Konstruktivistische Ansätze in der Sozialpsychologie

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Dr. Günter Sämmer
Konstruktivistische Ansätze in der Sozialpsychologie - Seite 1 -
April 2002
Konstruktivistische Ansätze in der Sozialpsychologie
Inhalt:
Teil I: Grundlagen des Konstruktivismus
1. Das Prinzip der Selbstorganisation in Wahrnehmung und Denken
1.1 Selbstkonstruktion emergenter Phänomene
1.2 Wahrnehmung und Erkennen: Konstruktion von Sinn aufgrund vorhandener Vorstrukturen
2. Grundsätze konstruktivistischer Lern- und Erkenntnistheorie
3. Die Konstruktion menschlicher Beziehungen und sozialer Wirklichkeit
3.1 Die soziale Konstruktion einer Wahrnehmung: Das Experiment von SHERIF
3.2 Wirklichkeitsmodelle und Attributionsmuster
3.3 Selbsterfüllende Prophezeiungen
3.4 MindMap zum Konstruktivismus
Teil II: Die konstruktivistische Kommunikations- und Systemtheorie
1. Selbstorganisation in sozialen Systemen
1.1 Offene Systeme und Interdependenz
1.2 Axiome der Kommunikation in sozialen Systemen
1.3 Selbstorganisation in sozialen Systemen
2. Dynamische Prozesse in sozialen Systemen
2.1 Kreisprozesse und Rückkopplung
2.2 Interpunktionen von Ereignisfolgen
Teil III: Systemische Beratung im Schulalltag
1. „Probleme“ aus konstruktivistischer Sicht
2. Techniken der Systemischen Beratung
3. Leitfaden zum systemischen Fragen
Literatur
Teil I: Grundlagen des Konstruktivismus
1. Das Prinzip der Selbstorganisation in Wahrnehmung und Denken
1.1 Selbstkonstruktion emergenter Phänomene
Demonstration : „Scheinbewegung“ nach WERTHEIMER
Hinweis: Die folgenden Demonstrationen können Sie als Computer-Demonstrationen
aus dem Internet herunterladen bei: www.psychologielehrer.de ; dort unter dem Menüpunkt „Psychologieunterricht“
Auf einem Schirm erscheint kurz ein schräg nach links liegender schwarzer Balken (a); dieser verschwindet, und es erscheint unmittelbar danach ein zweiter
Balken (b) schräg nach rechts liegend; darauf erscheint wieder Balken (a) usw. .
Die Wechselfrequenz wird nun mehrmals variiert, und die Versuchspersonen (hier: Schüler) werden jeweils gefragt:
Welcher Eindruck entsteht?
Sie sollen diesen Wahrnehmungseindruck stets verbal beschreiben.
Dr. Günter Sämmer
Konstruktivistische Ansätze in der Sozialpsychologie - Seite 2 -
April 2002
Phase 1:
Es wird ganz langsam, mit großen Pausen, von links nach rechts gewechselt und umgekehrt. Es entsteht der Eindruck von zwei verschiedenen Balken, die im Wechsel erscheinen.
Phase 2:
Die Vpn werden nun aufgefordert, ein Handzeichen zu geben, wenn sich an ihrem Eindruck etwas ändert:
Wird nun sukzessive die Wechselfrequenz erhöht, so tritt bald ein neues Phänomen (ein neuer „Eindruck“) auf: Es
scheint, als bewege sich ein Balken pendelförmig von links nach rechts und zurück (das „Phi-Phänomen“, die
Scheinbewegung).
In der Computersimulation wird diese Übergangsfrequenz „Einzelbalken → Scheinbewegung“ )Entstehung der
Scheinbewegung) quantitativ festgehalten. Führt man die Demonstration in der Gesamtgruppe durch, so wird die
Frequenz bestimmt, bei der die Hälfte der Vpn ihr Zeichen gegeben haben.
Phase 3:
Die Wechselfrequenz wird nun stetig wieder abgesenkt. Dies führt schließlich wieder zum Verschwinden der
Scheinbewegung, und man „sieht“ wieder einzelne Balken nacheinander erscheinen.
(In der Computersimulation wird die Übergangsfrequenz „Scheinbewegung → Einzelbalken“ registriert)
Der Vergleich der Übergangsfrequenzen ergibt in der Regel einen deutlichen Unterschied: Die Übergangsfrequenz
„Einzelbalken → Scheinbewegung“ (Entstehung der Scheinbewegung) ist höher als die Übergangsfrequenz
„Scheinbewegung → Einzelbalken“ (Verschwinden der Scheinbewegung); kurz gesagt: damit die Scheinbewegung
wieder verschwindet, müssen die Balkenwechsel viel langsamer werden als beim ihrem Entstehen.
Demonstration: „Akustische Gestalten“
Ein völlig gleichförmiges (!) Ticken ertönt, erzeugt z.B. durch ein verdecktes Metronom oder durch einen Computer.
Die Vpn werden aber in Unkenntnis darüber gelassen, dass es sich um ein gleichförmiges Ticken handelt!
a) Suggestion eines nicht vorhandenen Phänomens: Der Vl setzt eine Wahrnehmungsnorm
Der Vl „dirigiert” nun mit der Hand in der Luft einen Viervierteltakt, indem er jeweils ein Tickgeräusch „betont”
und die drei nächsten nur andeutet. Die Vpn werden gebeten, durch Handzeichen anzuzeigen, wenn sie den vordirigierten „Viervierteltakt“ hören!
(Schon nach wenigen Sekunden melden sich fast alle Vpn, obwohl das Ticken in Wirklichkeit völlig gleichförmig
ist! Diese Suggestion ist sehr stark. Man kann sich leicht davon überzeugen, dass der Takt wirklich „existiert”!)
Der Vl stoppt das Ticken und gibt vor, das Gerät „umzustellen”. Dann setzt er das weiterhin völlig gleichförmige
Ticken fort und dirigiert nun einen „Dreivierteltakt“.
(Mit demselben Ergebnis !)
b) „Melodien“
Mehrere zufällige Sequenzen von C-Dur-Tönen werden vorgespielt (immer ca. 6-10 Töne). Es entsteht der Eindruck
eines Melodieanfangs.
c) Gruppensuggestion: Die Gruppe bildet eine Gruppennorm
Nach einem zweiten vorgetäuschten „Umstellen“ des Gerätes werden die Vpn dann gebeten, ohne Hilfe den ”kaum
merklichen Takt” (Dreiviertel oder Vierviertel) aufzuspüren und ganz leise auf dem Tisch nachzuklopfen.
(Nach kurzer Zeit beginnen die ersten Vpn „etwas zu hören” und entsprechend leise zu klopfen; bald klopft die gesamte Gruppe denselben Takt! Es wurde von der Gruppe suggestiv eine gemeinsame Wahrnehmungs-Wirklichkeit
„konstruiert”. Erst danach wird die Tatsache der Gleichförmigkeit der Tickgeräusche aufgeklärt.)
Demonstration: „Unvollendete Rhythmen“
Der Vl klopft einen bekannte Rhythmus und wiederholt ihn einige Male. Beim letzten Mal allerdings lässt er den
letzten Schlag weg.
Z.B. das bekannte: Tam Ta da daa da, Tam Tam!
Es wird beim letzten Versuch zu: Tam Ta da daa da, Tam ...
Die Vpn werden nach ihrem „Eindruck“ gefragt.
(Meist wird von einer „Spannung“ berichtet, einem Bedürfnis, den Rhythmus zu beenden.)
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Demonstration: „Rasterbild“
Ein gerastertes und stark vergrößertes Foto (Rasterbild, vgl. Anlage) wird mit der Rückseite nach oben im normalen
Leseabstand den einzelnen Vpn vorgelegt. Auf Kommando des Vl soll es nun umgedreht und auf dieselbe Stelle
wieder auf den Tisch zurückgelegt werden (von sich weghalten oder auf andere Weise die Leseentfernung ändern,
ist nicht gestattet).
Phase 1:
Die Vpn sollen zunächst eine Minute lang versuchen festzustellen, was auf dem Bild dargestellt ist (ohne miteinander zu sprechen!). Sie sollen versuchen, ihre Eindrücke während dieser Phase zu registrieren und sich zu merken.
