George Kubler / Die Form der Zeit / Kap. 54 (1962) The Shape of

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George Kubler / Die Form der Zeit /
(1962) The Shape of Time – Remarks on the History of Things
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Kap. 54
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(S.10) Boehme: Der Rekurs auf Form bedeutet nicht Begrenzung des Interesses auf diesen Aspekt
der Kunst, wie umgekehrt eine entgegengesetzte symbolische Bedeutungs- oder Inhaltsforschung
den Aspekt der Form ausspart.
Der Rekurs auf Form hält vielmehr die epochale Einsicht fest, dass alles, was Kunst an Bedeutung
von sich zu artikulieren vermag, an die Beschaffenheit ihrer Form zurückgebunden bleibt.
(S.10) Kubler: Die Formen der Kommunikation sind leicht zu trennen von jeder Inhaltsvermittlung.
In der Linguistik sind diese Formen Sprechlaute (Phoneme) und grammatikalische Einheiten
(Morpheme) …
(S.11) Boehme: Nicht zufällig steht am Beginn seiner Abhandlung (im Vorwort) eine Abgrenzung
von Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, nach der die Kunst eine symbolische Sprache
darstellt, die es erlaubt, sie als integralen Bestandteil der Geschichte einzugliedern.
Kunstgeschichte wird zur Bedeutungsforschung, zu der sie Panofsky, auf Cassirer fußend, dann
auch ausgebildet hat.
Demgegenüber hält Kubler die bahnbrechende Einsicht der formanalytischen Linguistik fest:
„Strukturen können unabhängig von Bedeutungen wahrgenommen werden“, und
Formen (zB. Phoneme) und ihre Variationen haben ihre eigene Geschichte.
(DG) Dieser Zugang ist für die Sicht der Diagrammatik & Graphematik zentral
(DG) Auch der Bezug auf Konzepte von Saussure scheint hier wichtig zu sein.
Siehe im Detail die Überlegungen zu Sinn, Bedeutung, Verwendungssinn
(S.18) Boehme: Überlegungen, wonach jedes Artefakt als Lösung eines Problems gesehen werden
kann, gestattet es, Merkmale des Werkes an einem Problemhorizont zu messen.
Merkmalvarianten bei Dingen gleicher Problemklasse deuten auf veränderte Lösungen oder
Wiederholungsregeln.
Das zugrunde liegende Problem gibt der geschichtlichen Vielfalt der Phänomene diejenige
Konstanz, die erforderlich ist, um die Veränderungen der Geschichte wahrzunehmen.
(DG) Der Ansatz der Problemgeschichte ist viel grundlegender als der Ansatz einer
Ideengeschichte. Zentrale Probleme werden mit jeder technischen und sozialen
Entwicklungsstufe neu behandelt und „gelöst“.
(DG) Der Problemhorizont der Diagrammatik gründet in Fragen der Repräsentation
bzw. der Ordnung diskreter Einheiten.
Der Problemhorizont der Graphematik fußt in Fragen der Verfolgung (und Repräsentation)
komplexer kontinuierlicher Erscheinungen.
Der Formenschatz (der Denkfiguren) wurde konkreten Erfahrungen mit Falten,
Flüssigkeiten, Nebel, Wolken, Gas, thermischen Erscheinungen, Elektrizität und feldhaften
Erscheinungen entnommen.
(S.18) Boehme (weiter): Soweit ausgeführt, zeigt Kublers historisches Modell die Struktur einer
Problemgeschichte, deren historische Tiefe, deren Beschleunigungen und Retardierungen, deren
Stillstehen, aber auch Ende, durch die Sequenz der Lösungsvorschläge gebildet werden, die
jedes Ding (der gleichen Klasse) mitpräsentiert.
Die Probleme und die darauf bezogenen Sequenzen ihrer Lösungen bilden Bestandteile einer Art
Theorie der historischen Zeiten, die durch >Arten zeitlicher Dauer< qualifiziert wird.
(DG) Mit Hilfe der Diagrammsammlung soll innerhalb einiger gut fassbarer DiagrammGrundtypen die Lösungsvarianten studiert werden.
Im Rahmen der Vernetzung kann man feststellen, dass oft sehr lange Sequenzen
entstehen, wenn bestimmte Aspekte differenzierend verfolgt werden.
In der Regel sind diese Sequenzen nicht historisch zu lesen; sie liefern aber sehr
einleuchtende Mutationsketten, die auch als Entwicklungsschritte gelesen werden könnten.
Wenn man bedenkt, dass entwicklungsrelevante Bezugnahmen sehr oft auf historischen
Artefakte fußen, sind auch sehr „gemischte“ Ketten plausibel.
Man denke nur an Entwicklungen in der Kunstgeschichte, die sich auf Artefakte beziehen,
die 1500 Jahre älter sind.
(S.18) Boehme: Freilich bedarf die Herleitung der Problem>kerne< und ihrer zeitlichen Folgen
einer näheren Begründung. Kubler führt dazu sogenannte Primärobjekte ein, die sich jeder
Zerlegung oder Herleitung widersetzen.
(S.19) Boehme: Dennoch meint Kubler nicht, dass mit Primärobjekten die Geschichte im wirklichen
Sinne beginnt. Sie sind vielmehr ausgezeichnete Wende-. Sammel- oder Einstiegspunkte in die
Geschichte, der sie zugehören, erkennbar daran, dass sie Vorgänger und Nachfolger haben, ihnen
auch neue Primärobjekte folgen können.
(DG) Die Ordnungsmuster so grundlegend sind und als Ornament bereits über 15.000
Jahre im Gebrauch sind, lassen sich Primärobjekte kaum noch feststellen.
Außerdem sind diese Ordnungsfiguren ja auch deshalb so spannend, weil in allen Kulturen
sehr ähnliche Strukturen als nützlich erachtet wurden.
(S.19) Boehme: Kubler gebraucht für die historischen Prozesse einmal die Metapher eines
Eisenbahnnetzes, bei dem es günstigere oder weniger günstige >Einstiegsmöglichkeiten< gibt,
Punkte, an denen sich Problemknoten schürzen, und wiederum andere, wo alles getan ist (oder
getan erscheint), d.h. einer Lösung nicht mehr bedarf.
(DG) Diese Metapher bestätigt sich auch in der konkreten Vernetzungsarbeit der
Diagramm-Beispiele. Manche Diagramme finden sich am Kreuzungspunkt von mehreren
Aspektsträngen. Manche sind daher auch als „strukturelle Superlative“ immer wieder
prototypisch zitiert. Damit sind also sehr gelungenen Lösungen gemeint.
