Auf der Suche nach sich selbst. Narzissmus aus existenzanalytischer Sicht Abschlussarbeit zur Ausbildung für Logotherapie und Existenzanalyse Mag. Judith Fink Wien, Februar 1997 I. PSYCHOANALYTISCHE NARZISSMUSTHEORIEN Der Begriff des „Narzißmus“ wurde erstmals 1899 von Paul Näcke zur Bezeichnung eines sexuellen Verhaltens verwendet, in welchem ein Mensch seinen Körper zum alleinigen Sexualobjekt wählt und diesen in der Art eines Verliebten behandelt.1 Er bezog sich damit auf Havelock Ellis, der vorerst eine Geisteshaltung beschrieben hatte, die ihn an den griechischen Mythos von Narziß erinnerte und die er als „narcissus like“ bezeichnet hatte.2 Sigmund Freud hat in der Folge den Begriff „Narzißmus“übernommen; 1899 erwähnt er ihn erstmals in einem Brief an Fließ und kündigt an, ihn als energetischen Konzept verwenden zu wollen,um das Schicksal der Libido bei psychotischen Störungen erklären zu wollen.3 Obwohl der Terminus „Narzißmus“ also zunächst nicht von der Psychoanalyse stammt, hat ihn die Psychoanalyse in der Folge doch geprägt, ein Umstand, der ebenfalls darin zum Ausdruck kommt, daß auch alle jüngeren, bedeutenden Narzißmustheorien von Psychoanalytikern verfaßt wurden. Aus diesem Grund erscheint es mir wesentlich, eine kurze Zusammenschau der wichtigsten Konzepte und neuerer Ansätze an den Beginn meiner Arbeit zu stellen. Dies möchte ich als eine ledigliche Orientierungshilfe zum Thema verstanden wissen, zu umfangreich müßte der Versuch ausfallen, einen Überblick über den ganzen Bereich zu geben. 1. Sigmund Freud über Narzißmus Obwohl Sigmund Freud den Terminus „Narzißmus“ schon längere Zeit in Gebrauch hatte4, veröffentlichte er 1914 eine Abhandlung „Zur Einführung des Narzißmus“5, in welcher er erstmals seine Überlegungen in komprimierter Form darlegte. Mehrere Beobachtungen führten Freud dazu, diesen Begriff für die Psychoanalyse nutzbar zu machen und zu erweitern: 1 Sigmund Freud: Studienausgabe. Bd. 3:Psychologie des Unbewußten; Zur Einführung des Narzißmus. Frankfurt 1975, S. 41 2 ebd. 3 Vamik D. Volkan, Gabriele Ast: Spektrum des Narzißmus. Zürich 1994, S. 33 4 Freud, Studienausgabe. Bd. 3, S. 39 5 Freud, Studienausgabe. Bd. 3, S.39 - 68 1. Die Phänomene des Größenwahns und der Abkehr von der Außenwelt bei der Schizophrenie und sein Versuch dieses Krankheitsbild in die Libidotheorie zu integrieren. 2. Dem Größenwahn verwandte Phänomene bei Kleinkindern und primitiven Völkern, etwa die „Überschätzung der Macht ihrer Wünsche und psychischen Akte, die ‘Allmacht der Gedanken’, einen Glauben an die Zauberkraft der Worte (...)“ etc.6 Daß das Phänomen der Selbstüberschätzung also in vielen, durchaus nicht nur pathologischen Bereichen menschlichen Seins auszumachen ist, veranlaßte Freud zu der Annahme, daß es auch einen ursprünglichen Narzißmus in der seelischen Entwicklung geben müsse. Er postulierte den „primären Narzißmus“7 als entwicklungspsychologisches Stadium, in welchem das Kind in einem Zustand von Vollkommenheits- und Alltmachtgefühl ruht und alle Triebenergie („Libido“ in er psychoanalytischen Terminologie) noch beim Ich verbleibt, bevor sie dann später auf die (Liebes-)Objekte gerichtet wird. Anschließend an die Phase des „Autoerotismus“, in welcher sich das Ich als integrierende Funktion noch nicht ausgebildet hat, sei also die Aufmerksamkeit, „Liebe“ und Bewunderung zunächst auf das eigene Ich gerichtet, bevor ein Mensch die Fähigkeit erwirbt, sich anderen Personen zuzuwenden. Freud stellte sich in diesen Zusammenhang auch die Frage, warum denn überhaupt die Notwenigkeit bestehe, sich von diesem primären Narzißmus zu lösen und seine Triebenergie auf andere zu richten. Für ihn tritt diese „Nötigung“ dann ein, „wenn die Ichbesetzung mit Libido ein gewissen Maß überschritten habe“ und eine unlustvoll empfundene „Libidostauung“8 eingetreten ist: „Ein starker Egoismus schützt vor Erkrankung, aber endlich muß man beginnen zu lieben, um nicht krank zu werden, und muß erkranken, wenn man infolge von Versagung nicht lieben kann.“9 Dieser „primäre Narzißmus“ entzieht sich der direkten Beobachtung, für Freud lebt er unter anderem auf und wird erkennbar in jenem für ihn charakteristischen elterlichen Verhalten, ihre Kinder zu idealisieren und zu bewundern. In diesem Zusammehang 6 ebd., S. 42 - 43 ebd., S. 43 8 ebd., S. 51 9 ebd., S. 52 7 spricht Freud vom „sekundären Narzißmus“10, als den in den Beziehungen zu anderen Menschen wiederauftauchenden narzißtischen Strebungen im Erwachsenenalter. Freud subsumiert unter das Phänomen der „Elternliebe“ sowohl die Tendenz zur Idealisierung des neuen Sprößlings als auch jene Bestrebungen, den Kindern den Auftrag zur Erfüllung der eigenen, nicht realisierten Zielvorstellungen und Wünsche mitzugeben. „Das gute Kennzeichen der Überschätzung (...) beherrscht, wie allbekannt, diese Gefühlsbeziehung. So besteht ein Zwang, dem Kinde alle Vollkommenheiten zuzusprechen, wozu nüchterne Beobachtung keinen Anlaß fände, und alle seine Mängel zu verdecken und zu vergessen (...). Es besteht aber auch die Neigung, alle kulturellen Erwerbungen, deren Anerkennung man seinem Narzißmus abgerungen hat, vor dem Kinde zu suspendieren und die Ansprüche auf längst aufgegebene Vorrechte bei ihm zu erneuern. Das Kind soll es besser haben als seine Eltern, es soll den Notwendigkeiten, die man als im Leben herrschend erkannt hat, nicht unterworfen sein. Krankheit, Tod, Verzicht auf Genuß, Einschränkung des eigenen Willens sollen für das Kind nicht gelten, die Gesetze der Natur wie der Gesellschaft vor ihm haltmachen, es soll wirklich wieder Mittelpunkt und Kern der Schöpfung sein. His Majesty the Baby, wie man sich einst selbst dünkte. Es soll die unausgeführten Wunschträume der Eltern erfüllen, ein großer Mann und Held werden an Stelle des Vaters, einen Prinzen zum Gemahl bekommen zur späten Entschädigung der Mutter. Der heikelste Punkt des narzißtischen Systems, die von der Realität hart bedrängte Unsterblichkeit des Ichs, hat ihre Sicherung in der Zuflucht zum Kinde gewonnen. Die rührende, im Grunde so kindliche Elternliebe ist nichts anderes als der wiedergeborene Narzißmus der Eltern, der in seiner Umwandlung zur Objektliebe sein einstiges Wesen unverkennbar offenbart.“11 Neben dieser Art der elterlichen Zuwendung dienen Freud auch Charakteristika der heterosexuellen Liebesbeziehungen als Anschauungsmaterial, die Aufschluß über das Phänomen des Narzißmus und das Schicksal des frühkindlichen primären Narzißmus geben. Für ihn lassen sich zwei Arten der “Objektwahl“ im Erwachsenenalter ausmachen: Jene des „Anlehnungstypus“12, in welchem man eine Mutter- oder Vaterfigur liebt und des „narzißtischen Typus“13, wo das Liebessobjekt nach dem Vorbild der eigenen Person gesucht und geliebt wird. Bei den ersteren dominiert das Lieben vor dem Geliebt-Werden und sie fühlen sich oft zu letzteren hingezogen, die in ihrem „Narzißmus“, ihrer „Selbstgenügsamkeit“und „Unzugänglichkeit“ einen besonderen Reiz ausstrahlen.14 Eine perfekte Ergänzung, denn im narzißtsichen Modus dominiert das Geliebt-Werden-Wollen.15 Für Freud 10 ebd., S. 42 ebd., S. 57 - 58 12 ebd., S. 54 13 ebd. 14 ebd., S. 55 15 ebd. 11 stehen diese beiden Formen der Objektwahl allen Menschen offen 16, wobei er postuliert, daß die Frauen (Freud ein Kind seiner Zeit?!) vorwiegend nach dem narzißtischen Modus lieben: „Solche Frauen lieben, strenggenommen, nur sich selbst mit ähnlicher Intensiät, wie der Mann sie liebt. Ihr Bedürfnis geht auch nicht dahin zu lieben, sondern geliebt zu werden und sie lassen sich den Mann gefallen, welcher diese Bedingung erfüllt. Die Bedeutung dieses Frauentypus für das Leben der Männer ist sehr hoch einzuschätzen. Solche Frauen üben den größten Reiz auf die Männer aus, nicht nur aus ästhetischen Gründen, weil sie gewöhnlich die Schönsten sind, sondern auch infolge interessanter psychologischer Konstellation. Es erscheint nämlich deutlich erkennbar, daß der Narzißmus einer Person eine große Anziehung auf diejenigen anderen entfaltet, welche sich des vollen Ausmaßes ihres Narzißmus begeben haben und sich in der Werbung um die Objektliebe befinden.“17 Über eine Analyse zwischenmenschlicher Beziehungen hinausgehend diente Freud der primäre Narzißmus auch als Konzept, mit welchem er versucht, menschliche Phänomene wie das Streben nach Idealen, nach dem Besten, den Wert von Superlativen überhaupt zu erklären. So postuliert er, daß sich nicht die ganze primärnarzißtische Libido der frühen Kindheit in Objektliebe umwandelt. Ein Teil von ihr lasse sich im Ich-Ideal wiederfinden, die kindliche Vollkommenheit findet ihren Ausdruck nun in dem, woran man sich mißt, wer man idealerweise sein möchte: „Was er als sein Ideal vor sich hin projiziert, ist der Ersatz für den verlorenen Narzißmus seiner Kindheit, in der er sein eigenes Ideal war.“18 Diese Idealisierung ist auch auf „dem Gebiete (...) der Objektlibido“ möglich, findet ihren Ausdruck also in der Überschätzung des geliebten oder bewunderten Menschen.19.Das Gewissen ist im psychoanalytischen Sinn und in direkter Ableitung des Narzißmuskonzepts nun jene Instanz, die darüber wacht, daß das Ich-Ideal nun seine narzißtische Befriedigung erhält, indem es „das aktuelle Ich unausgesetzt beobachtet und am Ideal mißt.“20 Der kindliche Narzißmus bildet das energetische Substrat für das Ich-Ideal, er erhält es am Leben. Die Bildung des Ich-Ideals selbst und so auch das Gewissen ist aber bei Freud nicht narzißtischen Ursprungs, sondern wird angeregt durch den „kritischen Einfluß der Eltern“, die gesellschaftliche und persönliche Ge- und Verbote an das Kind weitergeben.21 16 ebd., S. 54 ebd., S. 55 18 ebd. S. 61 19 ebd. 20 ebd., S. 62 21 ebd., S. 62 - 63 17 Auch das „Selbstgefühl“, als „Ausdruck der Ich-Größe“22 steht für Freud in engem Zusammenhang mit dem Narzißmus. Alles, was den Rest des primitiven Allmachtsgefühls bestätigt, hebt das Selbstgefühl. Für Freud ist es auch hier das Liebesleben, das Aufschluß über die wechselseitige Beziehung von Narzißmus und Selbstgefühl gibt. Für ihn ist es offenkundig, daß „die Libidobesetzung der Objekte das Selbstgefühl nicht erhöht“, für ihn macht Liebe allein nicht glücklich: „Die Abhängigkeit vom geliebten Objekt wirkt herabsetzend; wer verliebt ist, ist demütig. Wer liebt, hat sozusagen ein Stück seines Narzißmus eingebüßt und kann es erst durch das Geliebtwerden ersetzt erhalten.“23 Nur wenn die investierte Libido wieder zum Ich als Form von Gegenliebe zurückfließt, sich wieder in Narzißmus verwandelt, ist Liebesglück möglich: „Die Rückkehr der Objektlibido zum Ich, deren Verwandlung in Narzißmus, stellt gleichsam wieder eine glückliche Liebe dar, und andererseits entspricht auch eine reale glückliche Liebe dem Urzustand, in welchem Objekt- und Ichlibido voneinander nicht zu unterscheiden sind.“24 Freuds Narzißmusverständnis ist auf dem Hintergrund der psychoanalytischen Triebtheorie zu verstehen. Die Psychoanalyse begreift den Menschen als vornehmliches Triebwesen, welches seine Triebenergie auf bestimmte Triebziele/ Objekte richtet und nach der Erfüllung des Lustprinzips handelt. So wird die Liebe als „libidinöse Objektbesetzung“ verstanden und das Phänomen des Narzißmus unter dem Aspekt des Libidoflusses vom Ich auf das Objekt und umgekehrt betrachtet. Da es bei Freud das Du als das wesensmäßig ganz Andere nicht gibt, nicht als „Subjekt“ und nicht als „Wert an sich“ (in seiner Darstellung finden wir nur die narzißtische Liebe und die, die an die primären Bezugspersonen angelehnt ist), bleibt hier, wie Frankl ja immer wieder kritisch betont hat, eine ganze Dimension ausgespart, die auch das Verständnis des Narzißmus beeinflußt. Freud postuliert in seiner Einführung zwar einen primären und somit „normalen“ Narzißmus,. bleibt aber in der weiteren Darstellung der sekundär-narzißtischen Aspekte zwischenmenschlicher Beziehung eine genaue Differenzierung in normale und neurotische Verhaltensweisen schuldig, differenziert auch nicht den Zustand der Verliebtheit von der Liebe. Dies mag auch dazu beitragen, daß sich der „existenzanalytisch geschulte Leser“ an dieser Stelle fragt, ob es denn für Freud eine Liebe gibt, die das Wesen des anderen Menschen meint und nicht a priori darauf schauen muß, wieviel 22 ebd., S. 64 ebd., S. 65 24 ebd.; S. 66 23 zurückkommt? Wird das Selbstgefühl (existenzanalytisch vielleicht der Selbstwert) erst dann erhöht, wenn die “Objektlibido“ auf Gegenliebe stößt und somit wieder ins Ich zurücklfließen kann? Auch wenn man schon ahnt, wie Existenzanalytiker diese Fragen beantworten würden, möchte ich sie, respektive ihre Bedeutung für ein existenzanalytisches Narzißmusverständnis noch offen lassen. 2. Der Ansatz von Heinz Kohut Freuds grundsätzliche Überlegungen zum Thema Narzißmus erfuhren durch Psychoanaytiker der 2.Generation eine Systematisierung und begriffliche Differenzierung, wobei sich dabei der Schwerpunkt auf die Beschäftigung mit der narzißtischen Persönlichkeitsstruktur und möglicher psychotherapeutischer Behand,lungsmethoden verlagerte. Heinz Kohut führte erstmalig aus, daß Patienten mit narzißtischer Persönlichkeitsstörung einer psychanalytischen Behandlung zugänglich waren, was bislang mit dem Argument in Abrede gestellt wurde, sie seien (aufgrund ihrer Selbstbezogenheit) zu keiner Entwicklung einer Übertragungsbeziehung zum Analytiker fähig und somit keiner psychoanalytischen Behandlung zugänglich.25 In scharfem Gegensatz dazu, hielt er die narzißtische Beziehungsgestaltung für so charakteristisch, daß er vorschlug, diese als Diagnosekriterium heranzuziehen. Gemäß der sich entwickelnden Übertragung zum Therapeuten unterschied er zwei Patientengruppen: Jene, die an die Vorstellung eines Größenselbst gebunden waren („ich bin großartig und vollkommen“) und nach einer Bestätigung dessen auch in der therapeutischen Situation Ausschau hielten und jene, die die Größe und Vollkommenheit einem „allmächtigen Objekt“ zuschrieben, als dessen Teil sie sich 25 Vorwort zu: Heinz Kohut: Narzißmus. Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung narzißtischer Persönlichkeitsstörungen. Frankfurt 1976 fühlten („Du bist großartig und vollkommen, aber ich bin ein Teil von dir.“) 26. Kohut führte diese beiden Grundformen auf zwei unterschiedliche Störungsbereiche des kindlichen, primären Narzißmus zurück. In der normalen Entwicklung leitet, nach seinen Ausführungen, die Mutter durch ihre glücklichen und spiegelnden Reaktionen auf das Kind die Phase des primären Narzißmus ein, in welcher der Säugling sich unter der liebevollen Zuwendung erstmalig als körperliche und geistige Einheit empfindet. Diese Erfahrung ist zunächst von dem Gefühl der Großartigkeit und Allmacht begleitet (Phase des Größenselbst) bis durch die immer differenzierteren Reaktionen der Bezugsperson und eine teilweise Versagung der Wünsche, sich ein immer realistischeres Selbstbild entwickelt. Parallel dazu wird auch die Mutter in zunehmendem Maße als von der eigenen Person getrennt und realistischer, d. h. mit guten und bösen Anteilen erlebt.27 Dem war vorausgegangen, daß sie ebenfalls ideal und dem eigenen Selbst zugehörig empfunden wurde. Kohut spricht in diesem Zusammenhang von einem idealisierten „Selbst-Objekt“ oder der „idealisierten Elternimago“28 Wird nun dieser natürliche Phasenverlauf durch für das Kind ungünstige oder traumatische Erlebnisse gestört, zieht es sich auf eine Postion seiner Entwicklung zurück, in welcher der Zustand narzißtischer Vollkommenheit noch ungestört erlebt werden konnte und es bleibt dieser Konfiguration auch im Erwachsenenalter bei seiner Beziehungsgestaltung verhaftet. Kohut unterscheidet, analog zu den zwei narzißtischen Gundkonfigurationen (Größenselbst und allmächtiges Objekt) zwei Rückzugsmöglichkeiten: 1. Das Kind zieht sich auf die Postion der idealisierten, arachischen Selbst-Objekte zurück, d.h. es behält seine reinen und realitätsfernen Bilder seiner Bezugsperson und sucht diese nun fortan im Außen, um mit ihnen - wie in der frühkindlichen, narzißtischen Phase - psychisch wieder verschmelzen zu können. Kohut spricht in diesem Fall von „einer Entwicklung und Regression im Bereich des allmächtigen Objekts“29 In der analytischen Situation entwickeln solche Patienten eine charakteristische Beziehung zum Analytiker, die Kohut die „idealisierende 26 ebd., S. 26 ebd.; S. 141 - 143 28 ebd., S. 57 29 ebd., S. 26 27 Übertragung“ nennt. Der Analytiker wird in ihr beispielsweise als „ideales Vorbild“30 gesehen und es besteht eine starke psychische Abhängigkeit. Solche Patienten fühlen sich zumeist leer und hilflos, wenn sie längere Zeit von ihrem Therapeuten getrennt sind.31 2. Als zweite Rückzugsmöglichkeit des narzißtisch verwundeten Kindes bleibt das Wiederaufsuchen des frühlkindlichen narzißtischen Allmachtgefühls. Kohut bezeichnet diese Rückbesinnung auf die eigene Vollkommenheit als „Entwicklung und Regression im Bereich des Größenselbst“32. Patienten, die dieser narzißtischen Grundkonfiguration zuzuordnen sind, tendieren dazu, zum Analytiker eine „Spiegelübertragung“ zu entwickeln, d.h. sie sind bestrebt, den Therapeuten als Reflexionsfläche ihrer eigenen Größenvorstellungen , zur Rückversicherung ihres idealen Selbstbildes zu verwenden. Kohut unterscheidet hier drei Formen: a) Es findet einen „Verschmelzung (mit den Analytiker) zur Erweiterung des Größenselbst“ statt; der Therapeut wird in diesem Fall als Teil der eigenen Größe gesehen und nicht als getrennte Person wahrgenommen. b) Bei der „Zwillingsübertragung“ wird dem Analytiker zwar ein Getrennt-sein zugestanden, er wird jedoch als der eigenen Persönlichkeit sehr ähnlich empfunden.c) In der reifsten Form, der „eigentlichen Spiegelübertragung“ wird der Therapeut zwar als andere Person wahrgenommen, ist aber nur insofern wichtig, als er die Bedürfnisse nach Bestätigung des Größenselbst erfüllt. 