(Die überwiegende Mehrheit der Vpn ist zunächst nicht in der Lage, auf dem Bild irgend etwas zu erkennen. Manche haben das Bild auf dem Kopf stehend vor sich liegen, ohne dies zu bemerken, was der Vl durch verkehrtes Vorlegen schon provozieren kann.)
Phase 2:
Nun wird vom Vl ein Bild angehoben (mit der Bitte um Aufmerksamkeit!) und ganz langsam von den Betrachtern
entfernt... (von der letzten Sitzreihe ausgehend langsam nach vorne).
In der Regel äußern die Vpn hier deutlich ihr Erstaunen, das mit dem zunehmenden Erkennen des Bildgegenstandes
einhergeht. Dann wird das Bild in einiger Entfernung aufgestellt und beschrieben.
Die Schüler erhalten nun die Aufgabe (z.B. in Partnerarbeit), nach den Familienähnlichkeiten zu suchen:
Aufgabe:
„Finden Sie Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen vorgestellten Phänomenen“.
Ergebnisse:
Die zusammengetragenen Ergebnisse enthalten in großer Häufigkeit die folgenden Aspekte (hier in üblicherweise
vorkommenden Schülerformulierungen):
 Aus verschiedenen einzelnen Bestandteilen entsteht etwas völlig Neues:
 aus dem Wechsel zweier Balken die Bewegung eines Balkens
 aus einzelnen Tickgeräuschen ein Takt
 aus den Takten einzelner Personen wird ein gemeinsamer Gruppen-Takt
 aus einzelnen Klopfgeräuschen ein Rhythmus
 aus einzelnen Rasterpunkten ein Gegenstand.
 Dies geschieht meist „automatisch“, man kann sich nicht „dagegen wehren“.
 Wenn das Neue einmal da ist, „geht es schwer wieder weg“; es „will sich halten“; es „will zusammenbleiben“.
Damit sind umgangssprachlich (!) die wesentlichen Prinzipien der Ganzheitspsychologie erfasst.
Das Gesetz der Übersummation
Ganzheiten sind stets etwas anderes als die Summe ihrer Teile
Emergente Phänomene (Ganzheiten)
Demonstration
„Scheinbewegungen“
Teile
Balken 1:
Ganzheit, emergentes Phänomen
„Scheinbewegung“
Balken 2:
„Akustische Gestalten“
Einzeltöne
„Takt“
Einzeltakt bei jeder Vp
(Einzelnorm)
gemeinsamer „Takt“ (Gruppennorm)
zufällige C-Dor-Töne
„Melodie“
„Unvollendete Rhythmen“
einzelnes Klopfgeräusch
„Rhythmus“
„Rasterbild“
einzelne Rasterpunkte
„Bild“
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Selbstorganisierte Phänomene können von außerhalb des erkennenden Systems (also eines Individuums) durch Veränderungen in seiner Umgebung angeregt werden, ihr Entstehen ist aber letztlich nicht erzwingbar sondern eine
autonome Aktivität des Individuums.
Zusammenfassung:
Konstruktivistische Grundprinzipien der Ganzheitspsychologie
Das Phänomen der Ganzheit (Emergenzprinzip): Aus der wechselseitigen Beziehung von Teilen entsteht ein prinzipiell neues emergentes Phänomen, dessen Eigenschaften die Teile nicht haben. Es entsteht eine Ganzheit (oder „Gestalt“).
Das Grundgesetz der Selbstorganisation: Der Prozess der Ausbildung von Ganzheiten (Gestaltbildung) erfolgt autonom; Ganzheiten sind selbstorganisiert.
Das Grundgesetz des dynamischen Gleichgewichts (Prinzip der Selbststabilisierung): Ist eine
Ganzheit einmal entstanden, dann setzt sie jeder Veränderung, insbesondere aber ihrer Zerstörung W iderstand entgegen.
1.2 Wahrnehmung und Erkennen: Konstruktion von Sinn aufgrund vorhandener Vorstrukturen
Wahrnehmung und Erkennen ist ein konstruktiver Prozess: Wahrnehmen bedeutet nicht „Abphotographieren“. Das
Wahrnehmungsergebnis hängt nämlich davon ab, welche Vorstrukturen („Wahrnehmungshypothesen“) das Wahrnehmungssystem vor dem Wahrnehmungsprozess schon bereithält. So werden bekannte und vertraute Strukturen
(ein „stehender“ Quader oder eine „stehende“, „normale“ Treppe) deutlich eher erkannt als weniger vertraute.
A
A
B
C
B
C
Die Vorstrukturierung von Sinn
Der Prozess der Konstruktion von Wahrnehmung und Erkenntnis wird durch bereits vorhandene, bekannte Strukturen stark beeinflusst: Wir erkennen immer eher das, was wir schon kennen.
Dr. Günter Sämmer
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Im Verlauf des Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozesses konstruiert das Wahrnehmungssystem bevorzugt sinnvolle
Einheiten. Dabei werden auch „nicht vorhandene“ Strukturen „hinzugefügt“, damit ein sinnvolles Wahrnehmungsergebnis zustande kommt.
Denken und Problemlösen als selbstorganisierter Konstruktionsprozess
Neun Punkte sollen ohne abzusetzen durch vier gerade Linien verbunden werden:
Die Problemstellung entwickelt im kognitiven System eine Eigendynamik, die auf selbstorganisierte Lösung drängt.
Nun wird die Lösung zunächst aufgrund unbewusster Lösungsvorstrukturen verhindert (innerhalb der Gestalt eines
Quadrats zeichnen). Die Lösungshilfe „über die Quadratgrenzen hinausgehen“ führt zu einer Neustrukturierung.
2. Grundsätze konstruktivistischer Lern- und Erkenntnistheorie
Selbstorganisation (Autopoiese) lebender Systeme
Lebende Systeme sind sebstorganisiert. Sie besitzen eine innere Struktur, die bestrebt ist, sich gegen „Störungen“
von innen und außen zu erhalten (Selbstorganisationstendenz). Die innere Struktur lebender Systeme ist Grundlage
aller ihrer Informationsverarbeitungsprozesse.
Selbstreferentialität und operative Abgeschlossenheit lebender Systeme
Lebende Systeme machen sich kein „Bild“ von der Außenwelt: In ihrem Nervensystem finden stets nur neuronale
elektrochemische Prozesse („Neuronengewitter“) statt. Diese sind in keiner Weise irgendwelchen Vorgängen außerhalb des Systems „ähnlich“. Gehirne enthalten keine Abbildungen (genauso wenig wie Bilddateien auf Festplatten
keine Ähnlichkeit mit Bildern und Textdateien keine Ähnlichkeit mit Texten besitzen: Wir nehmen Dinge wahr, die
nicht da sind, und wir nehmen Dinge nicht wahr, die da sind - und was wir wahrnehmen ist eine „Eigenproduktion“, es entspricht in keiner Weise der Wirklichkeit.
Gehirne verarbeiten Erregungspotentiale von Nervenzellen (und kein Licht oder Ton!).
Daraus folgt: Nervensysteme verarbeiten keine Information von außen“, sondern nur interne Erregungszustände.
Neuronen „verstehen“ nur die „Sprache“ anderer Neuronen: elektrochemisches „Synapsengewitter“. Neuronale Prozesse sind damit ausschließlich selbstreferentiell, d.h. sie sind selbstrückbezüglich, weil sie sich nur auf Informationen beziehen, die innerhalb des Systems entstehen.
Dr. Günter Sämmer
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Strukturdeterminiertheit von Lernen und Erkennen
Lernen und Erkennen bedeutet in lebenden Systemen die (Neu-)Konstruktion innerer Strukturen aufgrund vorhandener Strukturen. Das bedeutet: Lernen und Erkennen ist nicht Informationsaufnahme, sondern ist vielmehr die Veränderung einer vorhandenen Struktur. damit sind nur solche äußeren Ereignisse und Anstöße für Lernen und Erkennen relevant, die auf geeignete innere Strukturen treffen und diese zur selbstkonstruktiven Reorganisation veranlassen.
Daraus folgt: Lernen und Erkennen sind autonome selbstkonstruktive Prozesse. Lehren aus konstruktivistischer
Sicht ist damit kein „Einflößen“ von Informationen in ein System hinein, sondern Lehren bedeutet gezielte „Verstörung“ („Perturbation“) von inneren Strukturen, die zu einer autonomen (selbstkonstruktiven) Reorganisation führen.
