriff des „Narzißmus“ wurde erstmals 1899 von Paul Näcke zur Bezeichnung
eines sexuellen Verhaltens verwendet, in welchem ein Mensch seinen Körper zum
alleinigen Sexualobjekt wählt und diesen in der Art eines Verliebten behandelt.1 Er
bezog sich damit auf Havelock Ellis, der vorerst eine Geisteshaltung beschrieben
hatte, die ihn an den griechischen Mythos von Narziß erinnerte und die er als
„narcissus like“ bezeichnet hatte.2 Sigmund Freud hat in der Folge den Begriff
„Narzißmus“übernommen; 1899 erwähnt er ihn erstmals in einem Brief an Fließ und
kündigt an, ihn als energetischen Konzept verwenden zu wollen,um das Schicksal
der Libido bei psychotischen Störungen erklären zu wollen.3
Obwohl der Terminus „Narzißmus“ also zunächst nicht von der Psychoanalyse
stammt, hat ihn die Psychoanalyse in der Folge doch geprägt, ein Umstand, der
ebenfalls darin zum Ausdruck kommt, daß auch alle jüngeren, bedeutenden
Narzißmustheorien von Psychoanalytikern verfaßt wurden. Aus diesem Grund
erscheint es mir wesentlich, eine kurze Zusammenschau der wichtigsten Konzepte
und neuerer Ansätze an den Beginn meiner Arbeit zu stellen. Dies möchte ich als
eine ledigliche Orientierungshilfe zum Thema verstanden wissen, zu umfangreich
müßte der Versuch ausfallen, einen Überblick über den ganzen Bereich zu geben.
1. Sigmund Freud über Narzißmus
Obwohl Sigmund Freud den Terminus „Narzißmus“ schon längere Zeit in Gebrauch
hatte4, veröffentlichte er 1914 eine Abhandlung „Zur Einführung des Narzißmus“5, in
welcher er erstmals seine Überlegungen in komprimierter Form darlegte. Mehrere
Beobachtungen führten Freud dazu, diesen Begriff für die Psychoanalyse nutzbar zu
machen und zu erweitern:
1
Sigmund Freud: Studienausgabe. Bd. 3:Psychologie des Unbewußten; Zur Einführung des
Narzißmus. Frankfurt 1975, S. 41
2
ebd.
3
Vamik D. Volkan, Gabriele Ast: Spektrum des Narzißmus. Zürich 1994, S. 33
4
Freud, Studienausgabe. Bd. 3, S. 39
5
Freud, Studienausgabe. Bd. 3, S.39 - 68
1. Die Phänomene des Größenwahns und der Abkehr von der Außenwelt bei der
Schizophrenie und sein Versuch dieses Krankheitsbild in die Libidotheorie zu
integrieren.
2. Dem Größenwahn verwandte Phänomene bei Kleinkindern und primitiven Völkern,
etwa die „Überschätzung der Macht ihrer Wünsche und psychischen Akte, die
‘Allmacht der Gedanken’, einen Glauben an die Zauberkraft der Worte (...)“ etc.6
Daß das Phänomen der Selbstüberschätzung also in vielen, durchaus nicht nur
pathologischen Bereichen menschlichen Seins auszumachen ist, veranlaßte Freud
zu der Annahme, daß es auch einen ursprünglichen Narzißmus in der seelischen
Entwicklung
geben
müsse.
Er
postulierte
den
„primären
Narzißmus“7
als
entwicklungspsychologisches Stadium, in welchem das Kind in einem Zustand von
Vollkommenheits- und Alltmachtgefühl ruht und alle Triebenergie („Libido“ in er
psychoanalytischen Terminologie) noch beim Ich verbleibt, bevor sie dann später auf
die (Liebes-)Objekte gerichtet wird. Anschließend an die Phase des „Autoerotismus“,
in welcher sich das Ich als integrierende Funktion noch nicht ausgebildet hat, sei also
die Aufmerksamkeit, „Liebe“ und Bewunderung zunächst auf das eigene Ich
gerichtet, bevor ein Mensch die Fähigkeit erwirbt, sich anderen Personen
zuzuwenden. Freud stellte sich in diesen Zusammenhang auch die Frage, warum
denn überhaupt die Notwenigkeit bestehe, sich von diesem primären Narzißmus zu
lösen und seine Triebenergie auf andere zu richten. Für ihn tritt
diese „Nötigung“ dann ein, „wenn die Ichbesetzung mit Libido ein gewissen Maß
überschritten habe“ und eine unlustvoll empfundene „Libidostauung“8 eingetreten ist:
„Ein starker Egoismus schützt vor Erkrankung, aber endlich muß man beginnen zu
lieben, um nicht krank zu werden, und muß erkranken, wenn man infolge von
Versagung nicht lieben kann.“9
Dieser „primäre Narzißmus“ entzieht sich der direkten Beobachtung, für Freud lebt er
unter anderem auf und wird erkennbar in jenem für ihn charakteristischen elterlichen
Verhalten, ihre Kinder zu idealisieren und zu bewundern. In diesem Zusammehang
6
ebd., S. 42 - 43
ebd., S. 43
8
ebd., S. 51
9
ebd., S. 52
7
spricht Freud vom „sekundären Narzißmus“10, als den in den Beziehungen zu
anderen
Menschen
wiederauftauchenden
narzißtischen
Strebungen
im
Erwachsenenalter. Freud subsumiert unter das Phänomen der „Elternliebe“ sowohl
die Tendenz zur Idealisierung des neuen Sprößlings als auch jene Bestrebungen,
den
Kindern
den
Auftrag
zur
Erfüllung
der
eigenen,
nicht
realisierten
Zielvorstellungen und Wünsche mitzugeben.
„Das gute Kennzeichen der Überschätzung (...) beherrscht, wie allbekannt, diese
Gefühlsbeziehung. So besteht ein Zwang, dem Kinde alle Vollkommenheiten
zuzusprechen, wozu nüchterne Beobachtung keinen Anlaß fände, und alle seine
Mängel zu verdecken und zu vergessen (...). Es besteht aber auch die Neigung, alle
kulturellen Erwerbungen, deren Anerkennung man seinem Narzißmus abgerungen
hat, vor dem Kinde zu suspendieren und die Ansprüche auf längst aufgegebene
Vorrechte bei ihm zu erneuern. Das Kind soll es besser haben als seine Eltern, es
soll den Notwendigkeiten, die man als im Leben herrschend erkannt hat, nicht
unterworfen sein. Krankheit, Tod, Verzicht auf Genuß, Einschränkung des eigenen
Willens sollen für das Kind nicht gelten, die Gesetze der Natur wie der Gesellschaft
vor ihm haltmachen, es soll wirklich wieder Mittelpunkt und Kern der Schöpfung sein.
His Majesty the Baby, wie man sich einst selbst dünkte. Es soll die unausgeführten
Wunschträume der Eltern erfüllen, ein großer Mann und Held werden an Stelle des
Vaters, einen Prinzen zum Gemahl bekommen zur späten Entschädigung der Mutter.
Der heikelste Punkt des narzißtischen Systems, die von der Realität hart bedrängte
Unsterblichkeit des Ichs, hat ihre Sicherung in der Zuflucht zum Kinde gewonnen. Die
rührende, im Grunde so kindliche Elternliebe ist nichts anderes als der
wiedergeborene Narzißmus der Eltern, der in seiner Umwandlung zur Objektliebe
sein einstiges Wesen unverkennbar offenbart.“11
Neben dieser Art der elterlichen Zuwendung dienen Freud auch Charakteristika der
heterosexuellen Liebesbeziehungen als Anschauungsmaterial, die Aufschluß über
das Phänomen des Narzißmus und das Schicksal des frühkindlichen primären
Narzißmus geben. Für ihn lassen sich zwei Arten der “Objektwahl“ im
Erwachsenenalter ausmachen: Jene des „Anlehnungstypus“12, in welchem man eine
Mutter- oder Vaterfigur liebt und des „narzißtischen Typus“13, wo das Liebessobjekt
nach dem Vorbild der eigenen Person gesucht und geliebt wird. Bei den ersteren
dominiert das Lieben vor dem Geliebt-Werden und sie fühlen sich oft zu letzteren
hingezogen,
die
in
ihrem
„Narzißmus“,
ihrer
„Selbstgenügsamkeit“und
„Unzugänglichkeit“ einen besonderen Reiz ausstrahlen.14 Eine perfekte Ergänzung,
denn im narzißtsichen Modus dominiert das Geliebt-Werden-Wollen.15 Für Freud
10
ebd., S. 42
ebd., S. 57 - 58
12
ebd., S. 54
13
ebd.
14
ebd., S. 55
15
ebd.
11
stehen diese beiden Formen der Objektwahl allen Menschen offen 16, wobei er
postuliert, daß die Frauen (Freud ein Kind seiner Zeit?!) vorwiegend nach dem
narzißtischen Modus lieben:
„Solche Frauen lieben, strenggenommen, nur sich selbst mit ähnlicher Intensiät, wie
der Mann sie liebt. Ihr Bedürfnis geht auch nicht dahin zu lieben, sondern geliebt zu
werden und sie lassen sich den Mann gefallen, welcher diese Bedingung erfüllt. Die
Bedeutung dieses Frauentypus für das Leben der Männer ist sehr hoch
einzuschätzen. Solche Frauen üben den größten Reiz auf die Männer aus, nicht nur
aus ästhetischen Gründen, weil sie gewöhnlich die Schönsten sind, sondern auch
infolge interessanter psychologischer Konstellation. Es erscheint nämlich deutlich
erkennbar, daß der Narzißmus einer Person eine große Anziehung auf diejenigen
anderen entfaltet, welche sich des vollen Ausmaßes ihres Narzißmus begeben haben
und sich in der Werbung um die Objektliebe befinden.“17
Über eine Analyse zwischenmenschlicher Beziehungen hinausgehend diente Freud
der primäre Narzißmus auch als Konzept, mit welchem er versucht, menschliche
Phänomene wie das Streben nach Idealen, nach dem Besten, den Wert von
Superlativen überhaupt zu erklären. So postuliert er, daß sich nicht die ganze primärnarzißtische Libido der frühen Kindheit in Objektliebe umwandelt. Ein Teil von ihr
lasse sich im Ich-Ideal wiederfinden, die kindliche Vollkommenheit findet ihren
Ausdruck nun in dem, woran man sich mißt, wer man idealerweise sein möchte:
„Was er als sein Ideal vor sich hin projiziert, ist der Ersatz für den verlorenen
Narzißmus seiner Kindheit, in der er sein eigenes Ideal war.“18
Diese Idealisierung ist auch auf „dem Gebiete (...) der Objektlibido“ möglich, findet
ihren Ausdruck also in der Überschätzung des geliebten oder bewunderten
Menschen.19.Das Gewissen ist im psychoanalytischen Sinn und in direkter Ableitung
des Narzißmuskonzepts nun jene Instanz, die darüber wacht, daß das Ich-Ideal nun
seine narzißtische Befriedigung erhält, indem es „das aktuelle Ich unausgesetzt
beobachtet und am Ideal mißt.“20 Der kindliche Narzißmus bildet das energetische
Substrat für das Ich-Ideal, er erhält es am Leben. Die Bildung des Ich-Ideals selbst
und so auch das Gewissen ist aber bei Freud nicht narzißtischen Ursprungs, sondern
wird angeregt durch den „kritischen Einfluß der Eltern“, die gesellschaftliche und
persönliche Ge- und Verbote an das Kind weitergeben.21
16
ebd., S. 54
ebd., S. 55
18
ebd. S. 61
19
ebd.
20
ebd., S. 62
21
ebd., S. 62 - 63
17
Auch das „Selbstgefühl“, als „Ausdruck der Ich-Größe“22 steht für Freud in engem
Zusammenhang mit dem Narzißmus. Alles, was den Rest des primitiven
Allmachtsgefühls bestätigt, hebt das Selbstgefühl. Für Freud ist es auch hier das
Liebesleben, das Aufschluß über die wechselseitige Beziehung von Narzißmus und
Selbstgefühl gibt. Für ihn ist es offenkundig, daß „die Libidobesetzung der Objekte
das Selbstgefühl nicht erhöht“, für ihn macht Liebe allein nicht glücklich:
„Die Abhängigkeit vom geliebten Objekt wirkt herabsetzend; wer verliebt ist, ist
demütig. Wer liebt, hat sozusagen ein Stück seines Narzißmus eingebüßt und kann
es erst durch das Geliebtwerden ersetzt erhalten.“23
Nur wenn die investierte Libido wieder zum Ich als Form von Gegenliebe zurückfließt,
sich wieder in Narzißmus verwandelt, ist Liebesglück möglich:
„Die Rückkehr der Objektlibido zum Ich, deren Verwandlung in Narzißmus, stellt
gleichsam wieder eine glückliche Liebe dar, und andererseits entspricht auch eine
reale glückliche Liebe dem Urzustand, in welchem Objekt- und Ichlibido voneinander
nicht zu unterscheiden sind.“24
Freuds Narzißmusverständnis ist auf dem Hintergrund der psychoanalytischen
Triebtheorie zu verstehen. Die Psychoanalyse begreift den Menschen als
vornehmliches Triebwesen, welches seine Triebenergie auf bestimmte Triebziele/
Objekte richtet und nach der Erfüllung des Lustprinzips handelt. So wird die Liebe als
„libidinöse Objektbesetzung“ verstanden und das Phänomen des Narzißmus unter
dem Aspekt des Libidoflusses vom Ich auf das Objekt und umgekehrt betrachtet. Da
es bei Freud das Du als das wesensmäßig ganz Andere nicht gibt, nicht als „Subjekt“
und nicht als „Wert an sich“ (in seiner Darstellung finden wir nur die narzißtische
Liebe und die, die an die primären Bezugspersonen angelehnt ist), bleibt hier, wie
Frankl ja immer wieder kritisch betont hat, eine ganze Dimension ausgespart, die
auch das Verständnis des Narzißmus beeinflußt. Freud postuliert in seiner
Einführung zwar einen primären und somit „normalen“ Narzißmus,. bleibt aber in der
weiteren Darstellung der sekundär-narzißtischen Aspekte zwischenmenschlicher
Beziehung
eine
genaue
Differenzierung
in
normale
und
neurotische
Verhaltensweisen schuldig, differenziert auch nicht den Zustand der Verliebtheit von
der Liebe. Dies mag auch dazu beitragen, daß sich der „existenzanalytisch geschulte
Leser“ an dieser Stelle fragt, ob es denn für Freud eine Liebe gibt, die das Wesen
des anderen Menschen meint und nicht a priori darauf schauen muß, wieviel
22
ebd., S. 64
ebd., S. 65
24
ebd.; S. 66
23
zurückkommt? Wird das Selbstgefühl (existenzanalytisch vielleicht der Selbstwert)
erst dann erhöht, wenn die “Objektlibido“ auf Gegenliebe stößt und somit wieder ins
Ich zurücklfließen kann?
Auch wenn man schon ahnt, wie Existenzanalytiker diese Fragen beantworten
würden, möchte ich sie, respektive ihre Bedeutung für ein existenzanalytisches
Narzißmusverständnis noch offen lassen.
2. Der Ansatz von Heinz Kohut
Freuds grundsätzliche Überlegungen zum Thema Narzißmus erfuhren durch
Psychoanaytiker
der
2.Generation
eine
Systematisierung
und
begriffliche
Differenzierung, wobei sich dabei der Schwerpunkt auf die Beschäftigung mit der
narzißtischen
Persönlichkeitsstruktur
und
möglicher
psychotherapeutischer
Behand,lungsmethoden verlagerte.
Heinz
Kohut
führte
erstmalig
aus,
daß
Patienten
mit
narzißtischer
Persönlichkeitsstörung einer psychanalytischen Behandlung zugänglich waren, was
bislang mit dem Argument in Abrede gestellt wurde, sie seien (aufgrund ihrer
Selbstbezogenheit) zu keiner Entwicklung einer Übertragungsbeziehung zum
Analytiker fähig und somit keiner psychoanalytischen Behandlung zugänglich.25 In
scharfem Gegensatz dazu, hielt er die narzißtische Beziehungsgestaltung für so
charakteristisch, daß er vorschlug, diese als Diagnosekriterium heranzuziehen.
Gemäß der sich entwickelnden Übertragung zum Therapeuten unterschied er zwei
Patientengruppen: Jene, die an die Vorstellung eines Größenselbst gebunden waren
(„ich bin großartig und vollkommen“) und nach einer Bestätigung dessen auch in der
therapeutischen Situation Ausschau hielten und jene, die die Größe und
Vollkommenheit einem „allmächtigen Objekt“ zuschrieben, als dessen Teil sie sich
25
Vorwort zu: Heinz Kohut: Narzißmus. Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung
narzißtischer Persönlichkeitsstörungen. Frankfurt 1976
fühlten („Du bist großartig und vollkommen, aber ich bin ein Teil von dir.“) 26. Kohut
führte diese beiden Grundformen auf zwei unterschiedliche Störungsbereiche des
kindlichen, primären Narzißmus zurück.
In der normalen Entwicklung leitet, nach seinen Ausführungen, die Mutter durch ihre
glücklichen und spiegelnden Reaktionen auf das Kind die Phase des primären
Narzißmus ein, in welcher der Säugling sich unter der liebevollen Zuwendung
erstmalig als körperliche und geistige Einheit empfindet. Diese Erfahrung ist zunächst
von dem Gefühl der Großartigkeit und Allmacht begleitet (Phase des Größenselbst)
bis durch die immer differenzierteren Reaktionen der Bezugsperson und eine
teilweise Versagung der Wünsche, sich ein immer realistischeres Selbstbild
entwickelt. Parallel dazu wird auch die Mutter in zunehmendem Maße als von der
eigenen Person getrennt und realistischer, d. h. mit guten und bösen Anteilen
erlebt.27 Dem war vorausgegangen, daß sie ebenfalls ideal und dem eigenen Selbst
zugehörig empfunden wurde. Kohut spricht in diesem Zusammenhang von einem
idealisierten „Selbst-Objekt“ oder der „idealisierten Elternimago“28
Wird nun dieser natürliche Phasenverlauf durch für das Kind ungünstige oder
traumatische Erlebnisse gestört, zieht es sich auf eine Postion seiner Entwicklung
zurück, in welcher der Zustand narzißtischer Vollkommenheit noch ungestört erlebt
werden konnte und es bleibt dieser Konfiguration auch im Erwachsenenalter bei
seiner Beziehungsgestaltung verhaftet. Kohut unterscheidet, analog zu den zwei
narzißtischen Gundkonfigurationen (Größenselbst und allmächtiges Objekt) zwei
Rückzugsmöglichkeiten:
1. Das Kind zieht sich auf die Postion der idealisierten, arachischen Selbst-Objekte
zurück, d.h. es behält seine reinen und realitätsfernen Bilder seiner Bezugsperson
und sucht diese nun fortan im Außen, um mit ihnen - wie in der frühkindlichen,
narzißtischen Phase - psychisch wieder verschmelzen zu können. Kohut spricht in
diesem Fall von „einer Entwicklung und Regression im Bereich des allmächtigen
Objekts“29 In der analytischen Situation entwickeln solche Patienten eine
charakteristische Beziehung zum Analytiker, die Kohut die „idealisierende
26
ebd., S. 26
ebd.; S. 141 - 143
28
ebd., S. 57
29
ebd., S. 26
27
Übertragung“ nennt. Der Analytiker wird in ihr beispielsweise als „ideales Vorbild“30
gesehen und es besteht eine starke psychische Abhängigkeit. Solche Patienten
fühlen sich zumeist leer und hilflos, wenn sie längere Zeit von ihrem Therapeuten
getrennt sind.31
2. Als zweite Rückzugsmöglichkeit des narzißtisch verwundeten Kindes bleibt das
Wiederaufsuchen
des
frühlkindlichen
narzißtischen
Allmachtgefühls.
Kohut
bezeichnet diese Rückbesinnung auf die eigene Vollkommenheit als „Entwicklung
und
Regression
im
Bereich
des
Größenselbst“32.
Patienten,
die
dieser
narzißtischen Grundkonfiguration zuzuordnen sind, tendieren dazu, zum Analytiker
eine „Spiegelübertragung“ zu entwickeln, d.h. sie sind bestrebt, den Therapeuten
als Reflexionsfläche ihrer eigenen Größenvorstellungen , zur Rückversicherung
ihres idealen Selbstbildes zu verwenden. Kohut unterscheidet hier drei Formen: a)
Es findet einen „Verschmelzung (mit den Analytiker) zur Erweiterung des
Größenselbst“ statt; der Therapeut wird in diesem Fall als Teil der eigenen Größe
gesehen
und
nicht
als
getrennte
Person
wahrgenommen.
b)
Bei
der
„Zwillingsübertragung“ wird dem Analytiker zwar ein Getrennt-sein zugestanden, er
wird jedoch als der eigenen Persönlichkeit sehr ähnlich empfunden.c) In der
reifsten Form, der „eigentlichen Spiegelübertragung“ wird der Therapeut zwar als
andere Person wahrgenommen, ist aber nur insofern wichtig, als er die
Bedürfnisse nach Bestätigung des Größenselbst erfüllt. 33 Für Kohut ist die
„eigentliche Spiegelübertragung“ der normalen frühkindlichen Entwicklung am
nächsten und nach seiner Erfahrung haben die anderen Übertragungsformen in
einer erfolgreichen Analyse die Tendenz, sich in die letztgenannte umzuwandeln,
bevor sie sich zum normalen Bedürfnis nach Liebe und Anerkennung wandeln.34
Neben
den
bereits
dargestellten
zwei
narzißtischen
Grundkonfigurationen
unterscheidet Kohut bei jener Gruppe von Patienten, die sich durch eine mangelhafte
Integration ihres Größenselbst auszeichnen, nochmals zwei Untergruppen. Sie
scheinem mir hier erwähnenswert, insofern, als Kohut in ihrer Darstellung einerseits
nochmals das Schicksal der ursprünglichen normalen narzißtischen Bedürfnisse
genauer behandelt, andererseits hier eine Patientengruppe miteinschließt, die man,
30
ebd., S. 72
ebd., S. 78 ff32
ebd., S. 26
33
ebd., S. 139 - 141
34
ebd., S. 151
31
sich etwa an die Kriterien des DSM III haltend, nicht notwendigerweise als
narzißtische Persönlichkeiten diagnostizieren würde. (Auch eine Reihe anderer
Autoren schließen in ihre Überlegungen einen Personenkreis mit ein, den man als
„zu wenig narzißtisch“ bezeichen könnte. Auch findet man, etwa bei Alice Miller, die
Ansicht, daß die Depression die „Kehrseite der Münze“ darstellt35 und somit dem
Bereich des Narzißmus zuzuordenen ist.)
Kohut unterscheidet also in der Folge eine Patientengruppe, die sich dadurch
auszeichnet, daß das Größenselbst vorwiegend verdrängt oder verleugnet wird. Er
spricht in diesem Zusammenhang von einer „horizontalen Spaltung“ 36, in welcher das
Real-Ich der „narzißtischen Zufuhr aus tieferen Quellen narzißtischer Libido“ beraubt
ist. Hier imponiert „ein Mangel an Narzißmus“37, der sich durch geringes
Selbstvertrauen, blande Depression; Mangel an Initiative etc. zeigt. Personen, die
dieser Subkategorie zuzuordnen sind, geben sich kühl und distanziert und halten
eher Abstand von Personen, von denen sie sich insgeheim eine narzißtische
Bestätigung wünschen würden.38 (Nach unserem Verständnis würden wir diesen
Personenkreis
wahrscheinlich
eher
der
depressiven
Persönlichkeitsstruktur
zuordnen.)