Vielschichtige Lösungen wären also auch in Bezug auf die Problemausgangslage
vielschichtig aufzufassen.
Im Sinne der Ordnungsstrukturen, würde Vielschichtigkeit in der Regel auch auf strukturell
hybride Exemplare verweisen.
(DG) Die Diagrammatik scheint auch für die Problemsicht sehr spannend zu sein: So kann
die Reihenstruktur für inhaltliche Sequenzen stehen, für Sortierungen, Abzählungen, für
zeitliche Ordnung, mathematische Reihen, räumliche Folgen, topologische Beziehungen, …
Es sind also strukturale Mehrzwecklösungen.
(S.19) Boehme: …. Formermüdung als eine Weise historischer Existenz
(DG) Dieser Begriff scheint zB. bei den sgn. Geschäftsdiagrammen angebracht. Seit über
20 Jahren werden wir mit banalsten Varianten überschwemmt, wobei die Gestaltungen
durch die Software mehr beschränkt als unterstützt werden.
(S.19) Boehme: Dieses strukturale Modell des historischen Ablaufs von Dingklassen erlaubt einige
Gesetzmäßigkeiten über historische Abläufe festzuhalten, eine Art >Gesetz der Reihe<
aufzustellen, wonach jede Innovation das historische Spektrum einer Reihe verkürzt.
(DG) Ähnlich wie bei den Mutterstrukturen (der Bourbaki) könnte von Strukturen bzw.
strukturellen Ansätzen gesprochen werden, die sich nicht aufeinander zurückführen lassen.
Diese „Basisreihen“ der Elementarordnungen werden also, sobald sie entdeckt und
angewendet wurden, nicht so ohne weiteres wieder verschwinden.
In Hybridvarianten werden sie immer wieder auftauchen und weiter gepflegt werden.
So gesehen müsst man also bestimmte Formungsansätze auseinander halten.
Schmückende Variationen, bzw. ästhetische Abwandlungen sind anders zu behandeln,
als topologische Grundstrukturen.
(S.20) Boehme: Kublers Versuch stellt die Kunstgeschichte auf die Basis einer Problemgeschichte.
(S.20) Boehme: Der Entwicklungsgedanke, der seiner Geschichtsschreibung zugrunde liegt,
orientiert sich weder an organischer Finalität noch am Fortschritt, sondern an der zeitlichen
Relation, die sich zwischen Problem und Sequenz auftut.
(DG) In Bezug auf die Diagrammgrundtypen ist es auch spannend zu betrachten, wie
die einzelnen Sequenzen aufeinander einwirken und damit Hybride Formen erzeugen.
Diese Wechselwirkungen paralleler Erscheinungen sind ja gerade auch bei Kubler ein
zentrales Thema.
(S.21) Boehme: Es bleiben Fragen, die – zu ihrer weiteren Entwicklung – abschließend gestellt
werden sollen. Sie betreffen einmal das Konzept der Problemgeschichte. Sicherlich erlaubt es
Schwierigkeiten zu vermeiden, welche die Stilgeschichte scheitern lassen. Allerdings um den Preis,
die Kunstentwicklung als Variation einer endlichen Gruppe von Problemen zu begreifen.
(DG) Das Konzept von Kubler scheint für die Diagrammatik/Graphematik ohne >wenn
und aber< brauchbar zu sein. Wenn sich ästhetische Fragen in den Vordergrund stellen,
scheint es nicht so einfach zu sein, das (künstlerische) Ausgangsproblem zu formulieren.
(DG) Anhand der Studien zur AnDiagrammtik & Atmosphärik kann jedoch gezeigt werden,
dass auch die Fragen des „Schwebens“, „gerade noch nicht fallen“ … etc. auch als
Wahrnehmungs- und Darstellungsproblem formuliert werden können.
Es geht dann zB. um die „statische“ Repräsentation komplexer Abläufe, Gesten und
Ausdrucksformen. Auch bei diesen Fragen können u.a. technische Entwicklungen im
Bereichen der Medientechniken neue Darstellungsmuster begünstigen oder auch
verschüttete Formen wieder in Erinnerung bringen.
(S.21) Boehme stellt in Bezug auf das Einzelwerk noch folgende Frage: …. Ob damit dem
Ereignischarakter der Geschichte, dem Einschlag von Zufall und Notwendigkeit, auch im
gelungenen Werk, schon Genüge getan wurde, darf gefragt werden.
Ebenso: ob die >Lektüre< jeweiliger Dinge im Hinblick auf einen Problemraster ihre individuelle
Komplexität voll auszuschöpfen erlaubt.
Es ist weniger die Frage: wie lässt sich das konkrete Werk klassifikatorisch behandeln?, als die
andere: ist das Schema von Problem und Lösungskette differenziert genug, um den individuellen
Kern eines Werkes zu erreichen, seinen >primären Status<?
(DG) Ich würde meinen, dass diese Frage davon abhängt, wie weit man den Problembegriff
fassen und detaillieren will. Ein sehr vielschichtiger Begriff führt dazu, dass jedes Werk je
Aspekt in eigenen Sequenzen zu finden sein wird, also in jedem Falle eine komplexe
Netzstruktur über die Ketten hinweg zu handhaben wäre.
(DG) Der Primäre Status könnte sich als „Anfangsposition“ zeigen, als hoch vernetzte
Position (durch Relevanz für mehrere Aspekte), oder als zentrale Gabelungsstelle.
Manche Lösungen zeichnen sich gerade auch dadurch aus, dass sie sich der einfachen
bzw. offensichtlichen Nachbarschaft entziehen und nur mühsam Bezugnahmen möglich
sind, bzw. nur sehr weitgesteckte abstrakte Bezugnahmen erfolgen können.
Diese spannungsreiche „Übersetzerposition“ ist es jedoch auch, die weitere Lösungen
und Zwischenglieder „generiert“, da jeder Lesevorgang eine kreative Herausforderung
für jedes Wahrnehmungssystem darstellt.
Die Einzigartigkeit (die Innovation) drückt sich also gerade auch durch die Fehlstellen in
unmittelbarer Nachbarschaft aus.
(DG) Für Diagramme scheint also der Ansatz von Kubler einfacher formulierbar als für die
Darstellung von komplexen Physiognomien. Die treffende und „lebendige“ Darstellung in
mimetischen Arbeiten, misst sich an realen Erscheinungen und ist nicht so einfach im
Rahmen einer Problemgeschichte zu verorten.
Der Einsatz der Lichtführung, der Umgang mit Unschärfe, mit Glanzerscheinungen,
haptischen Qualitäten des Materials … etc. lässt sich aber auf jeden Fall auch in Reihen
denken und darstellen.