(aus: SÄMMER, G. (1997). Konstruktivismus und Systemtheorie als Grundlage schulischer Beratungsstrategien. Köln: unveröff.
Manuskript.)
Neurobiologische Grundlagen des Konstruktivismus
„Maturana/Varela haben in der Konstruktion ihrer Theorie der lebenden Systeme dem Konstruktivismus eine neurobiologische Grundlage gegeben. Sie gehen von der Biologie der Kognition aus. Dabei argumentieren sie, dass Organismen als autopoietische (autos = selbst; poiein = machen) Systeme funktionieren, die operational geschlossen sind,
d.h. die sich in ihren Operationen und Aktivitäten ausschließlich auf sich selbst beziehen. Dieser Umstand trifft auch
für das Nervensystem zu. Darauf beruhend zeigt sich der Strukturdeterminismus von Organismen. Diese können nur
die Veränderungen durchlaufen, die ihrer Struktur als Kombinationsmöglichkeiten der Elemente vorgegeben sind.
Hierbei ist der Organismus - und sprechen wir jetzt im folgenden nur noch vom Menschen - durch strukturelle Plastizität gekennzeichnet, d.h. er ist eben durchaus dazu fähig, seine internen Strukturen (z.B. Ansichten, Einstellungen) zu modifizieren (mittels selbstorganisatorischer Prozesse), aber auf der Grundlage seines Strukturdeterminismus. Da der Mensch operational geschlossen ist, kann er nicht zu Zustandsveränderungen (Modifizierungen
seiner Struktur) durch andere gezwungen werden. Er kann nur über Perturbationen (Störungen) dazu angeregt werden, seine Strukturen zu modifizieren. Menschen können sich jedoch untereinander strukturell koppeln, indem sie
beispielsweise ihre Verhaltensweisen miteinander koordinieren. Daraus wiederum entsteht ein konsensueller Bereich
oder anders ausgedruckt ein Bereich von Übereinstimmungen. Dieser hat allerdings ebenfalls keinen ontischen Charakter, sondern stellt nur eine Konstruktion dar. Innerhalb der Theorie lebender Systeme kann somit von Erkenntnis
im Sinne von Erkennbarkeit von wirklicher Wirklichkeit nicht gesprochen werden. Als operational geschlossenes
System operiert der Mensch lediglich mit eigenen internen Zuständen. Somit wird der Mensch als Beobachter in den
Mittelpunkt jeden Verstehens und jeder Realitätsauffassung gestellt. Realität ergibt sich dabei aus dem erkennenden
Tun des Beobachters, der Unterscheidungen trifft und somit den Einheiten seiner Beobachtung Existenz verleiht.“
(aus: WYRWA, H. (1995). Konstruktivismus und Schulpädagogik. In Landesinstitut für Schule und Weiterbildung Soest (Hrsg.),
Lehren und Lernen als konstruktive Tätigkeit (S. 15-45), Bönen: Kettler-Verlag)
„Stimmen und passen“
Was ein lebendes System über die „Wirklichkeit“ erfährt, hat stets die Aufgabe, ihm das Leben in dieser Wirklichkeit zu ermöglichen oder doch zumindest zu erleichtern. Die inneren „Konstrukte“, die es sich dazu aufbaut, sind
geeignet, wenn sie diese Funktion erfüllen. Das Individuum „testet“ also sein konstruktives „Bild“ von der Wirklichkeit, indem es daraus Aktivitäten herleitet. Gelingen diese Aktivitäten, so war das Konstrukt „passend“, misslingen sie, so war es „unpassend“, und das Individuum wird das Konstrukt verändern oder verwerfen:
„Ein Kapitän, der in dunkler, stürmischer Nacht eine Meeresenge durchsteuern muss, deren Beschaffenheit er
nicht kennt, für die keine Seekarte besteht und die keine Leuchtfeuer oder andere Navigationshilfen besitzt, wird
entweder scheitern oder jenseits der Meeresenge wohlbehalten das sichere, offene Meer wiedergewinnen. Rennt
er auf die Klippen auf und verliert Schiff und Leben, so beweist sein Scheitern, dass der von ihm gewählte Kurs
nicht der richtige Kurs durch die Enge war. Er hat sozusagen erfahren, wie die Durchfahrt nicht ist. Kommt er dagegen heil durch die Enge, so beweist dies nur, dass sein Kurs im buchstäblichen Sinne nirgends anstieß. Darüber
hinaus aber lehrt ihn sein Erfolg nichts über die wahre Beschaffenheit der Meeresenge; nichts darüber, wie sicher
oder wie nahe an der Katastrophe er in jedem Augenblicke war: er passierte die Enge wie ein Blinder. Sein Kurs
passte in die ihm unbekannten Gegebenheiten; er stimmte deswegen aber nicht, wenn mit stimmen das gemeint
ist, was von Glasersfeld darunter versteht: dass der gesteuerte Kurs der wirklichen Natur der Enge entspricht. Man
kann sich leicht vorstellen, dass die wahre Beschaffenheit der Meeresenge vielleicht wesentlich kürzere, sicherere
Durchfahrten ermöglicht.
In seinem reinen, radikalen Sinne ist der Konstruktivismus unvereinbar mit dem traditionellen Denken. So verschieden auch die meisten philosophischen, wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und individuellen Weltbilder
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Konstruktivistische Ansätze in der Sozialpsychologie - Seite 7 -
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untereinander sein mögen, eines haben sie dennoch gemeinsam: die Annahme, dass eine wirkliche Wirklichkeit
nicht nur besteht, sondern dass sie von gewissen Theorien, Ideologien oder persönlichen Überzeugungen klarer
erfasst wird als von anderen.“
(aus: W ATZLAWICK, P. (1990). Die erfundene Wirklichkeit (S.14/15). München: Pieper)
Konstruktive „Weltbilder“ (also Konstrukte, die das Leben in der Welt erleichtern) bilden nichts ab und haben keine
Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit. Sie können deshalb auch niemals „wahr“ sein oder „stimmen“. Und wenn sie anderen noch so „abstrus“ erscheinen, das einzige Beurteilungskriterium, das an sie angelegt werden kann, ist ihre
Funktionalität („pragmatisches Wahrheitskriterium“).
So sammeln Individuen lauter Konstrukte, die in ihrer Realität „passend“ sind. Wenn sie uns in Erstaunen versetzen,
so nicht, weil sie vielleicht „falsch“ oder „ungenau“ sind, sondern weil wir uns nicht vorstellen, können, dass ein
solches Konstrukt in unsere Realität passt. Solche Konstrukte geben Auskunft über die Lebensverhältnisse des Konstrukteurs - nicht über seine Intelligenz!
3. Die Konstruktion menschlicher Beziehungen und sozialer Wirklichkeit
3.1 Die soziale Konstruktion einer Wahrnehmung: Das Experiment von SHERIF
SHERIF verwendet das schon seit langer Zeit bekannte sog. autokinetische Phänomen, bei dem in einem völlig verdunkelten Raum
ein sehr kleiner und intensitätsschwacher Lichtpunkt für kurze Zeit
dargeboten wird. Da auch bei fester Fixation unsere Augenachsen
niemals ganz ruhig bleiben (Nystagmus), scheint sich der Lichtpunkt, der objektiv fest steht, zu bewegen. Die Vpn besitzen in
diesem Fall auch nicht die Möglichkeit, den subjektiven Charakter
dieser Bewegungserscheinung zu erkennen, da es dazu eines festen
Bezugssystems bedürfte. Ist außerdem die Entfernung des Lichtpunktes unbekannt (der Projektor befindet sich hinter einem
Schirm, der erst nach Verdunkelung weggezogen wird), so fällt die
Schätzung der scheinbaren Bewegungsweite des Punktes überaus
schwer.