33 Für Kohut ist die „eigentliche Spiegelübertragung“ der normalen frühkindlichen Entwicklung am nächsten und nach seiner Erfahrung haben die anderen Übertragungsformen in einer erfolgreichen Analyse die Tendenz, sich in die letztgenannte umzuwandeln, bevor sie sich zum normalen Bedürfnis nach Liebe und Anerkennung wandeln.34 Neben den bereits dargestellten zwei narzißtischen Grundkonfigurationen unterscheidet Kohut bei jener Gruppe von Patienten, die sich durch eine mangelhafte Integration ihres Größenselbst auszeichnen, nochmals zwei Untergruppen. Sie scheinem mir hier erwähnenswert, insofern, als Kohut in ihrer Darstellung einerseits nochmals das Schicksal der ursprünglichen normalen narzißtischen Bedürfnisse genauer behandelt, andererseits hier eine Patientengruppe miteinschließt, die man, 30 ebd., S. 72 ebd., S. 78 ff32 ebd., S. 26 33 ebd., S. 139 - 141 34 ebd., S. 151 31 sich etwa an die Kriterien des DSM III haltend, nicht notwendigerweise als narzißtische Persönlichkeiten diagnostizieren würde. (Auch eine Reihe anderer Autoren schließen in ihre Überlegungen einen Personenkreis mit ein, den man als „zu wenig narzißtisch“ bezeichen könnte. Auch findet man, etwa bei Alice Miller, die Ansicht, daß die Depression die „Kehrseite der Münze“ darstellt35 und somit dem Bereich des Narzißmus zuzuordenen ist.) Kohut unterscheidet also in der Folge eine Patientengruppe, die sich dadurch auszeichnet, daß das Größenselbst vorwiegend verdrängt oder verleugnet wird. Er spricht in diesem Zusammenhang von einer „horizontalen Spaltung“ 36, in welcher das Real-Ich der „narzißtischen Zufuhr aus tieferen Quellen narzißtischer Libido“ beraubt ist. Hier imponiert „ein Mangel an Narzißmus“37, der sich durch geringes Selbstvertrauen, blande Depression; Mangel an Initiative etc. zeigt. Personen, die dieser Subkategorie zuzuordnen sind, geben sich kühl und distanziert und halten eher Abstand von Personen, von denen sie sich insgeheim eine narzißtische Bestätigung wünschen würden.38 (Nach unserem Verständnis würden wir diesen Personenkreis wahrscheinlich eher der depressiven Persönlichkeitsstruktur zuordnen.) Die zweite Subkategorie entspricht dem, was man, salopp formuliert, die offensichtlichen Narzißten bezeichnen könnte. Hier hat, nach Kohut, eine „vertikale Spaltung“39 stattgefunden. Das Größenselbst ist im Bewußtsein gegenwärtig und beeinflußt viele Handlungen. Abgespalten und verdrängt sind aber auch hier die wahren frühkindlichen narzißtischen Bedürfnisse und damit zusammenhängend jene Großartigkeit des ursprünglichen, primären Narzißmus. Gezeigt und zur Schau gestellt werden ausschließlich jene idealen Selbstvorstellungen, die dem entsprechen, was in der Biographie an narzißtischen Erwartungen von den primären Bezugspersonen in das Kind hineingelegt wurde; also die Leistungen, für die das Kind Liebe und Bewunderung erhalten hat.40 Für diese Patientengruppe ist, nach Kohut, ein Schwanken zwischen Größenphantasien, die Bedürfnisse nach 35 Alice Miller: Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst. Frankfurt 1979, S. 57 ff. und S. 73 36 Kohut, Narzißmus, S. 206 37 ebd., S. 206 38 ebd., S. 205 -- 206 39 ebd., S. 206 40 ebd., S. 205 ff. Zuwendung verleugnen, und Zuständen von Leere und geringem Selbstwert charakteristisch.41 Kohut führt in der Folge aus, daß bei beiden Personenkreisen im Laufe einer erfolgreichen psychotherapeutischen Behandlung die horizontale Spaltung zu Tage kommt, während eben nur bei letzeren ein offensichtliches Größenselbst vorhanden ist.42 In anderen Worten bedeutet dies, daß die Großspurigen und die besonders Bescheidenen das gleiche Schicksal haben, was ihre ursprünglichen narzißtischen Bedürfnisse betrifft. Worauf sich allerdings dieser ursprüngliche Narzißmus bezieht, das ist auch bei Kohut nicht genau auszumachen. Bei seinen Ausführungen über die normale psychische Entwicklung findet sich kein explizites Zugeständnis, daß es im Kind etwas eigenens, authentisches gibt, das gesehen und gespiegelt werden möchte. Die „endgültigen Lebensziele“und das Selbstwertgefühl eines Menschen werden für ihn vom primären Narzißmus nur insofern gekennzeichnet, als er ihnen „absolute Dauerhaftigkeit und Überzeugung vom Recht auf Erfolg einflößt“43 Die „spezifischen Zielvorstellungen“ eines Menschen sind, nach seiner Ansicht, (ledigliche) „Abkömmlinge der Identifikationen mit eben jenen Gestalten, die ursprünglich als Erweiterung des Größenselbst erlebt worden waren“44, also Abkömmlinge der idealisierten Elternimago. Ähnlich wie bei Freud, lassen seine theoretischen Überlegungen also auch das Zugeständnis eines nicht weiter rückführbaren geistigen Potentials vermissen, auch wenn manche seiner Falldarstellungen nahelegen, daß er in der Therapie seinen Klienten durchaus Eigenes und Echtes zugesteht.45 3. Otto Kernberg: 41 ebd., S. 228 - 229 ebd., S. 274 43 ebd., S. 132 44 ebd. 45 siehe Kohuts Falldarstellung B., S. 146 - 147 42 Otto Kernberg entwickelte, in manchen Teilen kontroversiell zu Kohuts Auffassungen, ein anderes Narzißmuskonzept. Er begreift die Objektbeziehungstheorie von Mahler und Jacobson und ihre Erkenntnisse über die seelische Entwicklung des Kleinkindes als theoretische Grundlage für seinen Ansatz. Im Allgmeinen geht die Objektbeziehungstheorie davon aus, daß die Psyche eines Menschen aus Elementen zusammengesetzt ist, die aus der Außenwelt stammen, vornehmlich aus den Funktionen einer wichtigen Bezugsperson. Die Aufnahme und Aneignung dieser Elemente der Beziehungserfahrung erfolgt durch den Prozeß der Internalisierung. Geistige Funktionen werden dann in Begriffen von Beziehungen zwischen verschiedenen verinnerlichten Elementen erklärt.46 Zwei Grundbegriffe sind für ein weiteres Verständnis wichtig: Jener der Objektvorstellung oder Objektrepräsentanz. Darunter versteht man in der Objektbeziehungstheorie „eine intrapsychische Struktur, die aus einer Vielzahl von Bildern, Eindrücken und (...) affektiven Erlebnissen mit einem Objekt“, also mit einer anderen Person in der Außenwelt geformt ist.47 Der Begriff der Selbstvorstellung oder Selbstrepräsentanz bezieht sich auf „ein Konstrukt, das aus der dynamischen und affektiven Organisation mehrerer Selbstbilder resultiert und zu einer dauerhaften (...) intrapsychischen Struktur führt, die die (...)Erfahrungen dieses Menschen subjektiv widerspiegelt.“48 Mahler und Jacobson gingen davon aus, daß sich die psychische Struktur eines Kindes langsam entwickelt und daß zunächst böse, mit Aggression besetzte und gute, mit Libido besetzte, Selbst- und Objektvorstellungen nebeneinander bestehen. Allmählich erst entwickeln sich die Ich-Funktionen der Differenzierung und Integration. Durch die Differenzierung erwirbt das Kind die Fähigkeit, zwischen Objekt-und Selbstvorstellungen, praktisch zwischen Ich und Nicht-Ich, unterscheiden zu können, was eine Voraussetzung für Realitätsprüfung ist. Bei der Integration geht es um das Aushalten von Ambivalenz, um das Integrieren von guten und bösen Selbst- und Objektvorstellungen, somit um die ganzheitliche Wahrnehmung seiner selbst und anderer.49 Otto Kernberg sah in den Erkenntnissen von Mahler und Jacobson ein geeignetes Handwerkszeug, verschiedene Schweregrade von Psychopathologie zu analysieren 46 B. M. Moore und B.D. Fine: Psychanalytic Terms and Concepts. New Haven 1990, S. 131, zit. nach: Volkan und Ast, Spektrum, S. 175 47 Volkan und Ast, Spektrum, S. 15 48 ebd. 49 ebd., S. 176 - 177 und so ihre Genese und ihren Entwicklungsstand zu bestimmen.50 Nachdem er sich zunächst mit der Borderline-Persönklichkeitsorganisation befaßt hatte, diagnostizierte er auch bei der narzißtischen Struktur einen Mangel an der Fähigkeit zur Integration entgegengesetzter Selbst-und Objektvorstellungen. Beim „pathologischen Narzißmus“, wie Kernberg ihn nennt, ist eine „pathologische Selbststruktur“ vorhanden und libidinös besetzt, die durch das Vorherrschen eines „pathologischen Größenselbst“ charakterisiert wird. Dieses Größenselbst setzt sich für Kernberg aus Real-Selbst, Ideal-Selbst und idealen Objektvorstellungen zusammen.51 Unter ersterem versteht er „die Besonderheit des Kindes, die durch frühe Erlebnisse verstärkt wurde“.52. Das Ideal-Selbst wird als Entschädigung für Frustrationen „auf der oralen Ebene“ vom Kind etabliert und zeichnet sich durch Suberlative von Macht, Schönheit etc. aus. Das ideale Objekt, als Pendant dazu, ist die Vorstellung der „grenzenlos gebenden Mutter“.53 Entwertete oder aggressiv bestimmte Selbst- und Objektvorstellungen sind vom Größenselbst abgespalten, verdrängt oder auf andere (in der Übertragung etwa auf den Analytiker) projiziert. Kernberg bezeichnete denn auch die Spaltung als den zentralen Abwehrmechanismus der narzißtischen Persönlichkeitsorganisation. Im Gegensatz dazu ist beim „normalen Narzißmus“ eine Integration der mit Libido und Aggression besetzten Komponenten erfolgt und das Selbst verfügt über eine Struktur, in welche die „guten“ und „bösen“ Selbstvorstellungen gleichermaßen eingegangen sind und ein „realistisches Selbstbild“ ermöglichen. Diese Integration ist nach Kernberg die Voraussetzung für eine „libidinöse Besetzung des normalen Selbst“ und somit für die Entwicklung eines gesunden Narzißmus.54 Für Kernberg ist folglich die Entwicklung des Selbst in einem Stadium maßgebend, das vor der primären narzißtischen Besetzung anzusiedeln ist. Mit dieser Auffassung befindet er sich im Gegensatz zu der traditionellen psychoanalytischen Lehrmeinung, die die strukturellen Merkmale der narzißtischen Persönlichkeitsorganisation als Fixierung auf einer frühen Ebene der normalen Entwicklung versteht.55 50 Otto Kernberg: Schwere Persönlichkeitsstörungen. Theorie, Diagnose und Behandlungsstrategien. Stuttgart 985, S. 276 51 ebd.; S. 277 52 Volkan und Ast, Spektrum, S. 42 53 ebd., S. 42 54 Kernberg, Persönlichkeitsstörungen, S. 277 55 ebd., S. 278 Da es diesen Entwicklungsstillstand im Stadium des primären Narzißmus für Kernberg nicht gibt, gesteht er narzißtischen Persönlichkeiten auch die Fähigkeit zur Objektliebe zu. Allerdings ist diese in demselben Maße gestört und verzerrt, als es die Liebe zur eigenen Person ist. Narzißmus und Objektbeziehungen gehören so, nach Kernbergs Ansicht, zusammen und können nicht voneinander isoliert betrachtet werden.56 Im Einklang mit der psychoanalytischen Tradition befindet sich Kernberg allerdings, wenn er die zwei Grundformen des pathologischen Narzißmus beschreibt, die sich auch in Kohuts Ansatz finden und weiter oben bereits dargestellt sind: Die Form der narzißtischen Objektwahl und die Zentrierung der narzißtischen Persönlichkeit um ein pathologisches Größenselbst.57 Im Vergleich zu Kohut allerdings, versucht Kernberg, eine phämomenologische Darstellung der grandiosen Persönlichkeit zu geben. Einen „hohen Grad von Selbstbezogenheit in ihren Interaktionen“, ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Bewunderung, „einen merkwürdigen Widerspruch zwischen einem stark aufgeblasenen Selbstkonzept und gelegentlich übertriebenen Minderwertigkeitsgefühlen“, ein geringes Einfühlungsvermögen, starke Neidgefühle und die Tendenz, manche Menschen zu idealisieren, andere jedoch um so heftiger abzuwerten sind einige Charakteristika, die Kernberg hier anführt.58 In seinem Behandlungskonzept betont Kernberg die Integration von bösen und guten Selbst-und Objektvorstellungen als wesentlichstes Therapieziel.59 Nicht unähnlich von Kohuts Ansatz, ist auch für ihn die Analyse der sich entfaltenden Übertragungsbeziehung die wichtigste Methode, diese therapeutische Zielsetzung zu erreichen. Er allerdings setzt dabei sein Augenmerk auf die in der therapeutischen Beziehung zu Tage tretenden fragmentierten und abgespaltenen Selbst- und Objektvorstellungen. Der Klient projiziert in der therapeutischen Situation nicht selten verachtete und verdrängte Selbstvorstellungen auf den Analytiker, gegen die er dann aufbegehrt, um einen anderen, den idealen Teil seines Selbstbildes zu untermauern. Sowohl die Gefühle, die er dadurch im Analytiker auslöst (Gegenübertragung), als auch andere Inszenierungen seiner Kindheitserfahrungen, in welchen der Klient manchmal in die Rolle des bespielsweise ausgebeuteten Kindes, dann aber auch in die der beispielsweise dominanten, ausbeuterischen Mutter schlüpft, geben dem 56 ebd.; S. 282 ebd., S. 280 58 ebd., S. 280 - 281 59 ebd., S. 294 ff. 57 Analytiker langsam Aufschluß über seine innere Welt der Selbst- und Objektvorstellungen.. Eine Interpretation dieser Vorgänge und eine Konfrontation mit den so ans Licht kommenden verschiedenen Teilpersönlichkeiten sollen es dem Klienten mit der Zeit möglich machen, die verschieden Aspekte seines Selbstbildes zu integrieren und so zu einer realistischen Selbsteinschätzung zu gelangen. Kernberg betont, daß man in der Analyse narzißtischer Patienten ein besonderes Augenmerk auf die abgewerteten, mit Aggression besetzten Selbstvorstellungen legen müsse und es gelte, auch die Idealisierungen auf ihre aggeressiven Komponenten hin zu analysieren. Beispielsweise könnte in einer Idealisierung auch eine Abwehr gegen Aggression zum Ausdruck kommen.60 Sein Hauptkritikpunkt an Kohut bezieht sich denn auch auf den Umstand, daß er keine Differenzierung der Idealisierung in ihre unterschiedliche Formen vornimmt und insgesamt die Aggression in seiner Theorie und in seinem Behandlungssansatz vernachlässigt61. Im Vergleich zu den bereits dargestellten Narzißmustheorien finden wir in Kernbergs Konzept des Real-Selbst eine Anerkennung des Eigenen und Authentischen,das eine Person ins Leben miteinbringt und gewürdigt sehen möchte. Seine weiteren Ausführungen und therapeutischen Überlegungen in seinem Werk über „Schwere Persönlichkeitsstörungen“ konzentrieren sich dann allerdings auf die Erforschung der fragmentierten Selbst- und Objektvorstellungen, damit zusammenhängender Charakterwiderstände und auf die Integration der „bösen“ und „guten“ Anteile des Selbst. Ob er anderenorts ausführlichere Überlegungen über den Inhalt des RealSelbst und seine Bedeutung für den gesunden Narzißmus und eine reife Selbsteinschätzung anstellt, entzieht sich meiner Kenntnis, an dieser Stelle lassen seine Ausführungen eine Vorstellung darüber vermissen, wie auch die authentischen Aspekte, die einen Teil des Größenselbst auszumachen scheinen, im Verlaufe einer erfolgreichen Therapie in eine nun reifere Persönlichkeitsstruktur integriert werden können. 4. Alice Miller 60 61 ebd., S. 270 ebd., S. 270 - 271 Mit ihrem, von einer breiten Leserschicht begeistert aufgenommenen Buch „Das Drama des begabten Kindes“, welches sich mit der Narzißmusproblematik auseinandersetzt, ist Alice Miller innerhalb der Psychoanalyse einen neuen Weg gegangen, einen Weg, der sie schließlich dazu veranlaßt hat, sich von der Psychoanalyse ganz abzuwenden. In ihrer Analyse der narzißtischen Störung legt sie den Schwerpunkt auf die Beschreibung des Schicksals des „wahren Selbst“ eines Menschen, worunter sie zunächst die genuinen versteht.62.Werden diese Gefühle Gefühle und und Bedürfnisse Bedürfnisse eines von Kleinkindes den primären Bezugspersonen wahrgenommen und verstanden, so bilden sie den Kern des gesunden Selbst einer erwachsenen Person. Ein in dieser Weise großgewordener Mensch kann über seinen inneren Gefühlreichtum verfügen, er besitzt eine echte Lebendigkeit und kann ausdrücken, was er will, ohne von der Meinung anderer eingeschüchtert zu sein. Alice Miller definiert denn auch den „gesunden Narzißmus“ als „den Idealfall einer genuinen Lebendigkeit, eines freien Zugangs zum wahren Selbst, zu denn echten Gefühlen (...).“63 Von einer „narzißtischen Störung“ spricht sie dann, wenn dieser Zugang zum wahren Selbst verlorenengegangen und an dessen Stelle ein „falsches Selbst“, eine „Als-obPersönlichkeit“ getreten ist, die sich in der Kindheit an die Erwartungen der Außenwelt angepaßt und mit diesen identifiziert hat. 64 Eine solche Störung drückt sich unter anderem aus, in der Unmöglichkeit bestimmte Gefühle, wie Eifersucht, Neid, Zorn, Verlassenheit oder Angst bewußt zu erleben. An dessen Stelle treten nicht selten Empfindungen von Leere, Sinnlosigkeit und Heimatlosigkeit.65 Alice Miller hat in der Biographie narzißtisch gestörter Menschen immer wieder das gleiche Grundmuster gefunden. Die wahren Bedürfnisse und Gefühle wurden schon in frühester Kindheit nicht wahrgenommen, mißachtet oder gar verachtet. Liebe und Wertschätzung wurden diesen Kindern nur dann zu Teil, wenn sie sich nach den Vorstellungen der Eltern verhielten, ihre Erwartungen erfüllten und dem Bild entsprachen, das sie sich von ihnen gemacht hatten. Miller spricht in diesem Zusammenhang auch von dem „begabten Kind“ oder dem „armen reichen Kind“ und 62 Miller, Drama des begabten Kindes, S. 21 ebd., S. 11 64 ebd., S. 24 65 ebd., S. 24 ff. 63 meint, daß diese Kinder meist zu einer sehr differenzierten Wahrnehmung fähig sind und über die Begabung verfügen, die Bedürfnisse der Eltern „intuitiv, also auch unbewußt zu spüren und zu beantworten, d. h. die ihm unbewußt zugeteilte Funktion zu übernehmen.“66 Die Eltern dieser Kinder haben ebenfalls narzißtische Defizite und suchen in der nächsten Generation das, was sie bei ihren eigenen Eltern ebenfalls vermissen mußten: „ein Wesen, das ganz auf sie eingeht, sie ganz versteht und ernstnimmt, das sie bewundert und ihnen folgt.“67 Alice Miller vertritt generell die Auffassung, daß alle Menschen die Tendenz haben, die eigene, emotionale Kindheitsgeschichte an ihren Sprößlingen zu wiederholen, es sei denn, sie haben in der Zwischenzeit die Möglichkeit gehabt, ihr eigenes, verletztes inneres Kind zu entdecken und sich seiner anzunehmen. So wird denn auch - ohne Introspektion die Narzißmusproblematik von Generation zu Generation weitergegeben. Miller unterscheidet, wie bereits erwähnt, zwei Extremformen der narzißtischen Störung, die an Kohuts Einteilung in eine „vertikale“ und eine „horizontale Spaltung“ erinnern und die sie als Kehrseite der jeweils anderen versteht: die Grandiosität und die Depression.68 Sie charakterisiert in der Folge den „grandiosen Menschen“ als eine Persönlichkeit, die unter dem inneren Zwang steht, alles „großartig“ und „glänzend“ zu machen und die in ihrem Selbstwert von der Bewunderung anderer stark abhängig ist. In ihrem Inneren sind solche Menschen aber leer, weil vom Eigenen nichts entwickelt werden konnte. Sie vergleicht sie mit einem Luftballon, der bei güngstigem Wind hoch hinauffliegen kann, durch ein plötzliches Loch aber zum kleinen Fetzchen wird, das kümmerlich zu Boden fällt.69 Miller vermutet, daß in dem oft beschriebenen Neid narzißtisch-grandioser Persönlichkeiten auf andere die Sehnsucht verschlüsselt ist, in ihrem wahren Selbst geachtet, verstanden und ernstgenommen zu werden. Unbewußt würden sie spüren, daß die Bewunderung, die sie erhalten, mit der Liebe, die sie sich eigentlich wünschen und von der sie annehmen, daß sie anderen zuteil wird, nicht ident ist.70 Die Depression ist, nach Miller, der Gegenpol der Grandiosität und ihr ständiger, versteckter Begleiter. Sie wird dann manifest , wenn die Großartigkeit aus bestimmten Gründen (z:B. im Alter) nicht mehr aufrechterhalten 66 ebd., S. 23 - 24 ebd., S. 22 68 ebd.; S. 68 69 ebd., S. 69 70 ebd., S. 70 - 71 67 werden kann oder zeigt sich in der Leere nach einem großen Erfolg, der nur momentane Befriedigung brachte. Vielfach wird sie auch ins Außen verlagert, etwa in einen permanent depressiven Partner, den es dann zu stützen und zu schützen gilt. Sie kann sich auch als manifeste Erkrankung etablieren, deren grandioser Widerpart dann im „moralischen Masochismus“ solcher Menschen und in den hohen Ansprüchen an sich selbst auszumachen ist.71 Die Eigenschaften, mit denen Miller die chronisch-depressiven, narzißtisch gestören Menschen beschreibt72, lassen den Schluß zu, daß die depressive Persönlichkeit als wesensgleicher Gegenpol des „grandiosen Menschen“ zu verstehen ist. Trotz ihrer Gegensätzlichkeit haben Depression und Grandiosität für Miller die gleiche Wurzel, sind Ausdruck des „falschen Selbst“, das sich - auf Kosten der Authentizität - die Zuneigung der Eltern gesichert hat: „Beide signalisieren ein inneres Gefängnis. Der Grandiose wie der Depressive müssen zwanghaft die Erwartungen der introjizierten Mutter erfüllen; während aber der Grandiose das gelungene Kind der Mutter ist, wird sich der Depressive vielmehr als Versager erleben.