Warum ist der EmpowermentRessourcenansatz eine Alternative zu herkömmlichen Präventionsprogrammen Von Ellen M. Zitzmann 1 Inhalt Einleitung ... 1 1. Allgemeines ... 1 1.1 Warum sind alternative Kontroll-Maßnahmen notwendig? ... 1 1.2 Zum Begriff „Alternative“ ... 4 2. Theoretische Grundlagen ... 5 2.1 Konstruktivismus ... 5 3. Der Empowerment-Ressourcenansatz für Konfliktbearbeitung ... 8 3.1 Eine Reise zu den Ressourcen ... 8 3.2 ... mit Empowerment ... 9 4. Dem Neuen eine Chance geben 4.1 Skizze eines Trainingskonzepts ... 12 5. Chancen und Risiken ... 14 ... 11 Resümee und Ausblick ... 16 Literatur ... 18 2 Einleitung „In der Bibel muss man nicht lange blättern, um bis zum ersten Mord zu kommen. Ein Mord mit Folgen: nicht die Vernichtung, sondern die Vertreibung von Kain, sein ruheloses und eingeschränktes Dasein führte dazu, dass er Fähigkeiten herausbildete, die ihn zum ersten Städtebauer machten. Seine persönlichen Ressourcen leiteten – der Legende zufolge – den Städtebau ein.“ Ich saß im Büro von Herrn Berger im Justizministerium: „Worauf wollen Sie hinaus?“ „Jeder Mensch kann zum Täter werden, und 95 % aller Täter sind Menschen wie Sie und ich. Von einem Tag auf den anderen können wir mit existentiellen Situationen konfrontiert werden, die uns Angst machen, uns in Wut versetzen und überfordern. In solchen Momenten sind Fähigkeiten im Umgang mit Belastungen und Stress wichtig. Ressourcen helfen Straftätern auf ihrem Weg zurück in die Gesellschaft.“ Sichtlich beeindruckt bat mich Herr Berger, den Empowerment-Ressourcenansatz, über den ich sprach, im nächsten Netzwerktreffen zu präsentieren. Kurz darauf stand ich vor Jugendrichtern, Sozialarbeitern, Bewährungshelfern, Pädagogen, Psychologen, Vertretern von Jugendverbänden und Ministerien. „Heute ist Frau Zitzmann bei uns, die sich im amerikanischen Strafvollzug für das Programm ,The Alternatives to Violence Project‘ als Trainerin engagierte und sich ausbilden ließ. Den diesem Programm zugrunde liegenden ,Empowerment-Ressourcenansatz‘ wird sie uns heute vorstellen. Sie wird aufzeigen, warum sich dieser Ansatz als Alternative zu den gängigen spezial-präventiven Trainingsmaßnahmen im Jugendstrafvollzug eignet.“ Nach ein paar Begrüßungsworten begann ich mit meiner Präsentation und schlug folgenden Ablauf vor: „Zunächst befasse ich mich in einem allgemeinen Teil mit grundsätzlichen Fragen, warum Alternativen zum oder im Jugend-Strafrecht wichtig sind und was mit dem Begriff ,Alternative‘ gemeint ist. Anschließend gehe ich auf theoretische Grundlagen ein. Den ,Empowerment-Ressourcenansatz‘ werde ich danach vorstellen und ein Trainingskonzept skizzieren. Zum Schluss werde ich auf Chancen und Risiken des Ansatzes eingehen. Bitte bringen Sie Ihre Gedanken und Ideen spontan und direkt ein.“ 1. Allgemeines 1. 1 Warum sind alternative Kontroll-Maßnahmen notwendig? Menschen sind zu vielem fähig – je nachdem, in welche Situationen sie geraten. Ich verwies auf die Allegorie von Kain und Abel, die Herr Berger den verdutzten Teilnehmern kurz erklärte. Welche Konflikte in problematischen Situationen entstehen können, erfahren wir durch Massenmedien: Wir erfahren von Schlägereien, Mord und 3 Totschlag – wie im Fall Dominik Brunner, der in einer Auseinandersetzung mit zwei männlichen Jugendlichen an einer Münchner S-Bahn-Haltestellte und bei der Verteidigung von vier Kindern zu Tode gekommen ist. Schnell wurde „das Böse“ identifiziert, und die Täter wurden öffentlich angeprangert – noch bevor weitere Details über die Tat und den Tathergang bekannt waren. Im massenmedialen Prozess werden Moral- und Wertemaßstäbe geschaffen, gesellschaftliche Unterhaltungsprozesse initiiert, die weniger der sachlichen strafprozessualen Auseinandersetzung des einzelnen Falles dienen. Der Kriminologe Stehr spricht von gesellschaftlichen Moral-Ressourcen, deren sich Massenmedien bedienen, wodurch ein Moral-Markt geschaffen wird (vgl. Stehr 1998: 9 f.) und sich „[...] eine Vielzahl moralischer Genres entwickeln, mittels derer von ihnen Normen & Werte angeboten werden“ (Stehr 1998: 11). Die so zustande kommenden Verzerrungen in der Kriminalitätswahrnehmung – also die Wahrnehmung, dass seltene und spektakuläre Fälle dominieren und unser aller Leben bedrohen – trägt dazu bei, dass bei Tätern wie im Fall Brunner hart und repressiv gehandelt wird, womöglich unter Androhung von Sicherungsverwahrung. Nun stellt sich im Verlauf des Prozesses und durch zahlreiche Vernehmungen heraus, dass offensichtlich Bezüge zum Tathergang weggelassen oder hinzugefügt wurden, dass Dominik Brunner an einem Herzstillstand starb und dass er als Erster zuschlug. Für die Staatsanwaltschaft ändert sich wenig: Der Mordvorwurf gegen die jugendlichen Schläger wird aufrechterhalten – damit die Prangeridee und die Zuschreibung des Merkmals „Mörder“. Die jugendlichen Straftäter im Fall Brunner, nennen wir sie fortan Mike und Tommy, sind im politisch-publizistischen Verstärkerkreislauf (vgl. Scheerer 1978: 223– 225) gefangen, in einem Kreislauf, der politisch genutzt wird, um das stark zu machen, wonach die Bevölkerung zu verlangen scheint, aber auch, um in den regierenden politischen Parteien einen Konsens herzustellen, den es nicht geben kann: Politik heißt immer Streit.1 Es kann also festgehalten werden, dass in unserer Gesellschaft Normen wie auch die Tätigkeiten von Institutionen (Justiz), Sanktionspersonen (Anzeigende, Polizisten) wichtige Voraussetzungen für das Konstruieren einer Realität von Kriminalität sind (vgl. S. 5-7). Ein weiterer Umstand, der meines Erachtens für alternative Kontroll-Maßnahmen im und zum Strafrecht spricht: Das Leitprinzip der Verantwortung der Gesellschaft für ihre Jugend und die im JGG explizit geforderte „[...] Rücksichtnahme auf die vielfältig sensible Phase des Jugendalters [...]” (Streng 2008: 14), gekoppelt an die 1 In diesem Zusammenhang sei auf die These des amerikanischen Rechtwissenschaftlers Jonathan Simon hingewiesen: Governing through crime. Er verdeutlicht, dass die Politik gut auf der medialen Klaviatur spielt und dadurch „[...] America less democratic and more recially polarized [...]