Abb 1 zeigt die von 3 VPn in einem eigenen Experiment des Verfassers gelieferten Schätzungen. Zunächst wurden mit jeder Vp vier
Einzelversuche (A1 - A4) (A: Alleinschätzungen) durchgeführt,
sodann drei Gruppenversuche (Z1 - Z3) (Z: Zusammenschätzungen), Abb. 1: Die Konvergenz der Schätzungen im
in denen jede Vp ihre Schätzung ausrief, und schließlich abermals
SHERIF-Experiment
(A: Alleinschätzungen, Z: Zusammenschätzungen)
vier Einzelversuche (A5- A8). Die Ordinate gibt die Schätzungsbeträge in Zentimetern. Die zu einer Gruppe zusammengefassten Vpn wurden im Hinblick auf einen möglichst großen
Unterschied zwischen ihren Alleinschätzungen (A1 - A4) ausgewählt. Zwischen der ersten Gruppe der Alleinschätzungen, den drei Zusammenschätzungen und der zweiten Gruppe der Alleinschätzungen lag jeweils eine Spanne
von 30 Minuten, während deren die Vpn im Sinne einer Konkurrenz dreistellige Zahlen miteinander, multiplizierten.
Dies hatte einmal den Zweck, eine Diskussion zu verhindern, zum andern sollten dadurch die geschätzten Zahlenwerte nach Möglichkeit verwischt werden.“
(aus: HOFFSTÄTTER, P.R. (1975). Gruppendynamik)
Aufgaben
1. Fassen Sie die Ergebnisse des Experimentes von SHERIF in Thesen zusammen.
2. Interpretieren Sie die Ergebnisse inhaltlich.
3. a) Versuchen Sie eine über die experimentelle Situation hinaus verallgemeinernde Aussage zu formulieren.
b) Suchen Sie nach Alltagsphänomenen, die sich mit Hilfe dieser Ergebnisse interpretieren lassen.
4. Formulieren Sie eine ganzheitspsychologische Interpretation des von SHERIF erforschten Phänomens.
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3.2 Wirklichkeitsmodelle und Attributionsmuster
Wir wollen nun einmal versuchen, das grundsätzliche Problem der Wirkung unserer sozialen Weltbilder auf unser
soziales Handeln etwas genauer zu untersuchen.
Beginnen wir mit einem unverfänglichen Beispiel:
Der Zeitungskauf
Stellen Sie sich vor, Sie kaufen an dem neuen Kiosk in Ihrer Nähe eine Zeitung, die 1,40 Euro kosten soll. Sie
legen einen 50-Euroschein hin und bekommen doch tatsächlich 10,- Euro zu wenig heraus!
Notieren Sie nun bitte kurz, was Ihnen in dieser Situation spontan durch den Kopf gehen würde!
Aufgabe:
Bitte spielen Sie die drei möglichen Reaktionen des Kunden auf die falsche Herausgabe von Wechselgeld durch:
Wie könnte (verbal) die erste spontane Reaktion aussehen? Wie würde der Verkäufer jeweils reagieren? Wie würde
sich die Beziehung weiter entwickeln?
Mögliche Interpretation
Mögliche erste spontane
Reaktion des Kunden
Ihre mögliche Wirkung auf
den Verkäufer
Mögliche Folgen für die
Beziehung
(1) Der will mich
betrügen!
(2) Der kann nicht
rechnen!
(3) Der hat sich
geirrt!
Wirklichkeitsmodelle

Alle Menschen haben („in ihrem Kopf”) ein Modell der sozialen Wirklichkeit. Dieses Modell sagt
Ihnen

welche Aspekte der sozialen Wirklichkeit wichtig sind - und welche unwichtig,

wie die Dinge zusammenhängen: was die Ursache von etwas ist - und was nie die Ursache ist,

Teile dieses Modells sind bewusst - andere sind unbewusst.

Teile dieses Modells sind individuell - andere sind kollektiv.

Das Wirklichkeitsmodell liefert uns die wesentlichen Erklärungsmuster für die soziale Wirklichkeit.
Es beinhaltet die zentralen Glaubenssätze über die Zusammenhänge, die wir in der sozialen Wirklichkeit zu erwarten haben.
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Hier einige Beispiele:
1. Zentraler Glaubenssatz: „Ich bin klein, mein Herz ist rein - aber die Welt ist so schlecht!”
 Variante 1 (für Zeitungskäufer): „Selbst vor dem Frühstück, am Kiosk, muss man auf der Hut sein!”
 Variante 2 (für Referendare): „Ich kann mich anstrengen, wie ich will, der Fachleiter wird mich fertig machen!”
 Variante 3 (für Liebespaare): Ich kann ihn/sie lieben wie ich will, ich bin ja doch nur Mittel zum Zweck für
ihn/sie!”
 Variante 4 (für alle): „Alle sind so hässlich zu mir, keiner liebt mich - womit hab´ ich das verdient?”
2. Zentraler Glaubenssatz: „Ich bin OK - aber die anderen sind K.O.!”
 Variante 1 (für Zeitungskäufer): „Der kann noch nicht mal bis 100 zählen!”
 Variante 2 (für Lehrer): „Bei uns früher musste noch etwas geleistet werden - aber diese Jugend ... !”
 Variante 3 (für Autofahrer): „Mein Gott, kann denn hier keiner Auto fahren!”
 Variante 4 (für Liebespaare): „Ich könnte so zärtlich sein - aber er/sie ist einfach nicht liebesfähig!”
3. Zentraler Glaubenssatz: „Die anderen sind OK - aber ich bin K.O.!”
 Variante 1 (für Zeitungskäufer): „Wahrscheinlich habe ich mich auch verrechnet!”
 Variante 2 (für Lehrer): „Ich verstehe nicht, warum die schon wieder so desinteressiert sind, irgend etwas
muss ich falsch machen ... .”
 Variante 3 (für Schüler): „Ich hab die gute Note nur, weil der Lehrer Erbarmen mit mir hatte.”
 Variante 4 (für alle): „Mich kann man einfach nicht mögen.”
3.3 Selbsterfüllende Prophezeiungen
Self-fulfilling-prophecy
„Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung ist eine Annahme oder Voraussage, die rein aus der Tatsache
heraus, dass sie gemacht wurde, das angenommene, erwartete oder vorhergesagte Ereignis zur Wirklichkeit werden lässt und so ihre eigene ‚Richtigkeit’ bestätigt.“ (W ATZLAWICK)
Der Rosenthal-Effekt
Einige der gesichertsten und elegantesten Untersuchungen von selbsterfüllenden Prophezeiungen auf dem Gebiete
menschlicher Kommunikation sind mit dem Namen des Psychologen Robert Rosenthal von der Harvard-Universität
verbunden. Es sei hier vor allem sein Buch mit dem treffenden Titel Pygmalion im Unterricht erwähnt, in dem er
über die Ergebnisse seiner sogenannten Oak-School-Experimente berichtet. Es handelte sich dabei um eine Volksschule mit 18 Lehrerinnen und über 650 Schülern. Die selbsterfüllende Prophezeiung wurde in den Lehrkräften
dadurch erzeugt, dass die Schüler vor Beginn eines bestimmten Schuljahrs einem Intelligenztest unterzogen wurden,
von dem den Lehrerinnen aber mitgeteilt wurde, dass er außer dem Intelligenzgrad auch die Feststellung jener 20 %
der Schüler ermögliche, die im bevorstehenden Schuljahr rasche und überdurchschnittliche Leistungsfortschritte
machen würden. Nach Durchführung der Intelligenzprüfung, aber noch bevor die Lehrerinnen zum ersten Mal mit
ihren neuen Schülern zusammentrafen, erhielten sie die (der Schülerliste völlig wahllos entnommenen) Namen jener
Schüler, von denen auf Grund des Tests jene ungewöhnlichen Leistungen angeblich mit Sicherheit erwartet werden
konnten. Der Unterschied zwischen diesen und den übrigen Kindern bestand also nur im Kopfe der jeweiligen Lehrerin. Am Ende des Schuljahrs wurde derselbe Intelligenztest für alle Schüler wiederholt und ergab tatsächlich überdurchschnittliche Zunahmen des Intelligenzquotienten und der Leistungen dieser »besonderen« Schüler, und die
Berichte der Lehrkräfte bewiesen ferner, dass sich diese Kinder auch sonst in Verhalten, intellektueller Neugierde,
Freundlichkeit und so weiter vorteilhaft von ihren erschreckender.
(aus: WATZLAWICK, P. (1985). Selbsterfüllende Prophezeiungen. In P. WATZLAWICK, (Hrsg.), Die erfundene Wirklichkeit,
(S.97-99). München: Piper.)