Dabei werden dann aber weniger die „großen“ Formen diskutiert, sondern Detaillösungen.
Reife Bilder können also mehrdimensional wichtige Stellen in Sequenzen besetzen.
Es ist also wichtige die Betrachtungen und die Darstellung als Sequenz auf ganz bestimmte
Aspekte zu beschränken.
(S.29) Kubler: Cassirers einseitige Definition der Kunst als einer symbolischen Sprache hat die
Kunstforschung unseres Jahrhunderts beherrscht. So wurde eine neue Kulturgeschichte ins Leben
gerufen, die das Kunstwerk als einen symbolischen Ausdruck zur Grundlage hat. Auf diese Weise
wurde die Kunst mit der übrigen Geschichte in Verbindung gebracht.
Doch der Preis dafür war hoch, denn während die Bedeutungsforschung unsere ganze
Aufmerksamkeit auf sich zog, wurde die andere Möglichkeit, Kunst als System formaler
Beziehungen zu definieren, vernachlässigt.
(S.29) Jede Bedeutung verlangt einen Träger, ein Vehikel, einen Anhalt.
(S.29) Strukturen können unabhängig von Bedeutung wahrgenommen werden.
Wir wissen besonders aus der Linguistik, dass Strukturelemente im Laufe der Zeit mehr oder
weniger regelmäßigen evolutionären Veränderungen unterworfen sind, ohne dabei die Bedeutung
zu betreffen.
(S.30) Ähnliche Gesetzmäßigkeiten bestimmen wahrscheinlich die formale Infrastruktur
jeder Kunst.
(S.30) Das Ziel der folgenden Seiten ist es, die Aufmerksamkeit auf einige morphologische
Probleme der zeitlichen Dauer von Serien und Sequenzen zu lenken.
Diese Probleme entstehen unabhängig von Bedeutung und Bild.
(S.35) Stil beschreibt eher bestimmte Figurationen im Raum als irgendeine Existenzform in der
Zeit.
(S.42) … die >Geschichte der Dinge< soll dazu dienen, Ideen und Gegenstände unter dem
Oberbegriff der visuellen Form wieder zu vereinen: der Terminus beinhaltet sowohl Artefakte als
auch Kunstwerke, einmalige Werke und Repliken, Werkzeuge und Ausdrucksmittel, kurz gesagt alle
Arten von Material, die von Menschenhand bearbeitet worden sind, geleitet von verbindlichen
Ideen, die sich im Laufe einer zeitlichen Sequenz entwickelt haben.
Aus all diesen Dingen lässt sich die Form einer Zeit ablesen.
(S.42) (DG) Diese Trennung von Kunst und Wissenschaften geht zurück auf die Unterscheidung
von freien und angewandten Künsten. Daraus ergeben sich bedauerliche Folgen:
(Kubler:) Eine sehr wesentliche ist, dass wir sehr lange gezögert haben, die Prozesse, die Kunst
und Wissenschaft gemeinsam sind, unter derselben historischen Perspektivierung in den Blick zu
nehmen.
(S.45) Vornehmste Aufgabe und Leistung des Historikers ist die Erforschung der vielfältigen
Formen von Zeit.
(S.48) Um 1920 setzte eine andere Angriffsstrategie die >schöne Kunst< außer Gefecht: die
Exponenten des industriellen Design, die die Forderung nach einem umfassend guten Design
predigten und sich einem zweigeteilten Bewertungsmaßstab für Kunstwerke und
Gebrauchsgegenstände widersetzten.
So wurde allmählich die Idee der ästhetischen Einheit aller Artefakte verwirklicht, statt einige
wenige auf Kosten aller anderen überzubewerten.
(S.52) Unsere Signale aus der Vergangenheit sind nur sehr schwach, unsere Mittel und
Möglichkeiten, ihre Bedeutung zu erschließen, sind noch sehr unvollkommen. Am schwächsten und
unklarsten sind jene Signale, die aus den Anfangs- und Endphasen von Ereignissequenzen
stammen, denn wir haben noch sehr unsichere Vorstellungen von einer kohärenten Einteilung der
Zeit. Die Anfänge sind viel verschwommener als die Endpunkte, die sich zumindest durch den
katastrophalen Verlauf eines äußeren Ereignisses festlegen lassen.
(DG) Ordnungsformen nehmen eine Sonderstellung ein, da ihre Verwendung
nicht auszulaufen scheint. Jede „neue“ Repräsentationstechnik, muß auf einen bestimmten
Fundus aufsetzen. Die diagrammatischen Grundformen finden sich also in vielen
„Anwendungen“. Ihre a-semantische Nützlichkeit und ihr an-ästhetisches
Ordnungsangebot, scheint Garant für überzeitliche Relevanz zu sein.
(S.54) Die physikalische Substanz dieser Dokumente erreicht qualifizierte Beobachter oft erst nach
Jahrhunderten oder Jahrtausenden.
(S.54) Wenn ein bedeutendes Kunstwerk durch Zerstörung oder Entfernung aus seiner
ursprünglichen Umgebung verschwindet, können wir immer noch seine Auswirkungen auf andere
Gegenstände seines Einflussbereichs feststellen.
Insofern ähneln Kunstwerke Gravitationsfeldern, die sich zusammenballen: in der Kunst bilden sich
>Schulen<.
(S.56) Man kann vergangene Ereignisse als kategoriale Erschütterungen unterschiedlicher
Größenordnung ansehen, deren Erscheinen durch ihnen innewohnende Signale angezeigt wird,
analog zu jenen kinetischen Energien, die eine Masse am Fallen hindern.
Diese Energien durchlaufen mehrere Transformationen zwischen dem ursprünglichen Ereignis und
der Gegenwart.
(S.57) Wir interessieren uns hier hauptsächlich für die Signale und ihre Transformationen, denn auf
diesem Gebiet entstehen die traditionellen Probleme, die die Geschichte der Dinge durchziehen.
So ist beispielsweise ein Kunstwerk nicht nur das sichtbare Resultat eines Ereignisses, sondern es
ist sein eigenes Signal, das direkt andere Schaffende dazu anregt, diese Lösungsmöglichkeiten
auch zu versuchen oder zu verbessern.
(S.69) Eine … Aufteilung der Geschichte entlang struktureller Linien, die markiert sind durch die
Grenzziehungen zwischen Typen formaler Organisation, hat bei fast allen Kunstforschern und
Archäologen des zwanzigsten Jahrhunderts eine zurückhaltende Zustimmung gefunden.