“ (vgl. Simon 2007: 82–86) wird. 4 Erwartung der Gesellschaft, dass die Jugendlichen und Heranwachsenden Verantwortung für ihr zukünftiges, straffreies Leben übernehmen, ist unausgegoren. Es setzt voraus, dass die Jugendlichen, die z. B. eine Gefängnisstrafe verbüßen und denen es an Kompetenzen mangelt, es mit sozial kompetenten und pädagogisch trainierten Erwachsenen zu tun bekommen, die sie in ihrem Bewusstwerdungsprozess und auf der Suche nach konstruktiven und alternativen Reaktionen auf z. B. Gewalt unterstützen (vgl. Weyers 2004: 125). Auf Mike und Tommy, die früher oder später in einer Jugend-Strafanstalt einsitzen werden, wartet aber eine ganz andere Welt: Nicht nur, dass nach Sutherland die Wahrscheinlichkeit krimineller Verhaltensweisen aufgrund der Häufigkeit von Kontaktmöglichkeiten zu delinquenten Freunden steigt – was in einer Strafanstalt unumgänglich ist2 und was umso mehr für Jugendliche gilt, die bereits vor dem „Knast“ unter sozialem Druck standen mit Anpassungsschwierigkeiten an geltende Normen und mit Versagens- und Frustrationsängsten zu kämpfen hatten –, sondern, dass sie sich auch an den „Gesetzen“ von Subkulturen orientieren, weil sie dort Anerkennung und Bestätigung finden (vgl. Pfeiffer / Scheerer 1979: 37 ff.), die sie im Rahmen eines Vollzugslebens nicht erhalten. Auch der individuelle Druck, der sich aufgrund von zahlreichen negativen zwischenmenschlichen Beziehungserlebnissen in einer Strafanstalt ergibt, ist besonders für Jugendliche und Heranwachsende gefährlich: Mangels Alternativen und mangels ihrem Vermögen, mit extremen Emotionen wie Wut und Ärger adäquat umzugehen, setzen sie in den sich daraus entwickelnden Situationen illegale Mittel zur Zielerreichung ein (vgl. Agnew 1992: 50–55), – auch im Strafvollzug. Schließlich kommt hinzu, dass sich wiederholte Gefängnisstrafen und angestrebte Vorbeugungs- und Vergeltungseffekte immunisierend auf die Strafgefangenen auswirken und die Verschärfung strafrechtlicher Sanktionen lediglich dazu beiträgt, den Strafvollzugsapparat chronisch zu überlasten (vgl. Wacquant 2009: 284 ff.). Die in der Kriminologie als gesichert geltenden Erkenntnisse in Bezug auf Jugendkriminalität und der damit verbundene Episodencharakter – kriminelle Handlungen werden im Lauf der Entwicklung von allein und ohne staatliche Intervention eingestellt – sprechen für sich. Sie sprechen in letzter Konsequenz für die Abschaffung der Jugendgefängnisse insgesamt. Vor allen Dingen auch deshalb, weil der jugendliche Entwicklungsprozess durch staatliche Interventionen gestört wird, die deviante Verhaltensweisen verstärken (vgl. Graebsch 2009: 730). 2 Eine jüngere Studie vom Kriminologischen Forschungsinstitut in Niedersachen bestätigt die Theorie der differentiellen Kontakte von Sutherland: Wenn ein jugendlicher Insasse Beziehungen zu kriminellen Freunden oder Gruppen unterhält, steigt das Risiko, Gewalttäter zu werden bzw. zu bleiben um ein Fünfbis Zehnfaches. 5 „Sollten wir tatsächlich die Jugendgefängnisse abschaffen, Frau Zitzmann?“ Herr Berger schmunzelte. „Soweit ich weiß, ist dies im US-Bundesstaat Massachusets bereits geschehen (vgl. Feest, Paul 2008: 9). Lassen Sie mich jedoch fortfahren und bei den kleinen Schritten bleiben.“ 1.2 Zum Begriff „Alternative“ „Highly industrialised societies do not have too much internal conflict, they have too little“ (Christie 1977: 1). Eine Gesellschaft, in der es keine Konflikte mehr gibt, wird als bedrohlich angesehen, weil dies nur bedeuten kann, dass Konflikte zugunsten von Homogenität und Konsensverhalten unterdrückt werden und sich eine Gesellschaft nicht mehr weiterentwickelt. Eine lebendige Gesellschaft braucht aber Konflikte, um nicht im ständigen Verlangen nach umfassenderen Disziplinierungsmaßnahmen zu erstarren. So ist schwer vorstellbar, sich die „[...] ‚Lösung des Kriminalitätsproblems’ von der Art vorzustellen, daß die entsprechenden Ereignisse völlig verschwinden“ (Hanak, Stehr, Steinert 1989: 29). Welche Prämissen nun einer Alternative zugrunde liegen sollten, darüber gibt uns das in den Kriminalstatistiken nicht erfasste Dunkelfeld Auskunft. Im Gegensatz zu manch anderer Meinung findet hier nämlich nicht einfach die unentdeckte Kriminalität statt – von Menschen ausgeübt, die nicht imstande sind, ihre Konflikte autonom zu bearbeiten. Eine staatliche Intervention für eine Konfliktregelung ist somit – basierend auch auf dieser Annahme – nicht immer hilfreich. Der Soziologe Popitz warnt vor den Grenzen der Möglichkeiten staatlicher Interventionen und schildert, dass es eine totale Verhaltenstransparenz nicht geben kann, weil selbst in engen Beziehungen vieles im Dunkeln bleibt. „Davon kann ich ein Lied singen“, meldete sich ein Zuhörer spontan. Popitz bestreitet, dass ein System die lückenlose Aufklärung über deviantes Verhalten aushalten würde3, weil es sich zu Tode blamieren und seine Normen ruinieren würde. Die Nicht-Entdeckung von Normbrüchen für ein Normsystem und für die Sanktionskomponente hat nach seiner Auffassung eine schützende wie entlastende Funktion, wodurch die Solidarität der Gruppe und die freiwillige Normkonformität bewahrt bleiben (vgl. Popitz 1968: 60–72). Popitz erklärt also, warum Alternativen mit dem „alten Strafrechtsystem“ und den „alten Denkmustern“ wenig zu tun haben, also mit einem System, das überwiegend auf Überwachung und Kontrolle anstelle auf Selbstkontrolle und Selbstbestimmung setzt. „Eine Alternative ist dann ‚alternativ’, wenn sie nicht auf den Prämissen des alten Systems aufbaut, sondern auf Prämissen beruht, die in einem oder in mehreren Aspekten im Widerspruch stehen zum alten System“ (Mathiesen 3 Zum Beispiel beim sexuellen Missbrauch oder bei der häuslichen Gewalt. 