Aufgaben
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1. „Du solltest Deine Frau etwas genauer beobachten, wenn Dir Deine Ehe lieb ist.“ sagt ein „wohlmeinender“ Freund,
worauf der Mann beginnt, seine Frau zu „beobachten“:
Er fragt nun öfter, wo sie denn gewesen sei, warum sie so spät komme, er befragt „unauffällig“ ihre Freundinnen, denn
er bemerkt, dass seine Frau mehrfach Dinge unternommen hat, ohne es ihm zu sagen. ...
2. „Alle missachten mich, keiner bringt mir die Achtung und Freundlichkeit entgegen, die mir zusteht,“ denkt eine Frau
und ist deshalb äußerst empfindlich, wenn man sie kritisiert und misstrauisch, wenn man ihr einen Gefallen tut; denn sie
hat schon viele schlechte Erfahrungen gemacht ...
3. „Du bist so steif und gefühllos, wenn man dich anfasst“, sagt die Frau zum Mann, „komm, lass dich doch mal gehen,
sei doch mal zärtlich !“
Analysieren Sie ausführlich die wirklichkeitserzeugenden Interaktionsprozesse in diesen Beispielen (Inhalts- und Beziehungsebene, Interpunktion, Kreisprozesse, positive Rückkopplungen, self-fulfilling prophecy)
Fallbeispiel: Der Mann und sein neuer Hund
Ein Mann, der in einem Einfamilienhaus lebt, entschließt sich eines Tages, aus dem Tierheim einen Hund zu holen. Er
fährt nun mit dem neuen Hund auf dem Rücksitz vor seinem Haus vor und der Hund springt freudig heraus. Da kommt
zufällig die Nachbarin vorbei und sagt: „Na, hast Du Dir einen neuen Hund angeschafft? Der ist ja wohl ziemlich groß!“
Der Mann stutzt, sieht den Hund an, der übermütig an ihm hochspringt, und sagt sich: „Ach, der ist doch ganz freundlich.“ Dann lässt er den Hund in den umzäunten Garten und geht ins Haus.
Nach kurzer Zeit sieht er vom Fenster aus, wie der Hund am Gartenzaun zum Nachbargrundstück hochspringt. Nun
wird ihm wohl etwas mulmig. Die Nachbarin hat schließlich kleine Kinder, die draußen spielen, und er kennt natürlich
seinen Hund noch nicht. Sicherheitshalber geht er also in den Keller, um eine lange Wäscheleine zu holen, an die er
den Hund so festlegt, dass dieser noch über das ganze Grundstück laufen, aber nicht mehr über den Zaun springen
kann.
Als er aber wenig später wieder nach seinem neuen Hund sieht, da zerrt dieser ziemlich an der Leine, und der Mann
geht hinaus, um sie etwas zu kürzen. Wer weiß, wenn jemand zum Gartentor hineinkommt ... . Aber auch das, so stellt
sich kurz darauf heraus, genügt nicht. Der Hund versucht nun, voller Kraft von der Leine loszukommen, so dass der
Mann sich gezwungen sieht, diese weiter zu kürzen. Nun aber wird der Hund immer aggressiver. Er beißt auf der Leine
herum und lässt den Mann kaum noch an sich heran. Gegen Abend sieht man ihn mit dem Kopf an die Hauswand
gekettet, und als der Mann ihn füttern will, wird er gebissen. Da geht er traurig in den Keller und holt ein Gewehr ...
„Du hattest recht“, sagt er anderntags zur Nachbarin „der war wohl tatsächlich ziemlich verhaltensgestört!“
Aufgabe
Wenden Sie die bisherigen Erkenntnisse über die „Konstruktion von sozialer Wirklichkeit“ auf das obige Fallbeispiel an
3.4 MindMap zum Konstruktivismus
Organisationsentwicklung
sozialer
Konstruktivismus
(Luhmann/
Berger/Luckmann)
Lernen durch
Einsicht
Gruppenprozese
Gruppendynamik
Ganzheitspsychologie
Systemtheorie
Konstruktivismus
Konstruktivistische
Erkenntnistheorie
Rezeptionsästhetik
Lewins
Handlungstheorie
Watzlawicks
Kommunikationstheorie
systemische
Familientherapie
Piagets
Entwicklungstheorie
Bruners
Entdeckendes Lernen
Wagenscheins
Genetisches Prinzip
Dr. Günter Sämmer
Konstruktivistische Ansätze in der Sozialpsychologie - Seite 11 -
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Teil II:
Die konstruktivistische Kommunikations- und Systemtheorie
1. Selbstorganisation in sozialen Systemen
Demonstration „Erbsenspiel“: Das selbstorganisierte Entstehen von Dominanzstrukturen in Gruppen
Drei Vpn nehmen an einem Tisch Platz und sollen schätzen, wie viele Erbsen (oder Streichhölzer) sich in einem Glas
befinden, das auf dem Tisch steht. Sie sollen ein einvernehmliches Urteil abgeben, das auf ein Blatt zu schreiben ist.
Alle übrigen beobachten den sehr schnell verlaufenden gruppendynamischen Prozess. Sie versuchen die sich herausbildende Dominanzstruktur (dominante bzw. untergeordnete Positionen in der Gruppe) zu identifizieren, und zwar auch
aufgrund der nonverbalen Signale, z.B.:
- Wer setzt sich zuerst?
- Wer „besetzt“ den Tisch (z.B. mit Ellenbogen)?
- Wer ergreift die Initiative (greift zuerst zum Glas, macht Verfahrensvorschläge usw.)
- Wie verhalten sich die anderen bei solchen Initiativen?
- Wer wird wie oft angesehen?
Der gesamte Vorgang, der kaum länger als eine Minute dauert, wird auf Videoband aufgezeichnet und später detailliert
analysiert. Nach einem Spieldurchgang wird im Plenum über die Einschätzung der Dominanzstruktur abgestimmt.
(Erfahrungsgemäß ergeben sich für die Einschätzung der Gruppenpositionen Übereinstimmungen von über 80%).
Variante: „Bilden Sie keine Dominanzstruktur!“
Nach der Analyse des „Erbsenspiels“ sollen drei Schüler (neue Gruppenzusammensetzung) versuchen, gemeinsam das
Gewicht eines Gegenstandes zu schätzen, „ohne dabei eine Dominanzstruktur auszubilden“.
Aufgabe
a) Durch welche einzelnen Verhaltensweisen wird der Einzelne in der Gruppe dominant? Durch welche einzelnen Verhaltensweisen wird ihm von den Gruppenmitgliedern Dominanz zugestanden? Nennen sie konkrete Beispiele.
b) Was könnte der Einzelne tun, um die Ausbildung einer Dominanzstruktur zu verhindern? Welche Konsequenzen
hätte dies für das Gruppenziel?
c) Führen Sie ein Rollenspiel durch, in dem sich die Teilnehmer bemühen, die Ausbildung einer Dominanzstruktur zu
verhindern.
Der gruppendynamische Prozess: Die Selbstkonstruktion einer Gruppenstruktur
 Die spontane Bildung der Gruppenstruktur durch direkte Interaktion: Treten Personen miteinander in direkte Interaktion, so bildet sich spontan eine Dominanzstruktur heraus: Die Aktivitäten der einzelnen Gruppenmitglieder, ihre Reaktionen aufeinander führen dazu, dass einzelne Gruppenmitglieder immer deutlicher in ihre
Positionen „hineinwachsen“. (B wird dominant, wird von A unterstützt, C gerät in eine untergeordnete Position)
 Jedes Mitglied interagiert unausgesetzt mit jedem anderen: Jedes noch so minimale Verhaltenselement ist für
jedes Mitglied sichtbar, hörbar, spürbar und wird (meist unbewusst) registriert und auf seine gruppendynamischen
Konsequenzen hin ausgewertet.
 Einer muss anfangen – man kann nicht nichts tun: Zum Erreichen des Gruppenzieles ist es unerlässlich, dass
gehandelt werden muss. (Ein Mitglied muss als erstes zum Glas greifen.) Man kann nicht nichts tun! Manche Dinge
können aber nur von einem Mitglied getan werden (als erstes durch eine enge Tür gehen, einen kleinen Gegenstand
ergreifen usw.), und die Tatsache, dass ein Mitglied dies als erstes tut, ist für die anderen ein Signal. (Sogar die verbale Aufforderung an die anderen, „abzustimmen“ oder „demokratisch“ zu entscheiden, ist eine solche Initiative, die
den Initiator in einen höheren Rang befördert: er „leitet“ die Abstimmung.)