Die zweite Subkategorie entspricht dem, was man, salopp formuliert, die
offensichtlichen Narzißten bezeichnen könnte. Hier hat, nach Kohut, eine „vertikale
Spaltung“39 stattgefunden. Das Größenselbst ist im Bewußtsein gegenwärtig und
beeinflußt viele Handlungen. Abgespalten und verdrängt sind aber auch hier die
wahren frühkindlichen narzißtischen Bedürfnisse und damit zusammenhängend jene
Großartigkeit des ursprünglichen, primären Narzißmus. Gezeigt und zur Schau
gestellt
werden
ausschließlich
jene
idealen
Selbstvorstellungen,
die
dem
entsprechen, was in der Biographie an narzißtischen Erwartungen von den primären
Bezugspersonen in das Kind hineingelegt wurde; also die Leistungen, für die das
Kind Liebe und Bewunderung erhalten hat.40 Für diese Patientengruppe ist, nach
Kohut, ein Schwanken zwischen Größenphantasien, die Bedürfnisse nach
35
Alice Miller: Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst.
Frankfurt 1979, S. 57 ff. und S. 73
36
Kohut, Narzißmus, S. 206
37
ebd., S. 206
38
ebd., S. 205 -- 206
39
ebd., S. 206
40
ebd., S. 205 ff.
Zuwendung verleugnen, und Zuständen von Leere und geringem Selbstwert
charakteristisch.41
Kohut führt in der Folge aus, daß bei beiden Personenkreisen im Laufe einer
erfolgreichen psychotherapeutischen Behandlung die horizontale Spaltung zu Tage
kommt, während eben nur bei letzeren ein offensichtliches Größenselbst vorhanden
ist.42 In anderen Worten bedeutet dies, daß die Großspurigen und die besonders
Bescheidenen das gleiche Schicksal haben, was ihre ursprünglichen narzißtischen
Bedürfnisse betrifft.
Worauf sich allerdings dieser ursprüngliche Narzißmus bezieht, das ist auch bei
Kohut nicht genau auszumachen. Bei seinen Ausführungen über die normale
psychische Entwicklung findet sich kein explizites Zugeständnis, daß es im Kind
etwas eigenens, authentisches gibt, das gesehen und gespiegelt werden möchte.
Die „endgültigen Lebensziele“und das Selbstwertgefühl eines Menschen werden für
ihn vom primären Narzißmus nur insofern gekennzeichnet, als er ihnen „absolute
Dauerhaftigkeit und Überzeugung vom Recht auf Erfolg einflößt“43 Die „spezifischen
Zielvorstellungen“
eines
Menschen
sind,
nach
seiner
Ansicht,
(ledigliche)
„Abkömmlinge der Identifikationen mit eben jenen Gestalten, die ursprünglich als
Erweiterung des Größenselbst erlebt worden waren“44, also Abkömmlinge der
idealisierten Elternimago. Ähnlich wie bei Freud, lassen seine theoretischen
Überlegungen also auch das Zugeständnis eines nicht weiter rückführbaren geistigen
Potentials vermissen, auch wenn manche seiner Falldarstellungen nahelegen, daß er
in der Therapie seinen Klienten durchaus Eigenes und Echtes zugesteht.45
3. Otto Kernberg:
41
ebd., S. 228 - 229
ebd., S. 274
43
ebd., S. 132
44
ebd.
45
siehe Kohuts Falldarstellung B., S. 146 - 147
42
Otto Kernberg entwickelte, in manchen Teilen kontroversiell zu Kohuts Auffassungen,
ein anderes Narzißmuskonzept. Er begreift die Objektbeziehungstheorie von Mahler
und Jacobson und ihre Erkenntnisse über die seelische Entwicklung des Kleinkindes
als theoretische Grundlage für seinen Ansatz.
Im Allgmeinen geht die Objektbeziehungstheorie davon aus, daß die Psyche eines
Menschen aus Elementen zusammengesetzt ist, die aus der Außenwelt stammen,
vornehmlich aus den Funktionen einer wichtigen Bezugsperson. Die Aufnahme und
Aneignung dieser Elemente der Beziehungserfahrung erfolgt durch den Prozeß der
Internalisierung. Geistige Funktionen werden dann in Begriffen von Beziehungen
zwischen verschiedenen verinnerlichten Elementen erklärt.46 Zwei Grundbegriffe sind
für
ein
weiteres
Verständnis
wichtig:
Jener
der
Objektvorstellung
oder
Objektrepräsentanz. Darunter versteht man in der Objektbeziehungstheorie „eine
intrapsychische Struktur, die aus einer Vielzahl von Bildern, Eindrücken und (...)
affektiven Erlebnissen mit einem Objekt“, also mit einer anderen Person in der
Außenwelt geformt ist.47 Der Begriff der Selbstvorstellung oder Selbstrepräsentanz
bezieht sich auf „ein Konstrukt, das aus der dynamischen und affektiven Organisation
mehrerer Selbstbilder resultiert und zu einer dauerhaften (...) intrapsychischen
Struktur führt, die die (...)Erfahrungen dieses Menschen subjektiv widerspiegelt.“48
Mahler und Jacobson gingen davon aus, daß sich die psychische Struktur eines
Kindes langsam entwickelt und daß zunächst böse, mit Aggression besetzte und
gute, mit Libido besetzte, Selbst- und Objektvorstellungen nebeneinander bestehen.
Allmählich erst entwickeln sich die Ich-Funktionen der Differenzierung und
Integration. Durch die Differenzierung erwirbt das Kind die Fähigkeit, zwischen
Objekt-und Selbstvorstellungen, praktisch zwischen Ich und Nicht-Ich, unterscheiden
zu können, was eine Voraussetzung für Realitätsprüfung ist. Bei der Integration geht
es um das Aushalten von Ambivalenz, um das Integrieren von guten und bösen
Selbst- und Objektvorstellungen, somit um die ganzheitliche Wahrnehmung seiner
selbst und anderer.49
Otto Kernberg sah in den Erkenntnissen von Mahler und Jacobson ein geeignetes
Handwerkszeug, verschiedene Schweregrade von Psychopathologie zu analysieren
46
B. M. Moore und B.D. Fine: Psychanalytic Terms and Concepts. New Haven 1990, S. 131,
zit. nach: Volkan und Ast, Spektrum, S. 175
47
Volkan und Ast, Spektrum, S. 15
48
ebd.
49
ebd., S. 176 - 177
und so ihre Genese und ihren Entwicklungsstand zu bestimmen.50 Nachdem er sich
zunächst mit der Borderline-Persönklichkeitsorganisation befaßt hatte, diagnostizierte
er auch bei der narzißtischen Struktur einen Mangel an der Fähigkeit zur Integration
entgegengesetzter
Selbst-und
Objektvorstellungen.
Beim
„pathologischen
Narzißmus“, wie Kernberg ihn nennt, ist eine „pathologische Selbststruktur“
vorhanden und libidinös besetzt, die durch das Vorherrschen eines „pathologischen
Größenselbst“ charakterisiert wird. Dieses Größenselbst setzt sich für Kernberg aus
Real-Selbst, Ideal-Selbst und idealen Objektvorstellungen zusammen.51 Unter
ersterem versteht er „die Besonderheit des Kindes, die durch frühe Erlebnisse
verstärkt wurde“.52. Das Ideal-Selbst wird als Entschädigung für Frustrationen „auf
der oralen Ebene“ vom Kind etabliert und zeichnet sich durch Suberlative von Macht,
Schönheit etc. aus. Das ideale Objekt, als Pendant dazu, ist die Vorstellung der
„grenzenlos gebenden Mutter“.53 Entwertete oder aggressiv bestimmte Selbst- und
Objektvorstellungen sind vom Größenselbst abgespalten, verdrängt oder auf andere
(in der Übertragung etwa auf den Analytiker) projiziert. Kernberg bezeichnete denn
auch die Spaltung als den zentralen Abwehrmechanismus der narzißtischen
Persönlichkeitsorganisation.
Im Gegensatz dazu ist beim „normalen Narzißmus“ eine Integration der mit Libido
und Aggression besetzten Komponenten erfolgt und das Selbst verfügt über eine
Struktur, in welche die „guten“ und „bösen“ Selbstvorstellungen gleichermaßen
eingegangen sind und ein „realistisches Selbstbild“ ermöglichen. Diese Integration ist
nach Kernberg die Voraussetzung für eine „libidinöse Besetzung des normalen
Selbst“ und somit für die Entwicklung eines gesunden Narzißmus.54
Für Kernberg ist folglich die Entwicklung des Selbst in einem Stadium maßgebend,
das vor der primären narzißtischen Besetzung anzusiedeln ist. Mit dieser Auffassung
befindet er sich im Gegensatz zu der traditionellen psychoanalytischen Lehrmeinung,
die die strukturellen Merkmale der narzißtischen Persönlichkeitsorganisation als
Fixierung auf einer frühen Ebene der normalen Entwicklung versteht.55
50
Otto Kernberg: Schwere Persönlichkeitsstörungen. Theorie, Diagnose und
Behandlungsstrategien. Stuttgart 985, S. 276
51
ebd.; S. 277
52
Volkan und Ast, Spektrum, S. 42
53
ebd., S. 42
54
Kernberg, Persönlichkeitsstörungen, S. 277
55
ebd., S. 278
Da es diesen Entwicklungsstillstand im Stadium des primären Narzißmus für
Kernberg nicht gibt, gesteht er narzißtischen Persönlichkeiten auch die Fähigkeit zur
Objektliebe zu. Allerdings ist diese in demselben Maße gestört und verzerrt, als es
die Liebe zur eigenen Person ist. Narzißmus und Objektbeziehungen gehören so,
nach Kernbergs Ansicht, zusammen und können nicht voneinander isoliert betrachtet
werden.56
Im Einklang mit der psychoanalytischen Tradition befindet sich Kernberg allerdings,
wenn er die zwei Grundformen des pathologischen Narzißmus beschreibt, die sich
auch in Kohuts Ansatz finden und weiter oben bereits dargestellt sind: Die Form der
narzißtischen Objektwahl und die Zentrierung der narzißtischen Persönlichkeit um
ein pathologisches Größenselbst.57 Im Vergleich zu Kohut allerdings, versucht
Kernberg, eine phämomenologische Darstellung der grandiosen Persönlichkeit zu
geben. Einen „hohen Grad von Selbstbezogenheit in ihren Interaktionen“, ein
ausgeprägtes Bedürfnis nach Bewunderung, „einen merkwürdigen Widerspruch
zwischen einem stark aufgeblasenen Selbstkonzept und gelegentlich übertriebenen
Minderwertigkeitsgefühlen“, ein geringes Einfühlungsvermögen, starke Neidgefühle
und die Tendenz, manche Menschen zu idealisieren, andere jedoch um so heftiger
abzuwerten sind einige Charakteristika, die Kernberg hier anführt.58
In seinem Behandlungskonzept betont Kernberg die Integration von bösen und guten
Selbst-und Objektvorstellungen als wesentlichstes Therapieziel.59 Nicht unähnlich
von Kohuts Ansatz, ist auch für ihn die Analyse der sich entfaltenden
Übertragungsbeziehung die wichtigste Methode, diese therapeutische Zielsetzung zu
erreichen. Er allerdings setzt dabei sein Augenmerk auf die in der therapeutischen
Beziehung zu Tage tretenden fragmentierten und abgespaltenen Selbst- und
Objektvorstellungen. Der Klient projiziert in der therapeutischen Situation nicht selten
verachtete und verdrängte Selbstvorstellungen auf den Analytiker, gegen die er dann
aufbegehrt, um einen anderen, den idealen Teil seines Selbstbildes zu untermauern.
Sowohl die Gefühle, die er dadurch im Analytiker auslöst (Gegenübertragung), als
auch andere Inszenierungen seiner Kindheitserfahrungen, in welchen der Klient
manchmal in die Rolle des bespielsweise ausgebeuteten Kindes, dann aber auch in
die der beispielsweise dominanten, ausbeuterischen Mutter schlüpft, geben dem
56
ebd.; S. 282
ebd., S. 280
58
ebd., S. 280 - 281
59
ebd., S. 294 ff.
57
Analytiker
langsam
Aufschluß
über
seine
innere
Welt
der
Selbst-
und
Objektvorstellungen.. Eine Interpretation dieser Vorgänge und eine Konfrontation mit
den so ans Licht kommenden verschiedenen Teilpersönlichkeiten sollen es dem
Klienten mit der Zeit möglich machen, die verschieden Aspekte seines Selbstbildes
zu integrieren und so zu einer realistischen Selbsteinschätzung zu gelangen.
Kernberg betont, daß man in der Analyse narzißtischer Patienten ein besonderes
Augenmerk auf die abgewerteten, mit Aggression besetzten Selbstvorstellungen
legen müsse und es gelte, auch die Idealisierungen auf ihre aggeressiven
Komponenten hin zu analysieren. Beispielsweise könnte in einer Idealisierung auch
eine Abwehr gegen Aggression zum Ausdruck kommen.60 Sein Hauptkritikpunkt an
Kohut bezieht sich denn auch auf den Umstand, daß er keine Differenzierung der
Idealisierung in ihre unterschiedliche Formen vornimmt und insgesamt die
Aggression in seiner Theorie und in seinem Behandlungssansatz vernachlässigt61.
Im Vergleich zu den bereits dargestellten Narzißmustheorien finden wir in Kernbergs
Konzept des Real-Selbst eine Anerkennung des Eigenen und Authentischen,das
eine Person ins Leben miteinbringt und gewürdigt sehen möchte. Seine weiteren
Ausführungen und therapeutischen Überlegungen in seinem Werk über „Schwere
Persönlichkeitsstörungen“ konzentrieren sich dann allerdings auf die Erforschung der
fragmentierten
Selbst-
und
Objektvorstellungen,
damit
zusammenhängender
Charakterwiderstände und auf die Integration der „bösen“ und „guten“ Anteile des
Selbst. Ob er anderenorts ausführlichere Überlegungen über den Inhalt des RealSelbst und seine Bedeutung für den gesunden Narzißmus und eine reife
Selbsteinschätzung anstellt, entzieht sich meiner Kenntnis, an dieser Stelle lassen
seine Ausführungen eine Vorstellung darüber vermissen, wie auch die authentischen
Aspekte, die einen Teil des Größenselbst auszumachen scheinen, im Verlaufe einer
erfolgreichen Therapie in eine nun reifere Persönlichkeitsstruktur integriert werden
können.
4. Alice Miller
60
61
ebd., S. 270
ebd., S. 270 - 271
Mit ihrem, von einer breiten Leserschicht begeistert aufgenommenen Buch „Das
Drama des begabten Kindes“, welches sich mit der Narzißmusproblematik
auseinandersetzt, ist Alice Miller innerhalb der Psychoanalyse einen neuen Weg
gegangen, einen Weg, der sie schließlich dazu veranlaßt hat, sich von der
Psychoanalyse ganz abzuwenden.
In ihrer Analyse der narzißtischen Störung legt sie den Schwerpunkt auf die
Beschreibung des Schicksals des „wahren Selbst“ eines Menschen, worunter sie
zunächst
die
genuinen
versteht.62.Werden
diese
Gefühle
Gefühle
und
und
Bedürfnisse
Bedürfnisse
eines
von
Kleinkindes
den
primären
Bezugspersonen wahrgenommen und verstanden, so bilden sie den Kern des
gesunden Selbst einer erwachsenen Person. Ein in dieser Weise großgewordener
Mensch kann über seinen inneren Gefühlreichtum verfügen, er besitzt eine echte
Lebendigkeit und kann ausdrücken, was er will, ohne von der Meinung anderer
eingeschüchtert zu sein. Alice Miller definiert denn auch den „gesunden Narzißmus“
als „den Idealfall einer genuinen Lebendigkeit, eines freien Zugangs zum wahren
Selbst, zu denn echten Gefühlen (...).“63
Von einer „narzißtischen Störung“ spricht sie dann, wenn dieser Zugang zum wahren
Selbst verlorenengegangen und an dessen Stelle ein „falsches Selbst“, eine „Als-obPersönlichkeit“ getreten ist, die sich in der Kindheit an die Erwartungen der
Außenwelt angepaßt und mit diesen identifiziert hat. 64 Eine solche Störung drückt
sich unter anderem aus, in der Unmöglichkeit bestimmte Gefühle, wie Eifersucht,
Neid, Zorn, Verlassenheit oder Angst bewußt zu erleben. An dessen Stelle treten
nicht selten Empfindungen von Leere, Sinnlosigkeit und Heimatlosigkeit.65
Alice Miller hat in der Biographie narzißtisch gestörter Menschen immer wieder das
gleiche Grundmuster gefunden. Die wahren Bedürfnisse und Gefühle wurden schon
in frühester Kindheit nicht wahrgenommen, mißachtet oder gar verachtet. Liebe und
Wertschätzung wurden diesen Kindern nur dann zu Teil, wenn sie sich nach den
Vorstellungen der Eltern verhielten, ihre Erwartungen erfüllten und dem Bild
entsprachen, das sie sich von ihnen gemacht hatten. Miller spricht in diesem
Zusammenhang auch von dem „begabten Kind“ oder dem „armen reichen Kind“ und
62
Miller, Drama des begabten Kindes, S. 21
ebd., S. 11
64
ebd., S. 24
65
ebd., S. 24 ff.
63
meint, daß diese Kinder meist zu einer sehr differenzierten Wahrnehmung fähig sind
und über die Begabung verfügen, die Bedürfnisse der Eltern „intuitiv, also auch
unbewußt zu spüren und zu beantworten, d. h. die ihm unbewußt zugeteilte Funktion
zu übernehmen.“66 Die Eltern dieser Kinder haben ebenfalls narzißtische Defizite und
suchen in der nächsten Generation das, was sie bei ihren eigenen Eltern ebenfalls
vermissen mußten: „ein Wesen, das ganz auf sie eingeht, sie ganz versteht und
ernstnimmt, das sie bewundert und ihnen folgt.“67 Alice Miller vertritt generell die
Auffassung, daß alle Menschen die Tendenz haben, die eigene, emotionale
Kindheitsgeschichte an ihren Sprößlingen zu wiederholen, es sei denn, sie haben in
der Zwischenzeit die Möglichkeit gehabt, ihr eigenes, verletztes inneres Kind zu
entdecken und sich seiner anzunehmen. So wird denn auch - ohne Introspektion die Narzißmusproblematik von Generation zu Generation weitergegeben.
Miller unterscheidet, wie bereits erwähnt, zwei Extremformen der narzißtischen
Störung, die an Kohuts Einteilung in eine „vertikale“ und eine „horizontale Spaltung“
erinnern und die sie als Kehrseite der jeweils anderen versteht: die Grandiosität und
die Depression.68
Sie charakterisiert in der Folge den „grandiosen Menschen“ als eine Persönlichkeit,
die unter dem inneren Zwang steht, alles „großartig“ und „glänzend“ zu machen und
die in ihrem Selbstwert von der Bewunderung anderer stark abhängig ist. In ihrem
Inneren sind solche Menschen aber leer, weil vom Eigenen nichts entwickelt werden
konnte. Sie vergleicht sie mit einem Luftballon, der bei güngstigem Wind hoch
hinauffliegen kann, durch ein plötzliches Loch aber zum kleinen Fetzchen wird, das
kümmerlich zu Boden fällt.69 Miller vermutet, daß in dem oft beschriebenen Neid
narzißtisch-grandioser Persönlichkeiten auf andere die Sehnsucht verschlüsselt ist,
in ihrem wahren Selbst geachtet, verstanden und ernstgenommen zu werden.
Unbewußt würden sie spüren, daß die Bewunderung, die sie erhalten, mit der Liebe,
die sie sich eigentlich wünschen und von der sie annehmen, daß sie anderen zuteil
wird, nicht ident ist.70 Die Depression ist, nach Miller, der Gegenpol der Grandiosität
und ihr ständiger, versteckter Begleiter. Sie wird dann manifest , wenn die
Großartigkeit aus bestimmten Gründen (z:B. im Alter) nicht mehr aufrechterhalten
66
ebd., S. 23 - 24
ebd., S. 22
68
ebd.; S. 68
69
ebd., S. 69
70
ebd., S. 70 - 71
67
werden kann oder zeigt sich in der Leere nach einem großen Erfolg, der nur
momentane Befriedigung brachte. Vielfach wird sie auch ins Außen verlagert, etwa in
einen permanent depressiven Partner, den es dann zu stützen und zu schützen gilt.
Sie kann sich auch als manifeste Erkrankung etablieren, deren grandioser Widerpart
dann im „moralischen Masochismus“ solcher Menschen und in den hohen
Ansprüchen an sich selbst auszumachen ist.71 Die Eigenschaften, mit denen Miller
die chronisch-depressiven, narzißtisch gestören Menschen beschreibt72, lassen den
Schluß zu, daß die depressive Persönlichkeit als wesensgleicher Gegenpol des
„grandiosen Menschen“ zu verstehen ist.
Trotz ihrer Gegensätzlichkeit haben Depression und Grandiosität für Miller die
gleiche Wurzel, sind Ausdruck des „falschen Selbst“, das sich - auf Kosten der
Authentizität - die Zuneigung der Eltern gesichert hat:
„Beide signalisieren ein inneres Gefängnis. Der Grandiose wie der Depressive
müssen zwanghaft die Erwartungen der introjizierten Mutter erfüllen; während aber
der Grandiose das gelungene Kind der Mutter ist, wird sich der Depressive vielmehr
als Versager erleben.“73
In ihrem therapeutischen Ansatz betont Alice Miller die „Empathie“ des Analytikers für
die Kindheitsgeschichte des Patienten, die sich in der Übertragung nochmals aufrollt.
Wenn narzißtische Menschen mittels Therapie zu der schmerzhaften Erkenntnis
gelangen, daß nicht sie, sondern nur ihr angepaßtes Selbst von den Eltern geliebt
wurde, dann kann durch Trauerarbeit ein Weg zum „wahren Selbst“ gefunden
werden.74 Die abgespaltenen und zunächst verheimlichten Größenphantasien
können integriert werden, wenn der Patient sie als „entfremdete Form“ der echten,
narzißtischen Bedürfnisse zu verstehen gelernt hat.75
Von einem existenzanalytischen Blickwinkel aus betrachtet, könnte man Alice Miller
als Anwältin für das Kind als Person betrachten. In ihrer Narzißmustheorie, die über
eine Beschreibung und Behandlung der narzißtischen Persönlichkeit im engeren
Sinne hinausgeht, legt sie ihr Augenmerk auf die personalen Verletzungen und
Demütigungen
71
ebd., S. 73 - 77
ebd., S. 19 - 21
73
ebd., S. 78
74
ebd., S. 33
75
ebd., S. 35
72
des
Kindes
und
dessen
Folgen
für
ein
erwachsenes
Selbstkonzept.