(S.71) Abschnitt: Formale Sequenzen
Jedes bedeutende Kunstwerk kann als ein historisches Ereignis angesehen werden und als die
schwer erarbeitete Lösung eines Problems. Dabei ist es irrelevant, ob dieses Ereignis originell oder
konventionell, zufällig oder gewollt unbeholfen oder geschickt war.
Entscheidend ist, dass jede Lösung auf die Existenz eines Problems verweist, für das es bereits
andere Lösungen gegeben hat, und dass es andere Lösungen zu diesem Problem geben wird, die
auf ähnliche Weise gefunden werden, um die jetzige abzulösen.
In dem Maße, wie sich Lösungen häufen, ändert sich das Problem. Aus der Lösungskette lässt sich
jedoch das Problem erschließen.
(DG) Was heißt es also, wenn neben SemaSpace einige andere Bildvernetzungsprogramme
verfügbar werden? Das „Problem“ der Begriffsvernetzung hat sich zum „Problem“ der
Bildvernetzung gewandelt.
Spannend ist dabei, warum diese Problemstellung so lange auf eine softwaretechnische
Umsetzung warten musste. Der Vernetzungsansatz wäre der gemeinsame strukturelle
Nenner.
(S.71) Lösungsketten
Man kann das Problem, das sich aus einer Sequenz von Artefakten erschließen lässt, als eine
geistige Form bezeichnen und die Lösungskette als deren Daseinskategorie. Diese Einheit, die
sich aus dem Problem und seinen Lösungen zusammensetzt, konstituiert eine Formkategorie.
Das Problem der „Bildvernetzung“ und die verfügbaren repräsentationstechnischen
Lösungsansätze zur Bildvernetzung konstituieren eine Formkategorie.
So gesehen könnte jede Diagrammgrundtype als eine Formkategorie aufgefasst werden.
(S.72) In den folgenden Abschnitten dieses Buches werden die vielfältigen Möglichkeiten erörtert,
in denen Lösungsketten Zeit umfassen. Sie enthüllen einen begrenzten, jedoch unerforschten
Bereich geistiger Formen. Die meisten von ihnen sind immer noch offen für eine Weiterentwicklung
durch neue Lösungen.
Einige sind abgeschlossene, vollständige Reihen, die der Vergangenheit angehören.
(DG) Alle diagrammatischen Grundtypen scheinen noch offen für weitere Nutzungen bzw.
Entwicklungen. Kubler spricht von Sequenzen, wenn eine weitere Entwicklung zu
erwarten ist.
(S.72) (In Anlehnung an die Mathematik) …. Daher impliziert die Reihe eine in sich geschlossene
Gruppierung, eine Sequenz hingegen stellt sich als eine offene, expandierende Kategorie dar.
(S.72) Im allgemeinen überschreitet es die Fähigkeiten eines einzelnen Menschen, das
Möglichkeitspotential einer formalen Sequenz auszuschöpfen.
(S.72) Die mathematische Analogie zu unseren Untersuchungen ist die Topologie, die Geometrie
von Verhältnissen, die nur aus Flächen und Richtungen bestehen, nicht aber aus Größenordnungen
und Dimensionen.
(DG) Das trifft sich natürlich ganz wunderbar mit dem Analysegegenstand im Rahmen
der Diagrammatik. Andererseits kann man gerade hier Analysegegenstand und
Analysemethoden leicht verwechseln.
(S.73) Im Zusammenhang mit dieser Untersuchung sind die Grenzen einer Sequenz festgelegt
durch die Lösungskette, die frühe und späte Stadien der Beschäftigung mit einem Problem
beschreibt.
(S.73) Die Sequenz kann nur dann fortgesetzt werden, wenn dem Problem durch neue Bedürfnisse
ein größerer Spielraum eröffnet wird.
In demselben Maße, in dem das Problem expandiert, werden auch die Sequenz und ihre früheren
Abschnitte in die Länge gezogen.
(DG) das repräsentationstechnische und analytische „Bedürfnis“ Netzwerkstrukturen auch
für Bildanalysen fruchtbar zu machen, erweitert also die Sequenz dieses
Diagrammgrundtyps. Eine viel radikalere Erweiterung wäre der Übergang von einer
diagrammatischen in eine graphematische Sichtweise. Im Falle einer „bewussten“ Dehnung
könnte man von einer Erweiterung der Sequenz sprechen.
Erkennt man erst nach Jahren den „fruchtbaren“ Zusammenhang, dann würde man eher
von Wechselwirkungen zwischen Sequenzen (oder abgeschlossenen Reihen) sprechen.
(S.73) Offene und geschlossene Sequenzen
Wenn Probleme keine Aufmerksamkeit mehr auf sich lenken und keiner neuen Lösungen für wert
befunden werden, so kommt die Sequenz der Lösungen während einer Periode der Interaktivität
zum Stillstand.
Doch jedes Problem der Vergangenheit kann unter neuen Bedingungen reaktiviert werden.
(DG) Vergl. dazu Landkartenprojektionen: Mit Softwareunterstützung ist es heute möglich
jeden projektionstechnischen Spezialfall auf Relevanz zu überprüfen. Jene Entwicklungszweige, die manuell zu aufwändig waren, können nun reaktiviert und allgemein praktiziert
werden.
(S.74) Die Methode, die diesen Überlegungen zugrunde liegt, ist analytisch und gliedernd, nicht
synthetisch. Sie verwirft jeden Gedanken an ein regelmäßiges zyklisches Geschehen nach dem
Muster der >notwendigen< stilistischen Reihe, die auf der biologischen Metapher der archaischen,
klassischen und barocken Phasen beruht.
Die Klassifizierung der Sequenzen setzt einen inneren Zusammenhang der Ereignisse voraus und
Erweist dabei gleichzeitig das Sporadische, Unvorhersehbare und Unregelmäßige ihres Eintretens.
(S.74) (Solche …) Biographien bilden einen notwendigen Teil der Rekonstruktion, die formale
Sequenz jedoch bezeichnet Ketten von verbundenen Ereignissen aufgrund einer Analyse, die von
uns das Gegenteil verlangt: den einzelnen zu verstehen aus dem Zusammenhang seiner Situation.
(S.75) …. Wenn man diese Schwierigkeiten (Anm.: der ordnenden Abstraktion) einmal
eingestanden hat, wird man möglicherweise Aspekte finden, die sich zu Vergleichen heranziehen
lassen. Keines der heute bekannten Merkmale ist das einheitliche, keines ist das grundlegende:
jedes Merkmal eines Dinges ist sowohl eine Bündelung von untergeordneten Merkmalen als auch
der untergeordnete Teil einer anderen Bündelung.