“73 In ihrem therapeutischen Ansatz betont Alice Miller die „Empathie“ des Analytikers für die Kindheitsgeschichte des Patienten, die sich in der Übertragung nochmals aufrollt. Wenn narzißtische Menschen mittels Therapie zu der schmerzhaften Erkenntnis gelangen, daß nicht sie, sondern nur ihr angepaßtes Selbst von den Eltern geliebt wurde, dann kann durch Trauerarbeit ein Weg zum „wahren Selbst“ gefunden werden.74 Die abgespaltenen und zunächst verheimlichten Größenphantasien können integriert werden, wenn der Patient sie als „entfremdete Form“ der echten, narzißtischen Bedürfnisse zu verstehen gelernt hat.75 Von einem existenzanalytischen Blickwinkel aus betrachtet, könnte man Alice Miller als Anwältin für das Kind als Person betrachten. In ihrer Narzißmustheorie, die über eine Beschreibung und Behandlung der narzißtischen Persönlichkeit im engeren Sinne hinausgeht, legt sie ihr Augenmerk auf die personalen Verletzungen und Demütigungen 71 ebd., S. 73 - 77 ebd., S. 19 - 21 73 ebd., S. 78 74 ebd., S. 33 75 ebd., S. 35 72 des Kindes und dessen Folgen für ein erwachsenes Selbstkonzept. Sie verzichtet weitgehend auf komplexe, psychoanalytische Strukturmodelle und setzt ihren Schwerpunkt dort, wo die eingangs dargestellten Theorien einen „blinden Fleck“ zu haben scheinen: in dem Aufspüren des Authentischen und dessen Bedeutung für die Narzißmusproblematik. In ihren Beschreibungen und Falldarstellungen gewinnt man zwar den Eindruck, daß sie die Thematik mehr von der depressiven Seite her beleuchtet und es vielleicht fraglich ist, ob eine empathische Grundhaltung in der Therapie das (alleinige) Mittel der Wahl bei narzißtisch-grandiosen Patienten ist, die ihr empfindliches Größenselbst mit vielen Abwehrmechanismen schützen. Was die Darstellung der Grundproblematik des Narzißmus betrifft, ist sie - wie im dritten Abschnitt noch deutlich werden wird - einem existenzanalytischen Zugang sehr nahe und so findet sich einiges von ihrem Gedankengut im dritten Kapitel, auch wenn es nicht direkt von ihrem Konzept abgeleitet ist. II. PHÄNOMENOLOGIE DER NARZISSTISCHEN PERSÖNLICHKEIT Nach soviel Theorie ist es gar nicht leicht, sich der phänomenologischen Seite zuzuwenden, wenngleich sie für das Verstehen und für die Diagnostik von Bedeutung und Wert ist. In der Existenzanalyse gehen wir, wenn wir von Phänomenologie sprechen, von der Definition Heideggers aus: Phänomenologisch vorzugehen bedeutet, „das was sich zeigt, so wie es sich von sich selbst her zeigt, von ihm selbst her sehen (zu) lassen.“76 Eine phänomenologische Vorgangsweise sollte von dem Bewußtsein getragen sein, daß wir generell die Tendenz haben, Dinge zu schnell zu interpretieren, zu kategorisieren und nach unserer Interessenslage zu bestimmen. Demgegenüber erhebt die Phänomenologie die Forderung, zum Wesen der Dinge selbst - jenseits allen Vorwissens und aller Vorurteile - vorzudringen. Dies ist nun gerade bei dieser Thematik nicht leicht, handelt es sich beim Narzißmus zunächst auch nicht um ein Phänomen, sondern um ein vieldiskutiertes theoretisches Konzept, das zwar aus der Beobachtung einiger Phänomene abgeleitet worden, jedoch keineswegs auf diese reduzierbar ist. Demgegenüber begegnen wir nun einer Vielzahl von Bedeutungen des Begriffs Narzißmus und auch bezüglich der Beschreibung der narzißtischen Persönlichkeit, beziehungsweise bezüglich der Festschreibung, was denn nun unter einer narzißtischen Störung zu verstehen sei, gibt es - wie im ersten Kapitel bereits deutlich wird - nicht eine Meinung. Diese Umstände führen, will man auf eine phänomenologische Darstellung nicht ganz verzichten, zu dem Paradox, zunächst eine begriffliche Einschränkung vornehmen zu müssen, bevor man sich den narzißtischen Phänomenen gegenüber öffnen kann: Denn phänomenologisch beschrieben werden können nur Wesenzüge der narzißtischen Persönlichkeit, was wiederum zur Voraussetzung hat, festlegen zu müssen, welchen Personen- oder Patientenkreis man hier zuordnen würde. Je nach dem, ob man beispielsweise die Depression als die Kehrseite des grandiosen Narzißmus versteht und die depressive Persönlichkeit den narzißtischen Störungen zuordnet oder nicht, würde eine Beschreibung unterschiedlich ausfallen. 76 . Martin Heidegger: Sein und Zeit. Gesamtausgabe Bd. 2, Frankfurt 1977, S.46, zit. nach: Helmuth Vetter: Die phänomenologische Haltung, in: Selbstbild und Weltsicht. Tagungsbericht Nr. 1/1989 der GLE, S. 14 Um die Dinge nicht allzusehr zu komplizieren, möchte ich nun im folgenden vom Typischsten ausgehen und die grandios-narzißtische Persönlichkeit beschreiben wie sie auch im DSM III charakterisiert ist. Ich möchte es dabei dem Leser überlassen, sich den Gegenpol - etwa den geringen Selbstwert, die übergroße Bescheidenheit etc. - dazu vorzustellen und ihn (mit seiner vielleicht versteckten Grandiosität), mit dem Beschriebenen in Verbindung zu bringen. 1. Ideal-sein-wollen „Er staunt sich selbst an, und mit starrem Blick ist er wie gebannt, gleich einem Bild aus parischem Marmor. Auf den Boden gestreckt, schaut er das Doppelgestirm seiner Augen und sein Haar, eines Bacchus würdig, ja, würdig eines Apollo, die bartlosen Wangen, den Hals wie aus Elfenbein, das holde Gesicht und die Röte, die sich mit schneeigem Weiß mischt. Alles entzückt ihn, wodurch er entzückt.“77 Der mythologische Narziß, so wie ihn Ovid in seinen Metamorphosen beschreibt, sieht sein Bild im Spiegel der Quelle und das, was er erblickt, ist idealtypisch schön, makellos, ja clicheehaft, und er ist begeistert. Wie es mit Spiegeln so ist, nimmt er nur diese eine, dem Wasser zugewandte Seite wahr, und sie bleibt letztendlich unwirklich, denn, will er sie berühren, ist sie auch schon durch die Turbulenzen, die er im Wasser erzeugt, verschwunden. Nur wenn er ganz starr und statisch bei seinem Bild verharrt, bleibt es ihm erhalten. Daß es ihm nicht gelingt, sich von diesem Bild zu lösen - obwohl er schließlich erkennt, daß er sich nicht in den anderen sondern in sein eigenes Spiegelbild verliebt hat - besiegelt schließlich das Ende des Narziß. Menschen mit einer narzißtischen Persönlichkeitsstruktur haben eine sehr bildhafte Vorstellung von sich und man könnte sagen, daß die Beschäftigung mit diesen Bildern im wesentlichen die Beziehung ausmacht, die sie zu sich selbst haben. Diese Bilder sind idealtypisch und superlativ, Ausdruck dessen, was oder wer man idealerweise ist. Sie sind frei von Ambivalenz, hier gibt es keine Ungereimtheiten, nichts Schräges, nichts Negatives, nichts Unvollkommenes. Sie ähneln den Archetypen in Märchen und nicht selten nehmen sich narzißtische Persönlichkeiten 77 Ovid: Metamorphosen. Das Buch der Mythen und Verwandlungen. In Prosa neu übersetzt von Gerhard Fink. Zürich 1989, S. 75 in Bildern von Märchenfiguren wahr. So findet man die Vorstellung „das Leben einer Prinzessin zu führen“ recht häufig im Fallmaterial von Literatur über Narzißmus. Jakob, ein Student Anfang 20, kam in Therapie, weil ihn seine Freundin geschickt hatte. Unter anderem empfand sie es als störend, daß er in Gesprächen immer gewinnen und die Argumente des anderen rhetorisch entkräften müsse. Schließlich führte uns dieser Wesenszug zu Jakobs Selbstbild: Er sah sich als Helden, der alle schwierigen Situationen meistert und am Ende immer gewinnt. Obwohl dieses Heldenthema in manchen Variationen auftrat (so wollte er auch der obskure Klient sein, der selbst erfahrenen Therapeuten ein Rätsel blieb) so war es im Kern doch immer dasselbe, und er brachte es mit jenen Filmfiguren in Zusammenhang, die er als Kind so bewundert hatte: Winnetou und Superman Die Selbstbilder narzißtischer Klienten sind auch statisch, haben kein Geworden-sein und lassen sich nicht so leicht durch die Wechselfälle des Lebens beeinflussen. Sie springen höchsten um, in ihr absolutes Gegenteil, wenn sich die idealtypische Seite in einer Krise nicht aufrechterhalten läßt. Es kann immer ein und dasselbe Bild sein oder es sind mehrere. Manche narzißtischen Persönlichkeiten sind wahre „Bilderstürmer“, d.h. sie sehen und suchen sich in immer neuen Bildern, abhängig davon in welchem Umfeld sie sich gerade bewegen, mit welchen Menschen sie gerade Kontakt haben. Man könnte sagen, daß in solchen Fällen, daß Ideal-sein zum absoluten Lebensmodus geworden ist. So war es auch bei Jakob, der eine erstaunliche Fähigkeit hatte, sich selbst mit einer gewissen Distanz zu beschreiben. Er erzählte, daß er in allem, was er tut, sich bemüht, ideal zu sein. So würde er z.B., während er mit mir spricht, sich überlegen, was ich wohl als Therapeutin nun gerne hören möchte/ was der ideale Klient wohl jetzt sagen würde. Auch in der Beziehung zu seiner Freundin war er sehr bemüht, alles recht zu machen. In schlechter Stimmung gab es zwar sehr viele Dinge, die ihn störten, ihre Ungeschicklichkeit, die schlechte Körperhaltung, der schaffe Bauch. Weil er aber „ein idealer Partner“ sein wolle, halte er sich mit dieser Kritik zurück. Im Studium käme er nicht recht voran. Er habe sich vorgenommen in der Mindestzeit fertig zu werden und weiß genau, wieviele Lehrveranstaltungen er pro Semester besuchen muß, um dieses Ziel zu erreichen. Dies tut er dann auch, was dazu führt, daß er sich nirgends wirklich auskennt. Er möchte in der Vorlesung aber keine Fragen stellen, weil er nicht zugeben kann, daß er nicht schon alles weiß, versteht dann immer weniger und geht letztlich dann nicht mehr hin. Die Beziehung, die narzißtische Persönlichkeiten zu ihren Selbstbildern haben, ist, so könnte man sagen, eine visuelle: Sie sehen sie sich an, sie stellen sie sich vor, sie zeigen sie her, sie sind ihr Augenmaß. So wie Narziß sein Spiegelbild nur ansehen,es aber nicht berühren kann, ohne daß es verschwindet, so vermeiden es Menschen mit narzißtischer Persönlichkeit, mit ihren Selbstvorstellungen wirklich in Kontakt zu kommen. „Wo haben sie erlebt, daß sie so sind?“ wäre eine mörderische therapeutische Frage. Narzißtische Persönlichkeiten möchten sich der Begrenzung der Realität in dieser Hinsicht nicht stellen, möchten nicht erfahren, daß manches von ihrer eingebildeten Größe einer Prüfung nicht standhalten würde. Oft suchen sie sich deshalb repräsentative Aufgaben, wo sie die Kleinarbeit nicht machen müssen, sind aus auf den schnellen Erfolg. Manche haben ein außerordentliches Geschick, eine (vielleicht relativ simple Idee) äußerst erfolgreich zu verkaufen. Andere bleiben mit ihren Fähigkeiten lieber in einer „Wenn-dann-Beziehung“. Sie gefallen sich darin, zu erzählen, was sie alles getan oder erreicht hätten, hätten sie nur die Möglichkeit dazu gehabt. So war z.B. Fritz davon überzeugt, daß er, wenn er die Möglichkeit zum Studium gehabt hätte, dieses ganz toll und in der Mindestzeit absolviert hätte. Auf diesen Bildern von vorgestellter Größe ist ihre Identität aufgebaut. Narzißtische Menschen vermeiden es, mittelmäßig zu sein und können sich deshalb nicht realistisch einschätzen. Es gibt kein trial and error, keine mühsam errungenen Einsichten. Sie nehmen sich nicht in der Tiefendimension wahr, und es ist ihnen unmöglich zu erzählen, wie sie geworden sind, was sie geprägt hat. Sie haben, was ihr Selbstbild betrifft, keine Geschichte. Sie wirken oft unreif, jugendlich und man hat manchmal sogar den Eindurck, sie wären noch überhaupt nicht wirklich geboren. Sie sehen sich als etwas besonderes, das noch niemand so richtig erkannt hat oder das noch in seiner Potentialität schlummert. Auch in dieser Hinsicht entziehen sie sich der Begrenzung: Alles ist immer möglich, alles - das Beste - ist immer noch drin. So wollte sich Jakob beispielsweise beruflich nicht festlegen. Er sagte, hinsichtlich seiner Berufswahl sei er sich sowieso nicht sicher, er studiere Medizin, damit er halt etwas macht. Er glaube, daß er potentiell alle Möglichkeiten und alle Fähigkeiten habe, würde er sich aber für etwas entscheiden, dann blieben seine anderen Begabungen unentdeckt. Würde er z.B. ein guter Bergsteiger werden, so sähen wahrscheinlich alle den Naturburschen in ihm und würden ihn dann darauf reduzieren und z.B. seine intellektuellen Fähigkeiten nicht wahrnehmen. Narzißtische Persönlichkeiten sind, was ihre Identität betrifft, bildlich gesagt, Tänzer im leeren Raum. Ihr Maß ist das Beste, doch da es nicht gelebt, nicht im realen Leben verankert ist, bleibt es unkonkret und letztlich ohne Grund. Dieses Vage und Unbegrenzte in der Identität narzißtischer Persönlichkeiten ist atmosphärisch deutlich spürbar. Man spürt, daß sie trotz der mehr oder minder offensichtlich gezeigten Größe unsicher sind und keinen festen Boden unter den Füßen haben. 2. Gefühle Da Menschen mit narzißtischer Persönlichkeit sehr stark mit ihren Selbstbildern beschäftigt sind, haben sie dementsprechende Schwierigkeiten, Gefühle bei sich wahrzunehmen und diese auszudrücken. Ihre „Heimat“ ist der Kopf, nicht das Herz und nicht der Bauch. Oft sind es ausgesprochen intellektuelle Menschen mit sehr gutem Reflexionsvermögen, meist auch sehr gewandt, um Argumente nie verlegen, was sich nicht zuletzt oft in einer ausgesprochenen rhetorischen Begabung ausdrücken kann. Wenn man der von A. Längle getroffenen Unterscheidung der Gefühle in „zuständliche Gefühle“ und „wahrnehmende Gefühle“ folgt78, so läßt sich vermerken, daß narzißtische Menschen vorwiegend in der ersten Gruppe „zu Hause sind“. Die Vorstellungen, die sie von sich haben, das, was sie idealerweise sein möchten, stellt sich zumeist vor das wahrnehmende Fühlen, d. h.vor das unmittelbare, auf einen Wert hin ausgerichtete Erleben und somit vor die konkret sinnliche, geerdete Selbstund Welterfahrung. Das „sich etwas zusammendenken, sich etwas ausmalen“ dominiert vor dem „in Berührung kommen“ mit sich und der Welt. In diesem Sinne wirken sie zumeist ein bißchen abgehoben/ungeerdet. Narzißtische Persönlichkeiten fühlen, wie erwähnt, mehr im Empfindungsbereich, also in jener Kategorie von Gefühlen, die nicht in der realen Situation gründen, sondern in diese hineingetragen werden und auf biographische Bezüge hinweisen, die in der therapeutischen Situation zu erhellen sind79.Das Zuständliche und in diesem Sinne auch das Selbstbezogene hat Vorrang gegenüber dem Gerichteten; das Wünschen, das Erspüren eines Mangels steht vor dem wertbezogenen Wollen. Sie fühlen oft eine starke, regressiv anmutende Sehnsucht nach einem Idealzustand, in welchem alle Mühen, Unsicherheiten und Unzulänglichkeiten ein Ende haben. Manchmal richtet sich diese Sehnsucht auf vergangene und (zumindest retrospektiv) ideal empfundene Lebensumstände („es soll wieder so schön und einmalig werden, wie es damals war“) oder sie bezieht sich auf einen zukünftigen Moment, in welchem die eigene Vollkommenheit erreicht ist und man sich in dieser ausruhen kann: 78 Alfried Längle: Kann ich mich auf mein Gefühl verlassen? Öffentlicher Vortrag bei der Tagung der GLE in Feldkirch am 15. 4. 1994. Tonbandaufzeichnung 79 ebd. Jakob, der sich in buddhistischer Meditation und Philosophie unterweisen ließ, sehnte sich danach, den Zustand absoluter Weisheit und Vollkommenheit zu erreichen und in diesem gleichsam zu ruhen. Er hatte die Phantasie, daß ihn sein Meister eines Tages als herausragenden Schüler erkennen und ihn auf die gleiche Stufe der absoluten Weisheit heben würde. Dann hätte alle Unsicherheit und Ungewißheit über die eigenen Lebensvorstellungen ein Ende. Analog zu der Polarisierung ihrer Selbstvorstellungen in „ideal“ und „schlecht“ haben narzißtische Persönlichkeiten die Tendenz, ausschließlich die Extreme des Empfindungsspektrums wahrzunehmen: Hochstimmung wechselt mit Niedergeschlagenheit, Begeisterung mit Leere, das Gefühl, nichts und niemanden zu brauchen mit kläglichem Empfinden von Einsamkeit und Angewiesen-sein. Zu Therapiebeginn dominiert zumeist der negative Pol des Empfindungsspektrums. Die narzißtischen Klienten fühlen sich dann leer und antriebslos, einsam und von anderen ungeliebt oder mißachtet; sie spüren, daß etwas verlorengegangen ist, ohne dieses etwas jedoch genauer benennen zu können. Bei der depressiven Symptomatik steht athmosphärisch immer die Leere und nicht Versagen oder Scheitern im Vordergrund. Das Zuständliche der Gefühle und ihre Ungeerdetheit finden auch darin ihren Ausdruck, daß sie nur momentane und situative Bedeutung haben. Gefühle kommen und zerplatzen wie Seifenblasen. Aus ihnen wird nie die Gewißheit, daß etwas so ist und bleibt, wie man es gerade empfunden hat. Ganz besonders gilt dies für den Bereich des Selbstwerts, der mangels an innerem Begründet-sein, stark vom außen, vom Vorhandensein oder Fehlen von Bestätigung abhängig ist. Hannah, Schauspielerin von Beruf, hatte ein Engagement beim Film. Die Drehtage verliefen zügig und gut, sie war zufrieden mit sich und in Hochstimmung über ihre schauspielerischen Leistungen. Nach einigen Tagen erhielt sie einen Anruf, daß etwas nachgedreht werden müsse. Ohne auch nur nach den Gründen zu fragen, sackte ihre Stimmung in den Keller. Nun glaubte sie, daß sie in Wirklichkeit total schlecht gewesen war, daß das, was sie dort gezeigt hatte, einer Bewertung nicht standgehalten hatte. Ähnlich war es bei Ester: Ihre Stimmungslabiltät bezog sich zwar nicht auf die Beurteilung ihrer Leistungen und damit auf die fähigkeitsbezogene Seite des Selbstwerts, sondern auf das Gefühl oder die Gewißheit, in einer Gruppe als wichtig wahrgenommen zu werden. Esters Stimmungslage war zumeist gedämpft-depressiv, konnte aber in plötzliche Hochstimmung umschlagen, wenn es ihr gelang, bei anderen Anerkennung zu finden. Sie berichtete, daß ihr Sommerurlaub, dem sie zunächst ängstlich und pessimistisch entgegengebangt hatte, ein voller Erfolg gewesen war. Bei näherer Beschreibung stellte sich heraus, daß es sich um drei anfängliche Ereignisse handelte, die sie gleichermaßen „umzupolen“ vermochten: Sie hatte sich beim Sightseeing in London verlaufen und schon geglaubt der Bus sei ohne sie abgefahren. Es erwies sich jedoch, daß sie alle gesucht hatten und über ihre Rückkehr sehr froh waren. Jeder kannte sie nun und viele machten auch am nächsten Tag noch wohlmeinende Witze über das Ereignis. Der Lehrer des Sprachkurses wurde durch ihren Namen an einen Popsong erinnert, denn er spaßeshalber zu trällern begann, wenn sie in die Stunde kam. Zwei miteinander befreundete Mädchen, mit denen sie nur ein paar Worte gewechselt hatte, baten sie, sich mit ihnen fotografieren zu lassen. So wie Hannah die Zufriedenheit der Drehtage nicht mehr spüren konnte als der Anruf kam, so konnten sich auch bei Ester diese „Erfolge“ nicht in die Gewißheit verwandeln, daß sie für andere interessant und attrativ sein konnte. Das Hochgefühl und somit auch die Fähigkeit, in Gruppen Aufmerksamkeit zu erhalten, verblaßten mit dem Ende des Sommers. Daß das Gestimmt-sein von Menschen mit narzißtischer Persönlichkeitsstruktur sehr stark von momentaner Bestätigung und Anerkennung abhängt und sie in dieser Beziehung eine hohe Labilität und Empfindlichkeit besitzen, wird noch an einem anderen Phänomen deutlich: an dem, der hohen Schambereitschaft. Kohut spricht in diesem Zusammenhang von einer hohen Anfälligkeit zu sogenannten „traumatischen Ereignissen“80. Damit meint er alltägliche Situationen, die jeder als harmlos und unbedeutend bewerten würde, für solche Menschen aber narzißtisch bedeutsam sind und intensive Peinlichkeitsgefühle auslösen. Als Beispiel nennt er etwa, das Erzählen eines Witzes, der von den anderen aber gerade nicht als komisch erlebt wird. Die Intensität der Reaktion kann nach seiner Ansicht dadurch erklärt werden, daß sich der Betreffende gerade in einem Zustand der Offenheit und der Erwartung auf Bestätigung befunden hatte oder in seinen Worten: „daß eine Zurückweisung plötzlich und unerwartet gerade in dem Augenblick erfolgte, als der Patient hierfür besonders verwundbar war, das heißt in dem Augenblick, als er zu glänzen hoffte und Zustimmung zu seinen Phantasien voraussetzte.