Sie
verzichtet
weitgehend
auf
komplexe,
psychoanalytische
Strukturmodelle und setzt ihren Schwerpunkt dort, wo die eingangs dargestellten
Theorien einen „blinden Fleck“ zu haben scheinen: in dem Aufspüren des
Authentischen und dessen Bedeutung für die Narzißmusproblematik. In ihren
Beschreibungen und Falldarstellungen gewinnt man zwar den Eindruck, daß sie die
Thematik mehr von der depressiven Seite her beleuchtet und es vielleicht fraglich ist,
ob eine empathische Grundhaltung in der Therapie das (alleinige) Mittel der Wahl bei
narzißtisch-grandiosen Patienten ist, die ihr empfindliches Größenselbst mit vielen
Abwehrmechanismen schützen. Was die Darstellung der Grundproblematik des
Narzißmus betrifft, ist sie - wie im dritten Abschnitt noch deutlich werden wird - einem
existenzanalytischen Zugang sehr nahe und so findet sich einiges von ihrem
Gedankengut im dritten Kapitel, auch wenn es nicht direkt von ihrem Konzept
abgeleitet ist.
II. PHÄNOMENOLOGIE DER NARZISSTISCHEN PERSÖNLICHKEIT
Nach soviel Theorie ist es gar nicht leicht, sich der phänomenologischen Seite
zuzuwenden, wenngleich sie für das Verstehen und für die Diagnostik von
Bedeutung und Wert ist. In der Existenzanalyse gehen wir, wenn wir von
Phänomenologie sprechen, von der Definition Heideggers aus: Phänomenologisch
vorzugehen bedeutet, „das was sich zeigt, so wie es sich von sich selbst her zeigt,
von ihm selbst her sehen (zu) lassen.“76
Eine phänomenologische Vorgangsweise sollte von dem Bewußtsein getragen sein,
daß wir generell die Tendenz haben, Dinge zu schnell zu interpretieren, zu
kategorisieren und nach unserer Interessenslage zu bestimmen. Demgegenüber
erhebt die Phänomenologie die Forderung, zum Wesen der Dinge selbst - jenseits
allen Vorwissens und aller Vorurteile - vorzudringen.
Dies ist nun gerade bei dieser Thematik nicht leicht, handelt es sich beim Narzißmus
zunächst auch nicht um ein Phänomen, sondern um ein vieldiskutiertes theoretisches
Konzept, das zwar aus der Beobachtung einiger Phänomene abgeleitet worden,
jedoch keineswegs auf diese reduzierbar ist. Demgegenüber begegnen wir nun einer
Vielzahl von Bedeutungen des Begriffs Narzißmus und auch bezüglich der
Beschreibung der narzißtischen Persönlichkeit, beziehungsweise bezüglich der
Festschreibung, was denn nun unter einer narzißtischen Störung zu verstehen sei,
gibt es - wie im ersten Kapitel bereits deutlich wird - nicht eine Meinung.
Diese Umstände führen, will man auf eine phänomenologische Darstellung nicht
ganz verzichten, zu dem Paradox, zunächst eine begriffliche Einschränkung
vornehmen zu müssen, bevor man sich den narzißtischen Phänomenen gegenüber
öffnen kann: Denn phänomenologisch beschrieben werden können nur Wesenzüge
der narzißtischen Persönlichkeit, was wiederum zur Voraussetzung hat, festlegen zu
müssen, welchen Personen- oder Patientenkreis man hier zuordnen würde. Je nach
dem, ob man beispielsweise die Depression als die Kehrseite des grandiosen
Narzißmus versteht und die depressive Persönlichkeit den narzißtischen Störungen
zuordnet oder nicht, würde eine Beschreibung unterschiedlich ausfallen.
76
. Martin Heidegger: Sein und Zeit. Gesamtausgabe Bd. 2, Frankfurt 1977, S.46, zit. nach:
Helmuth Vetter: Die phänomenologische Haltung, in: Selbstbild und Weltsicht.
Tagungsbericht Nr. 1/1989 der GLE, S. 14
Um die Dinge nicht allzusehr zu komplizieren, möchte ich nun im folgenden vom
Typischsten ausgehen und die grandios-narzißtische Persönlichkeit beschreiben wie
sie auch im DSM III charakterisiert ist. Ich möchte es dabei dem Leser überlassen,
sich den Gegenpol - etwa den geringen Selbstwert, die übergroße Bescheidenheit
etc. - dazu vorzustellen und ihn (mit seiner vielleicht versteckten Grandiosität), mit
dem Beschriebenen in Verbindung zu bringen.
1. Ideal-sein-wollen
„Er staunt sich selbst an, und mit starrem Blick ist er wie gebannt, gleich einem Bild
aus parischem Marmor. Auf den Boden gestreckt, schaut er das Doppelgestirm seiner
Augen und sein Haar, eines Bacchus würdig, ja, würdig eines Apollo, die bartlosen
Wangen, den Hals wie aus Elfenbein, das holde Gesicht und die Röte, die sich mit
schneeigem Weiß mischt. Alles entzückt ihn, wodurch er entzückt.“77
Der mythologische Narziß, so wie ihn Ovid in seinen Metamorphosen beschreibt,
sieht sein Bild im Spiegel der Quelle und das, was er erblickt, ist idealtypisch schön,
makellos, ja clicheehaft, und er ist begeistert. Wie es mit Spiegeln so ist, nimmt er
nur diese eine, dem Wasser zugewandte Seite wahr, und sie bleibt letztendlich
unwirklich, denn, will er sie berühren, ist sie auch schon durch die Turbulenzen, die
er im Wasser erzeugt, verschwunden. Nur wenn er ganz starr und statisch bei
seinem Bild verharrt, bleibt es ihm erhalten. Daß es ihm nicht gelingt, sich von
diesem Bild zu lösen - obwohl er schließlich erkennt, daß er sich nicht in den anderen
sondern in sein eigenes Spiegelbild verliebt hat - besiegelt schließlich das Ende des
Narziß.
Menschen mit einer narzißtischen Persönlichkeitsstruktur haben eine sehr bildhafte
Vorstellung von sich und man könnte sagen, daß die Beschäftigung mit diesen
Bildern im wesentlichen die Beziehung ausmacht, die sie zu sich selbst haben.
Diese Bilder sind idealtypisch und superlativ, Ausdruck dessen, was oder wer man
idealerweise ist. Sie sind frei von Ambivalenz, hier gibt es keine Ungereimtheiten,
nichts Schräges, nichts Negatives, nichts Unvollkommenes. Sie ähneln den
Archetypen in Märchen und nicht selten nehmen sich narzißtische Persönlichkeiten
77
Ovid: Metamorphosen. Das Buch der Mythen und Verwandlungen. In Prosa neu übersetzt
von Gerhard Fink. Zürich 1989, S. 75
in Bildern von Märchenfiguren wahr. So findet man die Vorstellung „das Leben einer
Prinzessin zu führen“ recht häufig im Fallmaterial von Literatur über Narzißmus.
Jakob, ein Student Anfang 20, kam in Therapie, weil ihn seine Freundin geschickt
hatte. Unter anderem empfand sie es als störend, daß er in Gesprächen immer
gewinnen und die Argumente des anderen rhetorisch entkräften müsse. Schließlich
führte uns dieser Wesenszug zu Jakobs Selbstbild: Er sah sich als Helden, der alle
schwierigen Situationen meistert und am Ende immer gewinnt. Obwohl dieses
Heldenthema in manchen Variationen auftrat (so wollte er auch der obskure Klient
sein, der selbst erfahrenen Therapeuten ein Rätsel blieb) so war es im Kern doch
immer dasselbe, und er brachte es mit jenen Filmfiguren in Zusammenhang, die er
als Kind so bewundert hatte: Winnetou und Superman
Die Selbstbilder narzißtischer Klienten sind auch statisch, haben kein Geworden-sein
und lassen sich nicht so leicht durch die Wechselfälle des Lebens beeinflussen. Sie
springen höchsten um, in ihr absolutes Gegenteil, wenn sich die idealtypische Seite
in einer Krise nicht aufrechterhalten läßt.
Es kann immer ein und dasselbe Bild sein oder es sind mehrere. Manche
narzißtischen Persönlichkeiten sind wahre „Bilderstürmer“, d.h. sie sehen und suchen
sich in immer neuen Bildern, abhängig davon in welchem Umfeld sie sich gerade
bewegen, mit welchen Menschen sie gerade Kontakt haben. Man könnte sagen, daß
in solchen Fällen, daß Ideal-sein zum absoluten Lebensmodus geworden ist.
So war es auch bei Jakob, der eine erstaunliche Fähigkeit hatte, sich selbst mit einer
gewissen Distanz zu beschreiben. Er erzählte, daß er in allem, was er tut, sich
bemüht, ideal zu sein. So würde er z.B., während er mit mir spricht, sich überlegen,
was ich wohl als Therapeutin nun gerne hören möchte/ was der ideale Klient wohl
jetzt sagen würde. Auch in der Beziehung zu seiner Freundin war er sehr bemüht,
alles recht zu machen. In schlechter Stimmung gab es zwar sehr viele Dinge, die ihn
störten, ihre Ungeschicklichkeit, die schlechte Körperhaltung, der schaffe Bauch.
Weil er aber „ein idealer Partner“ sein wolle, halte er sich mit dieser Kritik zurück. Im
Studium käme er nicht recht voran. Er habe sich vorgenommen in der Mindestzeit
fertig zu werden und weiß genau, wieviele Lehrveranstaltungen er pro Semester
besuchen muß, um dieses Ziel zu erreichen. Dies tut er dann auch, was dazu führt,
daß er sich nirgends wirklich auskennt. Er möchte in der Vorlesung aber keine
Fragen stellen, weil er nicht zugeben kann, daß er nicht schon alles weiß, versteht
dann immer weniger und geht letztlich dann nicht mehr hin.
Die Beziehung, die narzißtische Persönlichkeiten zu ihren Selbstbildern haben, ist, so
könnte man sagen, eine visuelle: Sie sehen sie sich an, sie stellen sie sich vor, sie
zeigen sie her, sie sind ihr Augenmaß. So wie Narziß sein Spiegelbild nur
ansehen,es aber nicht berühren kann, ohne daß es verschwindet, so vermeiden es
Menschen mit narzißtischer Persönlichkeit, mit ihren Selbstvorstellungen wirklich in
Kontakt zu kommen. „Wo haben sie erlebt, daß sie so sind?“ wäre eine mörderische
therapeutische Frage. Narzißtische Persönlichkeiten möchten sich der Begrenzung
der Realität in dieser Hinsicht nicht stellen, möchten nicht erfahren, daß manches
von ihrer eingebildeten Größe einer Prüfung nicht standhalten würde. Oft suchen sie
sich deshalb repräsentative Aufgaben, wo sie die Kleinarbeit nicht machen müssen,
sind aus auf den schnellen Erfolg. Manche haben ein außerordentliches Geschick,
eine (vielleicht relativ simple Idee) äußerst erfolgreich zu verkaufen. Andere bleiben
mit ihren Fähigkeiten lieber in einer „Wenn-dann-Beziehung“. Sie gefallen sich darin,
zu erzählen, was sie alles getan oder erreicht hätten, hätten sie nur die Möglichkeit
dazu gehabt. So war z.B. Fritz davon überzeugt, daß er, wenn er die Möglichkeit zum
Studium gehabt hätte, dieses ganz toll und in der Mindestzeit absolviert hätte.
Auf diesen Bildern von vorgestellter Größe ist ihre Identität aufgebaut. Narzißtische
Menschen vermeiden es, mittelmäßig zu sein und können sich deshalb nicht
realistisch einschätzen. Es gibt kein trial and error, keine mühsam errungenen
Einsichten. Sie nehmen sich nicht in der Tiefendimension wahr, und es ist ihnen
unmöglich zu erzählen, wie sie geworden sind, was sie geprägt hat. Sie haben, was
ihr Selbstbild betrifft, keine Geschichte. Sie wirken oft unreif, jugendlich und man hat
manchmal sogar den Eindurck, sie wären noch überhaupt nicht wirklich geboren. Sie
sehen sich als etwas besonderes, das noch niemand so richtig erkannt hat oder das
noch in seiner Potentialität schlummert. Auch in dieser Hinsicht entziehen sie sich
der Begrenzung: Alles ist immer möglich, alles - das Beste - ist immer noch drin.
So wollte sich Jakob beispielsweise beruflich nicht festlegen. Er sagte, hinsichtlich
seiner Berufswahl sei er sich sowieso nicht sicher, er studiere Medizin, damit er halt
etwas macht. Er glaube, daß er potentiell alle Möglichkeiten und alle Fähigkeiten
habe, würde er sich aber für etwas entscheiden, dann blieben seine anderen
Begabungen unentdeckt. Würde er z.B. ein guter Bergsteiger werden, so sähen
wahrscheinlich alle den Naturburschen in ihm und würden ihn dann darauf
reduzieren und z.B. seine intellektuellen Fähigkeiten nicht wahrnehmen.
Narzißtische Persönlichkeiten sind, was ihre Identität betrifft, bildlich gesagt, Tänzer
im leeren Raum. Ihr Maß ist das Beste, doch da es nicht gelebt, nicht im realen
Leben verankert ist, bleibt es unkonkret und letztlich ohne Grund. Dieses Vage und
Unbegrenzte in der Identität narzißtischer Persönlichkeiten ist atmosphärisch deutlich
spürbar. Man spürt, daß sie trotz der mehr oder minder offensichtlich gezeigten
Größe unsicher sind und keinen festen Boden unter den Füßen haben.
2. Gefühle
Da Menschen mit narzißtischer Persönlichkeit sehr stark mit ihren Selbstbildern
beschäftigt sind, haben sie dementsprechende Schwierigkeiten, Gefühle bei sich
wahrzunehmen und diese auszudrücken. Ihre „Heimat“ ist der Kopf, nicht das Herz
und nicht der Bauch. Oft sind es ausgesprochen intellektuelle Menschen mit sehr
gutem Reflexionsvermögen, meist auch sehr gewandt, um Argumente nie verlegen,
was sich nicht zuletzt oft in einer ausgesprochenen rhetorischen Begabung
ausdrücken kann.
Wenn man der von A. Längle getroffenen Unterscheidung der Gefühle in
„zuständliche Gefühle“ und „wahrnehmende Gefühle“ folgt78, so läßt sich vermerken,
daß narzißtische Menschen vorwiegend in der ersten Gruppe „zu Hause sind“. Die
Vorstellungen, die sie von sich haben, das, was sie idealerweise sein möchten, stellt
sich zumeist vor das wahrnehmende Fühlen, d. h.vor das unmittelbare, auf einen
Wert hin ausgerichtete Erleben und somit vor die konkret sinnliche, geerdete Selbstund Welterfahrung. Das „sich etwas zusammendenken, sich etwas ausmalen“
dominiert vor dem „in Berührung kommen“ mit sich und der Welt. In diesem Sinne
wirken sie zumeist ein bißchen abgehoben/ungeerdet.
Narzißtische Persönlichkeiten fühlen, wie erwähnt, mehr im Empfindungsbereich,
also in jener Kategorie von Gefühlen, die nicht in der realen Situation gründen,
sondern in diese hineingetragen werden und auf biographische Bezüge hinweisen,
die in der therapeutischen Situation zu erhellen sind79.Das Zuständliche und in
diesem Sinne auch das Selbstbezogene hat Vorrang gegenüber dem Gerichteten;
das Wünschen, das Erspüren eines Mangels steht vor dem wertbezogenen Wollen.
Sie fühlen oft eine starke, regressiv anmutende Sehnsucht nach einem Idealzustand,
in welchem alle Mühen, Unsicherheiten und Unzulänglichkeiten ein Ende haben.
Manchmal richtet sich diese Sehnsucht auf vergangene und (zumindest retrospektiv)
ideal empfundene Lebensumstände („es soll wieder so schön und einmalig werden,
wie es damals war“) oder sie bezieht sich auf einen zukünftigen Moment, in welchem
die eigene Vollkommenheit erreicht ist und man sich in dieser ausruhen kann:
78
Alfried Längle: Kann ich mich auf mein Gefühl verlassen? Öffentlicher Vortrag bei der
Tagung der GLE in Feldkirch am 15. 4. 1994. Tonbandaufzeichnung
79
ebd.
Jakob, der sich in buddhistischer Meditation und Philosophie unterweisen ließ,
sehnte sich danach, den Zustand absoluter Weisheit und Vollkommenheit zu
erreichen und in diesem gleichsam zu ruhen. Er hatte die Phantasie, daß ihn sein
Meister eines Tages als herausragenden Schüler erkennen und ihn auf die gleiche
Stufe der absoluten Weisheit heben würde. Dann hätte alle Unsicherheit und
Ungewißheit über die eigenen Lebensvorstellungen ein Ende.
Analog zu der Polarisierung ihrer Selbstvorstellungen in „ideal“ und „schlecht“ haben
narzißtische Persönlichkeiten die Tendenz, ausschließlich die Extreme des
Empfindungsspektrums
wahrzunehmen:
Hochstimmung
wechselt
mit
Niedergeschlagenheit, Begeisterung mit Leere, das Gefühl, nichts und niemanden zu
brauchen mit kläglichem Empfinden von Einsamkeit und Angewiesen-sein.
Zu Therapiebeginn dominiert zumeist der negative Pol des Empfindungsspektrums.
Die narzißtischen Klienten fühlen sich dann leer und antriebslos, einsam und von
anderen ungeliebt oder mißachtet; sie spüren, daß etwas verlorengegangen ist, ohne
dieses etwas jedoch genauer benennen zu können. Bei der depressiven
Symptomatik steht athmosphärisch immer die Leere und nicht Versagen oder
Scheitern im Vordergrund.
Das Zuständliche der Gefühle und ihre Ungeerdetheit finden auch darin ihren
Ausdruck, daß sie nur momentane und situative Bedeutung haben. Gefühle kommen
und zerplatzen wie Seifenblasen. Aus ihnen wird nie die Gewißheit, daß etwas so ist
und bleibt, wie man es gerade empfunden hat.
Ganz besonders gilt dies für den Bereich des Selbstwerts, der mangels an innerem
Begründet-sein, stark vom außen, vom Vorhandensein oder Fehlen von Bestätigung
abhängig ist.
Hannah, Schauspielerin von Beruf, hatte ein Engagement beim Film. Die Drehtage
verliefen zügig und gut, sie war zufrieden mit sich und in Hochstimmung über ihre
schauspielerischen Leistungen. Nach einigen Tagen erhielt sie einen Anruf, daß
etwas nachgedreht werden müsse. Ohne auch nur nach den Gründen zu fragen,
sackte ihre Stimmung in den Keller. Nun glaubte sie, daß sie in Wirklichkeit total
schlecht gewesen war, daß das, was sie dort gezeigt hatte, einer Bewertung nicht
standgehalten hatte.
Ähnlich war es bei Ester: Ihre Stimmungslabiltät bezog sich zwar nicht auf die
Beurteilung ihrer Leistungen und damit auf die fähigkeitsbezogene Seite des
Selbstwerts, sondern auf das Gefühl oder die Gewißheit, in einer Gruppe als wichtig
wahrgenommen zu werden. Esters Stimmungslage war zumeist gedämpft-depressiv,
konnte aber in plötzliche Hochstimmung umschlagen, wenn es ihr gelang, bei
anderen Anerkennung zu finden. Sie berichtete, daß ihr Sommerurlaub, dem sie
zunächst ängstlich und pessimistisch entgegengebangt hatte, ein voller Erfolg
gewesen war. Bei näherer Beschreibung stellte sich heraus, daß es sich um drei
anfängliche Ereignisse handelte, die sie gleichermaßen „umzupolen“ vermochten:
Sie hatte sich beim Sightseeing in London verlaufen und schon geglaubt der Bus sei
ohne sie abgefahren. Es erwies sich jedoch, daß sie alle gesucht hatten und über
ihre Rückkehr sehr froh waren. Jeder kannte sie nun und viele machten auch am
nächsten Tag noch wohlmeinende Witze über das Ereignis.
Der Lehrer des Sprachkurses wurde durch ihren Namen an einen Popsong erinnert,
denn er spaßeshalber zu trällern begann, wenn sie in die Stunde kam.
Zwei miteinander befreundete Mädchen, mit denen sie nur ein paar Worte
gewechselt hatte, baten sie, sich mit ihnen fotografieren zu lassen.
So wie Hannah die Zufriedenheit der Drehtage nicht mehr spüren konnte als der
Anruf kam, so konnten sich auch bei Ester diese „Erfolge“ nicht in die Gewißheit
verwandeln, daß sie für andere interessant und attrativ sein konnte. Das Hochgefühl
und somit auch die Fähigkeit, in Gruppen Aufmerksamkeit zu erhalten, verblaßten mit
dem Ende des Sommers.
Daß das Gestimmt-sein von Menschen mit narzißtischer Persönlichkeitsstruktur sehr
stark von momentaner Bestätigung und Anerkennung abhängt und sie in dieser
Beziehung eine hohe Labilität und Empfindlichkeit besitzen, wird noch an einem
anderen Phänomen deutlich: an dem, der hohen Schambereitschaft. Kohut spricht in
diesem Zusammenhang von einer hohen Anfälligkeit zu sogenannten „traumatischen
Ereignissen“80. Damit meint er alltägliche Situationen, die jeder als harmlos und
unbedeutend bewerten würde, für solche Menschen aber narzißtisch bedeutsam sind
und intensive Peinlichkeitsgefühle auslösen. Als Beispiel nennt er etwa, das Erzählen
eines Witzes, der von den anderen aber gerade nicht als komisch erlebt wird. Die
Intensität der Reaktion kann nach seiner Ansicht dadurch erklärt werden, daß sich
der Betreffende gerade in einem Zustand der Offenheit und der Erwartung auf
Bestätigung befunden hatte oder in seinen Worten:
„daß eine Zurückweisung plötzlich und unerwartet gerade in dem Augenblick erfolgte,
als der Patient hierfür besonders verwundbar war, das heißt in dem Augenblick, als er
zu glänzen hoffte und Zustimmung zu seinen Phantasien voraussetzte.“81
Auch für Ernst ist der Zustand der Exponiertheit, in welchem sich narzißtische
Persönlichkeiten hinsichtlich ihres Selbstwertes befinden, die Erklärung für die leichte
Schamanfälligkeit. Er hält das Gefühl der Scham für so charakteristisch, daß er den
80
81
Kohut, Narzißmus, S. 263
ebd.
Narzißmus, die„Krankheit des aufgeblähten Selbst“, als „nichts anderes als ein Form
des Scham-Managements“ versteht.82
Die Exponiertheit des Selbst einerseits bei gleichzeitig starker Selbstbezogenheit
andererseits, führt uns auch zu den charakteristischen Ängsten narzißtischer
Menschen. Auf einer unbewußten Ebene spüren sie, meiner Ansicht nach, die
Wackeligkeit ihrer Selbstvorstellungen, ihr schwaches Identitätsgefühl und fürchten
sich davor, ihre Größenphantasien könnten eines Tages zusammenbrechen und sie
selbst wären nichts, hohl und leer. Auf der Ebene des bewußten Erlebens spüren
narzißtische Menschen wenngleich wenig Angst, ja es ist sogar nicht selten, daß sie
sich übermütig gefahrvollen Situationen aussetzen 83, den in ihrer Selbstvorstellung
so oft vorhandenen „Helden“ spielen.