6 1979: 168). Nur so könne die Alternative mit dem alten System konkurrieren und Neues hervorbringen. Da der Löwenanteil krimineller Handlungen zudem im Dunkeln bleibt, sind Dunkelfeldforschungen für die Suche nach Alternativen zum und im Strafrecht unverzichtbar. De facto ist eine Alternative anderen Alternativen voraus, wenn sie „[...] außerhalb des etablierten – empirischen und erprobten – Systems steht [...]“ und die (Mathiesen 1979: 172) Antworten weder vorgeben, noch die Widersprüche ausformen. Denn je mehr dies der Fall ist, desto mehr schwindet die Kraft einer Alternative, die vermeidet, dass das Neue vollendet, ja fertig ist. Mathiesen bezeichnet eine Alternative dann als „unfertig“, wenn sie dem Neuen eine wirkliche Chance gibt (vgl. Mathiesen 1979: 172–179). „Ist moderne Kunst nach Mathiesen also eine Alternative zur Kunst der alten Meister?“ fragt ein Teilnehmer. „Schöner Vergleich, von vielen aber unverstanden, denn ...“ „Bevor wir zu philosophisch werden, Frau Zitzmann, wie sieht nun die Alternative mit dem Empowerment-Ressourcenansatz aus?“, fragt ein Teilnehmer. „Jedenfalls haben Neutralisationstechniken nichts damit zu tun.“ „Bitte was?“ „Jugendliche Täter schützen sich damit vor Selbstvorwürfen, vor Vorwürfen anderer und rechtfertigen ihr abweichendes Verhalten.“ Die amerikanischen Kriminologen, Sykes und Matza, unterscheiden fünf Techniken4. Sie helfen Jugendlichen weder mit Stress-Situationen klarzukommen noch unterstützen sie sie im Bestreben, in die soziale Teilhabe und in die Anbindung an konventionelle Aktivitäten zurückzufinden.5 Unabhängig davon, dass Neutralisationstechniken in ihren Bedeutungen vielschichtig sind (vgl. Hanak, Stehr, Steinert 1989: 24–25), sind sie aber keine Alternative im Sinne des Begriffs von Mathiessen, der abschließend formuliert: „Aber wir sind uns bewusst, all dieses ist schwierig und ungewiß“ (Mathiesen 1979: 194). 2. Theoretische Grundlagen 2.1 Konstruktivismus Industriegesellschaften brauchen also Konflikte und sie brauchen eine Konfliktkultur, um sich weiterzuentwickeln. Alternativen sind offen, flexibel und geben neuen Ansätzen eine Chance. Letzten Endes befähigt eine wirkliche Alternative Menschen, 4 1. Ablehnung der Verantwortung. 2. Verneinung des Unrechts. 3. Ablehnung des Opfers. 4. Ver- dammung der zu Verdammenden. 5. Berufung auf höhere Instanzen. 5 Vgl. Hirschis Bindungskonzept: Je höher der Einbindungsgrad an konventionelle Aktivitäten und Werte ist, desto fester sind die Übereinstimmung mit und der Glaube an gesellschaftliche Werte und Normen (Hirschi 2002: 110–116). 7 mit Konflikten konstruktiv umzugehen und eine Konfliktkultur zu entwickeln. Staatliche Systeme sollten demzufolge Partizipationschancen und Perspektiven eröffnen, unabhängig von Bildungsstand, Geschlecht, Alter, Nationalität. „Ob die momentan diskutierte Bildungschip-Karte diesem Anspruch gerecht wird, bezweifle ich.“ Warum? „Weil Erziehungsberechtigte dadurch entmachtet werden.“ „Ist es so nicht auch mit der Macht des Strafrechts, das eigentlich auf der Entmachtung der Opfer beruht? Opfer finden selbst nach der Verurteilung der Täter nicht wirklich ihren Seelenfrieden.“ Mehr Selbstkontrolle, weniger Fremdkontrolle – das entspricht nicht nur dem Empowerment-Konzept, sondern ist eine wichtige erkenntnistheoretische wie lerntheoretische Voraussetzung zur Steigerung der allgemeinen Kreativität im Umgang mit Konflikten. Im allgemeinen Teil habe ich die Medienmacht angesprochen, die verzerrten Kriminalitätswahrnehmungen. Jetzt möchte ich die Medaille umdrehen: Rezipienten – wie alle Menschen, auch Mike und Tommy – sind keine hilflosen Medien-Schafe, sondern Teil einer Menge von aktiv Sehenden, Hörenden, Selektierenden und Produzierenden ihres eigenen Wissens. Es reicht also nicht aus, Medien, Politik, Justiz zu schelten und ihnen die alleinige Schuld für Kriminalität, für hohe Rückfallquoten, für steigende Hartz-IV-Empfänger zu übertragen. Da der Denkansatz des Konstruktivismus wichtig ist, wenn es um Alternativen und um alternative Trainings- und Bildungskonzepte geht, wenden wir uns kurz dieser Denkweise zu. Zu den wohl bekanntesten Konstruktivisten unseres Jahrhunderts zählen Dewey, Bridgman, Ceccato und Piaget. Den kantigen Begriff „Konstruktivismus“ könnte man mit Wirklichkeitsforschung übersetzen, womit sich die ewige Suche nach dem, was wirklich oder Wirklichkeit ist, verbindet. Die konstruktivistische Denkweise macht den Menschen allein für sein Denken, Wissen und Tun verantwortlich. Der radikale Konstruktivismus, macht uns darüber hinaus auf unkonventionelle Art und Weise klar, dass sich Wissen und Erkenntnis, weil es auf der Grundlage eigener Erfahrungen konstruiert wird, nur in den Köpfen der Menschen abspielen kann. Comic-Star Hägar erklärt uns diesen Umstand so: „Wenn ein Baum im Wald gefällt wird und niemand ist da, der’s hört – macht es da ein Geräusch? Ja! Wie kannst du das wissen? Darum – ich war einmal dabei“ (Hargens 2003: 28 f.). Lernen und Verstehen sind Interpretationen und „Konstrukte“ unserer erlebten Welt. Wenn wir das Begreifen und Verstehen der