“81 Auch für Ernst ist der Zustand der Exponiertheit, in welchem sich narzißtische Persönlichkeiten hinsichtlich ihres Selbstwertes befinden, die Erklärung für die leichte Schamanfälligkeit. Er hält das Gefühl der Scham für so charakteristisch, daß er den 80 81 Kohut, Narzißmus, S. 263 ebd. Narzißmus, die„Krankheit des aufgeblähten Selbst“, als „nichts anderes als ein Form des Scham-Managements“ versteht.82 Die Exponiertheit des Selbst einerseits bei gleichzeitig starker Selbstbezogenheit andererseits, führt uns auch zu den charakteristischen Ängsten narzißtischer Menschen. Auf einer unbewußten Ebene spüren sie, meiner Ansicht nach, die Wackeligkeit ihrer Selbstvorstellungen, ihr schwaches Identitätsgefühl und fürchten sich davor, ihre Größenphantasien könnten eines Tages zusammenbrechen und sie selbst wären nichts, hohl und leer. Auf der Ebene des bewußten Erlebens spüren narzißtische Menschen wenngleich wenig Angst, ja es ist sogar nicht selten, daß sie sich übermütig gefahrvollen Situationen aussetzen 83, den in ihrer Selbstvorstellung so oft vorhandenen „Helden“ spielen. Ihre Angst verbirgt sich vielmehr hinter einer Art Kompensationsmechanismus und kommt in einer zwänglichen Kompontente zum Ausdruck, dergestalt, daß manche Lebensbereiche (z.B. Essen, aber auch Kommunikation, Tagesgestaltung) stark kontrolliert und verfeinert sind, Spontanität zugunsten von strengen Regeln und Perfektionismus geopfert wird. Jakob hatte sehr vieles in seinem Leben nach strengen Regeln geordnet. Er ernährte sich rein vegetarisch, machte regelmäßig seine Meditationsübungen, trank keinen Alkohol obwohl er ein ausgesprochener Weinkenner war. Er hatte einen straffen, auf Mindeststudiendauer abgestimmten Studienplan und ein genau abgestecktes, tägliches Lernpensum. Er war sehr auf einen schlanken, muskulären Körper bedacht und verachtete diesbezüglich weichere Formen. Er hatte große Schwierigkeiten mit Spontanität, obwohl er sich z.b manchmal wünschte, mit jemandem ganz zwanglos plaudern zu können. Er konnte überhaupt nicht damit umgehen, wenn jemand etwas pauschal behauptete, er prüfte seine Argumente stets genau, bevor er etwas sagte. Obwohl in diesen Verhaltensweisen auch das Bestreben, ideal und perfekt zu sein, seiner Größenvorstellung gerecht zu werden, zum Ausdruck kommt, wurde doch auch spürbar, daß sie einen Halt in seinem Leben darstellten, ohne welchen er bezüglich dem, was er ist und was er werden möchte, vollkommen orientierungslos gewesen wäre.Sie schienen mir gleichsam Stütze seiner Identität und Sinnersatz zu sein. In gewissem Maße war er sich dieses Umstandes sogar bewußt, denn er formulierte eines seiner Therapieziele folgendermaßen: „Bei vielen Dingen weiß ich nicht, ob sie richtig sind. Ich würde gerne diese falsche Sicherheit verlieren, die ein Schutzschild ist, und richtige Sicherheit gewinnen.“ 82 83 Heiko Ernst: Scham als Barriere der Selbstsicherheit, in: Psychologie heute. 3/96, S.29 vgl. Kohut, Narzißmus, S. 123 - 124 Kohut, der nicht über zwängliche Verarbeitungsmechanismen berichtet, gibt an, daß narzißtische Persönlichkeiten eher unter unbestimmten Ängsten, körperlichen Spannungen und Druckempfindungen leiden und oder „von inhaltsoser ängstlicher Erregung usw. sprechen oder (...) von Kindheitserlebnissen des Alleinseins, des Sich-nicht-ganz-lebendig-fühlens und dergleichen erzählen.“84 Er fand in seiner analytischen Arbeit ebenfalls eine dahinterliegende Angst vor Ich-Verlust, jedoch in dem Sinne, daß die Größenphantasien überhand nehmen und die integrierende Funktion des Ich zerstören könnten.85 3. Beziehung zum eigenen Körper Wenn wir vom Alltagsverständnis von Narzißmus ausgehen, so steht das Körperliche oft im Vordergrund. Wir bezeichnen gerne jemanden als narzißtisch, der viel Zeit vor dem Spiegel verbringt, sehr bedacht auf sein Äußeres ist und sich selbst unheimlich schön findet. Auch im Mythos verliebt sich, ja verfällt Narziß seinem körperlichen Spiegelbild, dem „Doppelgestirn seiner Augen“, seinem „Bacchus-gleichen“ Haar, seinem „Hals wie aus Elfenbein“, seinem „holden Gesicht“86. Auch wenn Menschen mit narzißtischer Persönlichkeitsstruktur nicht notwendigerweise auf ihr Äußeres besonderen Wert legen87, so findet es man doch nicht selten, daß sich ihr Selbstbild, ihr Ideal-sein-wollen auch auf ihren Körper bezieht, beziehungsweise auf jenen des bewunderten und idealisierten Gegenübers. Wenn ich im vorangegangenen Abschnitt zum Selbstbild beschrieben habe, daß die Beziehung, die narzißtische Menschen zu sich selbst haben, eine visuelle ist, so trifft dies auch und in ganz besonderer Weise auf ihren Körper zu: Er ist das 84 Kohut, Narzi0mus, S. 180 - 181 ebd., S. 179 86 Ovid, Metamorphosen, S.75 87 Immer beziehen sich die Größenvorstellungen jedoch auf Äußeres und Äußerlichkeiten in dem Sinne, daß sie hergezeigt werden können. Das Herzeigen an sich, das Glänzen in den Augen der anderen hat bei der narzißtischen Persönlichkeit einen zentralen Stellenwert, sodaß, wenn auch nicht notwendigerweise der eigenen Körper, so doch immer bestimmte Attribute der eigenen Größe zur Schau gestellt werden, sei es das tolle Auto, die stilvolle Wohnung, die einflußreichen, berühmten Freunde etc.. 85 Ausstellungsstück, um bewundernde Blicke auf sich zu ziehen. Er wird gestylt, abgespeckt und nach der neuesten Mode gekleidet. Es ist nicht von Belang, wie er sich anfühlt, es fällt schwer, ihn überhaupt zu fühlen, auf seine Signale zu achten, liebevoll mit ihm umzugehen. Er wird nicht so sehr geschätzt als Behausung, als Grundlage, Lust und Genuß zu erleben, es zählt allein das Aussehen, das Äußere. Volkan und Ast bringen ein in dieser Hinsicht extremes Fallbeispiel in welchem der „Wert“ des Äußeren beinahe über den Wert des Überlebens gestellt wird: Sie berichten von George, der in besonderem Maße auf seinen schönen Körper stolz war. Er arbeitete unter anderem für einen Maler als Nacktmodell und stellte sich bei solchen Gelegenheiten gerne vor, daß die ganze Stadt zusammenlaufen würde, um ihn zu bewundern. Eines Tages hatte er einen Verkehrsunfall und erlitt erhebliche innere Verletzungen. Zunächst gelang es ihm, das Krankenhaus wieder zu verlassen, indem er beteuerte, es fehle im nichts. Als er nach einem Zusammenbruch erneut eingeliefert wurde und er sich einer Notoperation unterziehen mußte, um die lebensgefährlichen inneren Blutungen zu stillen, willigte er in diese erst ein, nachdem ihm „der Chirurg das Versprechen gegeben hatte, den Schnitt so zu führen, daß George später eine „ganz besonders schöne Narbe“ habe.“88 Wenn der Körper die Funktion eines Austellungsstückes erhält, so hat dies auch Auswirkungen auf die Sexualität. Vielfach läßt sich in diesem Zusammenhang beobachten, daß dann nicht so sehr das sexuelle Erleben, das Genießen des anderen und des eigenen Körpers im Vordergrund steht, sondern das Bestrachten oder Betrachtet-werden. Nicht selten findet man eine Vermeidung von zu viel Nähe, von inniger Umarmung und leidenschaftlicher sexueller Vereinigung. Sexualität erhält dadurch eine kühle, distanzierte und ästhetisierte Note. Edith war eine sehr schöne Frau, die sich attraktiv und auffallend zu kleiden wußte. Obwohl ihr Äußeres für den männlichen Blick eine eindeutige Botschaft hatte, machte sie sich in Wirklichkeit nichts aus Sex, ja sie empfand einen Ekel vor wirklichem Geschlechtsverkehr und war immer entsetzt wenn ihr Männer diesbezüglich eindeutige Angebote machten. Daß sie sich lieber in ihrer Schönheit betrachten lassen wollte, kam auch in der Gestaltung ihres Schlafzimmers zum Ausdruck, von dem sie einmal berichtete. Sie hatte dort lebensgroße Fotos von sich aufgehängt, die ihr Freund, der ihr Äußeres sehr bewunderte, von ihr gemacht hatte . Daß es besonders auf das Erscheinungsbild ankommt und eine mangelhafte Beziehung zum eigenen Körper besteht, findet seinen Niederschlag auch im Eindruck, den narzißtische Menschen machen. Sie wirken in ihrer Körperlichkeit oft steril, masken- oder statuenhaft, haben etwas zeit- und altersloses. Auch wenn sich 88 Volkan und Ast, Spektum des Narzißmus, S. 59 - 60 Spuren des Älter-werdens in ihren Gesichtszügen zeigen, so hat man nicht den Eindruck, daß gelebtes Leben im Körperlichen zum Ausdruck kommt, es fehlt die Reife. Sie wirken vielmehr wie gealterte Jugendliche, die die Mitte des Lebens auf eine Art übersprungen und ausgelassen haben. Noch unvermeidlicher als Krankheit und Verletzung, stellt das Alter eine Gefahr für die ideale Schönheit, den perfekten Körper dar. Narzißtische Menschen wollen sich dieser natürlichen Grenze, dieser Begrenzheit nicht gerne stellen. Nicht selten kommt dann in hypochondrischen Ängsten oder in ängstlicher Besorgtheit um ihr Äußeres zum Ausdruck, was sie aus ihrem bewußten Erleben verbannt haben: daß sie älter werden und eines Tages sterben müssen. Auch Anna setzte sich mit diesen Fragen nicht direkt auseinander. Sie war eine ausgesprochen hübsche Frau mit ebenmäßigem Gesicht, gewelltem Haar und guter Figur. Da sie ihre Haare mit Henna zu färben pflegte und Selbstbräunungscreme benutzte, erweckte sie beim Gegenüber die Phantasie, eine lebendig gewordene Broncestatue vor sich zu haben. Trotzdem war sie ihrem Äußeren gegenüber skeptisch. Bei genauerer Betrachtung stellte sich jedoch heraus, daß sie mit dem Status-quo durchaus zufrieden war. Es war die Aussicht auf den schönheitsmindernden Prozeß des Älter-werdens, der sie beunruhigte. Hätte sie eine Garantie, daß ihr Körper so bliebe wie er gerade war, wäre sie mit ihm einverstanden gewesen. Wenn man sich diese Phänomene im Umgang mit dem Körper bei narzißtischen Menschen vergegenwärtigt, drängen sich viele Parallelen zum Verhalten von Personen mit Eßstörungen auf. Auch sie führt ihr kritischer Blick immer wieder vor den Spiegel, wir finden die gleiche verstärkte und ebenfalls visuelle Aufmerksamkeit auf das körperlich Äußere, das Bemühen um den idealen Körper und auch die große Bedeutung, die die Figur für das eigene Selbstbild und den Selbstwert hat. Mit den narzißtischen Persönlichkeiten teilen sie auch die im Abschnitt „Gefühle“ beschriebene zwängliche Komponente, sie reglementieren den Bereich der Ernährung sehr genau, oft aber auch noch andere Lebensbereiche. Natürlich befinden sie sich, was das Ideal-sein betrifft auf der anderen Seite, finden sich abgrundtief häßlich und in ihrer Körperlichkeit abstoßend dick. In ihrem Bestreben aber, die ideale Figur koste-es-was-es- wolle zu erreichen, verhalten sie sich ähnlich wie George im Fallbeispiel von Volkan und Ast, der fast lieber sterben wollte, als eine Narbe an seinem idealen Körper hinnehmen zu müssen. Gerade bei der jugendlichen Annorexie ist künstliche Ernährung , um die Gesundheit und das Leben der jeweiligen Patientin zu retten, keine so seltene Maßnahme. Zusätzlich glaube ich, ohne dies jedoch hier genauer ausführen zu wollen, daß sich einige biographische Parallelen finden würden. Obwohl Eßstörungen auch bei narzißtischen Persönlichkeiten vorkommen, möchte ich mit den hier angeführten Ähnlichkeiten nicht nahelegen, daß sie zum Bereich der narzißtischen Störungen gehören. Man findet sie, wie man weiß, ja auch bei anderen Persönlichkeitsstrukturen, nach meiner Erfahrung nicht so selten bei histrionischen Persönlichkeiten. Allerdings wäre es interessant zu untersuchen, ob sich hinter der teilweisen Gemeinsamkeit der Phänomene auch eine ähnliche existentielle Thematik verbirgt. 4. Beziehung zu anderen Da Menschen mit narzißtischer Persönlichkeit, wie bereits beschrieben, sehr stark mit sich selbst und ihren idealen Selbstbildern beschäftigt sind, wundert es nicht, daß sie dementsprechende Schwierigkeiten haben, sich anderen in ihrem jeweiligen Sosein und ihrer Andersartigkeit zuzuwenden. Jürg Wunderli spricht in diesem Zusammenhang von einem „Versagen der Ich-Du-Begegnung“.89 Dies bedeutet nun natürlich nicht, daß narzißtische Menschen ganz und gar beziehungsunfähig sind, sich für andere nicht interessieren oder keine Kontakte brauchen würden.Vielmehr gestalten sie ihre Beziehungen auf eine bestimmte Weise. Kohut hält die Art der Beziehungsgestaltung von Narzißten für so charakteristisch, daß er, wie im 1. Kapitel bereits beschrieben, rät, Übertragungsbeziehung zum sie (genauer Analytiker) gesagt, als die wichtigstes sich entfaltende Diagnosekriterium heranzuziehen. Wie bereits dargestellt, unterscheidet er im wesentlichen zwei Grundbereiche der narzißtischen Persönlichkeitsstörung, den Bereich des Größenselbst („ich bin ideal, großartig, vollkommen“) und den Bereich des „allmächtigen Objekts“(„du bist großartig und vollkommen, aber ich bin ein Teil von dir“). Analog zu dieser Einteilung nun, lassen sich zwei Grundphänomene narzißtischer Beziehungsgestaltung ausmachen, die isoliert, gleichzeitig oder einander abwechselnd auftreten können: das Phänomen des Bewundert-WerdenWollens und das der Idealisierung einer anderen Person. 89 Jürg Wunderli: Und innen die große Leere. Die narzißtische Depression und ihre Therapie. Zürich 1989, S.67 Viele narzißtische Persönlichkeiten sind, während sie ihrer Arbeit nachgehen, Urlaub machen oder beispielsweise gerade ihrem/ihrer Therapeuten/in gegenübersitzen, oft nicht ganz bei der Sache. Ihr Blick ist nach Außen gerichtet, haftet am jeweiligen Gegenüber, um zu beobachten, wie das, was sie gerade tun oder sagen, ankommt, ob sie den Glanz der Bewunderung in den Augen des anderen wecken können, ob sie dort eine Bestätigung dessen finden, was sie ohnehin glauben zu sein, aber immer wieder hören möchten: daß sie etwas ganz besonderes und großartig sind. Sie haben ein außerordentliches Gespür für Billigung oder Mißbilligung entwickelt und versuchen zu ergründen, was der andere jetzt hören möchte oder womit man gerade Eindruck machen könnte. Sie sind, ähnlich der histrionischen Persönlichkeit, oft Meister der Darstellung, vermögen zu brillieren, zu monologisieren, andere in ihrer Bann zu ziehen. Nicht von ungefähr findet man unter Führungspersönlichkeiten, beliebten und anerkannten Lehrern, Politikern und Künstlern nicht wenige „erfolgreiche Narzißten“. „Das Bad in der Menge“ oder „der Applaus als Brot des Schauspielers“ sind sprichwörtlich geworden Beispiele von den „Highlights“ im Leben narzißtischer Menschen. Nicht immer natürlich kommt das Phänomen des Bewundert-werden-wollens so plakativ zum Ausdruck, verbirgt sich in der therapeutischen Situation oft hinter Verhaltensweisen, die erst auf diese Grundmotivation hin untersucht werden müssen. So hatte z.B Magdalena außerordentliche Schwierigkeiten, sich von ihren jeweiligen Partnern zu trennen, was dazu führte, daß sie ein mitunter recht anstrengendes Doppelleben führen mußte. In der therapeutischen Arbeit gelang es herauszufinden, daß sich hinter diesem Phänomen die Angst verbarg, im Fall einer von ihr initiierten Trennung die Achtung in den Augen der jeweiligen Person zu verlieren, von welcher sie zuvor bewundert und als einzigartig gesehen wurde. Nach ihren Worten strebte sie an, die Beziehung so geschickt zu beenden, daß sie für denjenigen trotzdem „die Frau des Lebens blieb, die er bedauerlicherweise nicht hatte halten können“. Gelang ihr dies, war es ihr möglich, sich ohne viel Aufhebens zu trennen. Daß viele Verhaltensweisen darauf ausgerichtet sind, das anerkennende Staunen der anderen zu wecken oder einfach die Nummer eins zu sein, ist oft zu einer zweiten Haut geworden und vielen gar nicht bewußt. Sie können dann zumeist gar nicht sagen, warum es ihnen auf eimal wieder viel besser geht, depressive Symptome oder hypochondrische Ängste plötzlich wieder verschwunden sind. Erst im Laufe der Therpie gelingt es dann, soweit von sich Abstand zu nehmen, daß es für den Betreffenden offenkundig wird und bearbeitet werden kann: Nach einiger Zeit des therapeutischen Arbeitens bemerkte Hannah dann plötzlich wie wenig sie bei den Dreharbeiten eigentlich mit ihrer Arbeit beschäftigt war, sondern damit, wie sie mit ihrem Tun die Aufmerksamkeit der anderen, vorallem der anwesenden Männer gewinnen könnte. Mit dieser gewonnen Distanz konnte sie es auch zum ersten Mal erkennen, daß sie dies eigentlich in ihrer Arbeit behinderte, empfand sie es als störend, nicht ganz bei der Sache sein zu können. Nicht selten, wenn auch nicht notwendigerweise, bezieht sich das Bedürfnis in den Augen des anderen zu glänzen auf das jeweils andere Geschlecht. Die unverholene Bewunderung eines anderen zu gewinnen wird bei narzißtischen Menschen oft mit Geliebt-werden verwechselt, weshalb sie die Tendenz haben, sich in ihre Bewunderer zu verlieben, mit ihnen Beziehungen einzugehen. Gleichzeitig spüren sie manchmal ein gewisses Befremden, da sie die Begeisterung, die ihnen entgegengebracht wird, ihrem Partner nicht erwidern können. Meistens wird für Außenstehende spürbar, daß sie nicht sehr an dieser Person hängen, daß sie austauschbar ist und in gewissem Maße für ihre Zwecke mißbraucht wird. Manche narzißtische Persönlichkeiten legen eine ausgesprochene Anspruchshaltung an den Tag, erwarten, daß der Partner ihnen ein Leben bieten kann, das ihrer Größe angemessen ist.90 Nichtsdestotrotz erweisen sich solche narzißtischen Beziehungskonfigurationen als relativ stabil, solange die Rollen fest verteilt sind und es dem bewundernden Teil gelingt, die narzißtischen Bedürfnisse zu befriedigen. Wenn die Beziehung aus irgendwelchen Gründen zerbricht, fällt es dem an seine Größenvorstellung gebundenden Partner oft schwer, auf diese narzißtische Zufuhr verzichten zu müssen und sich nun ganz zu lösen: Beatrix, eine Studentin, hatte eine solch narzißtische Paarbeziehung zu David gehabt. Er hatte sie immer sehr in ihren Größenvorstellungen, ihrem Souverän-Sein bestätigt. Er sagte von ihr, sie sei die „femme fatale seines Lebens“, es würde niemehr eine Frau für ihn geben, die an sie herankomme. Sie habe die „carte blanche“ und könne jederzeit zu ihm zurückkommen. Obwohl er sich im realen Beziehungsalltag als oft unzuverlässig erwiesen, ihr Vertrauen häufig mißbraucht und sie sehr verletzt hatte, tat sie sich doch sehr schwer, von ihm ganz Abschied zu nehmen. Der bewundernde Partner, der das narzißtische Gleichgewicht aufrecht erhält, führt uns zum anderen Pol narzißtischer Beziehungsgestaltung, dem der Idealisierung einer anderen Person. Auch wenn die jeweiligen Positionen in einer narzißtischen Paarbeziehung fix vergeben sind, so finden sich im Leben von in ihrer Größenvorstellung 90 verharrenden Narzißten zumeist einige wenige, die siehe bespielsweise die Falldarstellung „Jennifer“ in: Volkan und Ast, Spektrum, S. 74 sie bewundern, die ihnen als Vorbild der Vollkommenheit dienen. Sonst eher auf Unabhängigkeit bedacht, können narzißtische Persönlichkeiten hier eine besondere, kindlich anmutende, Anhänglichkeit und Klebrigkeit entwickeln. In diesem Zusammehang möchte ich nochmals Jakob nennen, der einen buddhistischen Meditationslehrer hatte, dem er nacheiferte und von dem er sich wünschte, zum ausgewählten Schüler erkoren zu werden. Die unterschwellige Unsicherheit, die von der Realität oft bedrohten idealen Selbstvorstellungen narzißtischer Menschen führen zu einer nicht selten zu beobachtenden Idealisierungstendenz anderer Menschen, als seien sie stets auf der Suche nach dem Ideal, das über längere Zeit Ruhe und die Sicherheit verschafft, daß man nun weiß, wer man ist. In der therapeutischen Praxis wird man diesem Phänomen nicht selten begegnen. Man wird zum Guru erkoren und ist aber auch schnell als solcher wieder abgesetzt. Jürg Wunderli gibt ein sehr anschauliches Beispiel aus seiner therapeutischen Erfahrung: „Peter, (...), besuchte eine Volkshochschulvorlesung bei mir über das Thema Narzißmus. Blitzartig glaubte er, in mir den richtigen Analytiker gefunden zu haben. Er empfand mich als einen Weisen, einen Wissenden, der ihm den Weg zu sich selbst und seinen verborgenen Schätzen zeigen könne. So meldete er sich bei mir zur Therapie an. Doch schon nach der ersten Sitzung hatte er folgenden Traum: (....) Peter meinte zu diesem Traum, schon nach der ersten Stunde bei mir seien Zweifel in ihm aufgekommen. Ich sehe viel älter aus als er, sagt er, obwohl er nur zwei Jahre jünger ist, und eigentlich wäre er sowieso lieber zu einer Frau in die Therapie gegangen. Im Traum sei alles voller Leben, bei mir sei alles so geordnet. Auch spreche ich leise und unaufdringlich, meint er etwas vorwurfsvoll:“91 Die Abwertung als die andere Seite der Idealisierung erfolgt sehr rasch, wenn andere Personen, den an sie herangetragenen Anspruch der Perfektheit und Vollkommenheit nicht erfüllen können und somit nicht als Rollenvorbild geeignet sind. Sie werden dann fallengelassen, werden vom Podest heruntergestürzt, um durch ein anderes Ideal ersetzt zu werden. Der plötzlich auftauchenden Geringsschätzung begegnen wir bei narzißtischen Menschen noch in Zusammenhang mit einem anderen Phänomen, dem der leichten Kränkbarkeit. Da sie ihre Fühler beständig zu den anderen ausgestreckt halten, um sich zu vergewissern, daß sie etwas besonderes sind, sind sie an diesem Punkt auch sehr empfindlich und leicht verletzlich. Sie sind geneigt, sofort etwas als Zurückweisung, als Ablehnung ihrer Person zu interpretieren, wenn ihnen einmal nicht die Aufmerksamkeit und Bewunderung zuteil wird, die sie sich gerade erwarten, wenn die andere Person vielleicht gerade mit etwas anderem beschäftigt ist, oder 91 Wunderli, Innen die Leere, S.70 wenn sie auf eine Rückmeldung warten müssen. Um diese empfundene Verletzung zu kompensieren, reagieren sich nicht selten mit einer Abwertung des Gegenübers und postulieren ihre Unabhängigkeit von demselben.. Hannah hatte sich für ein Engagement in der Josefstadt beworben und wartete auf eine Antwort. Als diese nicht gleich eintraf, begann sie in der Therapiestunde davon zu reden, daß sie eigentlich gar nicht dort spielen möchte. „Die brauche ich nicht für meine Laufbahn!