Ihre Angst verbirgt sich vielmehr hinter einer Art Kompensationsmechanismus und
kommt in einer zwänglichen Kompontente zum Ausdruck, dergestalt, daß manche
Lebensbereiche (z.B. Essen, aber auch Kommunikation, Tagesgestaltung) stark
kontrolliert und verfeinert sind, Spontanität zugunsten von strengen Regeln und
Perfektionismus geopfert wird.
Jakob hatte sehr vieles in seinem Leben nach strengen Regeln geordnet. Er ernährte
sich rein vegetarisch, machte regelmäßig seine Meditationsübungen, trank keinen
Alkohol obwohl er ein ausgesprochener Weinkenner war. Er hatte einen straffen, auf
Mindeststudiendauer abgestimmten Studienplan und ein genau abgestecktes,
tägliches Lernpensum. Er war sehr auf einen schlanken, muskulären Körper bedacht
und verachtete diesbezüglich weichere Formen. Er hatte große Schwierigkeiten mit
Spontanität, obwohl er sich z.b manchmal wünschte, mit jemandem ganz zwanglos
plaudern zu können. Er konnte überhaupt nicht damit umgehen, wenn jemand etwas
pauschal behauptete, er prüfte seine Argumente stets genau, bevor er etwas sagte.
Obwohl in diesen Verhaltensweisen auch das Bestreben, ideal und perfekt zu sein,
seiner Größenvorstellung gerecht zu werden, zum Ausdruck kommt, wurde doch
auch spürbar, daß sie einen Halt in seinem Leben darstellten, ohne welchen er
bezüglich dem, was er ist und was er werden möchte, vollkommen orientierungslos
gewesen wäre.Sie schienen mir gleichsam Stütze seiner Identität und Sinnersatz zu
sein. In gewissem Maße war er sich dieses Umstandes sogar bewußt, denn er
formulierte eines seiner Therapieziele folgendermaßen:
„Bei vielen Dingen weiß ich nicht, ob sie richtig sind. Ich würde gerne diese falsche
Sicherheit verlieren, die ein Schutzschild ist, und richtige Sicherheit gewinnen.“
82
83
Heiko Ernst: Scham als Barriere der Selbstsicherheit, in: Psychologie heute. 3/96, S.29
vgl. Kohut, Narzißmus, S. 123 - 124
Kohut, der nicht über zwängliche Verarbeitungsmechanismen berichtet, gibt an, daß
narzißtische Persönlichkeiten eher unter unbestimmten Ängsten, körperlichen
Spannungen und Druckempfindungen leiden und oder „von inhaltsoser ängstlicher
Erregung usw. sprechen oder (...) von Kindheitserlebnissen des Alleinseins, des
Sich-nicht-ganz-lebendig-fühlens und dergleichen erzählen.“84
Er fand in seiner
analytischen Arbeit ebenfalls eine dahinterliegende Angst vor Ich-Verlust, jedoch in
dem Sinne, daß die Größenphantasien überhand nehmen und die integrierende
Funktion des Ich zerstören könnten.85
3. Beziehung zum eigenen Körper
Wenn wir vom Alltagsverständnis von Narzißmus ausgehen, so steht das Körperliche
oft im Vordergrund. Wir bezeichnen gerne jemanden als narzißtisch, der viel Zeit vor
dem Spiegel verbringt, sehr bedacht auf sein Äußeres ist und sich selbst unheimlich
schön findet.
Auch im Mythos verliebt sich, ja verfällt Narziß seinem körperlichen Spiegelbild, dem
„Doppelgestirn seiner Augen“, seinem „Bacchus-gleichen“ Haar, seinem „Hals wie
aus Elfenbein“, seinem „holden Gesicht“86.
Auch
wenn
Menschen
mit
narzißtischer
Persönlichkeitsstruktur
nicht
notwendigerweise auf ihr Äußeres besonderen Wert legen87, so findet es man doch
nicht selten, daß sich ihr Selbstbild, ihr Ideal-sein-wollen auch auf ihren Körper
bezieht, beziehungsweise auf jenen des bewunderten und idealisierten Gegenübers.
Wenn ich im vorangegangenen Abschnitt zum Selbstbild beschrieben habe, daß die
Beziehung, die narzißtische Menschen zu sich selbst haben, eine visuelle ist, so trifft
dies auch und in ganz besonderer Weise auf ihren Körper zu: Er ist das
84
Kohut, Narzi0mus, S. 180 - 181
ebd., S. 179
86
Ovid, Metamorphosen, S.75
87
Immer beziehen sich die Größenvorstellungen jedoch auf Äußeres und Äußerlichkeiten in
dem Sinne, daß sie hergezeigt werden können. Das Herzeigen an sich, das Glänzen in den
Augen der anderen hat bei der narzißtischen Persönlichkeit einen zentralen Stellenwert,
sodaß, wenn auch nicht notwendigerweise der eigenen Körper, so doch immer bestimmte
Attribute der eigenen Größe zur Schau gestellt werden, sei es das tolle Auto, die stilvolle
Wohnung, die einflußreichen, berühmten Freunde etc..
85
Ausstellungsstück, um bewundernde Blicke auf sich zu ziehen. Er wird gestylt,
abgespeckt und nach der neuesten Mode gekleidet. Es ist nicht von Belang, wie er
sich anfühlt, es fällt schwer, ihn überhaupt zu fühlen, auf seine Signale zu achten,
liebevoll mit ihm umzugehen. Er wird nicht so sehr geschätzt als Behausung, als
Grundlage, Lust und Genuß zu erleben, es zählt allein das Aussehen, das Äußere.
Volkan und Ast bringen ein in dieser Hinsicht extremes Fallbeispiel in welchem der
„Wert“ des Äußeren beinahe über den Wert des Überlebens gestellt wird:
Sie berichten von George, der in besonderem Maße auf seinen schönen Körper stolz
war. Er arbeitete unter anderem für einen Maler als Nacktmodell und stellte sich bei
solchen Gelegenheiten gerne vor, daß die ganze Stadt zusammenlaufen würde, um
ihn zu bewundern. Eines Tages hatte er einen Verkehrsunfall und erlitt erhebliche
innere Verletzungen. Zunächst gelang es ihm, das Krankenhaus wieder zu
verlassen, indem er beteuerte, es fehle im nichts. Als er nach einem
Zusammenbruch erneut eingeliefert wurde und er sich einer Notoperation
unterziehen mußte, um die lebensgefährlichen inneren Blutungen zu stillen, willigte
er in diese erst ein, nachdem ihm „der Chirurg das Versprechen gegeben hatte, den
Schnitt so zu führen, daß George später eine „ganz besonders schöne Narbe“
habe.“88
Wenn der Körper die Funktion eines Austellungsstückes erhält, so hat dies auch
Auswirkungen auf die Sexualität. Vielfach läßt sich in diesem Zusammenhang
beobachten, daß dann nicht so sehr das sexuelle Erleben, das Genießen des
anderen und des eigenen Körpers im Vordergrund steht, sondern das Bestrachten
oder Betrachtet-werden. Nicht selten findet man eine Vermeidung von zu viel Nähe,
von inniger Umarmung und leidenschaftlicher sexueller Vereinigung. Sexualität erhält
dadurch eine kühle, distanzierte und ästhetisierte Note.
Edith war eine sehr schöne Frau, die sich attraktiv und auffallend zu kleiden wußte.
Obwohl ihr Äußeres für den männlichen Blick eine eindeutige Botschaft hatte,
machte sie sich in Wirklichkeit nichts aus Sex, ja sie empfand einen Ekel vor
wirklichem Geschlechtsverkehr und war immer entsetzt wenn ihr Männer
diesbezüglich eindeutige Angebote machten. Daß sie sich lieber in ihrer Schönheit
betrachten lassen wollte, kam auch in der Gestaltung ihres Schlafzimmers zum
Ausdruck, von dem sie einmal berichtete. Sie hatte dort lebensgroße Fotos von sich
aufgehängt, die ihr Freund, der ihr Äußeres sehr bewunderte, von ihr gemacht hatte
.
Daß es besonders auf das Erscheinungsbild ankommt und eine mangelhafte
Beziehung zum eigenen Körper besteht, findet seinen Niederschlag auch im
Eindruck, den narzißtische Menschen machen. Sie wirken in ihrer Körperlichkeit oft
steril, masken- oder statuenhaft, haben etwas zeit- und altersloses. Auch wenn sich
88
Volkan und Ast, Spektum des Narzißmus, S. 59 - 60
Spuren des Älter-werdens in ihren Gesichtszügen zeigen, so hat man nicht den
Eindruck, daß gelebtes Leben im Körperlichen zum Ausdruck kommt, es fehlt die
Reife. Sie wirken vielmehr wie gealterte Jugendliche, die die Mitte des Lebens auf
eine Art übersprungen und ausgelassen haben.
Noch unvermeidlicher als Krankheit und Verletzung, stellt das Alter eine Gefahr für
die ideale Schönheit, den perfekten Körper dar. Narzißtische Menschen wollen sich
dieser natürlichen Grenze, dieser Begrenzheit nicht gerne stellen. Nicht selten kommt
dann in hypochondrischen Ängsten oder in ängstlicher Besorgtheit um ihr Äußeres
zum Ausdruck, was sie aus ihrem bewußten Erleben verbannt haben: daß sie älter
werden und eines Tages sterben müssen.
Auch Anna setzte sich mit diesen Fragen nicht direkt auseinander. Sie war eine
ausgesprochen hübsche Frau mit ebenmäßigem Gesicht, gewelltem Haar und guter
Figur. Da sie ihre Haare mit Henna zu färben pflegte und Selbstbräunungscreme
benutzte, erweckte sie beim Gegenüber die Phantasie, eine lebendig gewordene
Broncestatue vor sich zu haben. Trotzdem war sie ihrem Äußeren gegenüber
skeptisch. Bei genauerer Betrachtung stellte sich jedoch heraus, daß sie mit dem
Status-quo durchaus zufrieden war. Es war die Aussicht auf den
schönheitsmindernden Prozeß des Älter-werdens, der sie beunruhigte. Hätte sie eine
Garantie, daß ihr Körper so bliebe wie er gerade war, wäre sie mit ihm einverstanden
gewesen.
Wenn man sich diese Phänomene im Umgang mit dem Körper bei narzißtischen
Menschen vergegenwärtigt, drängen sich viele Parallelen zum Verhalten von
Personen mit Eßstörungen auf. Auch sie führt ihr kritischer Blick immer wieder vor
den Spiegel, wir finden die gleiche verstärkte und ebenfalls visuelle Aufmerksamkeit
auf das körperlich Äußere, das Bemühen um den idealen Körper und auch die große
Bedeutung, die die Figur für das eigene Selbstbild und den Selbstwert hat. Mit den
narzißtischen
Persönlichkeiten
teilen
sie auch
die
im
Abschnitt
„Gefühle“
beschriebene zwängliche Komponente, sie reglementieren den Bereich der
Ernährung sehr genau, oft aber auch noch andere Lebensbereiche. Natürlich
befinden sie sich, was das Ideal-sein betrifft auf der anderen Seite, finden sich
abgrundtief häßlich und in ihrer Körperlichkeit abstoßend dick. In ihrem Bestreben
aber, die ideale Figur koste-es-was-es- wolle zu erreichen, verhalten sie sich ähnlich
wie George im Fallbeispiel von Volkan und Ast, der fast lieber sterben wollte, als eine
Narbe an seinem idealen Körper hinnehmen zu müssen. Gerade bei der
jugendlichen Annorexie ist künstliche Ernährung , um die Gesundheit und das Leben
der jeweiligen Patientin zu retten, keine so seltene Maßnahme. Zusätzlich glaube ich,
ohne dies jedoch hier genauer ausführen zu wollen, daß sich einige biographische
Parallelen finden würden.
Obwohl Eßstörungen auch bei narzißtischen Persönlichkeiten vorkommen, möchte
ich mit den hier angeführten Ähnlichkeiten nicht nahelegen, daß sie zum Bereich der
narzißtischen Störungen gehören. Man findet sie, wie man weiß, ja auch bei anderen
Persönlichkeitsstrukturen, nach meiner Erfahrung nicht so selten bei histrionischen
Persönlichkeiten. Allerdings wäre es interessant zu untersuchen, ob sich hinter der
teilweisen Gemeinsamkeit der Phänomene auch eine ähnliche existentielle Thematik
verbirgt.
4. Beziehung zu anderen
Da Menschen mit narzißtischer Persönlichkeit, wie bereits beschrieben, sehr stark
mit sich selbst und ihren idealen Selbstbildern beschäftigt sind, wundert es nicht, daß
sie dementsprechende Schwierigkeiten haben, sich anderen in ihrem jeweiligen Sosein und ihrer Andersartigkeit zuzuwenden. Jürg Wunderli spricht in diesem
Zusammenhang von einem „Versagen der Ich-Du-Begegnung“.89 Dies bedeutet nun
natürlich nicht, daß narzißtische Menschen ganz und gar beziehungsunfähig sind,
sich für andere nicht interessieren oder keine Kontakte brauchen würden.Vielmehr
gestalten sie ihre Beziehungen auf eine bestimmte Weise. Kohut hält die Art der
Beziehungsgestaltung von Narzißten für so charakteristisch, daß er, wie im 1. Kapitel
bereits
beschrieben,
rät,
Übertragungsbeziehung
zum
sie
(genauer
Analytiker)
gesagt,
als
die
wichtigstes
sich
entfaltende
Diagnosekriterium
heranzuziehen. Wie bereits dargestellt, unterscheidet er im wesentlichen zwei
Grundbereiche
der
narzißtischen
Persönlichkeitsstörung,
den
Bereich
des
Größenselbst („ich bin ideal, großartig, vollkommen“) und den Bereich des
„allmächtigen Objekts“(„du bist großartig und vollkommen, aber ich bin ein Teil von
dir“). Analog zu dieser Einteilung nun, lassen sich zwei Grundphänomene
narzißtischer Beziehungsgestaltung ausmachen, die isoliert, gleichzeitig oder
einander abwechselnd auftreten können: das Phänomen des Bewundert-WerdenWollens und das der Idealisierung einer anderen Person.
89
Jürg Wunderli: Und innen die große Leere. Die narzißtische Depression und ihre Therapie.
Zürich 1989, S.67
Viele narzißtische Persönlichkeiten sind, während sie ihrer Arbeit nachgehen, Urlaub
machen oder beispielsweise gerade ihrem/ihrer Therapeuten/in gegenübersitzen, oft
nicht ganz bei der Sache. Ihr Blick ist nach Außen gerichtet, haftet am jeweiligen
Gegenüber, um zu beobachten, wie das, was sie gerade tun oder sagen, ankommt,
ob sie den Glanz der Bewunderung in den Augen des anderen wecken können, ob
sie dort eine Bestätigung dessen finden, was sie ohnehin glauben zu sein, aber
immer wieder hören möchten: daß sie etwas ganz besonderes und großartig sind.
Sie haben ein außerordentliches Gespür für Billigung oder Mißbilligung entwickelt
und versuchen zu ergründen, was der andere jetzt hören möchte oder womit man
gerade Eindruck machen könnte. Sie sind, ähnlich der histrionischen Persönlichkeit,
oft Meister der Darstellung, vermögen zu brillieren, zu monologisieren, andere in ihrer
Bann zu ziehen. Nicht von ungefähr findet man unter Führungspersönlichkeiten,
beliebten und anerkannten Lehrern, Politikern und Künstlern nicht wenige
„erfolgreiche Narzißten“. „Das Bad in der Menge“ oder „der Applaus als Brot des
Schauspielers“ sind sprichwörtlich geworden Beispiele von den „Highlights“ im Leben
narzißtischer Menschen. Nicht immer natürlich kommt das Phänomen des
Bewundert-werden-wollens so plakativ zum Ausdruck, verbirgt sich in der
therapeutischen
Situation
oft
hinter
Verhaltensweisen,
die
erst
auf
diese
Grundmotivation hin untersucht werden müssen.
So hatte z.B Magdalena außerordentliche Schwierigkeiten, sich von ihren jeweiligen
Partnern zu trennen, was dazu führte, daß sie ein mitunter recht anstrengendes
Doppelleben führen mußte. In der therapeutischen Arbeit gelang es herauszufinden,
daß sich hinter diesem Phänomen die Angst verbarg, im Fall einer von ihr initiierten
Trennung die Achtung in den Augen der jeweiligen Person zu verlieren, von welcher
sie zuvor bewundert und als einzigartig gesehen wurde. Nach ihren Worten strebte
sie an, die Beziehung so geschickt zu beenden, daß sie für denjenigen trotzdem „die
Frau des Lebens blieb, die er bedauerlicherweise nicht hatte halten können“. Gelang
ihr dies, war es ihr möglich, sich ohne viel Aufhebens zu trennen.
Daß viele Verhaltensweisen darauf ausgerichtet sind, das anerkennende Staunen
der anderen zu wecken oder einfach die Nummer eins zu sein, ist oft zu einer
zweiten Haut geworden und vielen gar nicht bewußt. Sie können dann zumeist gar
nicht sagen, warum es ihnen auf eimal wieder viel besser geht, depressive
Symptome oder hypochondrische Ängste plötzlich wieder verschwunden sind. Erst
im Laufe der Therpie gelingt es dann, soweit von sich Abstand zu nehmen, daß es
für den Betreffenden offenkundig wird und bearbeitet werden kann:
Nach einiger Zeit des therapeutischen Arbeitens bemerkte Hannah dann plötzlich wie
wenig sie bei den Dreharbeiten eigentlich mit ihrer Arbeit beschäftigt war, sondern
damit, wie sie mit ihrem Tun die Aufmerksamkeit der anderen, vorallem der
anwesenden Männer gewinnen könnte. Mit dieser gewonnen Distanz konnte sie es
auch zum ersten Mal erkennen, daß sie dies eigentlich in ihrer Arbeit behinderte,
empfand sie es als störend, nicht ganz bei der Sache sein zu können.
Nicht selten, wenn auch nicht notwendigerweise, bezieht sich das Bedürfnis in den
Augen des anderen zu glänzen auf das jeweils andere Geschlecht. Die unverholene
Bewunderung eines anderen zu gewinnen wird bei narzißtischen Menschen oft mit
Geliebt-werden verwechselt, weshalb sie die Tendenz haben, sich in ihre
Bewunderer zu verlieben, mit ihnen Beziehungen einzugehen. Gleichzeitig spüren
sie manchmal ein gewisses Befremden, da sie die Begeisterung, die ihnen
entgegengebracht wird, ihrem Partner nicht erwidern können. Meistens wird für
Außenstehende spürbar, daß sie nicht sehr an dieser Person hängen, daß sie
austauschbar ist und in gewissem Maße für ihre Zwecke mißbraucht wird. Manche
narzißtische Persönlichkeiten legen eine ausgesprochene Anspruchshaltung an den
Tag, erwarten, daß der Partner ihnen ein Leben bieten kann, das ihrer Größe
angemessen
ist.90
Nichtsdestotrotz
erweisen
sich
solche
narzißtischen
Beziehungskonfigurationen als relativ stabil, solange die Rollen fest verteilt sind und
es dem bewundernden Teil gelingt, die narzißtischen Bedürfnisse zu befriedigen.
Wenn die Beziehung aus irgendwelchen Gründen zerbricht, fällt es dem an seine
Größenvorstellung gebundenden Partner oft schwer, auf diese narzißtische Zufuhr
verzichten zu müssen und sich nun ganz zu lösen:
Beatrix, eine Studentin, hatte eine solch narzißtische Paarbeziehung zu David
gehabt. Er hatte sie immer sehr in ihren Größenvorstellungen, ihrem Souverän-Sein
bestätigt. Er sagte von ihr, sie sei die „femme fatale seines Lebens“, es würde
niemehr eine Frau für ihn geben, die an sie herankomme. Sie habe die „carte
blanche“ und könne jederzeit zu ihm zurückkommen. Obwohl er sich im realen
Beziehungsalltag als oft unzuverlässig erwiesen, ihr Vertrauen häufig mißbraucht und
sie sehr verletzt hatte, tat sie sich doch sehr schwer, von ihm ganz Abschied zu
nehmen.
Der bewundernde Partner, der das narzißtische Gleichgewicht aufrecht erhält, führt
uns zum anderen Pol narzißtischer Beziehungsgestaltung, dem der Idealisierung
einer anderen Person. Auch wenn die jeweiligen Positionen in einer narzißtischen
Paarbeziehung fix vergeben sind, so finden sich im Leben von in ihrer
Größenvorstellung
90
verharrenden
Narzißten
zumeist
einige
wenige,
die
siehe bespielsweise die Falldarstellung „Jennifer“ in: Volkan und Ast, Spektrum, S. 74
sie
bewundern, die ihnen als Vorbild der Vollkommenheit dienen. Sonst eher auf
Unabhängigkeit bedacht, können narzißtische Persönlichkeiten hier eine besondere,
kindlich
anmutende,
Anhänglichkeit
und
Klebrigkeit
entwickeln.
In
diesem
Zusammehang möchte ich nochmals Jakob nennen, der einen buddhistischen
Meditationslehrer hatte, dem er nacheiferte und von dem er sich wünschte, zum
ausgewählten Schüler erkoren zu werden. Die unterschwellige Unsicherheit, die von
der Realität oft bedrohten idealen Selbstvorstellungen narzißtischer Menschen führen
zu einer nicht selten zu beobachtenden Idealisierungstendenz anderer Menschen,
als seien sie stets auf der Suche nach dem Ideal, das über längere Zeit Ruhe und die
Sicherheit verschafft, daß man nun weiß, wer man ist. In der therapeutischen Praxis
wird man diesem Phänomen nicht selten begegnen. Man wird zum Guru erkoren und
ist aber auch schnell als solcher wieder abgesetzt. Jürg Wunderli gibt ein sehr
anschauliches Beispiel aus seiner therapeutischen Erfahrung:
„Peter, (...), besuchte eine Volkshochschulvorlesung bei mir über das Thema
Narzißmus. Blitzartig glaubte er, in mir den richtigen Analytiker gefunden zu haben.
Er empfand mich als einen Weisen, einen Wissenden, der ihm den Weg zu sich
selbst und seinen verborgenen Schätzen zeigen könne. So meldete er sich bei mir
zur Therapie an. Doch schon nach der ersten Sitzung hatte er folgenden Traum: (....)
Peter meinte zu diesem Traum, schon nach der ersten Stunde bei mir seien Zweifel in
ihm aufgekommen. Ich sehe viel älter aus als er, sagt er, obwohl er nur zwei Jahre
jünger ist, und eigentlich wäre er sowieso lieber zu einer Frau in die Therapie
gegangen. Im Traum sei alles voller Leben, bei mir sei alles so geordnet. Auch
spreche ich leise und unaufdringlich, meint er etwas vorwurfsvoll:“91
Die Abwertung als die andere Seite der Idealisierung erfolgt sehr rasch, wenn andere
Personen,
den
an
sie
herangetragenen
Anspruch
der
Perfektheit
und
Vollkommenheit nicht erfüllen können und somit nicht als Rollenvorbild geeignet sind.
Sie werden dann fallengelassen, werden vom Podest heruntergestürzt, um durch ein
anderes Ideal ersetzt zu werden.