Welt, in der wir leben, uns selbst zu verdanken haben, kann demzufolge nur jeder Mensch für sich selbst die Verantwortung für „seine Welt“ übernehmen. Der radikale Konstruktivismus ist keine 8 Ideologie, sondern eine Denkweise, die helfen soll mit unserer Welt klarzukommen (vgl. Glasersfeld 1996: 22–25, 49–51). Wie schwierig es mit dem Konstruktivismus aber ist, verdeutlicht uns folgendes Beispiel: „Ein Schlüssel ‚paßt’, wenn er das Schloß aufsperrt. Das Passen beschreibt die Fähigkeit des Schlüssels, nicht aber das Schloß“ (Watzlawick 2010: 36). Wer für eine Gesellschaft passt und in dieser überlebt, hängt vom jeweiligen „Schloss“ und den (geforderten) Anpassungsleistungen der „Schlüssel“ ab. Am Bespiel Mike und Tommy sagt aber der Sanktionsschloss „Sichern und Bestrafen“ noch lange nichts über die wirklichen Fähigkeiten der beiden aus. Das soziale Problem, das die Gesellschaft mit den beiden hat, ist demnach eine Interpretation, ein Konstrukt, das von außen an sie herantragen wird. Die Interpretation kann dabei je nach gesetzlichem und moralischem Standpunkt entweder ganz aus der Luft gegriffen sein oder sich auf Merkmale beziehen, die dem Phänomen Gewalttat (mangelnde Impulskontrolle, Hyperaktivität, bildungsfernes Milieu) innewohnen, die zuvor jedoch noch als Problem identifiziert und definiert werden müssen. Vom konstruktivistischen Standpunkt kann es in einem Strafverfahren demnach keine „Wirklichkeit“ geben: Es geht um Selektionen, Definitionen und Interpretationen wie wir im Fall Mike und Tommy verfolgen können. Rückfall-Prophezeiungen schaffen im Übrigen weitere Voraussetzungen für Situationen, sich deviant zu verhalten: „Die Prophezeiung des Ereignisses führt zum Ergebnis der Prophezeiung“ (Watzlawick 2010: 93). Derartige Verkehrungen von Ursachen und Wirkungen krimineller Verhaltensweisen werden in einem Strafprozess weder verhandelt noch geklärt. Allgemein lehrt uns der Konstruktivismus, dass es den Traum von der „neutralen Wirklichkeit“ nicht geben kann. Fragen nach der objektiven Kriminalitätsrealität, unabhängig davon, welche Handlung als ‚kriminell’ bezeichnet wird, greifen darüber hinaus ins Philosophische. Nicht einfacher wird es mit dem Begriff, wenn die sozialwissenschaftliche Sichtweise hinzukommt, die Kriminalität als ein schwer definierbares Sammelsurium von unterschiedlichen Tatbeständen betrachtet, deren Erkenntnisse von Definitionen abhängig sind. Letztendlich ist Kriminalität also zweckgebunden, denn ähnliche Geschehensabläufe werden manchmal als kriminell, manchmal als Heldentat und manchmal überhaupt nicht definiert. „Dennoch muss es Prinzipien geben, nach denen eine Gesellschaft funktioniert und Verhalten regelt“, meldete sich Herr Berger. „Dass man deshalb aber bestimmte Formen von Abweichungen als kriminell bezeichnet, ist sicher nicht zwingend. Ich denke da z. B. an Homosexualität, die lange Zeit in Deutschland einen Straftatbestand dargestellt hat.“ In der Pause wurde lebhaft weiterdiskutiert. 9 3. Der Empowerment-Ressourcenansatz für Konfliktbearbeitung Der radikale Konstruktivismus versteht sich als ein Modell zur Gewinnung von Wissen und Erkenntnis, durch das Menschen in die Lage versetzt werden, sich aufgrund ihres „eigenen Erlebens eine mehr oder weniger verlässliche Welt zu bauen“ (Watzlawick 2010: 37). In diesem Moment geht es dann nicht mehr darum, was man mit ihnen tut, sondern darum, dass ihnen ein Weg eröffnet wird, der sie zu dem Ziel führt, das sie erreichen wollen. So betrachtet ist es irrelevant, ob der Schlüssel nun ins Schloss passt oder nicht (vgl. Watzlawick 2010: 31). Somit eignet sich der radikale Konstruktivismus meines Erachtens als theoretische Grundlage für die Entwicklung von ressourcenorientierten Trainingskonzepten. 3.1 Eine Reise zu den Ressourcen ... „Was sind Ihre Lieblingsressourcen?“ „Money, Wissen, Liebe, Freundschaft, Optimismus.“ Nach dem Brainstorming fuhr ich fort. Es gibt etliche Definitionen zum Begriff „Ressourcen“. Grundsätzlich sind Ressourcen „[...] keine eingelagerten Dispositionen, sondern aktive Konstruktionsleistungen unseres emotional geprägten Wahrnehmens und unseres individuellen und sozialen Handelns“ (Herriger 2010: 94). Ressourcen sind Kraftquellen, von denen Menschen in Veränderungsprozessen profitieren und den damit verbundenen Stress bewältigen können. Ressourcenkräfte entfalten sich mit der Bewältigung konkreter Aufgaben, mit ihrem zugemessenen Nutzwert in Bezug auf ihre Funktionalität für die Erreichung des Ziels, mit der Bewertung durch die Umwelt und mit dem Sinn, den ihr die betroffene Person zuschreibt. Wenn ein Richter z. B. keinen Sinn darin sieht, dem jugendlichen Gewalttäter einen erneuten Vertrauensvorschuss zu gewähren, weil es zum wiederholten Bewährungswiderruf gekommen ist, wird er von der Ressource „Vertrauen“ bei einer erneuten Verhandlung wohl kaum mehr Gebrauch machen: Sie hat sich in diesem Zusammenhang schlicht nicht bewährt. „Wie wahr, wie wahr.“ „Habe ich ins Schwarze getroffen?