“ sagte sie abwertend. Luise war ein Jahr lang in ihren Vorgesetzten verliebt, den sie idealisierte und bewunderte. Ohne ihre Gefühle zu zeigen (sie wich ihm eher aus), wartete sie darauf, er möge auf sie zugehen. Als sich dies nicht einstellte, wich die Bewunderung zunehmend der Geringsschätzung: „Wenn er jetzt käme, würde ich ihn abblitzen lassen, ich habe mir wirklich etwas besseres verdient!“ sagte sie schließlich. Ein anderer, ebenfalls häufig anzutreffender Modus mit dem Gekränktsein oder dem generellen Ausgesetzt-sein umzugehen, der in der Haltung Hannahs, die nicht zu brauchen, bereits angeklungen ist, ist die Abwendung von vormals wichtigen Personen oder Institutionen, der Rückzug in die „splendid isolation“. Es ist ein Zustand der Selbstgenügsamkeit auf hohem Niveau, ein Elfenbeinturm, der Überblick und Weitblick gibt, ohne sich mit den „Mühen der Ebene“ oder des „Lebens da unten“, mit den profanen oder niederen Dingen überhaupt abgeben zu müssen. Auch der mythologische Narziß ist zunächst, bevor er an der Unerreichbarkeit seines Spiegelbildes zugrunde geht, ein unabhängiger Einzelgänger, der nichts und niemanden braucht und für seine Umwelt nur milde Verachtung übrig hat: „Viele Jünglinge begehrten ihn, auch viele Mädchen, doch bei seiner zarten Schönheit besaß er einen spröden Stolz: Ihn hat kein Jüngling gerührt und keines der Mädchen“92 Narzißtische Menschen haben häufig keinen Freundeskreis, umgeben sich oft nur mit wenigen oder überhaupt nur mit einer Person, wo sie sich relativ sicher sein können, daß ihr Selbstbild keiner Gefahr ausgesetzt ist. Auch Jakob lebte ziemlich zurückgezogen mit seiner Freundin. Er hatte in Wien niemanden, den er als Freund hätte bezeichnen können. Im Allgemeinen war er über diesen Umstand nicht sehr unglücklich. Er schätze seine Freundin als Gesprächspartnerin in philosophischen und weltanschaulichen Belangen und debattierte gerne mit ihr, weil er bei ihr ein gewisses Niveau voraussetzen konnte. Er empfand es mühsam, sich mit anderen Personen zu unterhalten, denn hier müsse man erst so vieles erklären, sich um banale Dinge streiten etc. So blieb er lieber in seiner kleinen abgeschlossenen Welt, die er als niveauvoll, angenehm und ihm entsprechend empfand. 92 Ovid, Metamorphosen, S. 73 Häufig findet sich diese Haltung der luxuriösen Abgeschiedenheit auch in der Phantasie, „einsam aber glorreich an einem Ort zu leben, der von etwas undurchlässigem - wie zum Beispiel Glas - umgeben ist.“93 Volkan und Ast bezeichnen dieses Vorstellung, die sie bei nahezu allen ihrer Patienten in einer Form fanden, als „Glaskugelphantasie“. Die bereits beschriebene Sehnsucht Jakobs, einmal den Zustand absoluter Weisheit zu erreichen und in diesem dann endlich ruhen zu können, ist meiner Ansicht nach auch in dieses Phänomen einzuordnen, obwohl hier mehr das Zuständliche und nicht ein phantasierter, geographischer Ort im Vordergrund steht. Allen diesen phantasierten oder auch real inszenierten „retreats“ ist gemein, daß sie einen regressiven Charakter haben, daß sie einen Zustand der Ruhe und Zufriedenheit herbeisehnen oder zeitweilig schaffen, in welchem es absolut keine Bedürfnisspannung gibt und keine Gefahr die Idylle einstürzen lassen kann. Volkan und Ast zeigen anhand eines ihrer Fallbeispiele, daß sich Patienten zu Beginn der Therapie in diesem Glaskugelzustand befinden können, der darin zum Ausdruck kommen kann, daß sie in selbstzentrierter Weise von irgendwelchen Erlebnissen berichten, ohne jedoch auf die Anfragen oder Interventionen des Therapeuten zu reagieren oder ohne Gefühle aufkommen zu lassen.94 Sie sprechen in diesem Zusammenhang auch von einer „Glaskugelübertragung“95 auf den Therapeuten. 5. Besonderheiten in Sprache und Kommunikation Da in der Sprache das In-Beziehung-sein zu anderen oft sehr deutlich zum Ausdruck kommt, möchte ich an dieser Stelle noch kurz einiges zu diesbezüglichen Besonderheiten narzißtischer Persönlichkeiten sagen. Wenn man davon ausgeht, daß Sprache im wesentlichen zwei Hauptfunktionen erfüllt, die des Ausdrucks und die der Kommunikation, so ist augenfällig, daß narzißtische Persönlichkeiten sich hauptsächlich der ersteren bedienen. Sie vermögen wortreich und ausführlich zu schildern, was ihnen gerade durch den Kopf 93 Volkan und Ast, Spektrum, S.54 ebd., S. 75 ff. 95 ebd., S. 78 94 geht und verbannen den Gesprächspartner häufig in die Rolle des Zuhörers und des Stichwortgebers. Sie sind Meister der Assoziation, das heißt sie vermögen Gesprächsinhalte aufzugreifen, um dazu aus ihrer eigenen Erlebnis- und Erfahrungswelt zu berichten, ihre Philosophie darzulegen, ihre Weisheit kundzutun. Nicht selten zeugen ihre Berichte von persönlichem Erfolg, davon, daß sie eine Sache besonders klug, geschickt oder bravourös gemeistert haben, sind also Mittel der Selbstdarstellung, Beweisstücke ihrer Großartigkeit. Das ideale Gegenüber ist der andächtige, beeindruckte Zuhörer, der an ihren Lippen hängt. Sehr oft sind narzißtische Persönlichkeiten im sprachlichen Ausdruck auch sehr gewandt, vermögen etwas so darzulegen, daß es klar und eindeutig erscheint, daß man dem nichts mehr hinzuzufügen hat. In ihrer Sprechweise haben sie eine Tendenz zum Monolog, sie stellen an das Gegenüber zumeist keine wirklichen Fragen, laden nicht zur Diskussion ein und wenn, dann ist es ihnen wichtig, die besseren Argumente zu haben. 6. Abgrenzung zur histrionischen Persönlichkeit Der Leser wird sich bei der Lektüre der oben beschriebenen Phänomene manchmal gefragt haben, ob das eine oder andere denn nicht zum histrionischen Formenkreis zuzuordnen ist. Auch ich habe, als ich mich mit dem Thema Narzißmus intensiver zu beschäftigen begann, bei meinen histrionischen Klienten in zunehmendem Maße narzißtische Elemente entdeckt und war dann zunächst verwirrt, inwieweit sich diese beiden Persönlichkeitsbilder voneinander abgrenzen lassen. Im DSM III wird ebenfalls der Ähnlichkeit Rechnung getragen, indem in der Differentialdiagnose jeweils auf das andere Bild verwiesen und bei der „narzißtischen Persönlichkeitsstörung“ angeführt wird, daß „häufig (...) gleichzeitig BorderlineHistrionische und Antisoziale Persönlichkeitsstörungen“ auftreten.96 Gleichzeitig werden manche der diagnostischen Kriterien fast synonym beschrieben. So wird bei der histrionischen Persönlichkeitsstörung beispielsweise angeführt: „fühlt sich unwohl in Situationen, in denen er (Hervorhebung die Verf.) nicht im Mittelpunkt steht.“97 Fast gleichbedeutend lesen wir bei der narzißtischen Persönlichkeitsstörung dazu, 96 DSM-III-R. Diagnostische Kriterien und Differentialdiagnosen.Weinheim und Basel 1989, S.279 - 280 97 ebd., S. 280 daß er (oder sie, wie ich meinen würde) „nach ständiger Aufmerksamkeit und Bewunderung (verlangt), ist z.B. ständig auf Komplimente aus.“ 98 Darin klingt an, daß es tatsächlich Parallelen gibt, auf die ich jedoch im folgenden nicht genauer eingehen möchte und ich es dem Leser überlasse, sie in den bereits beschriebenen Phänomenen selbst aufzufinden. Der diagnostischen Differenzierung ist, so meine ich, mehr gedient, wenn ich im folgenden kurz auf jene Phänomene eingehe, die fast gleich sind, d. h. die man zwar mit gleichen Worten beschreiben kann, obwohl sie doch in einem unterschiedlichen Licht zu sehen sind. Ebenfalls möchte ich charakteristische Unterschiede aufzeigen, die in der therapeutischen Praxis eine diagnostische Orientierungshilfe sein können. Natürlich ist bei alledem im Auge zu behalten, daß es in der Wirklichkeit kaum reine Persönlichkeitstypen gibt und es auch oft eine Frage der Gewichtung ist, ob eine Person als narzißtisch mit histrionischen Zügen eingestuft wird oder umgekehrt. Bei der starken Ähnlichkeit der Phänomene möchte ich mit dem aus dem DSM III angeführten Beispiel beginnen, mit dem Wunsch, in sozialen Situationen die Aufmerksamkeit auf sich ziehen zu wollen. Von der histrionischen Persönlichkeit wissen wir, daß sie gern im Mittelpunkt steht, die Blicke auf sich ziehen will und auch ein hohe Kunst des Auftretens besitzt. Gleiches könnten wir von der narzißtischen Persönlichkeit behaupten und doch gibt es Unterschiede, hinsichtlich der Art und Weise, wie dieses Selbstinszenierung ausfällt und was damit zum Ausdruck gebracht werden soll. Während es der Hysterikerin/ dem Hysteriker in erster Linie darum geht, in einer jeweiligen Situation aufzufallen (man denke etwa an die auffallenden Konversionssymptome) und sie/er nicht reflektiert, welches Selbstbild sie/er präsentieren möchte, steht im Aufmerksamkeitsstreben der narzißtischen Persönlichkeit immer eines im Hintergrund: er möchte sich von den anderen in seinen idealen Selbstvorstellungen, seiner Größe bestätigt wissen. Seine Selbstinszenierung hat somit etwas kalkuliertes, reflektiertes, abgestimmtes und wird kontinuierlicher ausfallen, als die der histrionischen Persönlichkeit. Auch hinsichtlich der „Bühne“, auf welcher die Selbstdarstellung stattfindet, ergeben sich Unterschiede. Menschen mit narzißtischer Persönlichkeit sind bestrebt, überall in ihrer Größe wahrgenommen zu werden; ihre Bühne, so könnte man sagen, ist die Welt schlechthin. In diesem Zusammenhang würde ich meinen, daß, wenn man von 98 ebd., S. 281 einer „Politikerpersönlichkeit“ überhaupt sprechen kann, sie eher dem Narzißtischen zuzuordnen wäre. HysterikerInnen hingegen inszenieren sich vorwiegend bei Menschen, die eine emotionale Bedeutung für sie haben, in der Partnerschaft, in der Familie oder bei Freunden etc. Mit dem Bewundert-werden-wollen eng im Zusammenhang steht die Fähigkeit zu spüren, was der andere in der jeweiligen Situation nun gerne hören möchte, das Bestreben, die Erwartungen des anderen zu erfüllen. Auch dieses Phänomen finden wir bei beiden Persönlichkeitsstörungen gleichermaßen. Bei der histrionischen Persönlichkeit allerdings ist das Bei-anderen-und-nicht-bei-sich-sein der vorwiegende Lebensmodus, er ist in der jeweiligen Situation nahezu der andere, während es sich beim narzißtischen Menschen hier wiederum um eine Strategie handelt, ideal zu wirken. Ich möchte in diesem Zusammehang noch einmal Jakob erwähnen, der, wie ich bereits beschrieben habe, sich während der Therapie überlegte, was ich gerne hören möchte, um damit der ideale Klient sein zu können. Auch würde ich meinen, daß HysterikerInnen diese intuitive Fähigkeit besser beherrschen, wohingegen narzißtische Persönlichkeiten oft nur mit dem Nachdenken darüber beschäftigt sind, ohne die Erwartungen des anderen wirklich zu erfassen. Ein anderes ähnliches Phänomen bezieht sich auf die Art der Beziehungsgestaltung. Beiden Persönlichkeitsbildern ist gemein, daß dieselben Personen auf recht unterschiedliche, ja gegensätzliche Art wahrgenommen werden können und das die Tendenz besteht, jemanden plötzlich zu entwerten und fallenzulassen, der vormals als wichtig und bedeutsam gesehen wurde. Doch auch hier gibt es Unterschiede. Bei narzißtischen Persönlichkeiten vollzieht sich dieser Modus auf dem Hintergrund der bereits beschriebenen Idealisierungstendenz. Sie sind bestrebt, Vorbilder zu suchen und sich mit deren Größe zu identifizieren; haben aber gleichzeitig einen extrem kritischen, auf Fehler bedachten Blick. Da ja niemand bekanntlich perfekt ist, passiert es dann recht häufig, daß das das Ideal zu bröckeln beginnt und es wird dann ganz schnell abgewertet, die Beziehung zum anderen abgebrochen. Da sich narzißtische Menschen selbst nur in dieser Bipolarität von Großartigkeit und Nichtigkeit wahrnehmen können, so sehen sie den anderen auch in dieser Weise. Bei histrionischen Persönlichkeiten hat das plötzliche Fallenlassen nicht einen bestimmten Hintergrund, es können verschiedene Gründe und Anlässe sein. Hier ist es mehr die Undifferenziertheit ihrer emotionalen Wahrnehmung, die Unfähigkeit, in Beziehungen eine emotionale Kontinuität zu wahren, auch die oft unterschwellige Angst vor dem Verlassenwerden,die zu den dann abrupten Beziehungsabbrüchen führt. Wenngleich wir also in der Beziehungsgestaltung Ähnlichkeiten ausmachen können, so finden wir gerade auch in diesem Bereich charakteristische Unterschiede, die eine diagnostische Differenzierung erleichtern. Von ihrer gesamten Ausstrahlung her, erleben wir histrionische Persönlichkeiten in ihre Beziehungen verstrickt; sie leiden mitunter bewußt unter ihrer leichten Beeinflußbarkeit, verstehen es aber auch andere zu manipulieren, sich andere gewogen zu halten. Narzißten sind und wirken unabhängiger. Sie haben nicht nur etwas jugendliches, sonder auch etwas junggesellenhaftes, ungebundesnes. Die anderen stehen nicht, so wie dies bei histrionischen Menschen der Fall ist, im zentralen Blickfeld, sondern es ist die eigene Selbstvorstellung, auf die es ankommt. Sie sind in besonderem Maße selbstbezogen, die anderen werden als austauschbar wahrgenommen. Man kann dies an einem Beispiel noch etwas verdeutlichen: Nehmen wir an, eine bestimmte soziale Situation verlangt es, jemanden etwas mitzubringen. Narzißtischen Menschen würde dies in ihrer Selbstbezogenheit vielleicht gar nicht auffallen, sie hätte nichts mit, würden an stelle dessen erzählen, was sie gerade Bedeutendes tun etc. Histrionische Persönlichkeiten könnten sich dem nicht entziehen, nur würden sie vielleicht das Geschenk als Mittel einsetzen, einen bestimmten Zweck zu erreichen, vielleicht wäre es übertrieben teuer oder groß, auffallend genug, um damit Eindruck zu erwecken. Für Letztgenannte sind also Beziehungen wichtig auch in dem Sinne als sie nur durch sie sich spüren und leben können. Histrionische Persönlichkeiten agieren auf dieser Ebene, sind mitunter verletzend und verwenden andere in mißbräuchlicher Weise. Narzißten hingegen sind viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt als berechnend zu sein. Dies kann auch im Sprachgebrauch zum Ausdruck kommen: HysterikerInnen sind mehr geneigt, ein den anderen vereinnahmendes Wir zu verwenden (z.B. „Nein danke, wir essen kein Fleisch!“), während narzißtische Menschen geneigt sind, ein Ich zu verwenden, wo ein Wir angebracht wäre. (z.B. „Ich habe dieses Haus gebaut!“) In diesem Zusammenhang steht auch, daß beide Persönlichkeitstypen auf Verlassen-werden von anderen ganz unterschiedlich reagieren. Für einem Menschen mit histrionischen Persönlichkeitszügen ist dies eine existenzbedrohende Situation, da er nicht in sich selbst gründet, sondern den anderen braucht, um sich überhaupt zu konstituieren. Er wird verzweifelt sein, emotional heftig, d. h. affektiert reagieren, den anderen zum Bleiben zu bewegen versuchen etc.. Narzißtische Menschen hingegen halten sich an ihren Idealvorstellungen fest. Sie haben die Tendenz, in einer solchen Situation die Beziehung zu rationalisieren, sich zurückzuziehen. Sie würden sich intellektuell etwas zurechtlegen, um keine Selbstzweifel aufkommen zu lassen. Gerade im emotionalen Bereich finden sich ebenfalls Unterschiede. Zwar habe ich im Abschnitt „Gefühle“ von der ebenfalls bei HysterikerInnen anzutreffenden Neigung, nur die entgegengesetzten Pole des Empfindungsspektrums wahrzunehmen, berichtet; sie findet sich bei der narzißtischen Persönlichkeit aber hauptsächlich dann, wenn der Selbstwert bedroht ist. Narzißten sind von ihrem allgemeinen emotionalen Ausdruck her nicht affektiert, sondern zeichnen sich durch einen generellen Mangel an emotionalem Ausdruck aus, wirken mehr kopflastig. Zum Abschluß möchte ich nochmals auf das zentrale Thema der narzißtischen Persönlichkeit kommen, das in all diesen Unterscheidungskriterien zum Ausdruck kommt und das auch den wichtigsten diagnostischen Anhaltspunkt darstellt: das Ideal-sein-wollen. Wenn in den therapeutischen Gesprächen deutlich wird, daß dies die zentrale Motivationsgrundlage vieler Handlungen darstellt, es sich als Grund auffinden läßt, warum die Nähe zu bestimmten Personen gesucht wird und andere abgewertet werden, es der Faktor ist, warum keine wirkliche Nähe und keine Beziehung zu Gleichwertigen gelebt werden kann und eine vorwiegende Beschäftigung mit Superlativen und ein Streben nach Perfektion zu verzeichnen ist, dann würde ich die Diagnose in dieser Hinsicht stellen. III. NARZISSMUS AUS EXISTENZANALYTISCHER SICHT „Jeder, der um die Liebe weiß, weiß um dieses Gesetz: daß erst im Weggehen von sich selbst die Offenheit entsteht, worin das Eigene wirklich und alles blühend wird.“99 Wenn wir uns an dieser Stelle noch einmal die eingangs dargestellten Narzißmustheorien vergegenwärtigen, welcher Grundkonsens, welcher kleinste gemeinsame Nenner läßt sich daraus finden? Wir können Narzißmus verstehen als Störung des Selbst, in welcher sowohl das Selbstbild als auch das Selbstwertgefühl gleichermaßen betroffen sind. Was bedeutet dies nun aber aus der Sichtweise der Existenzanalyse? Welches Kernproblem würden wir aus unserem anthropologischen Verständnis heraus erkennen, welche existentielle Problematik würden wir darin auffinden? Bevor ich mich diesen Fragen zuwende, möchte ich an dieser Stelle den Mythos selbst als Gesamtes zu Wort kommen lassen. Mythen und Märchen können immer verstanden werden als verdichtete menschliche Erfahrung. Indem sie das Wesen eines Sachverhaltes meist treffend darzustellen vermögen, sind sie nicht nur eine Fundgrube für eine phänomenologische Betrachtungsweise, sondern enthalten auch, in ihrer Symbolsprache verschlüsselt, die existentielle Kernaussage und tradieren somit grundlegende Erkenntnisse und Lebensweisheiten. Da ich dem Mythos in seiner symbolischen Dichtheit in meiner existentiellen Deutung sicher nicht gerecht werden werde, möchte ich auch dem Leser die Gelegenheit bieten, in der Auseinandersetzung mit dem Thema Narzißmus seine ganz persönliche Leseart zu finden. 1. Der Mythos des Narziß100 Der Spröde / Narziß 99 Romano Guardini: Gedeutetes Dasein. Ein Romano Guardini Textbuch. Hildesheim 1986, S. 34 100 Ovid, Metamorphosen, S. 72 77 Hochberühmt in den Städten Böotiens, gab jener dem bittenden Volke unwiderlegbar Bescheid. Den ersten Beweis seiner Glaubwürdigkeit und Sehergabe erhielt Liriope, eine Nymphe der blauen Gewässer. Kephisos hatte sie einst in einer Windung seines Stroms gefangen und ihr, die die Wellen umschlossen, dann Gewalt angetan. Schwanger von ihm, gebar die wunderschöne Nymphe einen Knaben - man mußte ihn damals schon lieben - und nannte ihn Narziß. Gefragt, ob diesem lange Lebenszeit und hohes Alter bestimmt sei, sprach der schicksalskundige Seher: „Wenn er sich selbst nicht kennt.