(DG) Vergleiche dazu die Entstehungsgeschichte bzw. Erarbeitungsfolge der
Ordnungsmatrix für diagrammatische Ausformungen. Für die Durcharbeitung der
gesammelten Exemplare ist es sehr wichtig, Aspekte zu finden bzw. zu wählen, die gut
fassbar sind und das gesamte Spektrum abdecken.
Außerdem ist es wichtig methodisch von binären Bäumen weg zu kommen - also
auch mit hybriden Aspektüberlagerungen umgehen zu lernen (zB. in der Form von
Vernetzungen und Mehrfachzuordnungen).
(S.76) Sie (… die Kathedralen) gehören zu einer Formensequenz, die außerdem einige Abteien und
Pfarrkirchen umfasst. Die formale Sequenz heißt nicht >Kathedralen<. Sie heißt >segmentierte
Strukturen mit Rippengewölben< und schließt Kathedralen mit Tonnengewölben aus.
Die genaueste Definition der formalen Sequenz, die wir bis jetzt geben können, lautet, dass sie ein
historisches Maschenwerk von graduell veränderten Wiederholungen desselben
Merkmals ist. Insofern kann man von der Sequenz sagen, sie habe ein Gerüst.
Im Querschnitt zeigt es, wenn man so sagen darf, ein Maschenwerk, ein Geflecht oder eine
Bündelung von subordinierten Merkmalen; im Längsschnitt zeigt sich eine faserartige Struktur der
zeitlichen Absätze, die alle unverkennbar ähnlich sind, sich jedoch in ihrer Maschenweite vom
Anfang bis zum Ende verändern.
(S.76) (… weiter) Es tauchen sofort zwei Fragen auf. Erstens: gibt es unendlich viele Sequenzen?
Nein, denn jede Sequenz hat ihre Entsprechung in einem bewussten Problem, das für seine
erfolgreiche Lösung der ernsthaften Aufmerksamkeit vieler Menschen bedarf.
Es kann keine Lösungskette geben ohne ein dazugehöriges Problem.
Es kann kein Problem geben ohne das entsprechende Bewusstsein.
Die Umrisse des menschlichen Handlungsspielraumes sind kongruent mit denen der Totalität aller
formalen Sequenzen.
Jede Kategorie von Formen besteht aus einer real zu lösenden Schwierigkeit und deren real
erfolgten Lösungen.
(DG) Der „Handlungsspielraum“ für repräsentationstechnische Ordnungsfragen, wird im
Rahmen der Diagrammatik bearbeitet.
(S.76) Eine geltende Regel besagt, dass die einfacheren Werkzeuge sehr lange Zeiträume
dokumentieren, die komplizierteren sind Belege für kürzere Episoden, in denen es spezielle
Bedürfnisse und entsprechende Erfindungen gab.
(DG) Im Grund gilt das auch für die grundlegendsten Ordnungstechniken. Sie können
tausende Jahre in Anwendung bleiben und auch die Grundlage für diverse Mutationen
bilden.
(S.80) Diagnostische Schwierigkeiten. Strenggenommen existiert eine Formenklasse nur als
Vorstellung.
(S.81) Jede Phase des Spiels, ob früh oder spät, enthält primäre Objekte, die ihrem Einstieg
entsprechend unterschiedlich beschaffen sind.
Aber die Anzahl der erhaltenen primären Objekte ist erstaunlich gering: sie sind heute zusammengetragen in den Museen der Welt und in einigen Privatsammlungen; dazu gehören zu einem großen
Teil berühmte Gebäude.
Wahrscheinlich stellen Bauwerke den größten Teil unserer primären Objekte dar, da sie immobil
und häufig unzerstörbar sind.
Es ist ebenso wahrscheinlich, dass ein Großteil der primären Objekte aus vergänglichen Substanzen
wie Stoff und Papier bestanden hat und ein anderer großer Teil aus kostbaren Metallen, der bei
Bedarf eingeschmolzen worden ist.
(DG) Die breite Anwendbarkeit und Relevanz von Ordnungsstrukturen, stellt also eine
Überlieferung auf unterschiedlichsten Achsen sicher.
(S.81) Für viele Orte und Zeitabschnitte ist es unmöglich, sie (die primären Objekte) zwischen den
Ansammlungen von Repliken herauszufinden. Die Frage weist in viele Richtungen: sind wir
überhaupt jemals unbezweifelbar in Besitz eines initialen Primärobjektes?
Läßt sich ein solcher Gegenstand isolieren?
Haben Primärobjekte eine reale Existenz? Oder weisen wir nur einigen herausragenden Exemplaren
ihrer Klasse zusätzliche symbolische Qualitäten zu, die einen imaginären Vorrang haben?
(S.84) Sie (die primären Objekte) können auch nur als zufällige Notizen oder Skizzen existiert
haben.
(S.84) In den meisten Fällen sind die Primärobjekte in der Menge der Repliken untergegangen, wo
sie nur unter großen Schwierigkeiten entdeckt werden können.
(S.84) Bei europäischen Objekten kommen wir häufig viel näher an den Brennpunkt der Erfindung
heran als bei außereuropäischen, die wir sehr oft nur aufgrund der Repliken von gleichförmiger
oder minderwertiger Qualität kennen.
Nur bei den Chinesen, Japanern und Europäern gibt es eine lange Tradition des Sammelns und der
Kennerschaft.
(S.85) … im Laufe der Zeit wird die Klasse durch irgendeine Innovation fortgesetzt und erweitert
werden. Nach diesem Kriterium sind alle Formklassen immer noch offene Sequenzen.
Es beruht nur auf einer künstlichen Übereinkunft, wenn wir eine Klasse als eine historisch
abgeschlossene Reihe bezeichneten.
(DG) Gerade auch bei den fundamentalen Ordnungsstrukturen kann man eigentlich davon
ausgehen, dass jeder Grundtypus weiter bestehen wird.
(S.87) Oftmals hat der Künstler keinerlei Aufzeichnungen gemacht, so dass wir nur vermuten
können, welche Stufen in der Formgebung einmal bestanden haben.
(S.88) (Zu paläolithischer Höhlenmalerei u. Felsmalerei afrikanischer Buschmänner (um 1700)):
Es gibt keine nachweisbare Verbindung zwischen diesen beiden Gruppen, so sehr sie sich auch
ähnlich sein mögen. … Dennoch können paläolithische und Buschmann-Malerei als Elemente einer
formalen Sequenz angesehen werden, die auch zeitgenössische Kunst einschließt …
(DG) Dies scheint mir auch für die formalen Sequenzen der Diagrammatik von Bedeutung
zu sein, die bei einigen Grundtypen auch über zumindest 4000-6000 Jahre verfolgt werden
können.