“ Ein Teilnehmer nickte freundlich. Unter dem Begriff Ressourcen formieren sich alle Quellen, die helfen, mit Alltags- und Berufsbelastungen umzugehen. Man unterscheidet personale, individuelle und soziale Ressourcen, aus denen sich konkrete Fähigkeiten zur Bedürfnisbefriedigung, zur Bewältigung von altersspezifischen Aufgaben und zur Realisierung von langfristigen Identitäts-Zielen herausbilden können. Zu den Potentialen zählen materielle und immaterielle Ressourcen wie Bildung, Gesundheit, Kapital- und Wertpapierbesitz, Grundbesitz, soziale Netzwerke, Arbeitsplatzqualität sowie Talente, 10 Anpassungsfähigkeit, Empathie, Konfliktfähigkeit (vgl. Herriger 2010: 95–98). Man spricht von militärischen, körperlichen, geistigen Ressourcen oder von Ressourceneffizienz. Der Begriff hat vielfältige Bedeutungen und Auswirkungen: Was für die einen von Nutzen ist, stellt für andere eine Bedrohung dar. In diesem Zusammenhang ist die Frage nach der Ressource „Strafrecht“ interessant, d. h. ob das Strafrecht mit den Rechtsnormen, auf die es sich stützt, eine Ressource zur tiefen Konfliktbearbeitung sein kann? Gemessen an dem, dass eine Alternative „alternativ“ ist, wenn sie nicht auf Prämissen des alten Systems beruht, und ein „Sanktionsschloss“ die wirklichen Fähigkeiten von Mike und Tommy nicht kennt, halte ich das Strafrecht6 und den Sanktionsapparat für nicht geeignet, einen tiefen Konfliktbearbeitungsprozess in Gang zu bringen, in dem Menschen wie Mike und Tommy befähigt werden, alternative, konstruktive Reaktionen im Umgang mit Stress und Gewalt zu erlernen. Ich verwies auf die Begriffsdefinition von Mathiesen (S. 4 oben). Personale und immaterielle Ressourcen, auf die ich mich beziehen werde, sind – psychologisch betrachtet – Werkzeuge, die Mike und Tommy helfen, mit Belastungen umzugehen, und die ihnen Perspektiven eröffnen. In dem Film „Down by law“ von Jim Jarmusch wird z. B. die Ressource „Hoffnung“ in ihrer großen Bedeutung greifbar gemacht. Der Film handelt von gewalttätigen inhaftierten Männern, denen ein neuer Zellenkollege Perspektiven eröffnet, indem er ein Zellenfenster an die Wand malt: Empowerment wird sichtbar. 3.2 ... mit Empowerment Empowerment bezeichnet einen Prozess, in dem Menschen befähigt werden, ihr Leben aktiv, selbstbestimmt und verantwortungsbewusst zu gestalten. In einer Trainingsmaßnahme wird dieser Prozess von sozial kompetenten Trainern initiiert, indem sie ihre Führung sukzessive reduzieren und ihre „Macht“ loslassen. Da sich die meisten Menschen an autoritäre Machtstrukturen gewöhnt haben, lässt sich eine starke Führung durch die Verantwortlichen zu Beginn einer Trainingsmaßnahme allerdings nicht vermeiden. Einerseits müssen sie den Gestaltungsprozess eines Trainings streng steuern, andererseits die Teilnehmer permanent zum Selbst-Engagement auffordern, damit im Empowerment-Prozess Fortschritte erzielt werden. Von ihnen wird zudem erwartet, ihre eigene Macht zu kontrollieren und andere zu motivieren, ihre 6 Hinzu kommt, dass das deutsche Strafrecht auf philosophische Prinzipien des 19. Jahrhunderts zurückgeht (vgl. Schneider 2006: 399). 11 Ressourcen zu entdecken und Fähigkeiten herauszubilden.7 Hier wird bereits deutlich, dass an die Trainer von ressourcenorientierten Trainingsmaßnahmen hohe pädagogische wie menschliche Anforderungen gestellt werden. „Empowerment und Obszönitäten hätten etwas gemein, schrieb der amerikanische Gemeindepsychologe Julian Rappaport [...]: „You have trouble defining it but you know it when you see it“ (Bröckling 2004: 55). Der Begriff wie das Konzept stammen aus den USA. Bekannt wurde es 1976 durch das Buch „Black Empowerment“. Wichtige Impulse erhielt das Konzept durch den Emanzipationskampf der Afroamerikaner, durch verschiedene Richtungen des Feminismus, durch zahlreiche Selbsthilfegruppen, durch verschiedene Praxisfeldern sozialer Arbeit und durch „Graswurzelbewegungen“. Sie alle engagierten sich freiwillig für andere („to empower people“) und für sich selbst (Self-Empowerment) und traten für Autonomie, Freiheit, Eigenverantworwortung, gegen staatliche Bevormundung, Überwachung und Kontrolle ein (vgl. Bröckling 2004: 55–57). Der Begriff wird aufgrund seiner Komplexität nicht ins Deutsche übersetzt: Selbst-Bemächtigung oder Selbst-Befähigung kommen ihm am nächsten. Empowerment ist ein offenes, dynamisches Konzept, das sich vielfältigster Techniken und Handlungsstrategien bedient und sie miteinander verbindet. Empowerment-Prozesse vollziehen sich auf vier Ebenen: 1. Auf der individuellen Ebene: Hier wird auf der Basis der eigenen Biografie in Situationen der Machtlosigkeit nach Möglichkeiten gesucht, das Leben wieder selbst zu kontrollieren. 2. Auf der Gruppenebene: Hier geht es u. a. um Selbsthilfegruppen, um bürgerschaftliche Projekte, die sich in der Gemeinschaft neue Ressourcen zur Gestaltung der Umwelt erschließen. 3. Auf der institutionellen Ebene: Hier versucht man mit Hilfe von Empowerment Türen von Verwaltungen und Behörden für engagierte Bürger und ihre Einmischung aufzuschließen. 4. Auf die Gemeindeebene: Hier geht es um die Mobilisierung von kollektiven Ressourcen der Bewohner eines Stadtteils, um sie in ihrer Lebenswirklichkeit zu ermutigen, die Stimme zu erheben und ihre Bedürfnisse zu artikulieren“ (Herriger 1997: 86). Macht wird in den Empowerment-Theorien mit Kraft gleichgesetzt. Sie kann als eine „[...] expandierende Ressource verstanden werden“ (Bröckling 2004: 58), die auf die Kraft des Positiven setzt. Der Bürgerrechtler Jesse Jackson formulierte treffend: 7 Aus dem Handbuch für Trainer und Trainerinnen des Vereins Power for Peace e. V. in München. CHANGE ist ein Modellprojekt des Bundes im Rahmen des Programms „VIELFALT TUT GUT“. Jugend für Vielfalt, Toleranz und Demokratie“. 12 „You are not responsible for being down, but you are responsible for getting up“ (Bröckling 2004: 59 f.). Aus psychologischer Perspektive ist Empowerment ein Motivierungsprogramm mit dem Ziel, über erfahrene und selbst gesetzte Grenzen hinauszugehen. Das Programm kann auf jeder Ebene angewandt werden. Inhalte, Zielvorstellungen und praktische Umsetzungsmodelle des Empowerment-Konzepts liefern einen Gegenpol zum Konzept der „Gouvernementalität“, mit dem Michel Foucalut ein Zahnradgetriebe bestehend aus sowohl Regierungsmethoden als auch aus vielfältigen Machtverhältnissen in einer Gesellschaft beschreibt, in dem Menschen durch immer rigoroser werdende Disziplinar- und Kontrollmaßnahmen nach und nach ihre Seelen verlieren (vgl. Foucault 1994: 42). 