“ Lange hielt man des Wahrsagers Worte für nichtig, doch was am Ende wirklich geschah, die Art, wie Narziß dann starb und seine unerhörte Leidenschaft, das erwies ihre Wahrheit. Denn zu dreimal fünf Jahren hatte der Sohn des Kephisos noch eines zugelegt und konnte ebensogut als Knabe wie schon als Jüngling erscheinen. Viele Jünglinge begehrten ihn, auch viele Mädchen, doch bei seiner zarten Schönheit besaß er einen spröden Stolz: Ihn hat kein Jüngling gerührt und keines der Mädchen. Nur eine Stimme / Echo Ihn sieht, wie er scheue Hirsche ins Garn treibt, die plaudernde Nymphe, die weder schweigen kann, wenn man spricht, noch selbst gelernt hat, als erste zu sprechen, die widerhallende Echo. Noch war Echo aus Fleisch und Blut, nicht nur Klang, doch bediente sie sich geschwätzig der Stimme nicht anders als heute: Von vielen konnte sie nur die letzten Worte wiederholen. Das war Junos Werk, denn, wenn sie die Nymphen hätte ertappen können, die oft im Gebirge bei ihrem Jupiter lagen, hielt jene schlau die Göttin mit langem Geschwätz auf, bis die Nymphen entwischten. Als Juno das merkte, sprach sie: „Über diese Zunge, die mich zum besten hielt, soll wenig Macht dir bleiben; ganz kurz nur wirst du die Stimme gebrauchen!“ Sie bestätigte die Drohung durch die Tat; seitdem wiederholt Echo nur das Ende der Rede und spricht nur nach, was sie gehört hat. Als diese nun den Narziß entlegene Fluten durchstreifen sah und für ihn erglühte, folgte sie verstohlen seinen Schritten, und je mehr sie ihm folgt, um so mehr entlfammt sie verstohlen seinen Schritten, und je mehr sie ihm folgt, um so mehr entflammt sie die Nähe des Liebsten, nicht anders, als wenn, ans Ende der Fackeln gestrichen, rasch entflammbarer Schwefel Feuer fängt, wenn es ihm nahe kommt. O wie oft wollte sie ihn mit süßen Worten anreden und ihn durch zärtliche Bitten rühren! Ihr Wesen verwehrt es und erlaubt ihr nicht, zu beginnen. Doch, was es erlaubt, dazu ist sie bereit, auf Laute zu warten, um dann zu erwidern. Von ungefähr hatte der Jüngling die treue Schar seiner Gefährten aus den Augen verloren und schrie: „Ist jemand hier?“ „Hier!“ antwortete Echo. Er stutzt, läßt seinen Blick in die Runde schweifen und ruft mit lauter Stimme „Komm her!“ Sie ruft dem Rufenden wieder. Er sieht sich um,.und als auch jetzt niemand auftaucht, fragt er: „Was fliehst du vor mir?“ Und ebensoviele Worte, wie er vernommen hat, vernimmt er. Er gibt nicht nach und getäuscht durch den Schein einer Antwort, sagt er: „Hier vereinen wir uns!“ Gern folgt sie den eigenen Worten, verläßt den Wald und nähert sich schon, daß sie um den Nacken die Arme, um den ersehnten, ihm schlinge. Narziß aber flieht, und im Fliehen ruft er: „Laß von der Umarmung! Eher sterbe icht, als daß ich dir verfiele!“ Jene gab nichts zurück als: „Daß ich dir verfiele!“ Verschmäht verbirgt sie sich in den Wäldern, deckt ihr Anlitz voll Scham mit dem dichtesten Laub und lebt seitdem in einsamen Höhlen. Doch die Liebe läßt sie nicht los und wächst noch, schmerzt auch die Mißachtung. Sorgen rauben der Armen den Schlaf und zehren den Leib aus, vor Magerkeit schrumpft ihre Haut ein, alle Säfte des Körpers verschwinden fort in die Lüfte. Bald sind Stimme nur und Gebein übrig. Die Stimme bleibt. Das Gebein soll die Gestalt eines Steins angenommen haben. Seitdem hält sie sich im Walde verborgen, man sieht sie auf keinem Berg, doch es hören sie alle. Der Ton ist´s, was von ihr noch lebt. Verliebt in sich selbst / Das Ende des Narziß So hatte Narziß nun diese, so andere Nymphen der Flut und der Berge enttäuscht, so vorher Scharen von Liebhabern. Einer von diesen erhob, verschmäht, die Hände zum Himmel und flehte: „So soll er selbst auch lieben, so nicht den Geliebten gewinnen!“ Er sprache es, und die Göttin der Rache erhörte die berechtigte Bitte: Da war eine lautere Quelle, wie Silber glänzte ihr Wasser; zu ihr drangen nicht Hirten noch auf Bergen weidende Ziegen noch anderes Herdenvieh. Kein Vogel, kein Wild hatte sie je getrübt, kein Ast, vom Baume gefallen. Gras wuchs rings um sie, genährt vom nahen Naß, und ein Wald, der sie vor jedem wärmenden Strahl der Sonne beschirmte. Hier sank, vom Jagdeifer und von der Hitze ermattet, der Jüngling nieder, angezogen vom Reiz des Ortes und von der Quelle. Seinen Durst will er löschen, allein ein anderer Durst entbrennt in ihm, denn beim Trinken berückt ihn der Anblick seiner schönen Gestalt; er verliebt sich, doch körperlos ist der Gegenstand seiner Hoffnung; was ihm Körper scheint, ist ja nur Wasser! Er staunt sich selbst an, und mit starrem, unverwandtem Blick ist er wie gebannt, gleich einem Bild aus parischem Marmor. Auf den Boden gestreckt, schaut er das Doppelgestirn seiner Augen und sein Haar, eines Bacchus würdig, ja, würdig eines Apollo, die bartlosen Wangen, den Hals wie aus Elfenbein, das holde Gesicht und die Röte, die sich mit schneeigem Weiß mischt. Alles entzückt ihn, wodurch er entzückt. Töricht begehrt er sich selbst, er, der prüft, prüft sich selber, sein Sehnen sehnt sich nach ihm, ihn verzehrt die eigene Flamme. Wie oft verschwendete er an die trügerische Quelle seine Küsse, wie oft tauchte er die Arme mitten in die Flut, um den Hals, den er sah, zu umfassen, und konnte doch sich selbst nicht ergreifen! Was er sieht, weiß er nicht; doch was er sieht, setzt ihn in Flammen. Seine Augen fesselt eben der Wahn, der sie täuscht. Leichtgläubiger! Was haschst du umsonst nach einem flüchtigen Trugbild? Was du ersehnst, ist nirgends; wende dich ab, und, was du liebst, ist verschwunden. Das da, was du siehst, ist dein Spiegelbild, ein Schatten ohne eigenens Ich. Er kommt mit dir, bleibt und wird mit dir gehen, wenn du zu gehen vermöchtest. Nicht kann ihn die Sorge um Nahrung, nicht Verlangen nach Schlaf von der Quelle entfernen. Gestreckt auf beschattetem Rasen, schaut er mit unersättlichem Blick das anmutige Blendwerk an und vergeht durch seine eigenen Augen. Endlich richtet er sich ein wenig auf, erhebt die Arme zu den Wäldern ringsum und spricht: „O ihr Wälder! Wer hat wohl je qualvoller geliebt als ich? Ihr wißt ja, und vielen wart ihr willkommene Zuflucht. O sagt mir, da euer Leben so viele Jahrhunderte dauert, entsinnt ihr euch jemands in der langen Zeit, der gleich mir dahinschwand? Es gefällt mir, ich sehe es, doch was mir gefällt, was ich sehe, finde ich doch nicht. Solcher Wahn betört den Verliebten! Und, was mich noch mehr schmerzt, kein unermeßliches Meer, kein Weg über Land, keine Berge, keine Mauern mit verschlossenen Toren liegen zwischen uns; uns scheidet nichts als ein geringes Gewässer. Auch er sehnt sich nach meiner Umarmung. Sooft ich im klaren Wasser ihm zum Kuß die Lippen bot, sooft hebt er sich aus der Tiefe zu meinem Munde empor. Man könnte meinen wir berührten uns, so wenig ist´s, was uns Liebende trennt. Wer du auch seist, komm hervor! Was täuschst du mich, innigst Geliebter? Wohin fliehst du vor meiner Sehnsucht? Sicher ist es nicht meine Gestalt, mein Alter, wovor du fliehen müßtest. Auch mich haben schon Nymphen geliebt. Auch verheißt mir dein freundlicher Blick ich weiß nicht welche süße Hoffnung, und streckte ich die Arme gegen dich aus, streckst du sie von selber. Wenn ich lachte, lachst du mir zu, und auch Tränen habe ich oft, wenn ich weinte, bei dir bemerkt. Ja, du erwiderst jeden Wink, jedes Zeichen der Liebe, und, soviel ich aus der Bewegung deines schönen Mundes schließen kann, gibst du mir auch Antwort, die nicht an mein Ohr dringt. Der da bin ich! Ich hab´es erkannt! Nicht mehr täuscht mich mein Abbild! Ich verbrenne in Liebe zu mir, ich errege, erleide die Flammen: Was soll ich tun? Soll ich mich erflehen lassen, oder soll ich flehen? Was ich wünsche, habe ich selber, ich darbe in Fülle. O könnte ich doch diesen meinen Körper verlassen! Könnte doch - ein unerhörter Wunsch für einen Liebenden - mein Geliebter fern von mir sein! Schon raubt mir der Schmerz die Kräfte, nicht viel Lebenszeit bleibt mir mehr übrig, in der Blüte der Jugend gehe ich zugrunde. Doch ist der Tod mir nicht schwer, mit dem Tode endet mein Leiden. Wäre nur meinem Liebsten noch längeres Dasein beschieden! Nun aber sterben wir beide und hauchen gemeinsam eine Seele aus.“ Also sprach er und wandte sich, liebeskrank, demselben Bild wieder zu, seine Tränen ließen das Wasser sich kräuseln, und durch die Bewegung verschwamm die Erscheinung. Als er sie schwinden sah, rief er: „Wo fliehst du hin? O bleib und verlaß, Grausamer, mich Liebenden nicht! Da ich dich nicht berühren darf, sei es mir wenigstens vergönnt, dich zu sehen und daran meine unglückliche Liebe zu weiden!“ In seinem Schmerz reißt er am oberen Saum sein Gewand auf und schlägt die entblößte Brust mit Händen, weiß wie Marmor. Zarte Röte verbreitet sich über die Brust, die er schlägt, ebenso wie Äpfel gewöhnlich, auf einer Seite hell, rot auf der anderen sich färben, oder wie die halbreife Traube mit ihren schillernden Beeren Purpur überzieht. Sobald er das erblickte im wieder beruhigten Gewässer, trug er nicht länger sein Leid, sondern, so wie gelbes Wachs schmilzt bei leichtem Feuer oder wie Reif am Morgen vor dem wärmenden Sonnenstrahl schwindet, so, vor Liebe angehärmt, vergeht er, allmählich verzehrt ihn verborgene Glut. Dahin ist seine Farbe, gemischt aus Weiß und Rot, dahin Frische und Kraft und all das, dessen Anblick gleich entzückte. Auch sein Leib blieb nicht der, den Echo einst liebte. Doch als sie ihn erblickte, tat es ihr weh, wiewohl sie noch zürnte, sich noch erinnerte, und sooft der unglückliche Jüngling seufzte: „Weh mir!“ wiederholte sie das mit dem Nachhall der Worte: „Weh mir!“ Wenn er seine Schultern mit den Händen schlug, ließ Echo dasselbe Klatschen der Schläge nochmals vernehmen. Die letzten Worte des Narziß, der in die vertraute Quelle blickte, waren folgende. „Ach, du hoffnungslos geliebter Knabe!“ Jedes Wort kam zurück! Er setzte noch hinzu: „Lebe wohl!“ „Lebe wohl!“ erwiderte Echo. Dann sank sein müdes Haupt ins grüne Gras, und der Tod schloß die Augen, die noch die Schönheit dessen bestaunten, dem sie gehörten. Selbst dann, als ihn die Unterwelt aufnahm, betrachtete er sich noch im Strome der Styx. Es beklagten ihn seine Schwestern, Najaden, und weihten ihrem Bruder die abgeschnittenen Locken, es beklagten ihn auch die Dryaden, und in die Klage stimmte Echo mit ein. Schon wollten sie den Scheiterhaufen richten, dazu Fackeln aus Kienholz, die Bahre - da war nirgends ein Leichnam. Statt des Leichnams finden sie eine safrangelbe Blume, deren Kelch rings weiße Blütenblätter umgeben. 2. „Ich weiß nicht wer ich bin!“ Das Kernproblem des Narzißmus Der Mythos schildert Narziß als einen Menschen, der sich - im Glauben er habe eine andere Person vor sich - in sein eigenes, idealtypisch schönes Spiegelbild verliebt. Dieser Illusion kann er nur erliegen, weil er sich selbst im Spiegel der Quelle nicht erkennt, weil er nicht weiß, wer er eigentlich ist. Er verzehrt sich nach dem vermeintlich anderen und ist doch immer nur bei sich, respektive bei seinem wunderschönen, letztlich aber gegenstandslosen Bild von sich. Der Seher prophezeit ihm ein langes Leben, wenn er sich dieses Umstandes nicht bewußt wird. Seine existentielle Not, die schließlich sein Ende besiegelt, kommt zum Ausdruck als er sein Spiegelbild erkennt und ihm somit klar wird, er kann den anderen/sich selbst so nicht erreichen. Aber erkennt er sich damit wirklich selbst, so wie man die Prophezeihung des Sehers zu Beginn der Geschichte zunächst deuten könnte? Ich glaube nicht, denn dann könnte er sich von der Quelle, von seinem Selbstbild lösen, er bräuchte dort nicht zu verkümmern. Er jedoch, immer noch in das Bild verliebt, bleibt, sucht sich und den anderen dort, wo er nicht ergriffen, be-griffen werden kann. Wenn wir uns an dieser Stelle nochmals vor Augen führen, wie Menschen mit narzißtischer Persönlichkeitsstruktur Beziehungen zu anderen gestalten, dann erkennen wir die gleiche Grunddynamik. Der Andere - als Bewunderer, als Ideal oder als abgewertetes Nicht-Ideal - wird ja nicht aus seiner Mitte heraus, in seinem Sosein wahrgenommen, sondern er wird zum Spiegel, erhält die Funktion, die eigene ideale Selbstvorstellung rückzuversichern oder er muß, im Sinne der beschriebenen Idealisierung, selbst ideal sein, damit man an ihm ideal werden, sich in seiner Größe spiegeln kann. In alldem ist zumeist eine große Rastlosigkeit und auch Besessenheit spürbar: Immer wieder muß die narzißtische Persönlichkeit sich ihrer Größe versichern, immer neue Ideale werden gesucht und auch ebensorasch wieder abgesetzt. Was ist der Motor dieser Hetze oder - im Bild des Narziß ausgedrückt was hält die narzißtische Persönlichkeit an der spiegelnden Quelle fest? Ich glaube, es ist die Suche nach sich selbst, das notwendige Grundbedürfnis zu wissen, wer man eigentlich ist. Allerdings, so könnte man sagen, ist es eine Suche an dem falschen Ort und eine Suche wird ja bekanntlich zur Sucht, wenn das Gesuchte so nicht gefunden werden kann. Wir erleben narzißtische Persönlichkeiten tatsächlich oft als süchtig: als arbeitssüchtig, geltungssüchtig, publikumssüchtig etc. Wir erfahren sie als Menschen, die ihre Fühler stets zu den anderen ausgestreckt haben, mit einer seismographischen Fähigkeit ausgestattet, Gefallen und Mißbilligung zu orten. Auf der augenscheinlichen Ebene geht es dabei um die Rückbestätigung der eigenen Selbstbilder, auf existentieller Ebene aber geht es um die Frage. „wer bin ich?“ und in zweiter Linie auch um die Frage „Bin ich wertvoll, so wie ich bin?“ Ich möchte an dieser Stelle nocheinmal auf die weiter oben beschriebene Paradiessehnsucht vieler narzißtischer Persönlichkeiten zurückkommen, auf den Wunsch, in einem Idealzustand endlich ruhen zu können. Jakob beispielsweise wünschte sich ja, durch seinen Meditationslehrer zu absoluter Weisheit zu gelangen und mit ihm auf diese Weise vereint, im Zustand der Allwissenheit verbleiben zu können. Auch hier lassen sich diese beiden Ebenen ausmachen. Oberflächlich geht es einmal mehr um die Erreichung eines Ideals, existentiell aber um den Wunsch, endlich - nach all der Suche - einmal anzukommen, sich sicher zu sein: „Ja, der bin ich, darauf gründe ich, darauf kann ich mich verlassen!“ Was bedeutet es nun aber, existenzanalytisch gedacht, nicht zu wissen, wer ich eigentlich bin? Was fehlt mir, oder positiv gefragt, was brauche ich, um mich in meinem So-sein erfahren zu können und um eine in dieser Erfahrung gegründete Identität zu haben? Dies führt uns zunächst zu der Fragestellung, was mit Begriffen wie „ich“ oder „selbst“ überhaupt gemeint ist und wie wir sie aus dem Blickwinkel der Existenzanalyse verstehen würden. Bekannlich ist es eine Frage der psychologischen und psychotherapeutischen Schule, wie diese Termini zu definieren sind. Im Alltag gehen wir sehr selbstverständlich damit um, sagen „ich“, um uns als Zentrum unserer Handlungen, Erfahrungen, Vorstellungen und Ziele zu beschreiben. (Ich habe das und das gemacht, gespürt, erfahren, gedacht etc.). Das Wort „selbst“ verwenden wir eher in rückbezüglicher Weise (z.B. Darin habe ich mich selbst gesehen) oder auch um das Eigene zu betonen. („Das habe ich selbst gemacht“ oder „Selbst ich habe das geglaubt.“). Atmosphärisch hat das Wort „ich“ eine aktivere, bewußtere und bestimmtere Note als „selbst“. Letzeres ist weiter, unbestimmter und unbestimmbarer. Wenn man sich in psychologischen Wörterbüchern nach diesen Begriffen umsieht, so findet man immer das „ich“, wird aber auf der Suche nach dem Selbst öfters nur an das Ich verwiesen101. In anderen Fällen, wo eine begriffliche Differenzierung vorgenommen wird, erfolgt die Unterscheidung durchaus in Anlehnung an unser Alltagsverständnis. Gemeinhin wird das „Ich“ als der „Kern des Bewußtseins“ 102 aufgefaßt, als „der bewußte Mittelpunkt eines Subjekts oder Grundinhalt des Bewußtseins „ich bin“.103 In diesem Sinne ist das „ich“ auch Träger des Denkens, aller Erfahrungen und Willenshandlungen104 und jener „Ort“ in welchem eine Abgrenzung zum Nicht-Ich, von äußeren Gegenständen, vom Du erfolgt.105 Auch in der Psychoanalyse wird das „Ich“ aktiv, realitätsbezogen und bewußt gefaßt, es ist jene Instanz, die zwischen den Ansprüchen des „Es“ (der Triebe) und jenen des Über-Ichs (der verinnerlichten Normen) vermittelt und somit für ein psychisches Gleichgewicht sorgt. Demgegenüber nimmt sich der Begriff des „Selbst“ komplexer aus und wird, je nach psychologischer Richtung, unterschiedlich definiert.. So gilt es unter anderem als: „die Ganzheit derjenigen Merkmale, die das Individuum als zu sich gehörig auffaßt (...), teils mehr begrifflich (Selbstkonzept), teils mehr emotional (Selbstgefühl).“106 Schneewind107 hat den Begriff des Selbstkonzepts auf seinen Bedeutungsgehalt in den verschiedenen Richtungen untersucht und fand fünf Gruppen. Ihmzufolge wird das Selbst je nach Schule 1. als Persönlichkeit, 2. als Prozeß, 3. als Potential, 4. als Rolle oder 5. als Portrait gefaßt. In der ersten Bedeutung werden unter das „Selbst“ alle bewußten und unbewußten Anteile der Persönlichkeit subsu- miert, der Persönlichkeitsbegriff ist mit jenem des Selbstkonzepts praktisch ident. In der zweiten Gruppe wird das Selbst als Instanz gesehen, die bestimmte Funktionen auszuüben hat. In diese Kategorie fiele auch das Freud´sche Ich. Jene Richtungen, die das Selbst als Potential definieren, postulieren eine dem Selbst inhärente Tendenz zur Verwirklichung individueller Verhaltens- und Erlebnismöglichkeiten; hier wird 101 angesprochen, was wir gemeinhin mit Selbstentfaltung oder siehe beispielsweise: Gerhard Leibold: Wörterbuch der Psychologie. Wiesbaden 1988 Bertelsmann Lexikon. Psychologie. Gütersloh 1995, S. 183 103 Reinhard Brunner, Michael Titze (Hg.): Wörterbuch der Individualpsychologie. München 1995, S. 238 104 ebd. 105 Bertelsmann Lexikon, S. 183 106 ebd., S. 438 107 Theo Herrmann u.a. (Hg.): Handbuch psychologischer Grundbegriffe. München 1977, S.424 - 425 102 Selbstverwirklichung meinen. Der soziologische Blickwinkel sieht das Selbst als Insgesamt der verschiedenen sozialen Rollen, die eine Person im Umgang mit anderen im Laufe der Zeit erwirbt. Die fünfte Gruppe nun versteht das Selbst als Abbild oder Portrait einer Person, als Summe der Wahrnehmungen und Bewertungen, die eine Person von sich selbst hat. Wie würden wir nun das „Ich“ und das „Selbst“aus dem Blickwinkel der Existenzanalyse verstehen? Meines Wissens nach gibt es keine expliziten Definitionen. Viktor E. Frankl streift diese Begriffe en passant in seinem Buch „Der leidende Mensch“, als er sich mit der Frage auseinandersetzt, ob man dem Menschen, der Theorie des Lustprinzips folgend, auch sinnvolles Leiden ersparen soll. Er kommt zum Schluß, daß dies dem „Aufgeben des eigenen Selbst“ gleichkommen würde und definiert diese Begriffe dann folgendermaßen: „Im Gegensatz zum faktischen Ich ist das Selbst etwas fakultatives. Es repräsentiert den Inbegriff der Möglichlkeiten des Ich. Diese Möglichkeiten sind solche der Sinnerfüllung und Wertverwirklichung, und als solche sind sie Möglichkeiten, die nicht zuletzt in der Konfrontation des Menschen mit schicksalhaften Notwendigkeiten aufscheinen. Wer einem Menschen um diese Möglichkeiten betrügt, beraubt ihn des Selbst als des Spielraums, in dem das Ich atmet.