(S.89) Für den Handwerker kann eine technische Neuerung oftmals zum Ausgangspunkt für eine
neue Sequenz werden, in der alle traditionellen Elemente revidiert werden. Diese Innovation lässt
sie in einem anderen Licht erscheinen, das den Blick auf neue Möglichkeiten lenkt.
(DG) Vergl. dazu die Entwicklungsschübe bei netzartigen Diagrammen, die mit Fortschritten
im Vermessungswesen (Triangulierung), Eisenbahnwesen, Feldtheorien, systemischer
Analysen, Internet und Vernetzungssoftware zusammen hängen.
(S.89) … in diesem Zusammenhang soll jetzt gezeigt werden, wie eine Sequenz in eine andere
übergeht, wenn ein Glied als Bestandteil der ursprünglichen Sequenz sich bedeutend verändert.
(DG) Vergl. dazu die hybriden Übergangsformen in der Diagrammatik.
(S.90) …. Abgebrochene, verzögerte oder verkümmerte Sequenzen …
(S.90) Die verbundene Lösungsreihe, aus der sich eine Sequenz zusammensetzt, ist nicht
notwendig auf ein einzelnes Handwerk beschränkt. Im Gegenteil, ihr Auftreten ist viel
wahrscheinlicher, wenn verschiedene Handwerkszweige gleichzeitig ins Spiel kommen.
…. Insofern kann eine formale Sequenz in verschiedenen Handwerken gleichzeitig ihre
Realisierung finden.
(S.91) Die Person, der die Beendigung der Sequenz zufiel, muß anschließend ihre Arbeit in eine
andere Formenklasse verlegen.
(S.94) Manche Sequenzen erfordern das Zusammenwirken vieler unterschiedlicher Arten von
Sensibilität. Das gleichzeitige Auftreten zweier großer Rivalen, die sich beide gleichzeitig in
entgegengesetzten Richtungen mit der Lösung desselben Problems beschäftigen, definiert im
allgemeinen solche Situationen …
Diese Paare und Gruppen tauchen jedoch nur zu Zeiten der weitest gespannten
Forschungsinteressen auf und nicht auf den schmalen Pfaden eines beschränkten Interesses …
(DG) So gesehen scheint für die Diagrammatik und Graphematik ein gutes
Entwicklungsklima vorhanden zu sein.
(S.97) Das Gesetz der Reihe
Jede Abfolge lässt sich nach folgenden Voraussetzungen festlegen:
(1) Im Verlauf einer irreversiblen, endlichen Reihe verringert jede Besetzung einer Position die
Anzahl der verbleibenden Positionen.
(2) Jede Position innerhalb einer Reihe erfordert nur eine begrenzte Anzahl von
Handlungsmöglichkeiten.
(3) Die Entscheidung für eine Handlung legt die entsprechende Position fest.
(4) Die Einnahme einer Position definiert und reduziert den Umfang der Möglichkeiten für die
nachfolgende Position.
Anders ausgedrückt:
Jede neue Form schränkt die nachfolgenden Innovationsmöglichkeiten innerhalb derselben Reihe
ein. Jede dieser Formen ist ihrerseits eine von endlich vielen Möglichkeiten, die in einem
bestimmten Zeitraum offen stehen.
Infolgedessen reduziert jede Innovation die zeitliche Dauer ihrer Klasse.
Die Grenzen einer Klasse werden vom Auftauchen eines Problems bestimmt, das verbundene
Lösungen erfordert.
(DG) Man könnte auch von einer Sättigung sprechen. Wenn man zB. eine Sammlung von
über 1000 Ausformungen zugrunde legt, dann hat man eine sehr gute Vorstellung,
welche strukturellen Möglichkeiten bereits völlig ausgeschöpft wurden, bzw. welche
Aspekte noch Entwicklungen offen lassen.
Manchmal gelingt es in hybriden Anwendungen auch die „festgefahrenen“ und völlig
ausgeschöpften Aspekte nochmals überraschende Entwicklungslinien zu eröffnen. Die
Hybridisierung wäre dann ein kombinierender und konfrontierender Ansatz, der einen
neuen Zugang/Blick eröffnet.
(S.97) Die Formulierung einer weiteren Voraussetzung erlaubt uns, die Art der zeitlichen Dauer zu
bestimmen. Jede Reihe, die sich in ihrer eigenen Formenklasse gebildet hat, verfügt über eine ihr
eigene Dauer für jede Position, die von dem erforderlichen Aufwand abhängig ist.
Kleine Probleme erfordern geringen Aufwand; die großen verlangen größere Anstrengungen und
brauchen daher mehr Zeit.
(S.97) Das Gesetz der Reihe erfordert es, dass jede Position für die ihr entsprechende Zeit besetzt
wird, bevor die nächste Position eingenommen werden kann.
In rein technischen Bereichen ist das ganz selbstverständlich: die Dampfmaschine wurde vor der
Lokomotive erfunden, jedoch erforderte es viel mehr Aufwand, die Lokomotive in allen Einzelheiten
auszuführen.
Jedes Einzelteil beanspruchte seine Zeit innerhalb der Ökonomie der zeitlichen Sequenz …
(S.97) Bei Kunstwerken ist das Gesetz der geringsten Dauer sogar noch viel strikter. Es wird
festgesetzt von kollektiven Verhaltensweisen der Zustimmung und Ablehnung …
(S.99) … wir können von dem >systematischen Alter< jedes Abschnitts einer formalen Reihe
sprechen, das sich auf die Position im Zeitraum bezieht.
Leicht zu erkennende, optisch wahrnehmbare Eigenschaften kennzeichnen das systematische Alter
jedes Abschnitts, wenn wir die Art der Reihe einmal identifiziert haben.
(S.99) Frühe (promorphe) Lösungen sind, technisch gesehen, einfach, von der erforderlichen
Energie her unaufwendig und klar in der Aussage. Späte (neomorphe) Lösungen sind aufwendig,
schwierig, kompliziert, undurchschaubar und beweglich.
Frühe Lösungen sind vollständig in bezug auf das Problem, das sie lösen. Späte Lösungen
sind nur partielle, indem sie sich eher auf die Details von Funktionen und Aussagen beziehen als
auf die Totalität dieses Problems. …
Zu promorph/neomorph: Durch ihre Verwendung kann man die wahllose Kontamination solcher
Begriffe wie >primitiv<, >dekadent< oder >barock< vermeiden.