 Jede Handlung hat Bedeutung für die Gruppenbeziehung: Es wird deutlich, dass jeder „Handgriff“ („schiebt
das Glas von sich weg“), jede Bewegung („reckt sich über das Glas“, „trommelt mit den Fingern“), jedes Wort
(„56“, „Weiß nicht“) und jedes „Stillhalten“ eine Bedeutung hat in Bezug auf die Verteilung der Dominanzpositionen.
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April 2002
 Zustimmungen und Ablehnungen: Ergreift ein Mitglied die Initiative (z.B.: hält das Glas schräg), so ist jede
Reaktion der Anderen entweder Zustimmung oder Ablehnung (Bestätigung: z.B. sich interessiert hinüberbeugen,
sich an der Schätzung beteiligen, interessiert zusehen; Ablehnung: z.B. unbewegt sitzen bleiben, wegsehen, einen
anderen Vorschlag machen)
 Nonverbale Signale: Neben den sachbezogenen Handlungen werden ununterbrochen Signale ausgetauscht. Dies
geschieht meist unbewusst: Zwei Mitglieder synchronisieren ihre Bewegungen und imitieren sich gegenseitig („Haltungsecho“) (z.B. eines wendet den Oberkörper zur Seite, das andere führt dieselbe Bewegung mit kaum merklicher
Verzögerung spiegelbildlich aus; ein Mitglied setzt den linken Ellbogen auf und führt die linke Handfläche an die
Backe, ein anderes tut dasselbe mit dem rechten Arm). Tritt jemand in das Haltungsecho des anderen ein, so kann
dieser das als Zustimmung zu seiner Aktion verstehen. Die gegenteilige Wirkung kann das plötzliche Aufgeben der
körperlichen Nähe haben (z.B. nimmt die Ellbogen vom Tisch und lehnt sich plötzlich weit auf dem Stuhl zurück)
 Koalitionen und Machtkämpfe: Während des Vorgangs der Ausbildung der Gruppenstruktur kommt es häufig
zu unbemerkten und unbewussten Koalitionen aber auch Machtkämpfen von Gruppenmitgliedern, die allerdings oft
vorübergehend sind. Koalitionen: Ein Mitglied beginnt, das andere häufiger anzusehen und anzusprechen, was von
diesem jeweils beantwortet wird. Die Initiative eines anderen Mitglieds wird von den übrigen „übersehen“, Reaktionen bleiben aus. Während in der Anfangsphase Koalitionen schnell wechseln können, bleiben sie im Folgenden
immer länger stabil und werden zu einem Bestandteil der Gruppenstruktur. Machtkämpfe: Ein Mitglied wird initiativ, ein anderes Mitglied wird seinerseits aktiv, was zu einem regelrechten Aufschaukelungsprozess führen kann,
wenn ersteres mit stärkeren Aktionen antwortet.
 Die Bedeutung der weniger dominanten Mitglieder: Für die Verteilung der Positionen ist die Reaktion jedes
Gruppenmitglieds von Bedeutung. Nicht Widersprechen (z.B. durch eigene Aktionen) kann Zustimmung bedeuten,
Stillhalten bestätigt den Akteur in der Berechtigung seiner Initiative: Jedes Mitglied nimmt durch jedes (auch ausbleibendes) Verhalten Stellung!
1.1 Offene Systeme und Interdependenz
Offene soziale Systeme
 Ein offenes soziales System ist ein „Aggregat“ von Objekten und Beziehungen zwischen den Objekten.
 Die Objekte eines sozialen Systems stehen miteinander in ununterbrochenem Informationsaustausch.
 Die Beziehungen in sozialen Systemen werden definiert durch die Regeln für den Informationsaustausch.
 Ein soziales System heißt offen, weil es stets auch mit anderen Systemen seiner Umgebung Informationen austauscht.
Dies können sowohl Obersysteme als auch Teilsysteme sein.
Interdependenz
Jeder Teil eines Systems ist mit jedem anderen Teil so verbunden, dass eine Änderung in einem Teil eine Änderung in
allen Teilen und damit im gesamten System verursacht („Interdependenz“).
Das systemische „Gummizug-Modell“ veranschaulicht die Bedeutung der Interdependenz
in sozialen Systemen:
Alle Mitglieder (Objekte) des Systems sind interdependent miteinander verbunden. Veränderungen an einem Teilelement des Systems (z.B. durch Ziehen in eine Richtung) teilen
sich direkt und indirekt allen anderen „Mitgliedern“ des Systems mit.
1.2 Axiome der Kommunikation in sozialen Systemen
In sozialen menschlichen Systemen ist Information nicht nur in (verbalen oder non-verbalen) Mitteilungen enthalten,
sondern gerade auch im Ausbleiben einer Mitteilung („plötzlich schwieg er“, „von den Schülern kam nichts mehr“, „es
melden sich immer weniger“). Somit ist es nicht möglich, keine Information zu geben. Die Tatsache, dass also in sozialen
Systemen zwangsläufig ein ununterbrochener Informationsaustausch stattfindet, wurde von WATZLAWICK beschrieben
durch das
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Konstruktivistische Ansätze in der Sozialpsychologie - Seite 13 -
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1. Axiom der Kommunikationstheorie
Man kann nicht nicht kommunizieren.
Finden sich verschiedene Menschen zusammen und widmen sich einer gemeinsamen Aktivität, bei der sie miteinander
kommunizieren müssen, so entsteht immer eine Gruppenstruktur:
Manche Gruppenmitglieder sind z.B. aktiver als andere. Sie machen Lösungsvorschläge, sammeln Informationen, regen
Aktivitäten an. Jede solche kommunikative Aktivität hat aber zwei Bedeutungsebenen:
1. Die Inhaltsebene: Sie enthält die inhaltliche, „oberflächliche“ Information, den Vorschlag, etwas zu tun oder die Bitte
um eine Mitteilung. („Sollen wir nicht vielleicht zuerst einmal ...“)
2. Die Beziehungsebene: Die Anregung zu einer Aktivität wird aber von den Systemmitgliedern auch noch als Aussage
über die gemeinsame Beziehung gedeutet. Derjenige, der einen solchen Vorschlag macht, beginnt eine bestimmte Rolle
für sich zu beanspruchen, und diejenigen, die seinem Vorschlag folgen, akzeptieren diese Rolle. Daraus leitet WATZLAWICK ab das
2. Axiom der Kommunikationstheorie
Jede Kommunikation enthält zwangsläufig immer
sowohl Inhalts- als auch Beziehungsaspekte
1.3 Selbstorganisation in sozialen Systemen
Weil nun jede Kommunikation stets auf der Inhalts- und auf der Beziehungsebene abläuft, wird auch immer über die
Struktur der Beziehungen „verhandelt“. Was man auch tut oder sagt, es bestätigt entweder die Beziehungsstruktur oder
es verändert sie! So werden in einer sich neu bildenden Gruppe manche Mitglieder dominanter, weil sie aktiver sind,
öfter die Initiative ergreifen oder wichtige Lösungsvorschläge machen; und passivere Mitglieder verlieren oft an Einfluss,
und mit der Zeit übernehmen die einen Mitglieder andere Aufgaben als die anderen. Es hat sich also völlig automatisch,
ohne dass dies von außen veranlasst wurde, eine Dominanz- und Rollenstruktur gebildet. Daraus folgt das
Das Prinzip der Selbstorganisation in sozialen Systemen
Soziale Systeme sind selbstorganisiert; d.h. sie bilden ihre Beziehungsstrukturen und die Regeln für
die Kommunikation aus sich selbst heraus.
Aufgabe
a) Beschreiben Sie zusammenhängend den Prozess der Selbstorganisation am Beispiel des „Erbsenspiels“
b) Welche inhaltlichen Beiträge haben dort welche Bedeutung für die Beziehung der Mitglieder untereinander (die
Dominanzstruktur)?
c) Wie müsste eine „rein sachliche“ Mitteilung aussehen?