“108 Wenn wir Schneewinds Einteilung folgen, so versteht also auch Frankl das Selbst als Potential, als Möglichkeiten des Ich, für oder gegen die man sich frei entscheiden kann. Seine Definition steht, wenn auch hier nicht explizit ausgeführt, in engem Zusammenhang mit dem Person-Verständnis der Existenzanalyse. Auch die Person ist etwas fakultatives109 , ex-istiert, indem sie sich „zu welchem Sachverhalt auch immer - frei verhalten kann“110. Die Person, als das Freie im Menschen, kann nur dort hervortreten, wo es Wahlmöglichkeiten gibt, wo eine freie Entscheidung getroffen werden kann. Analog dazu kann, gemäß Frankls Definition, das Ich - als Vollzugsorgan der Person - nur dort atmen, frei sein, wo es das Selbst, oder besser einen Zugang zum Selbst gibt. Das Ich als personales, frei handelndes Ich braucht also den Zugang zum Selbst. Dies schließt nicht aus, daß es das Ich, als das faktische, nicht auch ohne diesen Zugang zum Selbst, ohne diesen Handlungsspielraum gibt. Nach unserem Verständnis wäre es allerdings dann nicht personal, 108 „es gehorchte einem anderen Herren“, etwa dem der einfach Viktor E. Frankl: Der leidende Mensch. Anthropologische Grundlagen der Psychotherapie. Bern 1975, S. 266 109 Viktor E. Frankl: Der Wille zum Sinn. Bern 1972, S. 113 110 Frankl, Der leidende Mensch, S. 226 übernommenen gesellschaftlichen Normen, selbstauferlegter Zwänge, drängender Bedürfnisse etc. Können wir dies auch auf das Selbst umlegen, kann auch es apersonal sein? Nach Frankls Überlegungen nicht. Er schreibt, daß man einen Menschen seines Selbst beraubt, wenn man ihm die Möglichkeiten zur Wertverwirklichung nimmt, wenn man ihm die Voraussetzungen entzieht, sich auch mit dem leidvollen schicksalhaften Teil seines Lebens auseinanderzusetzen. Wenn wir es, im Franklschen Sinn, dann auch als Inbegriff der Möglichkeiten zur Wertverwirklichung verstehen, kommt neben dem personalen Aspekt des Selbst noch ein zweites, wesentliches Charakteristikum hinzu, das der Weltzugewandtheit. Werte können wir ja bekanntlich nicht machen, sie sind das, was uns anspricht und bewegt, sind „ein Stück Welt“, das in unser Leben getreten ist 111. Selbstverwirklichung in diesem Sinne bedeutet dann auch Verwirklichung unserer Sinnund Wertmöglichkeiten. Unser Selbst als Potential kann also nur dann hervortreten, ex-istieren, wir können es nur dann aktualisieren, wenn wir die Welt in uns hineinlassen und die Offenheit haben, an ihr werden zu können. Das ist der Grundgedanke, der in Frankls Definition des Begriffes Selbsttranszendenz zum Ausdruck kommt: „Darunter verstehe ich (...), daß Menschsein immer über sich selbst hinaus auf etwas verweist, das nicht wieder es selbst ist, - auf etwas oder auf jemanden: auf einen Sinn, den da ein Mensch erfüllt, oder auf mitmenschliches Sein, dem er da begegnet. (...) ganz Mensch ist der Mensch eigentlich nur dort, wo er ganz aufgeht in einer Sache, ganz hingegeben ist an eine andere Person. Und ganz er selbst wird er, wo er sich selbst - übersieht und vergißt.“112 Wenn ich mich nun wieder dem Problem des Narzißmus zuwende, dann möchte ich von diesem existenzanalytischen Selbst-Verständnis ausgehen und im Folgenden zeigen, daß analog zu den beschriebenen beiden.Aspekten des Selbst, zwei Gundbereiche des menschlichen Seins bei der narzißtischen Störung in charakertistischer Weise betroffen sind : jener des Person-seins und jener der Weltoffenheit, des Werdens an der Welt. Der Frage also, was brauche ich, um zu wissen, wer ich bin, respektive was fehlt der narzißtischen Persönlichkeit in dieser Hinsicht möchte ich in den zwei folgenden Abschnitten begegnen. Im Unterkapitel „Nicht werden können“ möchte ich die Grundvoraussetzungen der Selbst-Erfahrung noch genauer darlegen und davon ausgehend beschreiben, was sich bei der 111 Alfried Längle: Wertberührung. in: Wertbegegnung. Phänomene und methodische Zugänge. Tagungsbericht Nr. 1 und 2/ 1991 der GLE, S. 25 112 Viktor E. Frankl: Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse. Wien 1982, S. 201 narzißtischen Persönlichkeit vor die Wert- und somit Selbstvewirklichung stellt. Der Abschnitt „Die Antwort anstelle des Spiegels“ beschäftigt sich mit den Grundvoraussetzungen des Person-seins und versucht die existentielle Problematik und auch die Weisheit des Mythos nocheinmal tiefer zu fassen. Das letzte Kapitel schließlich setzt sich mit der Urwunde des Narzißmus auseinander und mit den damit verknüpften biographischen Aspekten. 3. „Nicht werden können“ „Das Dasein steht in der Spannung zwischen dem Seienden und Gesollten, und es bedarf dieser Spannung. Denn der Mensch ist nicht da, um zu sein, sondern um zu werden...“113 Von einem existenzanalytischen Verständnis des Selbst ausgehend, brauche ich also die Welt und die Weltoffenheit, um mich selbst erfahren zu können. Daß Weltund Selbsterfahrung im eigentlichen nicht zu trennen sind, erweist sich aber auch schon auf einer ganz basalen Ebene: Wir werden in diese Welt geboren und können gar nicht anders, als uns in Auseinandersetzung mit ihr zu erfahren. So brauche ich z.B.etwas, das ich ergreifen kann, um die Erfahrung zu machen, daß ich Hände habe. Wie es letztendlich unmöglich ist, Berührung von Berührt-sein zu trennen, so ist es also auch müßig zwischen Selbst- und Welterfahrung überhaupt zu unterscheiden. Ich möchte dies anhand eines Beispiels noch genauer darlegen. Nehmen wir an, ich besteige einen Berg. Ich setze eine Schritt vor den anderen, ich spüre den Boden unter meinen Füßen, erfahre die Beschaffenheit des Weges, die Steile des Hanges. Gleichzeitig erfahre ich etwas über meine Kraft, die Schwere oder Leichtigkeit meiner Füße, meine Geschicklichkeit etc. Oben angekommen, werde ich den Ausblick genießen oder vielleicht hauptsächlich meine Erschöpfung spüren. Aber jedenfalls habe ich etwas erfahren, über den Berg und über mich.Vielleicht wird sich dieses Erlebnis in eine Reihe ähnlicher Erfahrungen einreihen und ich erfahre einmal mehr, daß ich z.B. eine gute Bergsteigerin bin. Anderenfalls erfahre ich etwas neues über mich, bin überrascht, daß ich so ausdauernd sein kann. In jedem Fall wird dieses Erlebnis, vorausgesetzt ich war ganz dabei, mein „ich bin“, mein 113 Frankl, Der leidende Mensch, S.294 Identitätsgefühl stärken, sei es im Sinne des schon Bekannten („Ich habe gewußt, daß ich es kann!“) oder des Überraschenden („Aha, so bin ich also auch.!“) Erfahrungen dieser Art erschließen mir also ein Stück der Welt und gleichzeitig einen Teil meines Selbst. Aus der Vielzahl meiner Möglichkeiten ist eine damit zur Wirklichkeit geworden oder , im Sinne Frankls ausgedrückt, ein Stückchen meines fakultativen Selbst wurde so zum faktischen Ich. Narzißtische Persönlichkeiten aber vermeiden gerade diese konkrete Auseinandersetzung, das mitunter auch mühevolle Sich-erproben an der Welt. Sie wollen etwas sein (ein Ideal), aber sie wollen nichts werden. So wie im Mythos die spiegelnde Quelle keine Turbulenzen duldet, ohne auch schon das Bild verschwinden zu lassen, tolerieren die zerbrechlichen Idealvorstellungen narzißtischer Menschen keine Erschütterungen durch die Realität, durch die wirkliche Berührung mit der Welt. Sie meiden es daher, konkrete Erfahrungen zu machen und versperren sich dadurch auch den Weg, sich im hier und jetzt kennenzulernen. Auch bei Beate waren „Erfahrungen“ öfters ein Thema in der Therapie. Sie wollte gerne wirken als jemand, der reich ist an Lebenserfahrung und bewunderte Menschen, die dies glaubhaft machen konnten. Gleichzeitig spürte sie aber, daß dies bei ihr nicht zutraf. Sie war wohlbehütet aufgewachsen und beschrieb, daß ihre Eltern jegliche Erschütterungen und Unannehmlichkeiten von ihr ferngehalten hatten. In ihrem gegenwärtigen Leben hatte sie nun Angst, wirkliche Erfahrungen zu sammeln. Sie scheute sich vor Situationen, deren Ausgang nicht kalkuliert werden konnte. Sie befürchtete, Fehler zu machen und dann ihrem perfekten Selbstbild nicht mehr zu entsprechen. Beispielsweise versäumte sie ein Vorstellungsgespräch in einer Beratungsstelle, in welcher sie gerne gearbeitet hätte. Sie wollte nicht das Risiko eingehen, daß sie abgelehnt werden könnte. Dies hätte schlimme Folgen für ihr Selbstbild gehabt. Anstelle einer personalen, im Lebensvollzug gegründeten Identität finden sich bei narzißtischen Persönlichkeiten also Selbstbilder und ihre Selbstvorstellungen ersetzen die sinnliche Selbst- und Welterfahrung. Wie bereits weiter oben beschrieben, sind diese Selbstbilder frei von Ambivalenz, lebensfern in ihrer Vollkommenheit, lebensfern wie die abgerundete Kindheit von Beate. Sie ändern sich nicht, sondern kippen, wie das Umspringbild der „alten und jungen Frau“, ins Gegenteil, wenn die Realität ihre Aufrechterhaltung zunehmend verunmöglicht. Auch wenn dies nicht passiert, sind sie doch stets gefährdet, da sie ja nicht im Erlebten, im gelebten Leben, im persönlichen Erfahrungsschatz begründet sind. Diese Gefährdung ist es, die die narzißtische Persönlichkeit die sinnliche Selbst-und Welterfahrung immer wieder meiden läßt. Um es in der Symbolik des Narziß auszudrücken: Statt der Welt sucht er/sie den Spiegel. Statt auf den Berg zu steigen wird er davon träumen, Reinhold Messner zu sein. Er wird sich jemanden suchen, der in ihm -auch so- den Bergsteiger erkennt oder er wird sein ideales Bergsteigertum geschickt zu inszenieren wissen. Man denke in diesem Zusammenhang etwa an Jörg Haider, der sich in einem für die Sommergespräche im ORF gestalteten Video, wohl abgesichert durch einen erfahrenen Bergführer, als Extemkletterer präsentierte.114 Keine Erfahrungen zu machen, hindert narzißtische Menschen also daran, sich in ihrer Potentialität erfahren zu können. Gleichzeitig aber entziehen sie sich damit auch der Begrenzung des Daseins, des Hier und Jetzt. Denn nur in der Begrenztheit meiner Möglichkeiten kann ich meine Potentialiät erfahren, bin ich auch handlungsfähig. Die Verwirklichung eines Wertes verlangt ja gerade, daß ich mich momentan auf das eine beschränken muß, es verlangt in gewisser Hinsicht eine Bescheidenheit im Aktuellen, im jeweils zu Aktualisierenden. Wenn ich prinzipiell alle Fähigkeiten und Talente habe, so wie Jakob das von sich glaubte, ja was soll ich dann tun? In der Unbegrenztheit ihrer Idealvorstellungen entziehen sich narzißtische Menschen ihren Handlungsspielraum. Auch Narziß kann nicht anders als bei der Quelle zu verharren und sogar auf der Fahrt in die Unterwelt kann er sich noch nicht von seinem Bild trennen. Nicht nur die Wertverwirklichung jedoch bedarf der Begrenzung. Eigentlich passiert ja Selbsterfahrung im Allgemeinen an der Grenze, dort wo ich auf etwas treffe, etwas antreffe, ein Widerstand sich mir entgegenstellt. Nicht nur im Gelingen sondern auch im Mißlingen erfahre ich etwas über mich und letztendlich ist es ja die Begrenztheit, auch die Begrenztheit meiner Möglichkeiten, das Abgegrenzt sein von anderen, das mich in meiner Einmaligkeit überhaupt konstituiert. In diesem Zusammenhang möchte ich erwähnen, daß ja in der Literatur oft von „optimaler Frustration“ gesprochen wird, wenn es um die Frage geht, wie sich ein gesunder Narzißmus entwickeln kann. Wir wissen auch, daß viele Narzißten, so wie Beate, in ihrer Kindheit verwöhnt wurden. Sie galten, ohne sich anstrengen zu müssen, schon immer als etwas besonderes. Ihre Eltern hatten schon ein genaues Bild (der Großartigkeit), eine fixe Vorstellung, von dem, was sie sind oder einmal sein werden. 114 vergleiche dazu: Robert Buchacher: Narziß und Vollmund. Robert Buchacher über die Charaktereigenschaften des politik- und publikumssüchtigen F-Chefs: „What makes him tick?“, in: Profil. Nr. 37 (1996), S. 38 So entzieht also auch die Verwöhnung, das Nichtvorhandensein von Grenzen, dem Menschen die Möglichkeit, sich mit der Welt und dann auch mit sich selbst auseinanderzusetzen. Ich möchte an dieser Stelle nochmals auf die Wertverwirklichung zurückkommen. Wenn Erfahrungen unsere Selbsterfahrung bereichern sollen, wenn sie uns (auch manchmal überraschende) Auskunft gegen darüber, wer wir eigentlich sind, dann haben sie immer die Qualität der Wertverwirklichung. Sie erfordern, daß wir zum jeweiligen Zeitpunkt ganz bei der Sache sind, offen für das, was uns gerade begegnet. Ich habe bereits angeführt, daß narzißtischen Persönlichkeiten diese Offenheit fehlt, sich ansprechen zu lassen. Der narzißtische Bergsteiger in meinem Beispiel sieht ja nicht den Berg, nicht die Schönheit der Natur etc., er sieht lediglich sich auf dem Berg ,genauer gesagt, am Gipfel. Seine Selbstbilder, derer er sich stets auch durch andere rückversichern muß, versperren ihm den Weg, den „Kostbarkeitscharakter der Dinge“ überhaupt wahrzunehmen. Indem ein narzißtischer Mensch, um sich selbst zu finden, seinen Blick stets auf sich gerichtet hält und sich in den Bildern zu fassen versucht, die er vor sich herträgt, verliert er die Existenzialität seines Daseins. Man könnte sagen, daß er, indem er sich der Welt verschließt, sich auch selbst verfehlt, nicht erfahren kann, wer er eigentlich ist. Im Mythos stirbt Narziß an dem Umstand, daß er nur von optischen und akustischen Spiegeln umgeben ist. Als er sich in seinem Spiegelbild erkennt, erkennt er sich nur in der Faktizität seines eingekerkerten Ichs, nicht aber im Fakultativen, in seinem personalen Selbst, das ja auch bedeutet hätte, daß er die Möglichkeit hat, anders zu werden. Dazu hätte er doch dies ist Gegenstand des nächsten Abschnittes - nicht nur das andere sondern auch den anderen gebraucht. Wir können hier den Tod des Narziß als Symbol für den Verlust von existenziellem Leben begreifen. Das Nicht-zum Leben-kommen, die existentielle Dynamik der narzißtischen Persönlichkeit möchte ich an dieser Stelle zum Abschluß nochmals schematisch darstellen: ideale Selbstvorstellungen Unsicherheit: Wer bin ich? Welt wird zum Spiegel zur Rückversicherung der Selbstvorstellungen kein Zugang zur Welt der Werte keine Erfahrungen sammeln können und somit keine gegründete Selbsterfahrung im hier und jetzt erwerben können 4. „Die Antwort anstelle des Spiegels“ „Ebenso entscheidend für das Heilsein der Person ist die Liebe. Lieben bedeutet, die Wertgestalt im fremden - vorallem im personalen - Seienden zu erblicken, deren Gültigkeit zu spüren; zu fühlen, es sei wichtig, daß sie bestehe und sich entfalte; von der Sorge um diese Verwirklichung als wie um Eigenes erfaßt zu werden.“(Hervorhebung d. Verf.)115 Von den vielen Bedeutungsaspekten, die der Person in der Existenzanalyse zukommen, erscheint mir einer im Zuammenhang mit dem Problem des Narzißmus als besonders bedeutend: Die Person ist einzigartig. Sie ist ein „absolutes Novum“ 115 Guardini, Gedeutetes Dasein, S. 34 und in ihrer geistigen Existenz nicht übertragbar. Sie kann nicht von Generation zu Generation weitervererbt werden. Weitergegeben werden körperliche und charakterliche Eigenheiten, in den Worten Frankls „Bausteine“, nicht aber der „Baumeister“.116 Die Person als das somit wesenhaft Andere ist dem Ideal oder der idealen Selbstvorstellung diametral entgegengesetzt. Letzeres konstituiert sich ja geradezu durch die Entledigung der persönlichen Anteile, ist die Verallgemeinerung im Suberlativ. Das Ideal-sein ist im eigenen Streben und in der Biographie narzißtischer Persönlichkeiten immer an ein „So-werden-oder-so- sein müssenwie...“geknüpft und ist somit a priori an eine Ausklammerung des Personalen gebunden. Im letzten Abschnitt habe ich ausgeführt, daß sich das personale Selbst und somit auch die personale Identität nur an der Welt und im Austausch mit ihr entfalten können. Hier möchte ich der Frage nachgehen, ob dies denn schon ausreicht, ob, um das Bild des Bergsteigers wieder zu bemühen, der Berg allein genügt, um mir zu sagen, wer ich bin. Die Existenzanalyse geht davon aus, daß der Mensch Person ist von Anfang an 117 und daß es ein ursprüngliches, nicht weiter rückführbares Wissen um dieses Personsein gibt. Damit einhergehend seien wir mit einem grundlegenden Gespür ausgestattet zu erkennen, ob ich als Person angesprochen, in meinem Wesen gemeint bin oder nicht.118 Wir postulieren also dieses ursprüngliche Wissen um uns selbst, doch bleibt es uns auch erhalten? Unsere therapeutische Erfahrung belehrt uns eines anderen und gerade narzißtische Persönlichkeiten haben große Schwierigkeiten zu unterscheiden zwischen echter, personaler Wertschätzung und Bauchpinselei, zu abhängig sind sie von der Rückspiegelung ihrer Selbstvorstellungen. Dieses ursprüngliche Wissen kann also leicht verschüttet werden und aus diesem Umstand würde ich ableiten, daß es neben der Weltoffenheit noch eines zweiten Bedarf, um uns in unserem So-sein und in unserer Personalität erfahren zu können, um zu begreifen, wer wir sind: es bedarf der Rückmeldung, der Antwort einer anderen Person auf unser ureigenstes Wesen. Nur damit erhalten wir eine Einladung in die Welt, wird der Raum konstituiert, der uns uns selbst in unserer 116 Frankl, Wille zum Sinn, S. 109 Alfried Längle: Die Person und der andere 118 Ausbildungsmitschrift 117 Einzigartigkeit und die Welt in ihrer Wertpotentialität erschließt. Anstelle des Spiegels bedürfen wir der Antwort, anstelle der Bewunderung brauchen wir die Liebe. Gerade narzißtische Persönlichkeiten aber sind von Spiegeln umgeben, von ihren eigenen Selbstvorstellungen und von Personen, denen die Augabe zukommt, sie in diesen zu bestätigen. Da sie den anderen also vorwiegend als Projektionsfläche benutzen, kennen sie die Liebe - im Sinne der Wertschätzung des wesensmäßig anderen - nicht. In diesem Sinne wird ihnen auch nur selten wirkliche Liebe zuteil, da die Personen in ihrer Nähe bei der Bewunderung ihrer Größe „hängenbleiben“ und ebenfalls nicht zum Personalen vordringen. Das existentielle Scheitern des Narziß, seine mißlungene Suche nach sich selbst ist auch auf dem Hintergrund dieser letztlich unglücklichen Liebesgeschichte zu verstehen, auf dem Hintergrund des Fluches, der ihn trifft. Auch er will ja, daß sein Spiegelbild ihm antwortet. Er verzweifelt, als er erkennt, daß er nur von Spiegeln umgeben ist, es den anderen als den wesensmäßig Verschiedenen gar nicht gibt und er somit keine wirkliche, reale Liebe erfahren kann. Man könnte auch sagen, er erkennt, daß narzistische Liebe keine Erfüllung bringt. Er, der selbst auch nicht liebesfähig war und für die anderen nur Geringschätzung übrig hatte, wird mit dem Fluch bestraft, auch keine wirkliche Liebe zu erfahren. Auf einer tieferen Ebene erschließt uns der Mythos also die Weisheit, daß Liebe zwischen wesensgleichen Personen (man könnte auch sagen, narzißtische Liebe als Form der Selbstbespiegelung) nicht zur Existenz führen kann. Dies deckt sich mit dem existenzanalytischen Verständnis von Liebe: „Gegenüber der Begegnung scheint mir nun die Liebe einen Schritt weiter zu gehen, und zwar insofern, als sie den Partner nicht nur in seiner ganzen Menschlichkeit erfaßt, sondern darüber hinaus auch in all seiner Einmaligkeit und Einzigartigkeit, und das heißt: als Person; denn Person ist ein Mensch kraft der Tatsache, daß er nicht nur Mensch unter anderen ist, sondern auch anders als alle anderen ist (...)Und erst dadurch, daß der Liebende den Geliebten in dessen Einmaligkeit und Einzigartigkeit erfaßt, wird der Geliebte für den Liebenden zu einem Du.“119 Wenn wir die Liebe auf diese Art verstehen und wir uns auch der Sichtweise Bubers anschließen, daß sich das Ich erst an der Erfassung des wesensmäßig anderen, am Du konstituiert120 , so wird deutlich, daß es zur Selbsterkenntnis die Liebe braucht, die Liebe sowohl als die Fähigkeit einen anderen in seinem Wesen zu schätzen, als 119 120 Frankl, Ärztliche Seelsorge, S. 202 ebd., S. 25 auch als das Geschenk, von einem andern in seiner Einzigartigkeit gesehen worden zu sein. Ein gesunder Narzißmus und folglich ein reales Selbstbild kann sich somit nur aus der Erfahrung des Angesprochen-seins, des Ernstgenommen-werdens und aus dem Erleben entwickeln, daß einem etwas zugetraut wird (im Gegensatz zu Über- und Unterforderung). Er ernährt sich durch das liebevolle Einlassen auf das andere und den anderen. Man könnte auch sagen, ein gesunder Narzißmus wurzelt in der Liebe, gedeiht am Verschiedenen und verkümmert im Spiegelkabinett. 