(DG) Auch in der Diagrammatik ist es verblüffend, dass „reine“ Klassiker oft frühen
Entwicklungsphasen zuzurechnen sind. Umso enttäuschender sind dann sgn. Geschäftsdiagramme, die in ihrer gestalterischen Dürftigkeit kaum noch zu unterbieten sind.
Obwohl Hardware und Software in den letzten Jahren enorme Entwicklungen vollzogen
haben, sind die spannendsten Belege in der Regel „Handarbeit“.
(S.106) Die Geschichte der Dinge … lässt mehr Interferenzen zu als die Sprache, aber weniger als
die Geschichte der Institutionen, weil Dinge Funktionen erfüllen müssen und Botschaften
übermitteln.
Sie können nicht von dieser Finalität losgelöst werden, ohne ihre Identität zu verlieren.
Die Geschichte der Kunst ist Bestandteil der Geschichte der Dinge.
(S.107) Aufgrund ihrer Mittelstellung zwischen allgemeiner Geschichte und Linguistik wird die
Kunstgeschichte vielleicht einmal erweisen, dass sie die bisher unerwartete Möglichkeit einer
zukunftsweisenden Wissenschaft in sich trägt, die zwar weniger produktiv ist als die Linguistik,
aber mehr zu leisten imstande ist, als je in der Allgemeingeschichte möglich sein wird.
(DG) Aus der Sicht der Diagrammatik scheint das durchaus plausibel. So zeigen
sich alle Ausformungen epistemischer Bilder auch in den Realisierungen der jeweils
aktuellen (bildenden) Künste. Es macht auf jeden Fall Sinn Kunstartefakte,
wissenschaftliche Repräsentationsansätze (aller denkbaren Disziplinen) gemeinsamen
Betrachtungen/Analysen zu unterziehen.
Auch die gemeinsame Analyse von Geistes- und Naturwissenschaften scheint hier sehr
fruchtbar zu sein, wie der fließende Übergang der Diagrammatik in eine Graphematik
belegen kann.
(S.108) Zusätzlich zu dieser Korrespondenz zwischen Bedürfnissen und Dingen bestehen andere
Beziehungen zwischen den Dingen untereinander. Es ist so, als ob die Dinge selbst andere Dinge
nach ihrem Vorbild hervorbrächten, wobei Menschen die Vermittlung übernehmen …
(S.110) In unserer Terminologie ist jede Erfindung eine neue Position in einer Reihe.
(S.110) Die Produkte der früheren Positionen veraltern und werden unmodern.
Dennoch sind frühere Positionen Bestandteile der Erfindung, denn der Erfinder muß die
Komponenten neu anordnen, indem er mit intuitivem Scharfblick die vorhergehenden Positionen in
der Sequenz transzendiert. Nur so kann er eine neue Position erreichen.
Auch von ihren Benutzern oder Nutznießern verlangt die neue Position eine gewisse Vertrautheit
mit den vorhergehenden Positionen, damit sie in der Lage sind, den Stellenwert und die
Verwendungsmöglichkeiten der Erfindung richtig zu erkennen und zu benutzen.
(S.113) Künstlerische Erfindungen verändern die Sensibilität der Menschheit. Sie entstehen alle aus
dem menschlichen Wahrnehmungs- und Vorstellungsvermögen und beziehen sich auch wieder
darauf zurück, im Gegensatz zu den zweckbezogenen Erfindungen, die eng mit der physikalischen
und biologischen Umgebung gekoppelt sind.
(DG) Die repräsentationstechnischen Lösungen scheinen eine Zwischenstellung
einzunehmen. Wahrnehmungsfragen stehen ebenso an der Wiege der diagrammatischen
Anwendungen, als auch physikalische Phänomene die graphematischen Methoden
stark beeinflussen – bzw. „aufrufen“.
(S.117) Die meisten ihrer (… der Mathematiker und Künstler) Erfindungen sind, wie eine
Umgruppierung von Möbeln, durch erneute Konfrontationen entstanden und nicht durch neu
aufgeworfene Fragestellungen, die auf den Mittelpunkt des Seins zielen.
(DG) Beim Studium der Diagrammgrundtypen fällt auf, dass praktisch je Kombination
auf Brauchbarkeit abgetestet wurde. Die „Konfrontation“ führt im Laufe der Zeit zu einer
großen Anzahl von Hybridformen. Genau genommen sind die „Reinformen“ in der
Minderzahl.
(S.118) Wenn die Unterscheidung zwischen zweckbezogenen Erfindungen und künstlerischen ihre
Entsprechung hat in der Unterscheidung zwischen einer Veränderung der Umgebung und einer
Veränderung unserer Wahrnehmung, dann müssen wir über die künstlerische Erfindung in der
Terminologie der Wahrnehmung sprechen.
(DG) Auch wenn die Diagrammatik eher der Seite der Wahrnehmung zugerechnet werden
kann, sollte man bedenken, dass die diagrammatische Sicht natürlich im hohen Maße auch
architektonisch/räumlich aufgefasst werden kann (Siehe: Deleuze, Foucault, Eisenman,
vanBerkel & Bos, ….)
(S.119) Eine wichtige Komponente in den historischen Sequenzen künstlerischer Erfindungen ist
der plötzliche Wechsel von Inhalt und Ausdruck, der in Intervallen auftritt, und zwar immer dann,
wenn eine Formsprache als Ganze plötzlich nicht mehr verwendet wird und statt dessen durch eine
neue Sprache ersetzt wird, die aus ganz anderen Komponenten und einer bisher nicht vertrauten
Grammatik besteht.
(DG) In dieser Hinsicht hebt sich die Diagrammatik stark von den Kunst-Anwendungen ab.
Einerseits ist die Ausdrucksfrage nur ganz schwach ausgeprägt und andererseits scheint die
Formsprache der „Ordnungsmuster“ einen überzeitlich gültigen Fundus herausgebildet zu
haben, der in allen Repräsentationsansätzen wieder entdeckt werden kann.
Die oben angeführte „Formsprache“ (der Kunst) betrifft also primär die mimetischen und
physiognomischen Fragestellungen und den Bereich der Ausdrucksgesten.
Die diagrammtisch/graphematischen Ordnungsmuster schein sich also viel langsamer zu
entwickeln, wie die künstlerischen Ausformungen. Die Ordnungsmuster scheinen einem
sehr grundlegendem und umfassend nützlichen Erfahrungsschatz zu entsprechen, der
jenseits aller Moden und ästhetischen Vorlieben ausverhandelt wurde und in kleinen
Schritten weiter angereichert wird.