4. Dem Neuen eine Chance geben Jugendliche Straftäter stammen vielfach aus einfachen wie prekären Verhältnissen. Wie können sie nun in multi-kulturellen und international vernetzten Gesellschaften, in denen es um komplexe Problemlösungen geht, traditionelle Denk- und Verhaltensmuster überholt sind und man sich laufend neuen Bedingungen anzupassen hat, zu Selbstkontrolle und -bestimmung gelangen sowie motiviert werden, ein straffreies Leben zu führen? Mike und Tommy werden lange Gefängnisstrafen verbüßen müssen. Nicht nur, dass der Gesellschaft dadurch wichtige Ressourcen (Lern- und Leistungsfähigkeiten, Interessen, Zukunftsoptimismus) fehlen und dass den beiden während der Haft wichtige Ressourcen (Vertrauen, positive Anerkennung, offene Weltsicht, Berufspraxis, gute Freunde, psychische Gesundheit) abhanden kommen – es ist unsere Aufgabe, sie in ihrem Veränderungsprozess zu unterstützen. „Aber wie sieht nun eine ressourcenorientierte Trainingsmaßnahme im Strafvollzug aus, von der Gewalttäter wie Mike und Tommy nachhaltig profitieren?“ Einzelne Teilnehmer nickten nachdenklich. Heute reicht es nicht mehr aus, widerspenstige Jugendliche verwahrlosen zu lassen, sie in den Wohlfahrtsstaat zu schicken, ihnen therapeutische Maßnahmen zu verordnen oder Schulbesuche zu erzwingen (vgl. Christie: 71). Eine Trainingsmaßnahme, basierend auf dem Empowerment-Ressourcenansatz, ist ein freiwilliges Angebot. Jenen, welche nicht daran teilnehmen wollen, welche die Maßnahme abbrechen oder sich nicht aktiv am Training beteiligen, dürfen keine Nachteile entstehen. Von den Trainern, die meist aus sozial-pädagogischen Berufsfeldern kommen, wird verlangt, dass sie mit kooperativen Lernmethoden vertraut sind, Wissen vermitteln können sowie selbst über soziale und individuelle Kompetenzen wie Geduld, Vertrauen, Mut, Kreativität, Flexibilität, Empathie- und Toleranzvermögen verfügen. Die Lehr- und Lern- 13 module passen sich darüber hinaus flexibel dem Lernfortschritt an, d. h. sie werden den Teilnehmern nicht übergestülpt, gewähren eigene Gestaltungsspielräume, ermöglichen Partizipation, dienen der Reflexion und Auswertung der eigenen Biografie sowie dem Erwerb von Wissen und der Verbesserung von Sprachkompetenzen. Das Curriculum stellt eine Art „unfertiger Leitfaden“ dar: Trainer wie Teilnehmer sind befähigt, das Konzept mit eigenen Anregungen zu erweitern, Module auszutauschen, neue Gedanken einzubringen, Methoden zu ergänzen. Damit ist die Herausforderung angesprochen, den eigenen Verstand einzusetzen, zu dem es nun wirklich keine Alternative gibt. Das pädagogische Konzept – wie ich bereits erwähnt habe – basiert auf konstruktivistischem Gedankengut; die Teilnehmer begegnen sich als „Menschen mit Seele“, mit Ressourcen, entwickeln Fähigkeiten und konstruieren ihre „Wirklichkeit”: eine Wirklichkeit, in der Freiräume existieren und Alternativen zu Gewalt vermittelt, geübt und erfahren werden. Der Empowerment-Ressourcenansatz ist lösungs- und nicht defizitorientiert. Er führt weder Teilnehmer vor, noch werden der Stoff oder alternative Konfliktlösungen vorgegeben, sondern der Weg zum Wissen ist ein aktiver und dynamischer Prozess des Verstehens, der entscheidend von den eigenen Erfahrungen und Aktivitäten im Streben nach sozialer Nähe abhängt. Denn: „Wo Leben ist, da ist stets eifrige und leidenschaftliche Aktivität. Wachstum ist nicht etwas, was man an ihnen tut, sondern was sie tun. [...] Die Entwicklung oder Schulung des Geistes kann daher nur erfolgen, indem eine Umgebung bereitgestellt wird, die zu solcher Betätigung herausfordert“ (Dewey 1993: 66). 4.1 Skizze eines Trainingskonzepts „Wenn Sie Lust haben, dann steigen Sie einmal auf den Tisch und lesen anderen ein Gedicht vor.“ Ich erklärte, dass das ressourcenorientierte Lernen von kreativen Ideen abhängt und empfahl den Film „Der Club der toten Dichter“, der dazu auffordert, andere Standpunkte bei der Betrachtung des eigenen Lebens einzunehmen. An einer Trainingsmaßnahme mit dem Empowerment-Ressourcenansatz im Jugend-Strafvollzug nehmen neben den jugendlichen Insassen, auch Justizvollzugsbeamte (in Zivilkleidung), Sozialarbeiter und Externe (engagierte Menschen aus der Gesellschaft) teil. Alle Teilnehmer befinden sich auf derselben „Machtstufe“: Sie werden in die Inhalte, Ziele und Methoden zu Beginn des Trainings eingeführt – mit Ausnahme des logistischen Rahmens (Pausen, Seminarzeiten, anstaltsinterne Sicherheitsvorkehrungen), der vorher mit der Institution und den Inhouse-Koordinatoren abgestimmt wird. Die Trainingsunterlagen umfassen: Arbeitsmappen, Methodentrainer, Portfolio. Der Methodentrainer enthält „geistige Werkzeuge“ zur Konfliktbe- 14 arbeitung, also Ressourcen. Dies sind Lernvorhaben, Gruppenarbeit, Rundgespräche, Mindmaps, Brainstormings, Worldcafé, Feedbacktechniken, Ablaufpläne zu den Rollenspielen, Konfliktmeetings- und -gesprächen sowie den „Fishbowls“. Das Portfolio ist eine Sammlung von Informationen und Auswertungen über die persönlichen Lernund Arbeitsfortschritte. Damit können alle Teilnehmer ihre Lernlaufbahn eigenständig reflektieren, evaluieren und dokumentieren. Diese Sammlung ist ein Tagebuch, das sich für das Lernen in Gruppen wie auch zum Selbststudium eignet. Es enthält Checklisten, Lernhilfen, Merk-, Arbeits- und Informationsblätter. Zusätzlich erhalten die Trainer nach ihrer Ausbildung8 ein Trainerhandbuch. Das Trainingsprogramm verfolgt das Ziel, die