5. „Sich selbst nicht zu gehören.“ Die narzißtische Wunde und biographische Aspekte „Die Kinder gehören der Sehnsucht nach sich selbst.“121 Im letzen Abschnitt habe ich die Annahme formuliert, daß es zur Selbsterkenntnis auch die Liebe einer anderen Person braucht, die Liebe im Sinne der Wahrnehmung und Wertschätzung der geistigen Person in ihrer Einmaligkeit und Einzigartigkeit. Wie bereits angeklungen, haben narzißtische Menschen diese Art von Liebe in ihrer Familie nicht erfahren, wurden in ihrem ureigensten So-sein nicht wahrgenommen, nicht gefördert, das zu verwirklichen, was in ihnen steckt. Bildlich gesprochen, hatten sie am Anfang ihrer Geschichte das Schicksal, selbst als ein Spiegel, als eine Projektionsfläche für die Erwartungen der anderen benutzt worden zu sein. Vielfach existierte da schon eine genaue Vorstellung, wie sie sind, noch bevor es Gelegenheit gegeben hatte, sich in dem jeweiligen Wesen zu zeigen. Auch wenn sich das Ureigenste zeigte, so wurde es doch geflissentlich übersehen, bis es schließlich immer mehr verstummte, vielleicht nurmehr hinter einer körperlichen oder depressiven Symptomatik aufzuspüren gewesen wäre. An dieser Stelle möchte ich nocheinmal Ester erwähnen. Schon bevor sie geboren wurde, stand fest, daß sie - gemäß der Familientradition und dem Beruf ihrer Eltern ebenfalls Medizinerin werden sollte. Obwohl sie ganz andere Fähigkeiten und Interessen hatte, hielten ihre Eltern an dieser Vorstellung fest. Sie verfolgten diese Strategie, indem sie den immer offensichtlicher werdenden Konflikt als Gesprächsthema verbannten und an ihren wahren Neigungen vorbeisahen. Auch ihr eigenes Wesen, ihre wahren Gefühle waren unerwünscht. Sie wollten, gemäß ihrer eigenen Lebensweise, eine Herzeigetochter, ehrgeizig und erfolgsorientiert, 121 Ausbildungsmitschrift umgänglich und wenig gefühlsbetont. Immer wenn Ester nun in ihrer Kindheit wahre Gefühle gezeigt hatte, sei es Freude, Traurigkeit oder Betroffenheit, wurde sie angehalten, dies sich nicht so zu Herzen gehen zu lassen und/oder ihre Empfindungen wurden bagatellisiert. Dies führte dazu, daß Ester diesen Teil ihres Wesens abzuwerten begann und auch den Gefühlen anderer Personen immer mehr auswich. Nach dem Bild ihrer Eltern wurde sie oberflächlich und beziehungslos, lebte die fröhliche und unbeschwerte Ester bis eine Depression dieses Bild ins Schwanken brachte. Es bedurfte eines langwierigen therapeutischen Prozesses, um sich dem Gegenbild, dem Anti-Ideal der depressiven Ester und der dahinter verborgenen personalen Ester annehmend annähern zu können. Neben diesem bereits vorgeformten elterlichen Bild und eng damit zusammenhängend finden sich in der Biographie narzißtischer Persönlichkeiten auch immer hohe Erwartungen nahestehender Bezugspersonen, die es zu erfüllen galt. Die „Werte“ der Eltern wurden dabei nicht durch einen harten Erziehungsstil in das Kind hineinerzogen, sondern durch subtile Beeinflussung: durch Lob, wenn die Erwartungen erfüllt wurden, durch Vorschußlorbeeren, durch plötzliches Fallengelassen-werden, wenn man einmal nicht entsprochen hatte etc. Susanne bekam von ihrem Vater oft zu hören, daß er sehr stolz auf sie und ihre Fähigkeiten sei. Dabei sprach er oft Bereiche an, in denen sie ihr Können erst unter Beweis stellen mußte, was den Erfolgsdruck für sie beträchtlich erhöhte. Magdalena galt als einsichtige, vernünftige Tochter, die wußte, was „das Richtige“ war. Wenn sie in seltenen Fällen dann doch widersprach und nach eigenen Vorstellungen handeln wollte, bekam sie zu hören: „Gut, dann mach wie du glaubst, aber erwarte dir dann nichts im nachhinein von mir!“ Verschlüsselt enthielt diese Aussage die Botschaft, daß sie nur mit der Unterstützung und Liebe ihrer Eltern rechnen konnte, wenn sie sich ihren Erwartungen gemäß verhielt. Kindern ist es aber nicht möglich ohne die Unterstützung der Eltern eigenständig zu sein, schon gar nicht solchen, die von frühester Zeit an auf den anerkennenden, bewundernden Blick konditioniert wurden, deren Selbstwert so stark von der Bestätigung der anderen abhängig ist. Erziehung durch Strafe und Verbote weckt, meiner Ansicht nach, weit mehr den Widerstandsgeist und die personale Verweigerung, als dies bei einer Beeinflussung durch Selbstaufwertung noch gelingen kann. Natürlich gibt es auch hier Extremvarianten, wo der Wille des Kindes durch rigorose Bestrafung gebrochen wird. Die Verletzung ist und bleibt in diesem Fall jedoch weit offensichtlicher, ist in der biographischen Arbeit leichter zugänglich zu machen. Menschen mit narzißtischer Persönlichkeit haben weit größere Schwierigkeiten, ihre Kindheit kritisch zu bertrachten. Sie erzählen von einem durchaus wohlwollenden, unterstützenden Elternhaus, davon, daß sie früh eigenständig waren, viel Freiheit hatten. Bei genauerem Hinsehen findet sich jedoch, daß diese an und für sich positiven Erziehungsziele zu einer Zeit erfüllt werden mußten, als sie eine absolute Überforderung für die Betreffenden darstellten. Überforderung durch die hohe Erwartungshaltung der Eltern findet sich wesensmäßig in der Biographie narzißtischer Persönlichkeiten. Damit meine ich nicht eine generelle Überforderung in dem Sinne, daß die Betreffenden nicht mehr in der Lage waren, den Erwartungen der Eltern zu entsprechen, sondern im emotionalen Sinne: Sie haben den Erwartungen zumeist „glänzend“ entsprochen, dabei aber ihre Personalität, das Gespür für sich und ihre eigenen Werte verloren. Narzißtische Persönlichkeiten erzählen von ihrer Kindheit oft, daß sie etwas (oder vieles) früher als andere Kinder konnten. Sehr häufig findet man auch, daß sie besonders wegen ihrer Frühreife und Vernunft gelobt wurden und diese Attribute häufig dazu verwendet wurden, ihr Verhalten zu manipulieren. Die meisten haben große Schwierigkeiten, sich an etwas zu erinnern, daß sie gegen den Willen ihrer Eltern gemacht haben. Wenn sie manchmal Trotz und Widerstandsgeist zeigten, waren sie durch den Appell an ihre Reife und Vernunft und durch die Aufforderung, doch nicht ihre Eltern zu enttäuschen, rasch wieder umgestimmt. Dieses Ausgerichtet-werden auf die Vorstellungen anderer bedeutet aber nicht nur eine personale Verletzung im Sinne der Negierung der Einzigartigkeit, auch die Eigengehörigkeit der Person ist in hohem Maße betroffen. Darunter verstehen wir in der Existenzanalyse, daß ich als Person „in meinem Selbstsein letztlich von keiner anderen Instanz besessen werden kann, sondern mir selbst gehöre. (...) Die Person selbst entzieht sich dem Eigentumsverhältnis.“ 122 Guardini hat zwei Aspekte der Eigengehörigkeit definiert: Die Innerlichkeit und die Würde der Person 123: Unter ersterer ist zu verstehen, daß ich als Person „von keinem anderen durchwohnt werden kann, sondern im Verhältnis zu mir selbst und mit mir allein bin.“ 124 Die Würde der Person ist angesprochen in der Beziehung zu anderen und meint, daß ich als Person über jedem Sachzusammenhang stehe, nicht als Mittel zum Zweck herangezogen werden darf.125 122 Guardini, Gedeutetes Dasein, S. 32 Ausbildungsmitschrift 124 Guardini, Gedeutetes Dasein, S. 33 125 Ausbildungsmitschrift 123 Gerade diese beiden Aspekte werden in der Kindheit narzißtischer Menschen sehr verletzt. Was die Innerlichkeit betrifft, dürfen diese Kinder nicht für sich und mit sich (allein) sein, sondern sie werden trainiert für andere zu wirken, mit ihrem „Glanz“ deren Selbstwert aufzubessern. In ihrem Selbstwert so sehr auf das Außen festgelegt, haben sie in der Folge dann größte Schwierigkeiten einfach für sich und mit sich selbst alleine zu sein. Wenn man in dieser Art für die Zwecke anderer eingespannt wird, dann leidet auch die Würde der Person. In der Begegnung mit narzißtischen Persönlichkeiten ist man als anteilnehmender Beobachter oft unangenehm berührt, wenn man sieht, wie jemand alles mögliche unternimmt, um die Bewunderung der anderen zu erhalten, Lob zu erheischen und ähnliches. Man spürt, daß er sich selbst herabwürdigt, man möchte ihm fast beiseite springen und sagen: „Hör auf, das hast du doch nicht nötig!“ Die „narzißtische Verletzung“, die diese Menschen also in ihrer Kindheit erleiden, können wir verstehen als einen Mißbrauch.an ihrem Selbst-sein. Er bedeutet, sich selbst nicht gehört zu haben, sondern den eigenen Eltern, verwendet worden zu sein für die Aufbesserung ihrer Selbstvorstellungen. Narzißtische Verletzung in diesem Sinne meint: „Nicht-so-sein-dürfen“ sondern „Anders-werden/scheinen-müssen“, um den Erwartungen der anderen zu entsprechen. Das „Nicht-so-sein-dürfen“ wurde narzißtischen Persönlichkeiten in ihrer Kindheit oft durch die eingangs schon erwähnte Erfahrung vermittelt, daß sie plötzlich fallen gelassen wurden, wenn sie den Erwartungen nicht entsprachen. Auch über diese mehr oder weniger bewußt eingesetzte Erziehungsmaßnahme hinaus scheint das Fallengelassen-werden ein generelles Thema in der Biographie narzißtischer Menschen zu sein: So wurde beispielsweise Magdalena, die sich stets an die Wertvorstellungen ihrer Eltern in ihrem Handeln gehalten hatte, nach der Matura in eine plötzliche Selbständigkeit entlassen. Sie bezog eine eigene Wohnung, verlor ihr Zimmer zu Hause und war nun angehalten, ein eigenes, unabhängiges Leben zu führen. Ihre Mutter, die bis dahin ihre wichtigste Gesprächsparterin und Ratgeberin gewesen war, verweigerte von heute auf morgen diese Rolle und ließ Magdalena, mit dieser plötzlichen Freiheit überfordert und verzweifelt, allein. Kohut berichtet in seinem Fallmaterial von Klienten, die unerwartet fallengelassen wurden in Momenten, in denen sie, aus existenzanalytischer Sicht, gerade ihr Wesen offenbarten: So berichtet Kohut beispielsweise von B., der immer, wenn er seiner Mutter glücklich über ein bestimmtes Erlebnis oder einen Erfolg berichtete, sie kalt und unaufmerksam wurde und während seines Erzählens begann, bestimmte Einzelheiten seines Verhaltens zu kritisieren. So sagte sie z:B.“Sprich nicht so mit den Händen!“126 Da bei Menschen mit narzißtischer Persönlichkeit der Selbstwert so stark von dem Blick der Eltern abhängig ist, bleiben diese meist sehr lange und sehr intensiv mit ihrer Familie verbunden, was oft darin zum Ausdruck kommt, daß der Ursprungsfamilie ein hoher Stellenwert zukommt, Verwandschaftsbeziehungen intensiv gepflegt werden, daß man auch im Erwachsenenalter noch den Urlaub gemeinsam verbringt etc. Die emotionale Abhängigkeit von zu Hause, die, verkürzt gesagt, durch die Botschaft „du bist großartig und absolut wichtig für mich“ hergestellt und aufrechterhalten wurde, ist meist auch im Erwachsenenalter noch wirksam. Jakob war in seinem Verwandtenkreis vor allem bei der Eltern- und Großelterngeneration sehr beliebt. Er galt von jeher als vernünftig, verständig, nicht so ruppig und auf Abgrenzung bedacht, wie andere „junge Leute“. Im Bewußtsein dieser Sonderstellung und sehr bemüht dieses Image des idealen Enkels/Neffen etc. aufrechtzuerhalten, blieb er sehr um seine Ursprungsfamilie bemüht. Magdalena verbrachte als Jugendliche oft das Wochenende mit ihren Eltern, auch wenn sie lieber etwas mit ihren Freunden unternommmen hätte. Ihr Vater konnte sie leicht dazu überreden, indem er sagte: „Bitte fahr doch mit, ich habe mich so auf ein gemeinsames Wochenende gefreut, ohne dich macht es keinen Spaß.“ Hannah gewährte ihrer Mutter nach wie vor sehr viel Einblick in ihr Leben, obwohl sie diese sehr oft abwertete. Dieser Wunsch nach Bestätigung durch die Mutter hatte schon einen selbstzerstörerischen Zug. Ihre starke Abhängigkeit von ihr, derer sie sich in zunehmendem Maße bewußt wurde, brachte sie in folgendem Traum zum Ausdruck, der das Wesen narzißischer Eltern-Kind-Beziehungen sehr treffend zum Ausdurck bringt: „Ich war in der Kirche und wollte einen Mann, der wohl mein Freund war, heiraten. Dann wurde ich aber mit meiner Mutter getraut und ich bin dann mit ihr zusammengezogen. Gleichzeitig war mir das aller sehr peinlich, denn alle anwesenden Personen haben ganz komisch geschaut.“ Obwohl Menschen mit narzißtischer Persönlichkeit oft spüren, daß an der Beziehung zu ihren Eltern etwas nicht stimmt, können sie sich trotzdem nur sehr schwer von ihnen und von der Sichtweise lösen, eine sehr gute Kindheit gehabt zu haben. Dies ist einerseits sicherlich darin begründet, daß ihr Selbstwert nach wie vor sehr stark von ihrem Maß abhängt, andereseits kommt darin aber sicherlich auch zum Ausdruck, daß sie bei ihnen noch hoffen und suchen, was ihnen versagt geblieben 126 Kohut, Narzißmus, S. 146 ist: in ihrer Echtheit, ihrem So-sein geliebt und anerkannt zu werden. Der Drang, sich die gleichen Verletzungen erneut zuzuziehen und in der eigenen Geschichte zu verharren, ist meiner Ansicht nach nicht so sehr eine Ausdrucksform von Masochismus, sondern wiederspiegelt vielmehr ein Urprinzip des Lebendigen, daß etwas wieder gut werden soll. Die Hartnäckigkeit, mit welcher nach dieses Selbstbestätigung gesucht wird, ist für mich ein Ausdruck davon wie wichtig und lebensnotwendig es eigentlich ist, sich in seiner Echtheit zu erfahren, zu wissen, wer man ist und den Raum hat, werden zu können, so wie man sein möchte. Eltern narzißtischer Persönlichkeiten: Im Allgemeinen haben die Eltern von narzißtischen Persönlichkeiten selbst Störungen in diesem Bereich, respektive narzißtische Defizite, die sie in der Beziehung zu ihren Kindern oder vielmehr zu einem bestimmten Kind wiederbeleben. Dies findet sich auch durchgängig in der Literatur über Narzißmus. Volkan und Ast weisen in ihrem Buch „Spektrum des Narzißmus“auf „Post“ hin, der in der Studie narzißtischer Führerpersönlichkeiten herausgefunden hatte, daß diese oft von Müttern großgezogen wurden, die von zukünftigem Ruhm träumten. Sie selbst haben herausgefunden, daß besondere Umstände bei der Geburt eines Kindes für eine narzißtische Entwicklung ausschlaggebend sind.127 So fanden sie bei narzißtischen Führern häufig Mütter, die um ein verlorenes Kind trauerten. Das nachgeborene Kind erhielt dann die Mission, die Mutter wieder fröhlich und glücklich zu machen. Für Sigmund Freud war die Neigung, eigene unerfüllte Wünsche und Erwartungen an die Kinder weiterzugeben dermaßen ubiquitär, daß er sie, wie im 1. Kapitel bereits beschrieben, als Charakteristika der normalen „Elternliebe“ beschrieb, um daraus neben noch anderen Phänomenen sein Konzept vom primären Narzißmus abzuleiten. Aufgrund der Beschreibung der Eltern im Fallmaterial der Literatur über Narzißmus und auf Grund meiner eigenen Beobachtungen finden sich im Elternhaus auch oft histrionische Züge. So sind das plötzliche Abwerten und Fallenlassen einer Person, die vorher als besonders ideal und wichtig wahrgenommen wurde, das plötzliche Hervorbrechen emotionaler Kälte, wo vorher überschwängliche Zuneigung geherrscht hatte, das undifferenzierte, plakative Wahrnehmen einer anderen Person 127 Vokan und Ast, Spektrum, S. 153 - 154 Charakteristika, die uns, wie bereits beschrieben, auch aus der histrionischen Beziehungsgestaltung bekannt sind. Daß narzißtische Störungen auch so häufig mit histrionischen Merkmalen und umgekehrt einhergehen, könnte neben der „Zwillingsnatur“ dieser beiden Störungen auch ein weiterer Hinweis darauf sein, daß es hier einen familiären histrionischen Hintergrund gibt, respektive auch gibt. Narzißtische Defizite werden mit einer hohen Zuverlässigkeit von den Eltern an die nächste Generation weitergegeben. Dies zeigt nicht zuletzt der Umstand, daß jeder von uns, auch wenn er nicht ausgesprochen narzißtisch ist, in seinem Selbstbild Idealvorstellungen finden wird, die seine Eltern in ihn hineingelegt haben und er von Zielvorstellungen und Erwartungen zu berichten weiß, die er anstelle seiner Eltern erfüllen hätte sollen oder auch tatsächlich erfüllt hat. Auch wenn wir an unsere eigenen Kinder denken - so wir welche haben - gibt es Vorstellungen, wie sie auf keinen Fall sein oder werden dürfen oder welche Eigenschaften und Fähigkeiten sie unbedingt haben sollten. Daß wir es in diesem Bereich mit einer so hohen „Trefferquote“ zu tun haben, liegt meiner Ansicht nach in der Wichtigkeit begründet, daß narzißtische Bedürfnisse erfüllt werden. Existenzanalytisch gesprochen, wartet, was unsere Defizite in diesem Bereich betrifft, in uns immer noch der Wunsch, in unserer Personalität und somit in unserer Potentialität erkannt, wichtig und ernstgenommen zu werden. In dem Werden-können durch die eigene Kindheitsgeschichte auf diese Weise eingeschränkt, ist es naheliegend in der Potentialität der eigenen Kinder nach einer Selbstverwirklichung zu suchen. Oft sind ja auch wirklich ähnliche Begabungen vorhanden, die zu solch einem Übergriff besonders verleiten. Im Kind soll sich dann zeigen, was niemand (zunächst die eigenen Eltern nicht) in einem selbst erkannt haben. Hier passiert nun wieder, an der nächsten Generation, die Verletzung der Eigengehörigkeit der Person und wiedereinmal fehlt der Raum zum So-sein und zum Werden-Können. Das Grundbedürfnis, in seiner Einmaligkeit gesehen und geachtet zu werden, bleibt wieder einmal unerfüllt. Die eigene, ungestillte Sehnsucht in diesem Bereich führt dazu, daß man selbst „nichts sieht“, nicht ganz beim anderen in seiner Einzigartigkeit sein kann. Letzteres beschränkt sich dann natürlich nicht nur auf die eigenen Kinder. 5. Zusammenfassung Abschließend möchte ich mich noch, nach all der Ausführlichkeit, an den Versuch einer existenzanalytisch begründeten Begriffsdefinition von Narzißmus heranwagen, nicht zuletzt um dem Leser die Möglichkeit zu geben, zum Schluß noch einmal die Quintessenz vor sich zu haben. Aus existenzanalytischer Sicht können wir Narzißmus (im Sinne einer Störung) nun begreifen als Selbstbezogenheit, die darauf ausgerichtet ist, die eigene Selbstvorstellung/ das Idealbild, das man sich von sich gemacht hat, zu stützen und aufrechtzuerhalten. Die Welt dient dabei als Spiegel. An die Stelle der konkretsinnlichen, weltbezogenen Selbsterfahrung („ich erfahre mich an der Welt“) tritt eine bildhafte, starre und idealtypisch ausgerichtete Selbstvorstellung, die, weil ungegründet und stets gefährdet, ständig rückversichert werden muß. Die Welt und andere Personen können somit nicht mehr als das Andere, als Du erfahren werden, sondern müssen zur Rückspiegelung des Gleichen, zur Bestätigung und Bewunderung herhalten. In dieser Selbsteinkerkerung geht die Existentialität des Dasein verloren und die Leere ist eine ständige Bedrohung hinter dem Glanz des Ideals. In der steten Suche nach immer neuen Spiegeln kommt aber auch verschlüsselt ein existentielles Grundbedürfnis zum Ausdruck, die Sehnsucht, sich endlich in seiner Echtheit zu finden und in dieser wahrgenommen zu werden. Da sich Selbstfindung ohne „Weltfindung“, ohne werthafte Berührung mit anderen Personen und der Welt, nicht ereignen kann, kommt der Hinführung zur Selbsttranszendenz in der Therapie narzißtischer Störungen ein zentraler Stellenwert zu. Die Existenzanalyse mit ihrem Fokus auf Selbstdistanzierung, wertorientierte Zukunftsgestaltung und Sinnfindung bietet ein ausgezeichnetes Fundament zu einer erfolgreichen Therapie der narzißtischen Störung. Nur ein immer stärker erfühlbares Wozu kann den Weg aus der Selbsteinkerkerung weisen und eine zunehmende Beziehungsaufnahme mit der Welt wird die Angst reduzieren, eigentlich nichts und niemand zu sein.