(DG) Im Bereich der Graphematik lässt sich zur Zeit zeigen, wie stark der Fortschritt bei
komplexen fluidalen Messdatenvisualisierungen, mit fluidalem Design diverser Gestaltungsdisziplinen und Softwarefamilien zusammen hängt.
Wenn man also komplexe Prozessmuster der Natur (im Bereich der Naturwissenschaften)
verfolgen will, dann gelingt das nur, wenn die technische Repräsentation nahe an die
komplexen Ausformungen der Natur herangeführt werden kann.
Dadurch werden nun auch sehr komplexe Sachverhalte repräsentationstechnisch fassbar,
was gerade im Bereich der Graphematik/Diagrammatik deutliche Entwicklungsschübe
verspricht.
(S.120) Ein primäres Objekt steht im Zusammenhang mit der radikalen Erfindung, während die
Repliken von ihren Archetypen nur aufgrund geringfügiger Veränderungen, kleiner Entdeckungen,
abweichen, die auf reinen Konfrontationen von schon Bestehendem beruhen.
(DG) So gesehen ist der Formenschatz der Diagrammtik sehr konservativ angelegt.
Entwicklungen sind zur Zeit eher auf der Seite der Graphematik zu erwarten.
(S.120) Insofern wird wahrscheinlich die radikale Erfindung am Anfang einer Reihe auftreten; sie
hat mehr Ähnlichkeit mit einer künstlerischen Schöpfung als mit einem wissenschaftlichen Beweis.
(S.128) … Insofern hat auch der Qualitätsverlust zwei unterschiedliche Bewegungsarten: eine
provinzielle, die zu Vergröberungen führt, und eine kommerzielle, die Wertminderung und Kitsch
zur Folge hat. Provinzialismus und Kommerzialisierung sind einander als Arten der qualitativen
Degradation verwandt.
(S.134) Ästhetische Ermüdung. Das Entscheidende dieser Überlegungen ist, dass Gegenstände, die
ausschließlich zweckbestimmt sind, vollständiger vom Erdboden verschwinden als die
bedeutungsvollen und erfreulichen.
(DG) Das betrifft natürlich auch die „Zukunftsbilder“ der Diagrammatik: Pläne, Modelle,
schematische Darstellungen werden oft nach der Umsetzung „entsorgt“.
(S.138) Kap. 4: Arten der zeitlichen Dauer
(S.138) Unglücklicherweise hat das Netzwerk der Geschichte, wie es sich uns heute darstellt, nur
eine Dimension, die ohne weiteres gemessen werden kann: es handelt sich um die kalendarische
Zeit, die es uns gestattet, die Ereignisse nacheinander anzuordnen. ….
Der Bereich historischer Wissenschaften bleibt jeder anderen zahlenmäßigen Erfassung
verschlossen.
Wir können uns dennoch der Sprache des Messens bedienen, ohne Zahlen zu verwenden, wie es in
der Topologie geschieht, wo eher Relationen Gegenstand der Forschung sind als Fragen der
Größenordnung.
(DG) So gesehen hat die Diagrammatik einiges zu bieten.
(S.141) Wenn wir das Wesen der Veränderung erforschen wollen, müssen wir die Abfolge von
Formen untersuchen.
(S.141) Repliken können unmittelbar solche Größen wie Reichtum, Bevölkerungsdichte und Energie
widerspiegeln; aber diese Größenordnungen allein geben keine ausreichende Auskunft über
Auftreten und Verbreitung der Originale oder primärer Ausdrucksformen, von denen die Repliken
abstammen.
Primäre Ausdrucksformen hingegen treten in formalen Sequenzen auf.
Diese Konzeption geht von der Voraussetzung aus, dass Erfindungen keine isolierten Ereignisse
sind, sondern untereinander verbundene Positionen, deren Verbindungen wir herausfinden können.
(S.190) Linsenstruktur versus Faserstruktur der Dauer
Hier findet sich möglicherweise eine Lösung für die Frage, die von den Vertretern der
Strukturforschung aufgeworfen worden ist.
Wir müssen nicht mit ihnen darin einer Meinung sein, dass alle Kulturerscheinungen entweder
radial oder zentral seien. Sie scheinen sich die Kultur wie eine runde Linse vorzustellen, deren
Stärke sich dem Alter des zu betrachtenden Musters entsprechend zu ändern hat.
Im Gegensatz dazu stellen wir uns den Fluß der Zeit so vor, dass er die Form von
Faserbündeln annimmt (Vergl. Kap. Offene und geschlossene Sequenzen), wobei jede Faser
einem Bedürfnis auf einem bestimmten Handlungssektor entspricht;
de Länge der Fasern verändert sich entsprechend der Dauer eines jeden Bedürfnisses un der
Lösungsdauer des darin enthaltenen Problems.
Die kulturellen Bündelungen bestehen also aus einer Vielfalt von fasrigen Ereignissträngen, die
überwiegend lang und manchmal auch kurz sind.
Sie sind weitgehend zufällig nebeneinander geordnet und nur selten durch Vorbedacht oder gezielte
Planung.
(S.193) Unsere Wahrnehmung der Dinge ist offensichtlich ein Kreislauf, der nicht in der Lage ist,
eine größere Vielfalt neuer Sinnenseindrücke gleichzeitig zuzulassen. Die menschliche
Wahrnehmung eignet sich am besten für langsame Veränderungen routinierter Verhaltensweisen.
Innovation muß daher immer dort haltmachen, wo die Wahrnehmung Grenzen setzt.
(S.196) Die Gleichwertigkeit von Form und Ausdruck
(S.198) In der Ikonologie hat das Wort Vorrang vor dem Bild. Ein Bild, das nicht durch einen Text
erläutert wird, ist dem Ikonologen schwerer zugänglich als ein Text ohne Bild. Die heutige
Ikonologie ähnelt einem Verzeichnis von literarischen Themen, die nach Bildtiteln geordnet sind.
(S.199) Auf der anderen Seite ist die morphologische Forschung, die sich mit Arten der
formalen Organisation und deren Erfassung beschäftigt, inzwischen aus der Mode gekommen
und wird von den Erforschen der Texte und ihrer Bedeutungen als reiner Formalismus abgetan.
Und doch werden Ikonologen und Morphologen durch dieselben schematischen Deformationen
beschränkt.
(DG) Steffen Bogen zeigt mit seinen Texten, wie eine diagrammatische Leseart zusätzlich
zur Bedeutungsorientierten Sicht fruchtbar gemacht werden kann.
+++
(DG) Dank an Astrit Schmidt-Burkhardt und Boris Nieslony bzgl. Hinweis auf die Schriften
von George Kubler.
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