Der plötzlich auftauchenden Geringsschätzung begegnen wir bei narzißtischen
Menschen noch in Zusammenhang mit einem anderen Phänomen, dem der leichten
Kränkbarkeit. Da sie ihre Fühler beständig zu den anderen ausgestreckt halten, um
sich zu vergewissern, daß sie etwas besonderes sind, sind sie an diesem Punkt auch
sehr empfindlich und leicht verletzlich. Sie sind geneigt, sofort etwas als
Zurückweisung, als Ablehnung ihrer Person zu interpretieren, wenn ihnen einmal
nicht die Aufmerksamkeit und Bewunderung zuteil wird, die sie sich gerade erwarten,
wenn die andere Person vielleicht gerade mit etwas anderem beschäftigt ist, oder
91
Wunderli, Innen die Leere, S.70
wenn sie auf eine Rückmeldung warten müssen. Um diese empfundene Verletzung
zu kompensieren, reagieren sich nicht selten mit einer Abwertung des Gegenübers
und postulieren ihre Unabhängigkeit von demselben..
Hannah hatte sich für ein Engagement in der Josefstadt beworben und wartete auf
eine Antwort. Als diese nicht gleich eintraf, begann sie in der Therapiestunde davon
zu reden, daß sie eigentlich gar nicht dort spielen möchte. „Die brauche ich nicht für
meine Laufbahn!“ sagte sie abwertend.
Luise war ein Jahr lang in ihren Vorgesetzten verliebt, den sie idealisierte und
bewunderte. Ohne ihre Gefühle zu zeigen (sie wich ihm eher aus), wartete sie
darauf, er möge auf sie zugehen. Als sich dies nicht einstellte, wich die Bewunderung
zunehmend der Geringsschätzung: „Wenn er jetzt käme, würde ich ihn abblitzen
lassen, ich habe mir wirklich etwas besseres verdient!“ sagte sie schließlich.
Ein anderer, ebenfalls häufig anzutreffender Modus mit dem Gekränktsein oder dem
generellen Ausgesetzt-sein umzugehen, der in der Haltung Hannahs, die nicht zu
brauchen, bereits angeklungen ist, ist die Abwendung von vormals wichtigen
Personen oder Institutionen, der Rückzug in die „splendid isolation“. Es ist ein
Zustand der Selbstgenügsamkeit auf hohem Niveau, ein Elfenbeinturm, der Überblick
und Weitblick gibt, ohne sich mit den „Mühen der Ebene“ oder des „Lebens da
unten“, mit den profanen oder niederen Dingen überhaupt abgeben zu müssen. Auch
der mythologische Narziß ist zunächst, bevor er an der Unerreichbarkeit seines
Spiegelbildes zugrunde geht, ein unabhängiger Einzelgänger, der nichts und
niemanden braucht und für seine Umwelt nur milde Verachtung übrig hat:
„Viele Jünglinge begehrten ihn, auch viele Mädchen, doch bei seiner zarten
Schönheit besaß er einen spröden Stolz: Ihn hat kein Jüngling gerührt und keines der
Mädchen“92
Narzißtische Menschen haben häufig keinen Freundeskreis, umgeben sich oft nur
mit wenigen oder überhaupt nur mit einer Person, wo sie sich relativ sicher sein
können, daß ihr Selbstbild keiner Gefahr ausgesetzt ist.
Auch Jakob lebte ziemlich zurückgezogen mit seiner Freundin. Er hatte in Wien
niemanden, den er als Freund hätte bezeichnen können. Im Allgemeinen war er über
diesen Umstand nicht sehr unglücklich. Er schätze seine Freundin als
Gesprächspartnerin in philosophischen und weltanschaulichen Belangen und
debattierte gerne mit ihr, weil er bei ihr ein gewisses Niveau voraussetzen konnte. Er
empfand es mühsam, sich mit anderen Personen zu unterhalten, denn hier müsse
man erst so vieles erklären, sich um banale Dinge streiten etc. So blieb er lieber in
seiner kleinen abgeschlossenen Welt, die er als niveauvoll, angenehm und ihm
entsprechend empfand.
92
Ovid, Metamorphosen, S. 73
Häufig findet sich diese Haltung der luxuriösen Abgeschiedenheit auch in der
Phantasie, „einsam aber glorreich an einem Ort zu leben, der von etwas
undurchlässigem - wie zum Beispiel Glas - umgeben ist.“93 Volkan und Ast
bezeichnen dieses Vorstellung, die sie bei nahezu allen ihrer Patienten in einer Form
fanden, als „Glaskugelphantasie“.
Die bereits beschriebene Sehnsucht Jakobs, einmal den Zustand absoluter Weisheit
zu erreichen und in diesem dann endlich ruhen zu können, ist meiner Ansicht nach
auch in dieses Phänomen einzuordnen, obwohl hier mehr das Zuständliche und nicht
ein phantasierter, geographischer Ort im Vordergrund steht.
Allen diesen phantasierten oder auch real inszenierten „retreats“ ist gemein, daß sie
einen regressiven Charakter haben, daß sie einen Zustand der Ruhe und
Zufriedenheit herbeisehnen oder zeitweilig schaffen, in welchem es absolut keine
Bedürfnisspannung gibt und keine Gefahr die Idylle einstürzen lassen kann.
Volkan und Ast zeigen anhand eines ihrer Fallbeispiele, daß sich Patienten zu
Beginn der Therapie in diesem Glaskugelzustand befinden können, der darin zum
Ausdruck kommen kann, daß sie in selbstzentrierter Weise von irgendwelchen
Erlebnissen berichten, ohne jedoch auf die Anfragen oder Interventionen des
Therapeuten zu reagieren oder ohne Gefühle aufkommen zu lassen.94 Sie sprechen
in diesem Zusammenhang auch von einer „Glaskugelübertragung“95
auf den
Therapeuten.
5. Besonderheiten in Sprache und Kommunikation
Da in der Sprache das In-Beziehung-sein zu anderen oft sehr deutlich zum Ausdruck
kommt, möchte ich an dieser Stelle noch kurz einiges zu diesbezüglichen
Besonderheiten narzißtischer Persönlichkeiten sagen. Wenn man davon ausgeht,
daß Sprache im wesentlichen zwei Hauptfunktionen erfüllt, die des Ausdrucks und
die der Kommunikation, so ist augenfällig, daß narzißtische Persönlichkeiten sich
hauptsächlich der ersteren bedienen. Sie vermögen wortreich und ausführlich zu
schildern, was ihnen gerade durch den Kopf
93
Volkan und Ast, Spektrum, S.54
ebd., S. 75 ff.
95
ebd., S. 78
94
geht und verbannen den
Gesprächspartner häufig in die Rolle des Zuhörers und des Stichwortgebers. Sie sind
Meister der Assoziation, das heißt sie vermögen Gesprächsinhalte aufzugreifen, um
dazu aus ihrer eigenen Erlebnis- und Erfahrungswelt zu berichten, ihre Philosophie
darzulegen, ihre Weisheit kundzutun. Nicht selten zeugen ihre Berichte von
persönlichem Erfolg, davon, daß sie eine Sache besonders klug, geschickt oder
bravourös gemeistert haben, sind also Mittel der Selbstdarstellung, Beweisstücke
ihrer Großartigkeit. Das ideale Gegenüber ist der andächtige, beeindruckte Zuhörer,
der an ihren Lippen hängt. Sehr oft sind narzißtische Persönlichkeiten im
sprachlichen Ausdruck auch sehr gewandt, vermögen etwas so darzulegen, daß es
klar und eindeutig erscheint, daß man dem nichts mehr hinzuzufügen hat. In ihrer
Sprechweise haben sie eine Tendenz zum Monolog, sie stellen an das Gegenüber
zumeist keine wirklichen Fragen, laden nicht zur Diskussion ein und wenn, dann ist
es ihnen wichtig, die besseren Argumente zu haben.
6. Abgrenzung zur histrionischen Persönlichkeit
Der Leser wird sich bei der Lektüre der oben beschriebenen Phänomene manchmal
gefragt haben, ob das eine oder andere denn nicht zum histrionischen Formenkreis
zuzuordnen ist. Auch ich habe, als ich mich mit dem Thema Narzißmus intensiver zu
beschäftigen begann, bei meinen histrionischen Klienten in zunehmendem Maße
narzißtische Elemente entdeckt und war dann zunächst verwirrt, inwieweit sich diese
beiden Persönlichkeitsbilder voneinander abgrenzen lassen.
Im DSM III wird ebenfalls der Ähnlichkeit Rechnung getragen, indem in der
Differentialdiagnose jeweils auf das andere Bild verwiesen und bei der „narzißtischen
Persönlichkeitsstörung“ angeführt wird, daß „häufig (...) gleichzeitig BorderlineHistrionische und Antisoziale Persönlichkeitsstörungen“ auftreten.96 Gleichzeitig
werden manche der diagnostischen Kriterien fast synonym beschrieben. So wird bei
der histrionischen Persönlichkeitsstörung beispielsweise angeführt: „fühlt sich unwohl
in Situationen, in denen er (Hervorhebung die Verf.) nicht im Mittelpunkt steht.“97
Fast gleichbedeutend lesen wir bei der narzißtischen Persönlichkeitsstörung dazu,
96
DSM-III-R. Diagnostische Kriterien und Differentialdiagnosen.Weinheim und Basel 1989,
S.279 - 280
97
ebd., S. 280
daß er (oder sie, wie ich meinen würde) „nach ständiger Aufmerksamkeit und
Bewunderung (verlangt), ist z.B. ständig auf Komplimente aus.“ 98 Darin klingt an,
daß es tatsächlich Parallelen gibt, auf die ich jedoch im folgenden nicht genauer
eingehen möchte und ich es dem Leser überlasse, sie in den bereits beschriebenen
Phänomenen selbst aufzufinden.
Der diagnostischen Differenzierung ist, so meine ich, mehr gedient, wenn ich im
folgenden kurz auf jene Phänomene eingehe, die fast gleich sind, d. h. die man zwar
mit gleichen Worten beschreiben kann, obwohl sie doch in einem unterschiedlichen
Licht zu sehen sind. Ebenfalls möchte ich charakteristische Unterschiede aufzeigen,
die in der therapeutischen Praxis eine diagnostische Orientierungshilfe sein können.
Natürlich ist bei alledem im Auge zu behalten, daß es in der Wirklichkeit kaum reine
Persönlichkeitstypen gibt und es auch oft eine Frage der Gewichtung ist, ob eine
Person als narzißtisch mit histrionischen Zügen eingestuft wird oder umgekehrt.
Bei der starken Ähnlichkeit der Phänomene möchte ich mit dem aus dem DSM III
angeführten Beispiel beginnen, mit dem Wunsch, in sozialen Situationen die
Aufmerksamkeit auf sich ziehen zu wollen. Von der histrionischen Persönlichkeit
wissen wir, daß sie gern im Mittelpunkt steht, die Blicke auf sich ziehen will und auch
ein hohe Kunst des Auftretens besitzt. Gleiches könnten wir von der narzißtischen
Persönlichkeit behaupten und doch gibt es Unterschiede, hinsichtlich der Art und
Weise, wie dieses Selbstinszenierung ausfällt und was damit zum Ausdruck gebracht
werden soll. Während es der Hysterikerin/ dem Hysteriker in erster Linie darum geht,
in einer jeweiligen Situation aufzufallen (man denke etwa an die auffallenden
Konversionssymptome) und sie/er nicht reflektiert, welches Selbstbild sie/er
präsentieren
möchte,
steht
im
Aufmerksamkeitsstreben
der
narzißtischen
Persönlichkeit immer eines im Hintergrund: er möchte sich von den anderen in
seinen
idealen
Selbstvorstellungen,
seiner
Größe
bestätigt
wissen.
Seine
Selbstinszenierung hat somit etwas kalkuliertes, reflektiertes, abgestimmtes und wird
kontinuierlicher ausfallen, als die der histrionischen Persönlichkeit. Auch hinsichtlich
der
„Bühne“,
auf
welcher
die
Selbstdarstellung
stattfindet,
ergeben
sich
Unterschiede. Menschen mit narzißtischer Persönlichkeit sind bestrebt, überall in
ihrer Größe wahrgenommen zu werden; ihre Bühne, so könnte man sagen, ist die
Welt schlechthin. In diesem Zusammenhang würde ich meinen, daß, wenn man von
98
ebd., S. 281
einer „Politikerpersönlichkeit“ überhaupt sprechen kann, sie eher dem Narzißtischen
zuzuordnen wäre. HysterikerInnen hingegen inszenieren sich vorwiegend bei
Menschen, die eine emotionale Bedeutung für sie haben, in der Partnerschaft, in der
Familie oder bei Freunden etc.
Mit dem Bewundert-werden-wollen eng im Zusammenhang steht die Fähigkeit zu
spüren, was der andere in der jeweiligen Situation nun gerne hören möchte, das
Bestreben, die Erwartungen des anderen zu erfüllen. Auch dieses Phänomen finden
wir bei beiden Persönlichkeitsstörungen gleichermaßen. Bei der histrionischen
Persönlichkeit allerdings ist das Bei-anderen-und-nicht-bei-sich-sein der vorwiegende
Lebensmodus, er ist in der jeweiligen Situation nahezu der andere, während es sich
beim narzißtischen Menschen hier wiederum um eine Strategie handelt, ideal zu
wirken. Ich möchte in diesem Zusammehang noch einmal Jakob erwähnen, der, wie
ich bereits beschrieben habe, sich während der Therapie überlegte, was ich gerne
hören möchte, um damit der ideale Klient sein zu können. Auch würde ich meinen,
daß HysterikerInnen diese intuitive Fähigkeit besser beherrschen, wohingegen
narzißtische Persönlichkeiten oft nur mit dem Nachdenken darüber beschäftigt sind,
ohne die Erwartungen des anderen wirklich zu erfassen.
Ein anderes ähnliches Phänomen bezieht sich auf die Art der Beziehungsgestaltung.
Beiden Persönlichkeitsbildern ist gemein, daß dieselben Personen auf recht
unterschiedliche, ja gegensätzliche Art wahrgenommen werden können und das die
Tendenz besteht, jemanden plötzlich zu entwerten und fallenzulassen, der vormals
als wichtig und bedeutsam gesehen wurde. Doch auch hier gibt es Unterschiede.
Bei narzißtischen Persönlichkeiten vollzieht sich dieser Modus auf dem Hintergrund
der bereits beschriebenen Idealisierungstendenz. Sie sind bestrebt, Vorbilder zu
suchen und sich mit deren Größe zu identifizieren; haben aber gleichzeitig einen
extrem kritischen, auf Fehler bedachten Blick. Da ja niemand bekanntlich perfekt ist,
passiert es dann recht häufig, daß das das Ideal zu bröckeln beginnt und es wird
dann ganz schnell abgewertet, die Beziehung zum anderen abgebrochen. Da sich
narzißtische Menschen selbst nur in dieser Bipolarität von Großartigkeit und
Nichtigkeit wahrnehmen können, so sehen sie den anderen auch in dieser Weise.
Bei histrionischen Persönlichkeiten hat das plötzliche Fallenlassen nicht einen
bestimmten Hintergrund, es können verschiedene Gründe und Anlässe sein. Hier ist
es mehr die Undifferenziertheit ihrer emotionalen Wahrnehmung, die Unfähigkeit, in
Beziehungen eine emotionale Kontinuität zu wahren, auch die oft unterschwellige
Angst vor dem Verlassenwerden,die zu den dann abrupten Beziehungsabbrüchen
führt.
Wenngleich wir also in der Beziehungsgestaltung Ähnlichkeiten ausmachen können,
so finden wir gerade auch in diesem Bereich charakteristische Unterschiede, die eine
diagnostische Differenzierung erleichtern.
Von ihrer gesamten Ausstrahlung her, erleben wir histrionische Persönlichkeiten in
ihre Beziehungen verstrickt; sie leiden mitunter bewußt unter ihrer leichten
Beeinflußbarkeit, verstehen es aber auch andere zu manipulieren, sich andere
gewogen zu halten. Narzißten sind und wirken unabhängiger. Sie haben nicht nur
etwas jugendliches, sonder auch etwas junggesellenhaftes, ungebundesnes. Die
anderen stehen nicht, so wie dies bei histrionischen Menschen der Fall ist, im
zentralen Blickfeld, sondern es ist die eigene Selbstvorstellung, auf die es ankommt.
Sie sind in besonderem Maße selbstbezogen, die anderen werden als austauschbar
wahrgenommen. Man kann dies an einem Beispiel noch etwas verdeutlichen:
Nehmen wir an, eine bestimmte soziale Situation verlangt es, jemanden etwas
mitzubringen. Narzißtischen Menschen würde dies in ihrer Selbstbezogenheit
vielleicht gar nicht auffallen, sie hätte nichts mit, würden an stelle dessen erzählen,
was sie gerade Bedeutendes tun etc. Histrionische Persönlichkeiten könnten sich
dem nicht entziehen, nur würden sie vielleicht das Geschenk als Mittel einsetzen,
einen bestimmten Zweck zu erreichen, vielleicht wäre es übertrieben teuer oder groß,
auffallend genug, um damit Eindruck zu erwecken.
Für Letztgenannte sind also Beziehungen wichtig auch in dem Sinne als sie nur
durch sie sich spüren und leben können. Histrionische Persönlichkeiten agieren auf
dieser Ebene, sind mitunter verletzend und verwenden andere in mißbräuchlicher
Weise. Narzißten hingegen sind viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt als
berechnend zu sein. Dies kann auch im Sprachgebrauch zum Ausdruck kommen:
HysterikerInnen sind mehr geneigt, ein den anderen vereinnahmendes Wir zu
verwenden (z.B. „Nein danke, wir essen kein Fleisch!“), während narzißtische
Menschen geneigt sind, ein Ich zu verwenden, wo ein Wir angebracht wäre. (z.B. „Ich
habe dieses Haus gebaut!“)
In diesem Zusammenhang steht auch, daß beide Persönlichkeitstypen auf
Verlassen-werden von anderen ganz unterschiedlich reagieren. Für einem Menschen
mit histrionischen Persönlichkeitszügen ist dies eine existenzbedrohende Situation,
da er nicht in sich selbst gründet, sondern den anderen braucht, um sich überhaupt
zu konstituieren. Er wird verzweifelt sein, emotional heftig, d. h. affektiert reagieren,
den anderen zum Bleiben zu bewegen versuchen etc.. Narzißtische Menschen
hingegen halten sich an ihren Idealvorstellungen fest. Sie haben die Tendenz, in
einer solchen Situation die Beziehung zu rationalisieren, sich zurückzuziehen. Sie
würden sich intellektuell etwas zurechtlegen, um keine Selbstzweifel aufkommen zu
lassen.
Gerade im emotionalen Bereich finden sich ebenfalls Unterschiede. Zwar habe ich im
Abschnitt „Gefühle“ von der ebenfalls bei HysterikerInnen anzutreffenden Neigung,
nur die entgegengesetzten Pole des Empfindungsspektrums wahrzunehmen,
berichtet; sie findet sich bei der narzißtischen Persönlichkeit aber hauptsächlich
dann, wenn der Selbstwert bedroht ist. Narzißten sind von ihrem allgemeinen
emotionalen Ausdruck her nicht affektiert, sondern zeichnen sich durch einen
generellen Mangel an emotionalem Ausdruck aus, wirken mehr kopflastig.
Zum Abschluß möchte ich nochmals auf das zentrale Thema der narzißtischen
Persönlichkeit kommen, das in all diesen Unterscheidungskriterien zum Ausdruck
kommt und das auch den wichtigsten diagnostischen Anhaltspunkt darstellt: das
Ideal-sein-wollen. Wenn in den therapeutischen Gesprächen deutlich wird, daß dies
die zentrale Motivationsgrundlage vieler Handlungen darstellt, es sich als Grund
auffinden läßt, warum die Nähe zu bestimmten Personen gesucht wird und andere
abgewertet werden, es der Faktor ist, warum keine wirkliche Nähe und keine
Beziehung zu
Gleichwertigen
gelebt
werden
kann und eine
vorwiegende
Beschäftigung mit Superlativen und ein Streben nach Perfektion zu verzeichnen ist,
dann würde ich die Diagnose in dieser Hinsicht stellen.
III. NARZISSMUS AUS EXISTENZANALYTISCHER SICHT
„Jeder, der um die Liebe weiß, weiß um dieses Gesetz: daß erst im Weggehen von
sich selbst die Offenheit entsteht, worin das Eigene wirklich und alles blühend wird.“99
Wenn wir uns an dieser Stelle noch einmal die eingangs dargestellten
Narzißmustheorien vergegenwärtigen, welcher Grundkonsens, welcher kleinste
gemeinsame Nenner läßt sich daraus finden? Wir können Narzißmus verstehen als
Störung des Selbst, in welcher sowohl das Selbstbild als auch das Selbstwertgefühl
gleichermaßen betroffen sind.
Was bedeutet dies nun aber aus der Sichtweise der Existenzanalyse? Welches
Kernproblem würden wir aus unserem anthropologischen Verständnis heraus
erkennen, welche existentielle Problematik würden wir darin auffinden?
Bevor ich mich diesen Fragen zuwende, möchte ich an dieser Stelle den Mythos
selbst als Gesamtes zu Wort kommen lassen. Mythen und Märchen können immer
verstanden werden als verdichtete menschliche Erfahrung. Indem sie das Wesen
eines Sachverhaltes meist treffend darzustellen vermögen, sind sie nicht nur eine
Fundgrube für eine phänomenologische Betrachtungsweise, sondern enthalten auch,
in ihrer Symbolsprache verschlüsselt, die existentielle Kernaussage und tradieren
somit grundlegende Erkenntnisse und Lebensweisheiten.
Da ich dem Mythos in seiner symbolischen Dichtheit in meiner existentiellen Deutung
sicher nicht gerecht werden werde, möchte ich auch dem Leser die Gelegenheit
bieten, in der Auseinandersetzung mit dem Thema Narzißmus seine ganz
persönliche Leseart zu finden.
1. Der Mythos des Narziß100
Der Spröde / Narziß
99
Romano Guardini: Gedeutetes Dasein. Ein Romano Guardini Textbuch. Hildesheim 1986,
S. 34
100
Ovid, Metamorphosen, S. 72 77
Hochberühmt in den Städten Böotiens, gab jener dem bittenden Volke unwiderlegbar
Bescheid. Den ersten Beweis seiner Glaubwürdigkeit und Sehergabe erhielt Liriope,
eine Nymphe der blauen Gewässer. Kephisos hatte sie einst in einer Windung seines
Stroms gefangen und ihr, die die Wellen umschlossen, dann Gewalt angetan.
Schwanger von ihm, gebar die wunderschöne Nymphe einen Knaben - man mußte
ihn damals schon lieben - und nannte ihn Narziß.
Gefragt, ob diesem lange Lebenszeit und hohes Alter bestimmt sei, sprach der
schicksalskundige Seher: „Wenn er sich selbst nicht kennt.“ Lange hielt man des
Wahrsagers Worte für nichtig, doch was am Ende wirklich geschah, die Art, wie
Narziß dann starb und seine unerhörte Leidenschaft, das erwies ihre Wahrheit.