Teilnehmer zu befähigen, ihre Ressourcenpotentiale wahrzunehmen, zu aktivieren und zu nutzen, eine Team- und Konfliktkultur zu entwickeln und Konfliktstrategien zu erproben. Zu den großen Kompetenzbereichen von Sozial-, Emotional- und Selbstmanagement werden einzelne Lernmodule zu Themen wie Gruppendruck und -verhalten, positive und negative Außenseiter, Meinungsvielfalt, konstruktives Feedback, Vorurteile, Wut, Anti-StressStrategien, Zielkonflikte und –erreichung, soziale Netzwerke angeboten. Ein ressourcen- und lösungsorientiertes Training hat nichts mit einem Vorzeigeaktionismus zu tun und kann nicht mit den herkömmlichen Anti-Gewalt oder AntiDrogen-Programmen verglichen werden. Hier geht es um einen fördernden und motivierenden Gruppenprozess, der zur Stärkung und Herausbildung personaler Ressourcen führt. Je mehr ein Empowerment-Prozess fortschreitet, desto mehr weichen Vorurteile, Machtverhältnisse, Stigmatisierungen zugunsten einer Kommunikations- und Konfliktkultur: Jugendliche werden von den anwesenden Externen wie von den JVABeamten als ganz „normale Menschen“ mit guten Anlagen wahrgenommen. Umgekehrterweise erkennen jugendliche Insassen in ihrem „Feind“, dem JVA-Beamten, einen Menschen, der sie nicht nur wegsperrt, sondern jemanden, dem sie sich anvertrauen können und der sie unterstützen kann. Des Weiteren stärkt und bewegt der heterogene Austausch über Konflikte und Konfliktlösungsmöglichkeiten mit sozialkompetenten Erwachsenen und immer kompetenter werdenden Jugendlichen alle Teilnehmer – zuweilen erfahren sie von autonomen Konfliktbearbeitungsmöglichkeiten, die im Dunkelfeld gesellschaftlicher Verhaltensweisen verborgen liegen, was die Gruppensolidarität stärkt (S. 4 oben). Da die Ressourcenwelt prinzipiell unendlich ist, wird in ressourcenorientierten Trainings auf standardisierte Evaluationsverfahren zugunsten von offenen 8 Vgl. Ausbildungsrichtlinien und Qualitätsstandards des Vereins Power for Peace e. V. in München (Fuß- note S. 9) 15 Ressourceninterviews verzichtet. Neben der Erfassung eines individuellen Entwicklungsprozesses kann der kollektive Entwicklungsprozess einer Gruppe auf Ressourcenanteile untersucht werden, die sich erst im Laufe eines Gruppenprozesses herausbilden (vgl. Herriger 2010: 99–102). 5. Chancen und Risiken Ressourcen werden häufig falsch oder als die „Zauberpille“ für Kapazitäten zur Problemvermeidung und -bearbeitung verstanden, die allen Menschen zu jeder Zeit zugänglich sind und zugänglich gemacht werden können – unabhängig von Bildungsstand, Kapitalvermögen, Herkunft, Geschlecht. Da neoliberale Gesellschaften den Machtbegriff quantifizieren und Menschen nach dem Wert, nach dem was sie besitzen, nach ihrem schulischem und beruflichem Erfolg bemessen, dienen Ressourcen dazu, die damit verbundenen Chancen mit allen Mitteln zu nutzen und durchzusetzen. Es ist unbenommen, dass Privilegierte wirksamere und kostspieligere Ressourcen zur Lösung ihrer Probleme mobilisieren können: „[...] die Kette läuft so, daß man über die Ressource Geld verfügen muß, um sich die Ressource Anwalt leisten zu können, über die man an die Ressource Recht herankommt“ (Hanak / Stehr / Steinert 1989: 169). Zeit und Geld sind elementare Ressourcen, die im Hintergrund wirken, wenn es darum geht, sich andere Ressourcen wie z. B. Wissen zu erschließen. Die Ressourcennutzung ist ein kompliziertes Modell, das Chancen und Risiken in sich birgt. Eingangs erwähnte ich, dass das, was für den einen von Nutzen ist, für den anderen eine Bedrohung sein kann: Der eine gewinnt durch den Drogenhandel, der andere verliert aufgrund des Drogenkonsums. Keine Frage, der Empowerment-Ressourcenansatz birgt Risiken: Die einen werden betrogen, manipuliert, gemobbt, ausgebeutet, ihrer Lebensgrundlagen beraubt, derweil sich andere verbessern, bereichern, ihren Lebensstandard erhöhen, Erfolg haben und dominieren. Zuguterletzt wird sich der Staat sukzessive aus seiner sozialen Verantwortung zurückziehen, je selbstbestimmter seine Bürger werden. „Jetzt denke ich an den schwarzen Kontinent, von Aids und korrupten Systemen gebeutelt und in wirtschaftlicher Hinsicht allenfalls ein Zaungast, der am ausgestreckten Arm elendig verhungert.“ „Da wir alle um die Globalisierung und ihre Folgen nicht mehr herumkommen, stellt sich mir die Frage: Wie müssen wir mitmachen?“ „Eine Antwort für Deutschland ist doch: Besser sein und werden als die anderen, mehr Geld in zukunftsträchtige und anspruchsvolle Bildung und Forschung investieren. Nach intelligenten Konzepten in Sachen Armut, Klimaveränderung, 16 Kriminalitätsbekämpfung und Resozialisierung fahnden, Menschen zur Eigeninitiative ermutigen und sie dennoch nicht allein lassen.“ „So könnten sich doch geschwächte Regionen stabilisieren und Menschen wieder auf die Beine kommen.“ Ich unterbrach: „Toll, dass Sie für Deutschland zahlreiche ressourcenorientierte Möglichkeiten zur Konfliktbearbeitung empfehlen wie Bildung, Forschung, Eigeninitiative, Ermutigung.“ „Was würden Sie demgegenüber Mike und Tommy empfehlen?” „Eine milde Strafe würde das Opfer in einer Verkehrung von Ursache und Wirkung zum Mittäter machen. Dies käme einer Strafe für die Zivilcourage gleich.“ „Den wahren Tathergang zu verleugnen, war ein Versäumnis.“ „Das Gericht hat es nicht leicht: Einerseits gibt es das öffentliche Bedürfnis nach Vergeltung, was nicht mit der härtesten Strafe zu vergelten ist. Andererseits ist dies aber auch kein Recht zum endlosen Wegsperren.“ „Recht übt keine Rache aus.“ „Einem Menschen ist nicht vorzuwerfen, dass er zuschlägt, wenn er in einer emotionalen Extremsituation um sein Leben fürchten muss.