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2. Dynamische Prozesse in sozialen Systemen
Ein Fallbeispiel:
Lehrer C und der „lahme Verein“
Seit zwei Wochen unterrichtet Lehrer C nun einen Grundkurs, den er von einer erkrankten Kollegin übernommen hat. Die Mitarbeit in diesem Kurs kann er im Gespräch mit anderen Lehrern nur als „schleppend“ bezeichnen, den Grundkurs nennt er einen „lahmen Verein“. Und er findet damit die Einschätzung seiner Kollegin voll
bestätigt. Dafür, dass eine ganze Reihe von Schülerinnen und Schülern in diesem Fach eine Abiturprüfung machen wollen, scheinen ihm ihr Interesse und ihr Engagement ziemlich schwach zu sein. Er mag die Schüler, die
eigentlich recht gutwillig sind, und er bemüht sich intensiv, gerade im Hinblick auf das Abitur, dies zu verbessern:
Er ermahnt den Kurs, die nun folgende Thematik sei ausgesprochen wichtig. Er erläutert ausführlich und auch
engagiert. Wenn er aber dann dazu eine Frage stellt, kommen wieder nur vereinzelte Meldungen. „Brauchen wir
das denn wirklich für das Abitur?“ fragen manchmal die Schüler. Lehrer C bejaht dies und erklärt den Sachverhalt geduldig ein weiteres Mal - ganz ausführlich. Und dann fragt er erneut. Aber es melden sich noch weniger
Schüler. Lehrer C wird dann oft ungeduldig, und manchmal vergeht darüber auch die Stunde, ohne dass von
den Schülern noch etwas gekommen wäre.
Obwohl mehrere der zukünftige Abiturprüflinge sich Mühe geben und eifrig mitschreiben, zeigt sich eine andere
Gruppe von Schülern besonders uninteressiert. Sie geben an, das Fach nicht freiwillig gewählt zu haben. Der
Kurs, den sie haben wollten, sei bei den Wahlen nicht zustande gekommen, und so habe es für sie einfach keine Alternative gegeben. Sie murren manchmal und widmen sich besonders intensiv irgendwelchen Nebenbeschäftigungen wie Kritzeln oder Papier falten. In Gesprächen untereinander nennen sie den Lehrer C einen
„Hektiker“. Er sei zwar nett, aber irgendwie „überengagiert“.
Lehrer C weiß inzwischen um die Passivität in diesem Kurs und hat sich darauf eingestellt. Er übernimmt immer
mehr selber, stellt weniger Fragen und erklärt an der Tafel. Er ist inzwischen sehr besorgt, dass seine Prüflinge
in diesem Fach das Abitur nicht bestehen könnten. Dies wäre natürlich auch für ihn selber und für die erkrankte
Kollegin nicht angenehm.
2.1 Kreisprozesse und Rückkopplung
Im Rahmen solcher Gegenmaßnahmen zur Aufrechterhaltung der Homöostase kann es zu regelrechten Aufschaukelungsprozessen kommen:
Der Lehrer, der feststellt, dass die Schüler passiver werden, steigert seine eigene Aktivität, um dies zu beheben. Die
erhöhte Aktivität des Lehrers führt aber dazu, dass die Schüler ihrerseits sich noch stärker zurückhalten, worauf der
Lehrer noch einmal „zulegt“ .... !
Insgesamt ergibt sich so ein rückgekoppelter Kreisprozess: Führen nämlich Gegenmaßnahmen zu anderen Gegenmaßnahmen, so entsteht eine positiven Rückkopplung. Reicht eine Gegenmaßnahme nicht aus, die Störung zu
beheben, so versucht man „mehr vom selben“; dasselbe tut aber auch der andere.
desto mehr
Lehrer aktiv
Schüler passiv
desto mehr
Positive Rückkopplung zwischen dem Lehrer und der Klasse
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Beispiel: Die Segler
Zwei Segler sitzen - jeder auf seiner Seite und zwischen ihnen das leicht geblähte Segel - gemütlich in ihrem Segelboot bei ruhiger See und leichter Brise. Man
sieht ohne zu sprechen konzentriert auf die Mastspitze, um die Bewegungen des
Bootes möglichst genau erkennen zu können.
Da streift ein ganz leichter Wind das Gesicht des einen Seglers und er glaubt,
dass sich die Mastspitze tatsächlich schon ein wenig von ihm weg bewegt hat.
Nun ist es natürlich sein Bemühen, das Segelboot möglichst stabil zu halten,
und unser Segler tut („wehret den Anfängen“!), was seine Aufgabe ist: Er lehnt
sich ganz leicht nach hinten über den Bootsrand, um den sich von ihm weg neigenden Mast „zurück zu holen“.
Und tatsächlich, das Boot stabilisiert sich wieder, der Mast richtet sich wieder auf.
Nun sieht auch der andere Segler das Problem: Die Mastspritze neigt sich von ihm weg! Und er reagiert wie sein
Partner, indem er sich seinerseits ein ganz klein wenig über die Bordwand lehnt. Tatsächlich: Der Mast kommt
wieder zurück.
„Das war wohl zu wenig“, denkt der erste und lehnt sich nun schon etwas entschiedener hinaus ... „Das war wohl
zu wenig“, denkt auch der zweite ... . Und bald schon sieht man zwei angestrengte Segler machtvoll und mit äußersten Kräften sich außenbords in die Trapeze stemmen, um bei ruhiger See ihr Segelboot „auszureiten“.
Das Ende ist traurig: beide hängen nun mit äußerster Anstrengung über dem Wasser und warten verzweifelt darauf, dass ihre Kräfte nachlassen. - Jetzt haben die beiden ein Problem ...
Aufgabe
a) Stellen Sie zum Beispiel der beiden Segler Kreisprozess-Schema der positiven Rückkopplung auf.
b) Welche Möglichkeiten der Lösung gibt es, wenn beide nicht miteinander sprechen können?
c) Suchen Sie andere Beispiele aus dem Alltag, für solche positiven Rückkopplungen in der Interaktion.
2.2 Interpunktionen von Ereignisfolgen: Die Interpretation von Ursache und Wirkung
Grundlage für den oben beschriebenen Prozess der positiven Rückkopplung in einem sozialen System ist eine bestimmte unterschiedliche Form der Interpretation der Ereignisse und ihrer Ursachen:
Der Lehrer im obigen Beispiel bemerkt, dass die Schüler in ihrer Aktivität nachlassen, und fühlt sich verpflichtet,
nunmehr selber aktiver zu sein, um den Stoff noch „durchzubekommen“. Die Schüler allerdings bemerken, dass der
Lehrer deutlich hektischer wird und kaum noch Pausen lässt, in denen man sich auf eine Mitarbeit besinnen könnte.
Sie beginnen, sich immer mehr zurückzuhalten, weshalb der Lehrer ... .
Hier wird eine Ereignisfolge beschrieben, in der Schüler und Lehrer sich in ihren Aktivitäten abwechseln, ohne dass
klar ist, wer „angefangen“ hat:
... S L S L S L S ...
Fragt man nun aber die Schüler, warum sie nicht mitarbeiten, so werden sie antworten, dies liege am Lehrer, der
„überengagiert“ sei und einen nicht „dazwischenkommen lasse“. Sie interpretieren diese Ereignisfolge also in folgender Weise: Weil der Lehrer zu aktiv ist, deshalb werden wir immer passiver.
Die Interpretation besteht also darin, dass, die obige Ereignisfolge in einer ganz bestimmten Weise in UrsacheWirkungs-Einheiten zerlegt wird. (Der Lehrer ist stets die Ursache, das Verhalten der Schüler ist die Folge davon.)
Eine solche Interpretation von Ursachen und Wirkungen wird Interpunktion genannt.
Interpunktion der Schüler: ... S (L S) (L S) (L S) ...
Fragt man allerdings den Lehrer, so wird er sagen, er müsse ja immer mehr erklären, weil die Schüler so passiv seien. Er zerlegt also dieselbe Ereignisfolge in anderer Weise in Ursache-Wirkungs-Einheiten, und nimmt somit eine
andere Interpunktion vor:
Interpunktion des Lehrers: ... (S L) (S L) (S L) S ...