Denn zu dreimal fünf Jahren hatte der Sohn des Kephisos noch eines zugelegt und
konnte ebensogut als Knabe wie schon als Jüngling erscheinen.
Viele Jünglinge begehrten ihn, auch viele Mädchen, doch bei seiner zarten Schönheit
besaß er einen spröden Stolz: Ihn hat kein Jüngling gerührt und keines der Mädchen.
Nur eine Stimme / Echo
Ihn sieht, wie er scheue Hirsche ins Garn treibt, die plaudernde Nymphe, die weder
schweigen kann, wenn man spricht, noch selbst gelernt hat, als erste zu sprechen,
die widerhallende Echo.
Noch war Echo aus Fleisch und Blut, nicht nur Klang, doch bediente sie sich
geschwätzig der Stimme nicht anders als heute: Von vielen konnte sie nur die letzten
Worte wiederholen.
Das war Junos Werk, denn, wenn sie die Nymphen hätte ertappen können, die oft im
Gebirge bei ihrem Jupiter lagen, hielt jene schlau die Göttin mit langem Geschwätz
auf, bis die Nymphen entwischten. Als Juno das merkte, sprach sie: „Über diese
Zunge, die mich zum besten hielt, soll wenig Macht dir bleiben; ganz kurz nur wirst
du die Stimme gebrauchen!“
Sie bestätigte die Drohung durch die Tat; seitdem wiederholt Echo nur das Ende der
Rede und spricht nur nach, was sie gehört hat.
Als diese nun den Narziß entlegene Fluten durchstreifen sah und für ihn erglühte,
folgte sie verstohlen seinen Schritten, und je mehr sie ihm folgt, um so mehr
entlfammt sie verstohlen seinen Schritten, und je mehr sie ihm folgt, um so mehr
entflammt sie die Nähe des Liebsten, nicht anders, als wenn, ans Ende der Fackeln
gestrichen, rasch entflammbarer Schwefel Feuer fängt, wenn es ihm nahe kommt. O
wie oft wollte sie ihn mit süßen Worten anreden und ihn durch zärtliche Bitten rühren!
Ihr Wesen verwehrt es und erlaubt ihr nicht, zu beginnen. Doch, was es erlaubt, dazu
ist sie bereit, auf Laute zu warten, um dann zu erwidern.
Von ungefähr hatte der Jüngling die treue Schar seiner Gefährten aus den Augen
verloren und schrie: „Ist jemand hier?“ „Hier!“ antwortete Echo. Er stutzt, läßt seinen
Blick in die Runde schweifen und ruft mit lauter Stimme „Komm her!“ Sie ruft dem
Rufenden wieder. Er sieht sich um,.und als auch jetzt niemand auftaucht, fragt er:
„Was fliehst du vor mir?“ Und ebensoviele Worte, wie er vernommen hat, vernimmt
er.
Er gibt nicht nach und getäuscht durch den Schein einer Antwort, sagt er: „Hier
vereinen wir uns!“ Gern folgt sie den eigenen Worten, verläßt den Wald und nähert
sich schon, daß sie um den Nacken die Arme, um den ersehnten, ihm schlinge.
Narziß aber flieht, und im Fliehen ruft er: „Laß von der Umarmung! Eher sterbe icht,
als daß ich dir verfiele!“
Jene gab nichts zurück als: „Daß ich dir verfiele!“
Verschmäht verbirgt sie sich in den Wäldern, deckt ihr Anlitz voll Scham mit dem
dichtesten Laub und lebt seitdem in einsamen Höhlen. Doch die Liebe läßt sie nicht
los und wächst noch, schmerzt auch die Mißachtung. Sorgen rauben der Armen den
Schlaf und zehren den Leib aus, vor Magerkeit schrumpft ihre Haut ein, alle Säfte
des Körpers verschwinden fort in die Lüfte. Bald sind Stimme nur und Gebein übrig.
Die Stimme bleibt. Das Gebein soll die Gestalt eines Steins angenommen haben.
Seitdem hält sie sich im Walde verborgen, man sieht sie auf keinem Berg, doch es
hören sie alle. Der Ton ist´s, was von ihr noch lebt.
Verliebt in sich selbst / Das Ende des Narziß
So hatte Narziß nun diese, so andere Nymphen der Flut und der Berge enttäuscht,
so vorher Scharen von Liebhabern. Einer von diesen erhob, verschmäht, die Hände
zum Himmel und flehte: „So soll er selbst auch lieben, so nicht den Geliebten
gewinnen!“ Er sprache es, und die Göttin der Rache erhörte die berechtigte Bitte:
Da war eine lautere Quelle, wie Silber glänzte ihr Wasser; zu ihr drangen nicht Hirten
noch auf Bergen weidende Ziegen noch anderes Herdenvieh. Kein Vogel, kein Wild
hatte sie je getrübt, kein Ast, vom Baume gefallen. Gras wuchs rings um sie, genährt
vom nahen Naß, und ein Wald, der sie vor jedem wärmenden Strahl der Sonne
beschirmte. Hier sank, vom Jagdeifer und von der Hitze ermattet, der Jüngling
nieder, angezogen vom Reiz des Ortes und von der Quelle. Seinen Durst will er
löschen, allein ein anderer Durst entbrennt in ihm, denn beim Trinken berückt ihn der
Anblick seiner schönen Gestalt; er verliebt sich, doch körperlos ist der Gegenstand
seiner Hoffnung; was ihm Körper scheint, ist ja nur Wasser!
Er staunt sich selbst an, und mit starrem, unverwandtem Blick ist er wie gebannt,
gleich einem Bild aus parischem Marmor. Auf den Boden gestreckt, schaut er das
Doppelgestirn seiner Augen und sein Haar, eines Bacchus würdig, ja, würdig eines
Apollo, die bartlosen Wangen, den Hals wie aus Elfenbein, das holde Gesicht und
die Röte, die sich mit schneeigem Weiß mischt. Alles entzückt ihn, wodurch er
entzückt. Töricht begehrt er sich selbst, er, der prüft, prüft sich selber, sein Sehnen
sehnt sich nach ihm, ihn verzehrt die eigene Flamme.
Wie oft verschwendete er an die trügerische Quelle seine Küsse, wie oft tauchte er
die Arme mitten in die Flut, um den Hals, den er sah, zu umfassen, und konnte doch
sich selbst nicht ergreifen! Was er sieht, weiß er nicht; doch was er sieht, setzt ihn in
Flammen. Seine Augen fesselt eben der Wahn, der sie täuscht.
Leichtgläubiger! Was haschst du umsonst nach einem flüchtigen Trugbild? Was du
ersehnst, ist nirgends; wende dich ab, und, was du liebst, ist verschwunden. Das da,
was du siehst, ist dein Spiegelbild, ein Schatten ohne eigenens Ich. Er kommt mit dir,
bleibt und wird mit dir gehen, wenn du zu gehen vermöchtest.
Nicht kann ihn die Sorge um Nahrung, nicht Verlangen nach Schlaf von der Quelle
entfernen. Gestreckt auf beschattetem Rasen, schaut er mit unersättlichem Blick das
anmutige Blendwerk an und vergeht durch seine eigenen Augen.
Endlich richtet er sich ein wenig auf, erhebt die Arme zu den Wäldern ringsum und
spricht: „O ihr Wälder! Wer hat wohl je qualvoller geliebt als ich? Ihr wißt ja, und
vielen wart ihr willkommene Zuflucht. O sagt mir, da euer Leben so viele
Jahrhunderte dauert, entsinnt ihr euch jemands in der langen Zeit, der gleich mir
dahinschwand? Es gefällt mir, ich sehe es, doch was mir gefällt, was ich sehe, finde
ich doch nicht. Solcher Wahn betört den Verliebten! Und, was mich noch mehr
schmerzt, kein unermeßliches Meer, kein Weg über Land, keine Berge, keine
Mauern mit verschlossenen Toren liegen zwischen uns; uns scheidet nichts als ein
geringes Gewässer. Auch er sehnt sich nach meiner Umarmung. Sooft ich im klaren
Wasser ihm zum Kuß die Lippen bot, sooft hebt er sich aus der Tiefe zu meinem
Munde empor. Man könnte meinen wir berührten uns, so wenig ist´s, was uns
Liebende trennt. Wer du auch seist, komm hervor! Was täuschst du mich, innigst
Geliebter? Wohin fliehst du vor meiner Sehnsucht? Sicher ist es nicht meine Gestalt,
mein Alter, wovor du fliehen müßtest. Auch mich haben schon Nymphen geliebt.
Auch verheißt mir dein freundlicher Blick ich weiß nicht welche süße Hoffnung, und
streckte ich die Arme gegen dich aus, streckst du sie von selber.
Wenn ich lachte, lachst du mir zu, und auch Tränen habe ich oft, wenn ich weinte, bei
dir bemerkt. Ja, du erwiderst jeden Wink, jedes Zeichen der Liebe, und, soviel ich
aus der Bewegung deines schönen Mundes schließen kann, gibst du mir auch
Antwort, die nicht an mein Ohr dringt.
Der da bin ich! Ich hab´es erkannt! Nicht mehr täuscht mich mein Abbild! Ich
verbrenne in Liebe zu mir, ich errege, erleide die Flammen: Was soll ich tun? Soll ich
mich erflehen lassen, oder soll ich flehen? Was ich wünsche, habe ich selber, ich
darbe in Fülle. O könnte ich doch diesen meinen Körper verlassen! Könnte doch - ein
unerhörter Wunsch für einen Liebenden - mein Geliebter fern von mir sein!
Schon raubt mir der Schmerz die Kräfte, nicht viel Lebenszeit bleibt mir mehr übrig,
in der Blüte der Jugend gehe ich zugrunde. Doch ist der Tod mir nicht schwer, mit
dem Tode endet mein Leiden. Wäre nur meinem Liebsten noch längeres Dasein
beschieden!
Nun aber sterben wir beide und hauchen gemeinsam eine Seele aus.“
Also sprach er und wandte sich, liebeskrank, demselben Bild wieder zu, seine
Tränen ließen das Wasser sich kräuseln, und durch die Bewegung verschwamm die
Erscheinung. Als er sie schwinden sah, rief er: „Wo fliehst du hin? O bleib und verlaß,
Grausamer, mich Liebenden nicht! Da ich dich nicht berühren darf, sei es mir
wenigstens vergönnt, dich zu sehen und daran meine unglückliche Liebe zu weiden!“
In seinem Schmerz reißt er am oberen Saum sein Gewand auf und schlägt die
entblößte Brust mit Händen, weiß wie Marmor.
Zarte Röte verbreitet sich über die Brust, die er schlägt, ebenso wie Äpfel
gewöhnlich, auf einer Seite hell, rot auf der anderen sich färben, oder wie die
halbreife Traube mit ihren schillernden Beeren Purpur überzieht. Sobald er das
erblickte im wieder beruhigten Gewässer, trug er nicht länger sein Leid, sondern, so
wie gelbes Wachs schmilzt bei leichtem Feuer oder wie Reif am Morgen vor dem
wärmenden Sonnenstrahl schwindet, so, vor Liebe angehärmt, vergeht er, allmählich
verzehrt ihn verborgene Glut.
Dahin ist seine Farbe, gemischt aus Weiß und Rot, dahin Frische und Kraft und all
das, dessen Anblick gleich entzückte.
Auch sein Leib blieb nicht der, den Echo einst liebte. Doch als sie ihn erblickte, tat es
ihr weh, wiewohl sie noch zürnte, sich noch erinnerte, und sooft der unglückliche
Jüngling seufzte: „Weh mir!“ wiederholte sie das mit dem Nachhall der Worte: „Weh
mir!“ Wenn er seine Schultern mit den Händen schlug, ließ Echo dasselbe Klatschen
der Schläge nochmals vernehmen.
Die letzten Worte des Narziß, der in die vertraute Quelle blickte, waren folgende.
„Ach, du hoffnungslos geliebter Knabe!“
Jedes Wort kam zurück! Er setzte noch hinzu: „Lebe wohl!“ „Lebe wohl!“ erwiderte
Echo.
Dann sank sein müdes Haupt ins grüne Gras, und der Tod schloß die Augen, die
noch die Schönheit dessen bestaunten, dem sie gehörten. Selbst dann, als ihn die
Unterwelt aufnahm, betrachtete er sich noch im Strome der Styx.
Es beklagten ihn seine Schwestern, Najaden, und weihten ihrem Bruder die
abgeschnittenen Locken, es beklagten ihn auch die Dryaden, und in die Klage
stimmte Echo mit ein.
Schon wollten sie den Scheiterhaufen richten, dazu Fackeln aus Kienholz, die Bahre
- da war nirgends ein Leichnam. Statt des Leichnams finden sie eine safrangelbe
Blume, deren Kelch rings weiße Blütenblätter umgeben.
2. „Ich weiß nicht wer ich bin!“ Das Kernproblem des Narzißmus
Der Mythos schildert Narziß als einen Menschen, der sich - im Glauben er habe eine
andere Person vor sich - in sein eigenes, idealtypisch schönes Spiegelbild verliebt.
Dieser Illusion kann er nur erliegen, weil er sich selbst im Spiegel der Quelle nicht
erkennt, weil er nicht weiß, wer er eigentlich ist. Er verzehrt sich nach dem
vermeintlich anderen und ist doch immer nur bei sich, respektive bei seinem
wunderschönen, letztlich aber gegenstandslosen Bild von sich. Der Seher prophezeit
ihm ein langes Leben, wenn er sich dieses Umstandes nicht bewußt wird. Seine
existentielle Not, die schließlich sein Ende besiegelt, kommt zum Ausdruck als er
sein Spiegelbild erkennt und ihm somit klar wird, er kann den anderen/sich selbst so
nicht erreichen. Aber erkennt er sich damit wirklich selbst, so wie man die
Prophezeihung des Sehers zu Beginn der Geschichte zunächst deuten könnte? Ich
glaube nicht, denn dann könnte er sich von der Quelle, von seinem Selbstbild lösen,
er bräuchte dort nicht zu verkümmern. Er jedoch, immer noch in das Bild verliebt,
bleibt, sucht sich und den anderen dort, wo er nicht ergriffen, be-griffen werden kann.
Wenn wir uns an dieser Stelle nochmals vor Augen führen, wie Menschen mit
narzißtischer Persönlichkeitsstruktur Beziehungen zu anderen gestalten, dann
erkennen wir die gleiche Grunddynamik. Der Andere - als Bewunderer, als Ideal oder
als abgewertetes Nicht-Ideal - wird ja nicht aus seiner Mitte heraus, in seinem Sosein wahrgenommen, sondern er wird zum Spiegel, erhält die Funktion, die eigene
ideale Selbstvorstellung rückzuversichern oder er muß, im Sinne der beschriebenen
Idealisierung, selbst ideal sein, damit man an ihm ideal werden, sich in seiner Größe
spiegeln kann. In alldem ist zumeist eine große Rastlosigkeit und auch Besessenheit
spürbar: Immer wieder muß die narzißtische Persönlichkeit sich ihrer Größe
versichern, immer neue Ideale werden gesucht und auch ebensorasch wieder
abgesetzt. Was ist der Motor dieser Hetze oder - im Bild des Narziß ausgedrückt was hält die narzißtische Persönlichkeit an der spiegelnden Quelle fest? Ich glaube,
es ist die Suche nach sich selbst, das notwendige Grundbedürfnis zu wissen, wer
man eigentlich ist. Allerdings, so könnte man sagen, ist es eine Suche an dem
falschen Ort und eine Suche wird ja bekanntlich zur Sucht, wenn das Gesuchte so
nicht gefunden werden kann. Wir erleben narzißtische Persönlichkeiten tatsächlich
oft als süchtig: als arbeitssüchtig, geltungssüchtig, publikumssüchtig etc. Wir erfahren
sie als Menschen, die ihre Fühler stets zu den anderen ausgestreckt haben, mit einer
seismographischen Fähigkeit ausgestattet, Gefallen und Mißbilligung zu orten. Auf
der augenscheinlichen Ebene geht es dabei um die Rückbestätigung der eigenen
Selbstbilder, auf existentieller Ebene aber geht es um die Frage. „wer bin ich?“ und in
zweiter Linie auch um die Frage „Bin ich wertvoll, so wie ich bin?“
Ich möchte an dieser Stelle nocheinmal auf die weiter oben beschriebene
Paradiessehnsucht vieler narzißtischer Persönlichkeiten zurückkommen, auf den
Wunsch, in einem Idealzustand endlich ruhen zu können. Jakob beispielsweise
wünschte sich ja, durch seinen Meditationslehrer zu absoluter Weisheit zu gelangen
und mit ihm auf diese Weise vereint, im Zustand der Allwissenheit verbleiben zu
können. Auch hier lassen sich diese beiden Ebenen ausmachen. Oberflächlich geht
es einmal mehr um die Erreichung eines Ideals, existentiell aber um den Wunsch,
endlich - nach all der Suche - einmal anzukommen, sich sicher zu sein: „Ja, der bin
ich, darauf gründe ich, darauf kann ich mich verlassen!“
Was bedeutet es nun aber, existenzanalytisch gedacht, nicht zu wissen, wer ich
eigentlich bin? Was fehlt mir, oder positiv gefragt, was brauche ich, um mich in
meinem So-sein erfahren zu können und um eine in dieser Erfahrung gegründete
Identität zu haben?
Dies führt uns zunächst zu der Fragestellung, was mit Begriffen wie „ich“ oder
„selbst“ überhaupt gemeint ist und wie wir sie aus dem Blickwinkel der
Existenzanalyse verstehen würden.
Bekannlich ist es eine Frage der psychologischen und psychotherapeutischen
Schule, wie diese Termini zu definieren sind. Im Alltag gehen wir sehr
selbstverständlich damit um, sagen „ich“, um uns als Zentrum unserer Handlungen,
Erfahrungen, Vorstellungen und Ziele zu beschreiben. (Ich habe das und das
gemacht, gespürt, erfahren, gedacht etc.). Das Wort „selbst“ verwenden wir eher in
rückbezüglicher Weise (z.B. Darin habe ich mich selbst gesehen) oder auch um das
Eigene zu betonen. („Das habe ich selbst gemacht“ oder „Selbst ich habe das
geglaubt.“). Atmosphärisch hat das Wort „ich“ eine aktivere, bewußtere und
bestimmtere
Note
als
„selbst“.
Letzeres
ist
weiter,
unbestimmter
und
unbestimmbarer.
Wenn man sich in psychologischen Wörterbüchern nach diesen Begriffen umsieht,
so findet man immer das „ich“, wird aber auf der Suche nach dem Selbst öfters nur
an das Ich verwiesen101. In anderen Fällen, wo eine begriffliche Differenzierung
vorgenommen wird, erfolgt die Unterscheidung durchaus in Anlehnung an unser
Alltagsverständnis. Gemeinhin wird das „Ich“ als der „Kern des Bewußtseins“ 102
aufgefaßt, als „der bewußte Mittelpunkt eines Subjekts oder Grundinhalt des
Bewußtseins „ich bin“.103 In diesem Sinne ist das „ich“ auch Träger des Denkens,
aller Erfahrungen und Willenshandlungen104 und jener „Ort“ in welchem eine
Abgrenzung zum Nicht-Ich, von äußeren Gegenständen, vom Du erfolgt.105 Auch in
der Psychoanalyse wird das „Ich“ aktiv, realitätsbezogen und bewußt gefaßt, es ist
jene Instanz, die zwischen den Ansprüchen des „Es“ (der Triebe) und jenen des
Über-Ichs (der verinnerlichten Normen) vermittelt und somit für ein psychisches
Gleichgewicht sorgt.
Demgegenüber nimmt sich der Begriff des „Selbst“ komplexer aus und wird, je nach
psychologischer Richtung, unterschiedlich definiert.. So gilt es unter anderem als:
„die Ganzheit derjenigen Merkmale, die das Individuum als zu sich gehörig auffaßt
(...), teils mehr begrifflich (Selbstkonzept), teils mehr emotional (Selbstgefühl).“106
Schneewind107 hat den Begriff des Selbstkonzepts auf seinen Bedeutungsgehalt in
den verschiedenen Richtungen untersucht und fand fünf Gruppen. Ihmzufolge wird
das Selbst je nach Schule 1. als Persönlichkeit, 2. als Prozeß, 3. als Potential, 4. als
Rolle oder 5. als Portrait gefaßt. In der ersten Bedeutung werden unter das „Selbst“
alle bewußten und unbewußten Anteile der Persönlichkeit subsu-
miert, der Persönlichkeitsbegriff ist mit jenem des Selbstkonzepts praktisch ident. In
der zweiten Gruppe wird das Selbst als Instanz gesehen, die bestimmte Funktionen
auszuüben hat. In diese Kategorie fiele auch das Freud´sche Ich. Jene Richtungen,
die das Selbst als Potential definieren, postulieren eine dem Selbst inhärente
Tendenz zur Verwirklichung individueller Verhaltens- und Erlebnismöglichkeiten; hier
wird
101
angesprochen,
was
wir
gemeinhin
mit
Selbstentfaltung
oder
siehe beispielsweise: Gerhard Leibold: Wörterbuch der Psychologie. Wiesbaden 1988
Bertelsmann Lexikon. Psychologie. Gütersloh 1995, S. 183
103
Reinhard Brunner, Michael Titze (Hg.): Wörterbuch der Individualpsychologie. München
1995, S. 238
104
ebd.
105
Bertelsmann Lexikon, S. 183
106
ebd., S. 438
107
Theo Herrmann u.a. (Hg.): Handbuch psychologischer Grundbegriffe. München 1977,
S.424 - 425
102
Selbstverwirklichung meinen. Der soziologische Blickwinkel sieht das Selbst als
Insgesamt der verschiedenen sozialen Rollen, die eine Person im Umgang mit
anderen im Laufe der Zeit erwirbt. Die fünfte Gruppe nun versteht das Selbst als
Abbild oder Portrait einer Person, als Summe der Wahrnehmungen und
Bewertungen, die eine Person von sich selbst hat.
Wie würden wir nun das „Ich“ und das „Selbst“aus dem Blickwinkel der
Existenzanalyse verstehen? Meines Wissens nach gibt es keine expliziten
Definitionen. Viktor E. Frankl streift diese Begriffe en passant in seinem Buch „Der
leidende Mensch“, als er sich mit der Frage auseinandersetzt, ob man dem
Menschen, der Theorie des Lustprinzips folgend, auch sinnvolles Leiden ersparen
soll. Er kommt zum Schluß, daß dies dem „Aufgeben des eigenen Selbst“
gleichkommen würde und definiert diese Begriffe dann folgendermaßen:
„Im Gegensatz zum faktischen Ich ist das Selbst etwas fakultatives. Es repräsentiert
den Inbegriff der Möglichlkeiten des Ich. Diese Möglichkeiten sind solche der
Sinnerfüllung und Wertverwirklichung, und als solche sind sie Möglichkeiten, die nicht
zuletzt in der Konfrontation des Menschen mit schicksalhaften Notwendigkeiten
aufscheinen. Wer einem Menschen um diese Möglichkeiten betrügt, beraubt ihn des
Selbst als des Spielraums, in dem das Ich atmet.“108
Wenn wir Schneewinds Einteilung folgen, so versteht also auch Frankl das Selbst als
Potential, als Möglichkeiten des Ich, für oder gegen die man sich frei entscheiden
kann. Seine Definition steht, wenn auch hier nicht explizit ausgeführt, in engem
Zusammenhang mit dem Person-Verständnis der Existenzanalyse. Auch die Person
ist etwas fakultatives109 , ex-istiert, indem sie sich „zu welchem Sachverhalt auch
immer - frei verhalten kann“110. Die Person, als das Freie im Menschen, kann nur dort
hervortreten, wo es Wahlmöglichkeiten gibt, wo eine freie Entscheidung getroffen
werden kann. Analog dazu kann, gemäß Frankls Definition, das Ich - als
Vollzugsorgan der Person - nur dort atmen, frei sein, wo es das Selbst, oder besser
einen Zugang zum Selbst gibt. Das Ich als personales, frei handelndes Ich braucht
also den Zugang zum Selbst. Dies schließt nicht aus, daß es das Ich, als das
faktische,
nicht
auch
ohne
diesen
Zugang
zum
Selbst,
ohne
diesen
Handlungsspielraum gibt. Nach unserem Verständnis wäre es allerdings dann nicht
personal,
108
„es
gehorchte
einem
anderen
Herren“, etwa
dem
der einfach
Viktor E. Frankl: Der leidende Mensch. Anthropologische Grundlagen der Psychotherapie.