“ Ich versuchte, von der aufgeheizten Diskussion abzulenken. Im Bewusstsein von Chancen und Risiken, die im Empowerment-Ressoucenansatz stecken, wird empfohlen, das jeweilige Problem isoliert und auf bestimmte Situationen bezogen zu betrachten sowie danach zu fragen „[...] wer welche Hilfsmittel zur Verfügung hat, um es zu bearbeiten“ (Hanak / Stehr / Steinert 1989: 168). In einer Trainingsmaßnahme mit dem Empowerment-Ressourcenansatz wird genau hierauf geachtet: Auf der individuellen und auf der Gruppenebene (S.10 oben) werden bestimmte Situationen der Teilnehmer betrachtet und gemeinsam in einer nicht stigmatisierenden Umgebung nach alternativen Reaktionen zur Gewalt gefahndet. „Böses“ wird mit Affirmation und positiver Bestätigung und nicht mit Konfrontation überwunden. So können sich alle Teilnehmer auf die Herausbildung ihrer Fähigkeiten zur konkreten Konflikt- und Stressbearbeitung konzentrieren (S. 12–13 oben). Darüber hinaus schafft die soziale Nähe zu Menschen, die in der Gesellschaft anerkannt sind, eine Lernumgebung, in der die Entwicklung des Geistes erfolgen kann (S. 12 oben). Nichtsdestotrotz: Problematische Verhaltensweisen von z. B. den Gruppentrainern wie fehlende Solidarität mit Lernschwachen, Minderbegabten oder Außenseitern, direkte oder unterschwellige Feindseligkeiten, wirken sich schädigend sowohl auf den Gruppenprozess, als auch auf das Trainingskonzept und die Trainingsziele aus (vgl. Schemmel 2003: 287). Diese Schädigungen können auf alle Ebenen des Empowerment-Prozesses einwirken (S. 10) und ihn zunichte machen. Dazu kommt, 17 dass ressourcenorientierte Trainings im Widerspruch zum Vollzugssystem stehen: In einer defizitorientierten Umgebung stellt diese Alternative eine wahre Herausforderung für alle Teilnehmer dar, das Gelernte zu verfestigen, zu optimieren und die Jugendlichen dabei zu unterstützen (S. 4 oben). Resümee und Ausblick Nach dem Motto: „Handle stets so, daß du die Anzahl der Möglichkeiten vergrößerst“ (Loth 2003: 40) und „[...] be responsible for getting up“ (Jessie Jackson) ist es für Mike und Tommy, die mittlerweile zu 7 und 10 Jahren Jugendstrafe verurteilt wurden, zunächst unumgänglich, das „[...] Unerträgliche als Ausgangspunkt zu akzeptieren“(Loth 2003: 41). So lernen sie den Umgang mit ihrer schwierigen Situation – vorausgesetzt sie machen positive Beziehungserlebnisse und werden von sozial kompetenten Bezugspersonen unterstützt. Vielfältigste Ursachenforschungen von Verbrechen und über Verbrecher (S. 1–4 oben) macht die Kriminologie zu einer interessanten und offenen Wissenschaft. Sie hat nicht nur die Pflicht, auf diese Ursachen hinzuweisen, sondern auch die Verantwortung, nach alternativen Reaktionen und Kontroll-Maßnahmen zu fahnden und diese zu unterstützen. Strafe dient der General- und Spezialprävention, wobei die Frage, ob die angestrebten Ziele – Festigung der Normtreue, Besserung der Straftäter, Abschreckung – durch Strafe erreicht werden können, weil die Strafgesetzgebung weder Verhaltenänderungen beachtet noch den Umgang mit Alternativen lehrt (S. 4–5 oben . Der Empowerment-Ressourcenansatz ist ein grundlegend neues Konzept im Bereich alternativer kriminologischer Reaktionen. Für den Ansatz gibt es zahlreiche Betätigungsfelder: Im Strafrecht im Rahmen von spezial-präventiven Trainingsmaßnahmen oder als gerichtliche Auflage im Rahmen von Diversionsmaßnahmen. Auf der Mikro- und Makroebene eines Gesellschaftssystems eignet er sich für mannigfache Maßnahmen zur Förderung von Demokratie, Toleranz und Vielfalt im Bereich von Erziehung und Bildung. Er eignet sich aber auch für Bürgerinitiativen in Bezug auf die Wahrnehmung und Durchsetzung von z. B. Elterninteressen, die sich vom Staat mit ihren Erziehungsproblemen im Stich gelassen fühlen. Ich selbst habe viele Konfliktsituationen mit Hilfe der Fähigkeit „to empower myself and others“ gemeistert. Als Schülerin, Co-Trainerin und Trainerin diverser Trainings in Gefängnissen und in Schulen in den USA wie in Deutschland erlebte ich die Wirkung des Ansatzes. Dieser Ansatz kann dazu beitragen, das Gruppendenken, das uns trennt, zu überwinden und uns veranlassen, neue Einsichten zu gewinnen und 18 neue Wege zu gehen. Der Empowerment-Ressourcenansatz fördert Hoffnung – die elementare personale Ressource gegen Gewalt, Hass und Vorurteile. Verbrechen – und das ist meine Hoffnung – sollte insofern nicht dämonisiert werden, sondern geduldig nach Ressourcen und Fähigkeiten zur Konfliktbearbeitung gesucht werden. Rückschläge, die es zweifellos zu bewältigen gilt, werden im Wissen „[...] all dies ist schwierig und ungewiß“ (S. 5 oben) mit zunehmender Gelassenheit und Geduld gemeistert. Mich könnte Hägar jetzt fragen: „Woher weißt du, dass der Ansatz funktioniert?“ Ich könnte ihm antworten: „Ich war und ich bin dabei!“ 19 Literatur Agnew, R. (1992): Foundation for a general strain theory of crime and delinquency. In: Criminology 30, 47–87. Christie, N. (1977): Conflicts as Property. In: The British Journal of Criminology 17, 1– 15. Christie, N. (1995): Grenzen des Leids, Münster. Dewey, J. (1993): Demokratie und Erziehung, Weinheim und Basel. Enzmann, D. / Brettfeld, K. / Wetzels, P. (2004): Männlichkeitsnormen und die Kultur der Ehre. In: Baier, Dirk / Pfeiffer, Christian (2007): Gewalttätigkeit bei deutschen und nichtdeutschen Jugendlichen – Befunde der Schülerbefragung 2005 und Folgerungen für die Prävention, Hannover. Foucault, M. (1994): Überwachen und Strafen, Frankfurt a. M. Glasersfeld, E. (1996): Radikaler Konstruktivismus, Frankfurt a. M. Graebsch, C. (2009): Der Gesetzgeber als gefährlicher Wiederholungstäter. 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