Bern 1975, S. 266
109
Viktor E. Frankl: Der Wille zum Sinn. Bern 1972, S. 113
110
Frankl, Der leidende Mensch, S. 226
übernommenen gesellschaftlichen Normen, selbstauferlegter Zwänge, drängender
Bedürfnisse etc. Können wir dies auch auf das Selbst umlegen, kann auch es
apersonal sein? Nach Frankls Überlegungen nicht. Er schreibt, daß man einen
Menschen
seines
Selbst
beraubt,
wenn
man
ihm
die
Möglichkeiten
zur
Wertverwirklichung nimmt, wenn man ihm die Voraussetzungen entzieht, sich auch
mit dem leidvollen schicksalhaften Teil seines Lebens auseinanderzusetzen. Wenn
wir es, im Franklschen Sinn, dann auch als Inbegriff der Möglichkeiten zur
Wertverwirklichung verstehen, kommt neben dem personalen Aspekt des Selbst
noch ein zweites, wesentliches Charakteristikum hinzu, das der Weltzugewandtheit.
Werte können wir ja bekanntlich nicht machen, sie sind das, was uns anspricht und
bewegt, sind „ein Stück Welt“, das in unser Leben getreten ist 111. Selbstverwirklichung in diesem Sinne bedeutet dann auch Verwirklichung unserer Sinnund Wertmöglichkeiten. Unser Selbst als Potential kann also nur dann hervortreten,
ex-istieren, wir können es nur dann aktualisieren, wenn wir die Welt in uns
hineinlassen und die Offenheit haben, an ihr werden zu können. Das ist der
Grundgedanke, der in Frankls Definition des Begriffes Selbsttranszendenz zum
Ausdruck kommt:
„Darunter verstehe ich (...), daß Menschsein immer über sich selbst hinaus auf etwas
verweist, das nicht wieder es selbst ist, - auf etwas oder auf jemanden: auf einen
Sinn, den da ein Mensch erfüllt, oder auf mitmenschliches Sein, dem er da begegnet.
(...) ganz Mensch ist der Mensch eigentlich nur dort, wo er ganz aufgeht in einer
Sache, ganz hingegeben ist an eine andere Person. Und ganz er selbst wird er, wo er
sich selbst - übersieht und vergißt.“112
Wenn ich mich nun wieder dem Problem des Narzißmus zuwende, dann möchte ich
von diesem existenzanalytischen Selbst-Verständnis ausgehen und im Folgenden
zeigen, daß analog zu den beschriebenen beiden.Aspekten des Selbst, zwei
Gundbereiche
des
menschlichen
Seins
bei
der
narzißtischen
Störung
in
charakertistischer Weise betroffen sind : jener des Person-seins und jener der
Weltoffenheit, des Werdens an der Welt. Der Frage also, was brauche ich, um zu
wissen, wer ich bin, respektive was fehlt der narzißtischen Persönlichkeit in dieser
Hinsicht möchte ich in den zwei folgenden Abschnitten begegnen. Im Unterkapitel
„Nicht werden können“ möchte ich die Grundvoraussetzungen der Selbst-Erfahrung
noch genauer darlegen und davon ausgehend beschreiben, was sich bei der
111
Alfried Längle: Wertberührung. in: Wertbegegnung. Phänomene und methodische
Zugänge. Tagungsbericht Nr. 1 und 2/ 1991 der GLE, S. 25
112
Viktor E. Frankl: Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse.
Wien 1982, S. 201
narzißtischen Persönlichkeit vor die Wert- und somit Selbstvewirklichung stellt. Der
Abschnitt
„Die
Antwort
anstelle
des
Spiegels“
beschäftigt
sich
mit
den
Grundvoraussetzungen des Person-seins und versucht die existentielle Problematik
und auch die Weisheit des Mythos nocheinmal tiefer zu fassen.
Das letzte Kapitel schließlich setzt sich mit der Urwunde des Narzißmus auseinander
und mit den damit verknüpften biographischen Aspekten.
3. „Nicht werden können“
„Das Dasein steht in der Spannung zwischen dem Seienden und Gesollten, und es
bedarf dieser Spannung. Denn der Mensch ist nicht da, um zu sein, sondern um zu
werden...“113
Von einem existenzanalytischen Verständnis des Selbst ausgehend, brauche ich
also die Welt und die Weltoffenheit, um mich selbst erfahren zu können. Daß Weltund Selbsterfahrung im eigentlichen nicht zu trennen sind, erweist sich aber auch
schon auf einer ganz basalen Ebene: Wir werden in diese Welt geboren und können
gar nicht anders, als uns in Auseinandersetzung mit ihr zu erfahren. So brauche ich
z.B.etwas, das ich ergreifen kann, um die Erfahrung zu machen, daß ich Hände
habe. Wie es letztendlich unmöglich ist, Berührung von Berührt-sein zu trennen, so
ist es also auch müßig zwischen Selbst- und Welterfahrung überhaupt zu
unterscheiden. Ich möchte dies anhand eines Beispiels noch genauer darlegen.
Nehmen wir an, ich besteige einen Berg. Ich setze eine Schritt vor den anderen, ich
spüre den Boden unter meinen Füßen, erfahre die Beschaffenheit des Weges, die
Steile des Hanges. Gleichzeitig erfahre ich etwas über meine Kraft, die Schwere oder
Leichtigkeit meiner Füße, meine Geschicklichkeit etc. Oben angekommen, werde ich
den Ausblick genießen oder vielleicht hauptsächlich meine Erschöpfung spüren.
Aber jedenfalls habe ich etwas erfahren, über den Berg und über mich.Vielleicht wird
sich dieses Erlebnis in eine Reihe ähnlicher Erfahrungen einreihen und ich erfahre
einmal mehr, daß ich z.B. eine gute Bergsteigerin bin. Anderenfalls erfahre ich etwas
neues über mich, bin überrascht, daß ich so ausdauernd sein kann. In jedem Fall
wird dieses Erlebnis, vorausgesetzt ich war ganz dabei, mein „ich bin“, mein
113
Frankl, Der leidende Mensch, S.294
Identitätsgefühl stärken, sei es im Sinne des schon Bekannten („Ich habe gewußt,
daß ich es kann!“) oder des Überraschenden („Aha, so bin ich also auch.!“)
Erfahrungen dieser Art erschließen mir also ein Stück der Welt und gleichzeitig einen
Teil meines Selbst. Aus der Vielzahl meiner Möglichkeiten ist eine damit zur
Wirklichkeit geworden oder , im Sinne Frankls ausgedrückt, ein Stückchen meines
fakultativen Selbst wurde so zum faktischen Ich.
Narzißtische
Persönlichkeiten
aber
vermeiden
gerade
diese
konkrete
Auseinandersetzung, das mitunter auch mühevolle Sich-erproben an der Welt. Sie
wollen etwas sein (ein Ideal), aber sie wollen nichts werden. So wie im Mythos die
spiegelnde Quelle keine Turbulenzen duldet, ohne auch schon das Bild
verschwinden
zu
lassen,
tolerieren
die
zerbrechlichen
Idealvorstellungen
narzißtischer Menschen keine Erschütterungen durch die Realität, durch die wirkliche
Berührung mit der Welt. Sie meiden es daher, konkrete Erfahrungen zu machen und
versperren sich dadurch auch den Weg, sich im hier und jetzt kennenzulernen.
Auch bei Beate waren „Erfahrungen“ öfters ein Thema in der Therapie. Sie wollte
gerne wirken als jemand, der reich ist an Lebenserfahrung und bewunderte
Menschen, die dies glaubhaft machen konnten. Gleichzeitig spürte sie aber, daß dies
bei ihr nicht zutraf. Sie war wohlbehütet aufgewachsen und beschrieb, daß ihre
Eltern jegliche Erschütterungen und Unannehmlichkeiten von ihr ferngehalten hatten.
In ihrem gegenwärtigen Leben hatte sie nun Angst, wirkliche Erfahrungen zu
sammeln. Sie scheute sich vor Situationen, deren Ausgang nicht kalkuliert werden
konnte. Sie befürchtete, Fehler zu machen und dann ihrem perfekten Selbstbild nicht
mehr zu entsprechen. Beispielsweise versäumte sie ein Vorstellungsgespräch in
einer Beratungsstelle, in welcher sie gerne gearbeitet hätte. Sie wollte nicht das
Risiko eingehen, daß sie abgelehnt werden könnte. Dies hätte schlimme Folgen für
ihr Selbstbild gehabt.
Anstelle einer personalen, im Lebensvollzug gegründeten Identität finden sich bei
narzißtischen Persönlichkeiten also Selbstbilder und ihre Selbstvorstellungen
ersetzen die sinnliche Selbst- und Welterfahrung. Wie bereits weiter oben
beschrieben, sind diese Selbstbilder frei von Ambivalenz, lebensfern in ihrer
Vollkommenheit, lebensfern wie die abgerundete Kindheit von Beate. Sie ändern sich
nicht, sondern kippen, wie das Umspringbild der „alten und jungen Frau“, ins
Gegenteil, wenn die Realität ihre Aufrechterhaltung zunehmend verunmöglicht. Auch
wenn dies nicht passiert, sind sie doch stets gefährdet, da sie ja nicht im Erlebten, im
gelebten
Leben,
im
persönlichen
Erfahrungsschatz
begründet
sind.
Diese
Gefährdung ist es, die die narzißtische Persönlichkeit die sinnliche Selbst-und
Welterfahrung immer wieder meiden läßt. Um es in der Symbolik des Narziß
auszudrücken: Statt der Welt sucht er/sie den Spiegel. Statt auf den Berg zu steigen
wird er davon träumen, Reinhold Messner zu sein. Er wird sich jemanden suchen,
der in ihm -auch so- den Bergsteiger erkennt oder er wird sein ideales
Bergsteigertum
geschickt
zu
inszenieren
wissen.
Man
denke
in
diesem
Zusammenhang etwa an Jörg Haider, der sich in einem für die Sommergespräche im
ORF gestalteten Video, wohl abgesichert durch einen erfahrenen Bergführer, als
Extemkletterer präsentierte.114
Keine Erfahrungen zu machen, hindert narzißtische Menschen also daran, sich in
ihrer Potentialität erfahren zu können. Gleichzeitig aber entziehen sie sich damit auch
der Begrenzung des Daseins, des Hier und Jetzt. Denn nur in der Begrenztheit
meiner Möglichkeiten kann ich meine Potentialiät erfahren, bin ich auch
handlungsfähig. Die Verwirklichung eines Wertes verlangt ja gerade, daß ich mich
momentan auf das eine beschränken muß, es verlangt in gewisser Hinsicht eine
Bescheidenheit im Aktuellen, im jeweils zu Aktualisierenden. Wenn ich prinzipiell alle
Fähigkeiten und Talente habe, so wie Jakob das von sich glaubte, ja was soll ich
dann tun? In der Unbegrenztheit ihrer Idealvorstellungen entziehen sich narzißtische
Menschen ihren Handlungsspielraum. Auch Narziß kann nicht anders als bei der
Quelle zu verharren und sogar auf der Fahrt in die Unterwelt kann er sich noch nicht
von seinem Bild trennen.
Nicht nur die Wertverwirklichung jedoch bedarf der Begrenzung. Eigentlich passiert ja
Selbsterfahrung im Allgemeinen an der Grenze, dort wo ich auf etwas treffe, etwas
antreffe, ein Widerstand sich mir entgegenstellt. Nicht nur im Gelingen sondern auch
im Mißlingen erfahre ich etwas über mich und letztendlich ist es ja die Begrenztheit,
auch die Begrenztheit meiner Möglichkeiten, das Abgegrenzt sein von anderen, das
mich in meiner Einmaligkeit überhaupt konstituiert. In diesem Zusammenhang
möchte ich erwähnen, daß ja in der Literatur oft von „optimaler Frustration“
gesprochen wird, wenn es um die Frage geht, wie sich ein gesunder Narzißmus
entwickeln kann. Wir wissen auch, daß viele Narzißten, so wie Beate, in ihrer
Kindheit verwöhnt wurden. Sie galten, ohne sich anstrengen zu müssen, schon
immer als etwas besonderes. Ihre Eltern hatten schon ein genaues Bild (der
Großartigkeit), eine fixe Vorstellung, von dem, was sie sind oder einmal sein werden.
114
vergleiche dazu: Robert Buchacher: Narziß und Vollmund. Robert Buchacher über die
Charaktereigenschaften des politik- und publikumssüchtigen F-Chefs: „What makes him
tick?“, in: Profil. Nr. 37 (1996), S. 38
So entzieht also auch die Verwöhnung, das Nichtvorhandensein von Grenzen, dem
Menschen die Möglichkeit, sich mit der Welt und dann auch mit sich selbst
auseinanderzusetzen.
Ich möchte an dieser Stelle nochmals auf die Wertverwirklichung zurückkommen.
Wenn Erfahrungen unsere Selbsterfahrung bereichern sollen, wenn sie uns (auch
manchmal überraschende) Auskunft gegen darüber, wer wir eigentlich sind, dann
haben sie immer die Qualität der Wertverwirklichung. Sie erfordern, daß wir zum
jeweiligen Zeitpunkt ganz bei der Sache sind, offen für das, was uns gerade
begegnet. Ich habe bereits angeführt, daß narzißtischen Persönlichkeiten diese
Offenheit fehlt, sich ansprechen zu lassen. Der narzißtische Bergsteiger in meinem
Beispiel sieht ja nicht den Berg, nicht die Schönheit der Natur etc., er sieht lediglich
sich auf dem Berg ,genauer gesagt, am Gipfel. Seine Selbstbilder, derer er sich stets
auch
durch
andere
rückversichern
muß,
versperren
ihm
den Weg,
den
„Kostbarkeitscharakter der Dinge“ überhaupt wahrzunehmen. Indem ein narzißtischer
Mensch, um sich selbst zu finden, seinen Blick stets auf sich gerichtet hält und sich in
den Bildern zu fassen versucht, die er vor sich herträgt, verliert er die Existenzialität
seines Daseins. Man könnte sagen, daß er, indem er sich der Welt verschließt, sich
auch selbst verfehlt, nicht erfahren kann, wer er eigentlich ist. Im Mythos stirbt Narziß
an dem Umstand, daß er nur von optischen und akustischen Spiegeln umgeben ist.
Als er sich in seinem Spiegelbild erkennt, erkennt er sich nur in der Faktizität seines
eingekerkerten Ichs, nicht aber im Fakultativen, in seinem personalen Selbst, das ja
auch bedeutet hätte, daß er die Möglichkeit hat, anders zu werden. Dazu hätte er doch dies ist Gegenstand des nächsten Abschnittes - nicht nur das andere sondern
auch den anderen gebraucht. Wir können hier den Tod des Narziß als Symbol für
den Verlust von existenziellem Leben begreifen.
Das Nicht-zum Leben-kommen, die existentielle Dynamik der narzißtischen
Persönlichkeit möchte ich an dieser Stelle zum Abschluß nochmals schematisch
darstellen:
ideale Selbstvorstellungen
Unsicherheit:
Wer bin ich?
Welt wird zum Spiegel
zur Rückversicherung
der Selbstvorstellungen
kein Zugang zur Welt der
Werte
keine Erfahrungen sammeln können
und somit keine gegründete Selbsterfahrung im hier und jetzt
erwerben können
4. „Die Antwort anstelle des Spiegels“
„Ebenso entscheidend für das Heilsein der Person ist die Liebe. Lieben bedeutet, die
Wertgestalt im fremden - vorallem im personalen - Seienden zu erblicken, deren
Gültigkeit zu spüren; zu fühlen, es sei wichtig, daß sie bestehe und sich entfalte; von
der Sorge um diese Verwirklichung als wie um Eigenes erfaßt zu
werden.“(Hervorhebung d. Verf.)115
Von den vielen Bedeutungsaspekten, die der Person in der Existenzanalyse
zukommen, erscheint mir einer im Zuammenhang mit dem Problem des Narzißmus
als besonders bedeutend: Die Person ist einzigartig. Sie ist ein „absolutes Novum“
115
Guardini, Gedeutetes Dasein, S. 34
und in ihrer geistigen Existenz nicht übertragbar. Sie kann nicht von Generation zu
Generation
weitervererbt
werden.
Weitergegeben
werden
körperliche
und
charakterliche Eigenheiten, in den Worten Frankls „Bausteine“, nicht aber der
„Baumeister“.116 Die Person als das somit wesenhaft Andere ist dem Ideal oder der
idealen Selbstvorstellung diametral entgegengesetzt. Letzeres konstituiert sich ja
geradezu durch die Entledigung der persönlichen Anteile, ist die Verallgemeinerung
im Suberlativ. Das Ideal-sein ist im eigenen Streben und in der Biographie
narzißtischer Persönlichkeiten immer an ein „So-werden-oder-so- sein müssenwie...“geknüpft und ist somit a priori an eine Ausklammerung des Personalen
gebunden.
Im letzten Abschnitt habe ich ausgeführt, daß sich das personale Selbst und somit
auch die personale Identität nur an der Welt und im Austausch mit ihr entfalten
können. Hier möchte ich der Frage nachgehen, ob dies denn schon ausreicht, ob,
um das Bild des Bergsteigers wieder zu bemühen, der Berg allein genügt, um mir zu
sagen, wer ich bin.
Die Existenzanalyse geht davon aus, daß der Mensch Person ist von Anfang an 117
und daß es ein ursprüngliches, nicht weiter rückführbares Wissen um dieses Personsein gibt. Damit einhergehend seien wir mit einem grundlegenden Gespür
ausgestattet zu erkennen, ob ich als Person angesprochen, in meinem Wesen
gemeint bin oder nicht.118 Wir postulieren also dieses ursprüngliche Wissen um uns
selbst, doch bleibt es uns auch erhalten? Unsere therapeutische Erfahrung belehrt
uns eines anderen und gerade narzißtische Persönlichkeiten haben große
Schwierigkeiten zu unterscheiden zwischen echter, personaler Wertschätzung und
Bauchpinselei,
zu
abhängig
sind
sie
von
der
Rückspiegelung
ihrer
Selbstvorstellungen. Dieses ursprüngliche Wissen kann also leicht verschüttet
werden und aus diesem Umstand würde ich ableiten, daß es neben der Weltoffenheit
noch eines zweiten Bedarf, um uns in unserem So-sein und in unserer Personalität
erfahren zu können, um zu begreifen, wer wir sind: es bedarf der Rückmeldung, der
Antwort einer anderen Person auf unser ureigenstes Wesen. Nur damit erhalten wir
eine Einladung in die Welt, wird der Raum konstituiert, der uns uns selbst in unserer
116
Frankl, Wille zum Sinn, S. 109
Alfried Längle: Die Person und der andere
118
Ausbildungsmitschrift
117
Einzigartigkeit und die Welt in ihrer Wertpotentialität erschließt. Anstelle des Spiegels
bedürfen wir der Antwort, anstelle der Bewunderung brauchen wir die Liebe.
Gerade narzißtische Persönlichkeiten aber sind von Spiegeln umgeben, von ihren
eigenen Selbstvorstellungen und von Personen, denen die Augabe zukommt, sie in
diesen zu bestätigen. Da sie den anderen also vorwiegend als Projektionsfläche
benutzen, kennen sie die Liebe - im Sinne der Wertschätzung des wesensmäßig
anderen - nicht. In diesem Sinne wird ihnen auch nur selten wirkliche Liebe zuteil, da
die Personen in ihrer Nähe bei der Bewunderung ihrer Größe „hängenbleiben“ und
ebenfalls nicht zum Personalen vordringen.
Das existentielle Scheitern des Narziß, seine mißlungene Suche nach sich selbst ist
auch auf dem Hintergrund dieser letztlich unglücklichen Liebesgeschichte zu
verstehen, auf dem Hintergrund des Fluches, der ihn trifft. Auch er will ja, daß sein
Spiegelbild ihm antwortet. Er verzweifelt, als er erkennt, daß er nur von Spiegeln
umgeben ist, es den anderen als den wesensmäßig Verschiedenen gar nicht gibt
und er somit keine wirkliche, reale Liebe erfahren kann. Man könnte auch sagen, er
erkennt, daß narzistische Liebe keine Erfüllung bringt. Er, der selbst auch nicht
liebesfähig war und für die anderen nur Geringschätzung übrig hatte, wird mit dem
Fluch bestraft, auch keine wirkliche Liebe zu erfahren. Auf einer tieferen Ebene
erschließt uns der Mythos also die Weisheit, daß Liebe zwischen wesensgleichen
Personen
(man
könnte
auch
sagen,
narzißtische
Liebe
als
Form
der
Selbstbespiegelung) nicht zur Existenz führen kann. Dies deckt sich mit dem
existenzanalytischen Verständnis von Liebe:
„Gegenüber der Begegnung scheint mir nun die Liebe einen Schritt weiter zu gehen,
und zwar insofern, als sie den Partner nicht nur in seiner ganzen Menschlichkeit
erfaßt, sondern darüber hinaus auch in all seiner Einmaligkeit und Einzigartigkeit, und
das heißt: als Person; denn Person ist ein Mensch kraft der Tatsache, daß er nicht
nur Mensch unter anderen ist, sondern auch anders als alle anderen ist (...)Und erst
dadurch, daß der Liebende den Geliebten in dessen Einmaligkeit und Einzigartigkeit
erfaßt, wird der Geliebte für den Liebenden zu einem Du.“119
Wenn wir die Liebe auf diese Art verstehen und wir uns auch der Sichtweise Bubers
anschließen, daß sich das Ich erst an der Erfassung des wesensmäßig anderen, am
Du konstituiert120 , so wird deutlich, daß es zur Selbsterkenntnis die Liebe braucht,
die Liebe sowohl als die Fähigkeit einen anderen in seinem Wesen zu schätzen, als
119
120
Frankl, Ärztliche Seelsorge, S. 202
ebd., S. 25
auch als das Geschenk, von einem andern in seiner Einzigartigkeit gesehen worden
zu sein.
Ein gesunder Narzißmus und folglich ein reales Selbstbild kann sich somit nur aus
der Erfahrung des Angesprochen-seins, des Ernstgenommen-werdens und aus dem
Erleben entwickeln, daß einem etwas zugetraut wird (im Gegensatz zu Über- und
Unterforderung). Er ernährt sich durch das liebevolle Einlassen auf das andere und
den anderen. Man könnte auch sagen, ein gesunder Narzißmus wurzelt in der Liebe,
gedeiht am Verschiedenen und verkümmert im Spiegelkabinett.
5. „Sich selbst nicht zu gehören.“ Die narzißtische Wunde und biographische
Aspekte
„Die Kinder gehören der Sehnsucht nach sich selbst.“121
Im letzen Abschnitt habe ich die Annahme formuliert, daß es zur Selbsterkenntnis
auch die Liebe einer anderen Person braucht, die Liebe im Sinne der Wahrnehmung
und Wertschätzung der geistigen Person in ihrer Einmaligkeit und Einzigartigkeit. Wie
bereits angeklungen, haben narzißtische Menschen diese Art von Liebe in ihrer
Familie nicht erfahren, wurden in ihrem ureigensten So-sein nicht wahrgenommen,
nicht gefördert, das zu verwirklichen, was in ihnen steckt. Bildlich gesprochen, hatten
sie am Anfang ihrer Geschichte das Schicksal, selbst als ein Spiegel, als eine
Projektionsfläche für die Erwartungen der anderen benutzt worden zu sein. Vielfach
existierte da schon eine genaue Vorstellung, wie sie sind, noch bevor es Gelegenheit
gegeben hatte, sich in dem jeweiligen Wesen zu zeigen. Auch wenn sich das
Ureigenste zeigte, so wurde es doch geflissentlich übersehen, bis es schließlich
immer mehr verstummte, vielleicht nurmehr hinter einer körperlichen oder
depressiven Symptomatik aufzuspüren gewesen wäre.
An dieser Stelle möchte ich nocheinmal Ester erwähnen. Schon bevor sie geboren
wurde, stand fest, daß sie - gemäß der Familientradition und dem Beruf ihrer Eltern ebenfalls Medizinerin werden sollte. Obwohl sie ganz andere Fähigkeiten und
Interessen hatte, hielten ihre Eltern an dieser Vorstellung fest. Sie verfolgten diese
Strategie, indem sie den immer offensichtlicher werdenden Konflikt als
Gesprächsthema verbannten und an ihren wahren Neigungen vorbeisahen. Auch ihr
eigenes Wesen, ihre wahren Gefühle waren unerwünscht. Sie wollten, gemäß ihrer
eigenen Lebensweise, eine Herzeigetochter, ehrgeizig und erfolgsorientiert,
121
Ausbildungsmitschrift
umgänglich und wenig gefühlsbetont. Immer wenn Ester nun in ihrer Kindheit wahre
Gefühle gezeigt hatte, sei es Freude, Traurigkeit oder Betroffenheit, wurde sie
angehalten, dies sich nicht so zu Herzen gehen zu lassen und/oder ihre
Empfindungen wurden bagatellisiert. Dies führte dazu, daß Ester diesen Teil ihres
Wesens abzuwerten begann und auch den Gefühlen anderer Personen immer mehr
auswich. Nach dem Bild ihrer Eltern wurde sie oberflächlich und beziehungslos, lebte
die fröhliche und unbeschwerte Ester bis eine Depression dieses Bild ins Schwanken
brachte. Es bedurfte eines langwierigen therapeutischen Prozesses, um sich dem
Gegenbild, dem Anti-Ideal der depressiven Ester und der dahinter verborgenen
personalen Ester annehmend annähern zu können.
Neben
diesem
bereits
vorgeformten
elterlichen
Bild
und
eng
damit
zusammenhängend finden sich in der Biographie narzißtischer Persönlichkeiten auch
immer hohe Erwartungen nahestehender Bezugspersonen, die es zu erfüllen galt.
Die „Werte“ der Eltern wurden dabei nicht durch einen harten Erziehungsstil in das
Kind hineinerzogen, sondern durch subtile Beeinflussung: durch Lob, wenn die
Erwartungen
erfüllt
wurden,
durch
Vorschußlorbeeren,
durch
plötzliches
Fallengelassen-werden, wenn man einmal nicht entsprochen hatte etc.
Susanne bekam von ihrem Vater oft zu hören, daß er sehr stolz auf sie und ihre
Fähigkeiten sei. Dabei sprach er oft Bereiche an, in denen sie ihr Können erst unter
Beweis stellen mußte, was den Erfolgsdruck für sie beträchtlich erhöhte.
Magdalena galt als einsichtige, vernünftige Tochter, die wußte, was „das Richtige“
war. Wenn sie in seltenen Fällen dann doch widersprach und nach eigenen
Vorstellungen handeln wollte, bekam sie zu hören: „Gut, dann mach wie du glaubst,
aber erwarte dir dann nichts im nachhinein von mir!“ Verschlüsselt enthielt diese
Aussage die Botschaft, daß sie nur mit der Unterstützung und Liebe ihrer Eltern
rechnen konnte, wenn sie sich ihren Erwartungen gemäß verhielt.
Kindern ist es aber nicht möglich ohne die Unterstützung der Eltern eigenständig zu
sein, schon gar nicht solchen, die von frühester Zeit an auf den anerkennenden,
bewundernden Blick konditioniert wurden, deren Selbstwert so stark von der
Bestätigung der anderen abhängig ist.
Erziehung durch Strafe und Verbote weckt, meiner Ansicht nach, weit mehr den
Widerstandsgeist und die personale Verweigerung, als dies bei einer Beeinflussung
durch Selbstaufwertung noch gelingen kann. Natürlich gibt es auch hier
Extremvarianten, wo der Wille des Kindes durch rigorose Bestrafung gebrochen wird.
Die Verletzung ist und bleibt in diesem Fall jedoch weit offensichtlicher, ist in der
biographischen Arbeit leichter zugänglich zu machen.
Menschen mit narzißtischer Persönlichkeit haben weit größere Schwierigkeiten, ihre
Kindheit kritisch zu bertrachten. Sie erzählen von einem durchaus wohlwollenden,
unterstützenden Elternhaus, davon, daß sie früh eigenständig waren, viel Freiheit
hatten. Bei genauerem Hinsehen findet sich jedoch, daß diese an und für sich
positiven Erziehungsziele zu einer Zeit erfüllt werden mußten, als sie eine absolute
Überforderung für die Betreffenden darstellten. Überforderung durch die hohe
Erwartungshaltung der Eltern findet
sich
wesensmäßig in
der Biographie
narzißtischer Persönlichkeiten. Damit meine ich nicht eine generelle Überforderung in
dem Sinne, daß die Betreffenden nicht mehr in der Lage waren, den Erwartungen
der Eltern zu entsprechen, sondern im emotionalen Sinne: Sie haben den
Erwartungen zumeist „glänzend“ entsprochen, dabei aber ihre Personalität, das
Gespür für sich und ihre eigenen Werte verloren.
Narzißtische Persönlichkeiten erzählen von ihrer Kindheit oft, daß sie etwas (oder
vieles) früher als andere Kinder konnten. Sehr häufig findet man auch, daß sie
besonders wegen ihrer Frühreife und Vernunft gelobt wurden und diese Attribute
häufig dazu verwendet wurden, ihr Verhalten zu manipulieren. Die meisten haben
große Schwierigkeiten, sich an etwas zu erinnern, daß sie gegen den Willen ihrer
Eltern gemacht haben. Wenn sie manchmal Trotz und Widerstandsgeist zeigten,
waren sie durch den Appell an ihre Reife und Vernunft und durch die Aufforderung,
doch nicht ihre Eltern zu enttäuschen, rasch wieder umgestimmt.
Dieses Ausgerichtet-werden auf die Vorstellungen anderer bedeutet aber nicht nur
eine personale Verletzung im Sinne der Negierung der Einzigartigkeit, auch die
Eigengehörigkeit der Person ist in hohem Maße betroffen. Darunter verstehen wir in
der Existenzanalyse, daß ich als Person „in meinem Selbstsein letztlich von keiner
anderen Instanz besessen werden kann, sondern mir selbst gehöre. (...) Die Person
selbst entzieht sich dem Eigentumsverhältnis.“
122
Guardini hat zwei Aspekte der
Eigengehörigkeit definiert: Die Innerlichkeit und die Würde der Person
123:
Unter
ersterer ist zu verstehen, daß ich als Person „von keinem anderen durchwohnt
werden kann, sondern im Verhältnis zu mir selbst und mit mir allein bin.“ 124 Die
Würde der Person ist angesprochen in der Beziehung zu anderen und meint, daß ich
als Person über jedem Sachzusammenhang stehe, nicht als Mittel zum Zweck
herangezogen werden darf.125
122
Guardini, Gedeutetes Dasein, S. 32
Ausbildungsmitschrift
124
Guardini, Gedeutetes Dasein, S. 33
125
Ausbildungsmitschrift
123
Gerade diese beiden Aspekte werden in der Kindheit narzißtischer Menschen sehr
verletzt. Was die Innerlichkeit betrifft, dürfen diese Kinder nicht für sich und mit sich
(allein) sein, sondern sie werden trainiert für andere zu wirken, mit ihrem „Glanz“
deren Selbstwert aufzubessern. In ihrem Selbstwert so sehr auf das Außen
festgelegt, haben sie in der Folge dann größte Schwierigkeiten einfach für sich und
mit sich selbst alleine zu sein.
Wenn man in dieser Art für die Zwecke anderer eingespannt wird, dann leidet auch
die Würde der Person. In der Begegnung mit narzißtischen Persönlichkeiten ist man
als anteilnehmender Beobachter oft unangenehm berührt, wenn man sieht, wie
jemand alles mögliche unternimmt, um die Bewunderung der anderen zu erhalten,
Lob zu erheischen und ähnliches. Man spürt, daß er sich selbst herabwürdigt, man
möchte ihm fast beiseite springen und sagen: „Hör auf, das hast du doch nicht nötig!“
Die „narzißtische Verletzung“, die diese Menschen also in ihrer Kindheit erleiden,
können wir verstehen als einen Mißbrauch.an ihrem Selbst-sein. Er bedeutet, sich
selbst nicht gehört zu haben, sondern den eigenen Eltern, verwendet worden zu sein
für die Aufbesserung ihrer Selbstvorstellungen. Narzißtische Verletzung in diesem
Sinne meint: „Nicht-so-sein-dürfen“ sondern „Anders-werden/scheinen-müssen“, um
den Erwartungen der anderen zu entsprechen.
Das „Nicht-so-sein-dürfen“ wurde narzißtischen Persönlichkeiten in ihrer Kindheit oft
durch die eingangs schon erwähnte Erfahrung vermittelt, daß sie plötzlich fallen
gelassen wurden, wenn sie den Erwartungen nicht entsprachen. Auch über diese
mehr oder weniger bewußt eingesetzte Erziehungsmaßnahme hinaus scheint das
Fallengelassen-werden ein generelles Thema in der Biographie narzißtischer
Menschen zu sein:
So wurde beispielsweise Magdalena, die sich stets an die Wertvorstellungen ihrer
Eltern in ihrem Handeln gehalten hatte, nach der Matura in eine plötzliche
Selbständigkeit entlassen. Sie bezog eine eigene Wohnung, verlor ihr Zimmer zu
Hause und war nun angehalten, ein eigenes, unabhängiges Leben zu führen. Ihre
Mutter, die bis dahin ihre wichtigste Gesprächsparterin und Ratgeberin gewesen war,
verweigerte von heute auf morgen diese Rolle und ließ Magdalena, mit dieser
plötzlichen Freiheit überfordert und verzweifelt, allein.
Kohut berichtet in seinem Fallmaterial von Klienten, die unerwartet fallengelassen
wurden in Momenten, in denen sie, aus existenzanalytischer Sicht, gerade ihr Wesen
offenbarten: So berichtet Kohut beispielsweise von B., der immer, wenn er seiner
Mutter glücklich über ein bestimmtes Erlebnis oder einen Erfolg berichtete, sie kalt
und unaufmerksam wurde und während seines Erzählens begann, bestimmte
Einzelheiten seines Verhaltens zu kritisieren. So sagte sie z:B.“Sprich nicht so mit
den Händen!“126
Da bei Menschen mit narzißtischer Persönlichkeit der Selbstwert so stark von dem
Blick der Eltern abhängig ist, bleiben diese meist sehr lange und sehr intensiv mit
ihrer Familie verbunden,
was oft
darin
zum Ausdruck kommt, daß der
Ursprungsfamilie ein hoher Stellenwert zukommt, Verwandschaftsbeziehungen
intensiv gepflegt werden, daß man auch im Erwachsenenalter noch den Urlaub
gemeinsam verbringt etc.
Die emotionale Abhängigkeit von zu Hause, die, verkürzt gesagt, durch die Botschaft
„du bist großartig und absolut wichtig für mich“ hergestellt und aufrechterhalten
wurde, ist meist auch im Erwachsenenalter noch wirksam.
Jakob war in seinem Verwandtenkreis vor allem bei der Eltern- und
Großelterngeneration sehr beliebt. Er galt von jeher als vernünftig, verständig, nicht
so ruppig und auf Abgrenzung bedacht, wie andere „junge Leute“. Im Bewußtsein
dieser Sonderstellung und sehr bemüht dieses Image des idealen Enkels/Neffen etc.
aufrechtzuerhalten, blieb er sehr um seine Ursprungsfamilie bemüht.
Magdalena verbrachte als Jugendliche oft das Wochenende mit ihren Eltern, auch
wenn sie lieber etwas mit ihren Freunden unternommmen hätte. Ihr Vater konnte sie
leicht dazu überreden, indem er sagte: „Bitte fahr doch mit, ich habe mich so auf ein
gemeinsames Wochenende gefreut, ohne dich macht es keinen Spaß.“
Hannah gewährte ihrer Mutter nach wie vor sehr viel Einblick in ihr Leben, obwohl sie
diese sehr oft abwertete. Dieser Wunsch nach Bestätigung durch die Mutter hatte
schon einen selbstzerstörerischen Zug. Ihre starke Abhängigkeit von ihr, derer sie
sich in zunehmendem Maße bewußt wurde, brachte sie in folgendem Traum zum
Ausdruck, der das Wesen narzißischer Eltern-Kind-Beziehungen sehr treffend zum
Ausdurck bringt:
„Ich war in der Kirche und wollte einen Mann, der wohl mein Freund war, heiraten.
Dann wurde ich aber mit meiner Mutter getraut und ich bin dann mit ihr
zusammengezogen. Gleichzeitig war mir das aller sehr peinlich, denn alle
anwesenden Personen haben ganz komisch geschaut.“
Obwohl Menschen mit narzißtischer Persönlichkeit oft spüren, daß an der Beziehung
zu ihren Eltern etwas nicht stimmt, können sie sich trotzdem nur sehr schwer von
ihnen und von der Sichtweise lösen, eine sehr gute Kindheit gehabt zu haben. Dies
ist einerseits sicherlich darin begründet, daß ihr Selbstwert nach wie vor sehr stark
von ihrem Maß abhängt, andereseits kommt darin aber sicherlich auch zum
Ausdruck, daß sie bei ihnen noch hoffen und suchen, was ihnen versagt geblieben
126
Kohut, Narzißmus, S. 146
ist: in ihrer Echtheit, ihrem So-sein geliebt und anerkannt zu werden. Der Drang, sich
die gleichen Verletzungen erneut zuzuziehen und in der eigenen Geschichte zu
verharren, ist meiner Ansicht nach nicht so sehr eine Ausdrucksform von
Masochismus, sondern wiederspiegelt vielmehr ein Urprinzip des Lebendigen, daß
etwas wieder gut werden soll. Die Hartnäckigkeit, mit welcher nach dieses
Selbstbestätigung gesucht wird, ist für mich ein Ausdruck davon wie wichtig und
lebensnotwendig es eigentlich ist, sich in seiner Echtheit zu erfahren, zu wissen, wer
man ist und den Raum hat, werden zu können, so wie man sein möchte.
Eltern narzißtischer Persönlichkeiten:
Im Allgemeinen haben die Eltern von narzißtischen Persönlichkeiten selbst
Störungen in diesem Bereich, respektive narzißtische Defizite, die sie in der
Beziehung zu ihren Kindern oder vielmehr zu einem bestimmten Kind wiederbeleben.
Dies findet sich auch durchgängig in der Literatur über Narzißmus. Volkan und Ast
weisen in ihrem Buch „Spektrum des Narzißmus“auf „Post“ hin, der in der Studie
narzißtischer Führerpersönlichkeiten herausgefunden hatte, daß diese oft von
Müttern großgezogen wurden, die von zukünftigem Ruhm träumten. Sie selbst haben
herausgefunden, daß besondere Umstände bei der Geburt eines Kindes für eine
narzißtische Entwicklung ausschlaggebend sind.127 So fanden sie bei narzißtischen
Führern häufig Mütter, die um ein verlorenes Kind trauerten. Das nachgeborene Kind
erhielt dann die Mission, die Mutter wieder fröhlich und glücklich zu machen. Für
Sigmund Freud war die Neigung, eigene unerfüllte Wünsche und Erwartungen an die
Kinder weiterzugeben dermaßen ubiquitär, daß er sie, wie im 1. Kapitel bereits
beschrieben, als Charakteristika der normalen „Elternliebe“ beschrieb, um daraus
neben noch anderen Phänomenen sein Konzept vom primären Narzißmus
abzuleiten.
Aufgrund der Beschreibung der Eltern im Fallmaterial der Literatur über Narzißmus
und auf Grund meiner eigenen Beobachtungen finden sich im Elternhaus auch oft
histrionische Züge. So sind das plötzliche Abwerten und Fallenlassen einer Person,
die vorher als besonders ideal und wichtig wahrgenommen wurde, das plötzliche
Hervorbrechen
emotionaler
Kälte,
wo
vorher
überschwängliche
Zuneigung
geherrscht hatte, das undifferenzierte, plakative Wahrnehmen einer anderen Person
127
Vokan und Ast, Spektrum, S. 153 - 154
Charakteristika, die uns, wie bereits beschrieben, auch aus der histrionischen
Beziehungsgestaltung bekannt sind. Daß narzißtische Störungen auch so häufig mit
histrionischen
Merkmalen
und
umgekehrt
einhergehen,
könnte
neben
der
„Zwillingsnatur“ dieser beiden Störungen auch ein weiterer Hinweis darauf sein, daß
es hier einen familiären histrionischen Hintergrund gibt, respektive auch gibt.
Narzißtische Defizite werden mit einer hohen Zuverlässigkeit von den Eltern an die
nächste Generation weitergegeben. Dies zeigt nicht zuletzt der Umstand, daß jeder
von uns, auch wenn er nicht ausgesprochen narzißtisch ist, in seinem Selbstbild
Idealvorstellungen finden wird, die seine Eltern in ihn hineingelegt haben und er von
Zielvorstellungen und Erwartungen zu berichten weiß, die er anstelle seiner Eltern
erfüllen hätte sollen oder auch tatsächlich erfüllt hat. Auch wenn wir an unsere
eigenen Kinder denken - so wir welche haben - gibt es Vorstellungen, wie sie auf
keinen Fall sein oder werden dürfen oder welche Eigenschaften und Fähigkeiten sie
unbedingt haben sollten.
Daß wir es in diesem Bereich mit einer so hohen „Trefferquote“ zu tun haben, liegt
meiner Ansicht nach in der Wichtigkeit begründet, daß narzißtische Bedürfnisse
erfüllt werden. Existenzanalytisch gesprochen, wartet, was unsere Defizite in diesem
Bereich betrifft, in uns immer noch der Wunsch, in unserer Personalität und somit in
unserer Potentialität erkannt, wichtig und ernstgenommen zu werden. In dem
Werden-können
durch
die
eigene
Kindheitsgeschichte
auf
diese
Weise
eingeschränkt, ist es naheliegend in der Potentialität der eigenen Kinder nach einer
Selbstverwirklichung zu suchen. Oft sind ja auch wirklich ähnliche Begabungen
vorhanden, die zu solch einem Übergriff besonders verleiten. Im Kind soll sich dann
zeigen, was niemand (zunächst die eigenen Eltern nicht) in einem selbst erkannt
haben. Hier passiert nun wieder, an der nächsten Generation, die Verletzung der
Eigengehörigkeit der Person und wiedereinmal fehlt der Raum zum So-sein und zum
Werden-Können. Das Grundbedürfnis, in seiner Einmaligkeit gesehen und geachtet
zu werden, bleibt wieder einmal unerfüllt. Die eigene, ungestillte Sehnsucht in diesem
Bereich führt dazu, daß man selbst „nichts sieht“, nicht ganz beim anderen in seiner
Einzigartigkeit sein kann. Letzteres beschränkt sich dann natürlich nicht nur auf die
eigenen Kinder.
5. Zusammenfassung
Abschließend möchte ich mich noch, nach all der Ausführlichkeit, an den Versuch
einer existenzanalytisch begründeten Begriffsdefinition von Narzißmus heranwagen,
nicht zuletzt um dem Leser die Möglichkeit zu geben, zum Schluß noch einmal die
Quintessenz vor sich zu haben.
Aus existenzanalytischer Sicht können wir Narzißmus (im Sinne einer Störung) nun
begreifen
als
Selbstbezogenheit,
die
darauf
ausgerichtet
ist,
die
eigene
Selbstvorstellung/ das Idealbild, das man sich von sich gemacht hat, zu stützen und
aufrechtzuerhalten. Die Welt dient dabei als Spiegel. An die Stelle der konkretsinnlichen, weltbezogenen Selbsterfahrung („ich erfahre mich an der Welt“) tritt eine
bildhafte,
starre
und
idealtypisch
ausgerichtete
Selbstvorstellung,
die,
weil
ungegründet und stets gefährdet, ständig rückversichert werden muß. Die Welt und
andere Personen können somit nicht mehr als das Andere, als Du erfahren werden,
sondern
müssen
zur Rückspiegelung des Gleichen,
zur Bestätigung und
Bewunderung herhalten. In dieser Selbsteinkerkerung geht die Existentialität des
Dasein verloren und die Leere ist eine ständige Bedrohung hinter dem Glanz des
Ideals.
In der steten Suche nach immer neuen Spiegeln kommt aber auch verschlüsselt ein
existentielles Grundbedürfnis zum Ausdruck, die Sehnsucht, sich endlich in seiner
Echtheit zu finden und in dieser wahrgenommen zu werden.
Da sich Selbstfindung ohne „Weltfindung“, ohne werthafte Berührung mit anderen
Personen und der Welt, nicht ereignen kann, kommt der Hinführung zur
Selbsttranszendenz in der Therapie narzißtischer Störungen ein zentraler Stellenwert
zu. Die Existenzanalyse mit ihrem Fokus auf Selbstdistanzierung, wertorientierte
Zukunftsgestaltung und Sinnfindung bietet ein ausgezeichnetes Fundament zu einer
erfolgreichen Therapie der narzißtischen Störung. Nur ein immer stärker erfühlbares
Wozu kann den Weg aus der Selbsteinkerkerung weisen und eine zunehmende
Beziehungsaufnahme mit der Welt wird die Angst reduzieren, eigentlich nichts und
niemand zu sein.
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