Nun ist es unsinnig, in solchen Kreisprozessen nach „Schuldigen“ zu suchen. Jede Schuldzuweisung käme lediglich
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der Übernahme der Interpunktion einer der beteiligten Parteien gleich. Aber Interpunktionen sind, wie WATZLAWICK (1969) gezeigt hat, genauso willkürlich wie unvermeidlich, d.h. es ist Menschen nicht möglich, nicht zu
interpunktieren. WATZLAWICK formuliert diesen Sachverhalt in seinem
3. Axiom der Kommunikation:
Jede Kommunikation wird von den Beteiligten zwangsläufig interpunktiert.
Aufgabe
a) Der Lehrer C erzählt sein Problem einem Kollegen, und die Schüler erzählen ihr Problem mit C anderen
Schülern. Wie werden sich die jeweils Außenstehenden in Bezug auf die Interpunktion des Erzählers verhalten?
b) Erfinden Sie eine kurze Ereignisfolge für zwei Personen A und B in einer beliebigen Konfliktsituation. Erzählen Sie diese Situation aus der Sicht von A und dann aus der Sicht von B. Versuchen Sie sie ohne Interpunktion zu erzählen!
Teil III:
Systemische Beratung im Schulalltag
1. „Probleme“ aus konstruktivistischer Sicht
Fallbeispiel: Probleme mit dem Schüler Max
Der Lehrer hat die Klasse 8a erst kürzlich im Fach Deutsch übernommen. Er wurde bereits von einem Kollegen
auf das problematische Verhalten, die Arbeits- und Konzentrationsstörungen des Schülers Max und dessen
schwierige häusliche Situation hingewiesen.
Der Lehrer hat diese Unterrichtsstunde mit einem kurzen Gedicht begonnen, über das die Schülerinnen und Schüler interessiert diskutiert haben. Nun sollen die Gesprächsergebnisse in Stillarbeit schriftlich zusammengefasst
werden. Der Schüler Max beginnt zunächst wie alle anderen zu schreiben. Nach einiger Zeit aber starrt er nur noch
gedankenverloren auf das Heft des Nachbarn.
Der Lehrer ermahnt Max freundlich mitzumachen, aber dieser antwortet sehr unwirsch: „Ja, is' schon gut, Mann!“
Einige Schüler kichern und sehen den Lehrer erwartungsvoll an. Dieser ärgert sich über Max, sagt aber nichts.
Etwas später, als Max seinem Nachbarn etwas ins Heft kritzelt, sagt der Lehrer energisch: „Lass das! Du solltest
nun wirklich mit dem Schreiben weitermachen - und vor allem die anderen nicht stören! Wie soll das denn werden?“
Max schneidet daraufhin seinem grinsenden Nachbarn eine Grimasse und sagt zu diesem laut: „Haste gehört, was
der gesagt hat, Du sollst schreiben, Du Eiermann?“. Die Klasse lacht. Der Lehrer fährt Max an: „Soll ich Dich tatsächlich gleich in der ersten Stunde ins Klassenbuch eintragen?“
Darauf reißt Max seinem Nachbarn ein Blatt aus dem Heft, knüllt es zusammen und wirft es einer Mitschülerin in
den Nacken. Diese quietscht kurz auf und kichert. Einige Mitschülerinnen kichern mit. Der Lehrer, nun auch an die
Klasse gewandt: „Also ihr wollt es offensichtlich nicht anders. ... Ich kann euch nur sagen, die nächste Klassenarbeit kommt bestimmt. Also, dann fangen wir am besten gleich mit ein paar Sonderaufgaben an ... .“
Nun entsteht wilder Protest. Einige Schülerinnen, die bisher völlig still waren, beginnen laut zu maulen. Max ruft
wütend an den Lehrer gewandt in die Klasse: „Typisch! Total unfair! Was wollen Sie eigentlich von uns?“
Der Lehrer trägt nun Max zusammen mit zwei Schülern, die besonders laut waren, ins Klassenbuch ein. Max
schickt er ins Sekretariat, um sich beim Schulleiter zu melden.
Beim Hinausgehen sagt Max leise und in drohendem Ton: „Sie wissen, dass Sie das nicht dürfen. Ich habe ein
Anrecht auf Unterricht wie alle anderen. Na ja, wir werden ja sehen ... „
Wie ein Problem entsteht
Probleme entstehen in sozialen Systemen durch innersystemische Prozesse:
 Alles beginnt damit, dass eine Person etwas wahrnimmt oder wahrzunehmen glaubt, was nach ihrer Ansicht
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„nicht stimmt“: eine kleine Störung des Systemgleichgewichts (eine leichte Bewegung des Mastes - oder einen
gedankenverlorenen Schüler).
Um Störung zu beheben, handeln Personen nun häufig in überraschend stereotyper Weise:
 Man startet eine Gegenmaßnahme, die sich schon oft bewährt hat (man lehnt sich im Boot ein wenig nach außen
- man ermahnt den gedankenverlorenen Schüler).
 Reicht diese Gegenmaßnahme nicht aus, so versucht man sie zu verstärken: „Mehr desselben“.
 Die Interaktion zwischen Personen kann sich nun aufschaukeln und in einem unauflösbaren Kreisprozess „festfahren“. Es kommt zu einer positiven Rückkopplung.
 Endlich ist die anfängliche kleine Störung längst vergessen, denn die Problemlösungen sind inzwischen selber
zum Problem geworden, zum „Problem 2. Ordnung“.
Stereotype Wirklichkeitsmodelle verhindern den Ausstieg aus dem Teufelskreis
Wie kommt es aber zu dieser stereotypen Strategie des Mehr-Desselben?
Jedes Individuum hat in seinem Leben Erfahrungen und Wissen gesammelt, das sich weitgehend bewährt hat. Es hat
Vorstellungen darüber entwickelt, worin die Ursachen bestimmter (sozialer) Probleme liegen und wie man ihnen
beikommen kann; dies alles gehört zu seinem sozialen Wirklichkeitsmodell:
- Jeder erfahrene Segler weiß doch: Wenn das Boot sich neigt (wie im obigen Beispiel), dann liegt das natürlich
daran, dass es durch Wind oder Wellen instabil geworden ist - und die probate Maßnahme ist das Hinauslehnen. Und wenn das nicht reicht, dann: Mehr desselben! Und das Fatale ist: Meist klappt das auch!
- Jeder erfahrene Lehrer weiß: Wenn Schüler „häusliche Probleme“ haben (so wie Max), dann neigen sie häufig
zu Konzentrationsschwächen und Störverhalten. Und das geeignete Mittel dagegen ist: ermahnen, schimpfen,
strafen. - Und wenn das nicht reicht, dann: Mehr desselben! Und das Fatale ist: Meist klappt das auch!
Nach dem Motto „Never change a winning strategy“ bleibt man bei diesen Maßnahmen und Erklärungsmodellen,
auch wenn es „härter“ kommt. Wenn dies aber einmal „ins Unheil“ führt, dann fällt einem so schnell nichts Neues
mehr ein: Die grundlegenden Denk- und Erklärungsmuster sind kaum noch zu durchbrechen, auch wenn „nichts
mehr geht“.
In keinem der obigen beiden Fälle kommt den Betroffenen z.B. die Idee, dass sie selber in die Entstehung und Verschärfung des Problems verwickelt sein könnten. Ihr Wirklichkeitsmodell beinhaltet ausschließlich äußere Ursachen
und erzeugt damit eine stereotype, „einäugige“ Sicht der Zusammenhänge.
So resultiert die „Unlösbarkeit“ unserer sozialen Probleme häufig aus der Einfalt unserer Wirklichkeitsmodelle: Wir
halten unsere Erklärungen für „richtig“ und „wahr“ oder wenigstens doch für „plausibel“. Und wir halten eisern an
ihnen fest (da sie sich ja schließlich sonst auch immer bewährt haben!)
Wie oft wir dieser Regel des „Mehr vom Selben“ zum Opfer fallen, mögen folgende Beispiele andeuten:
 Die Lehrerin sieht, dass die Klasse passiv da sitzt. Sie verstärkt ihre Aktivität. Die Klasse wird immer stiller...
 Die Ehefrau nörgelt, weil der Ehemann sich „nicht um sie kümmert“. Er zieht sich immer mehr zurück, weil sie
„sowieso ewig nörgelt“ ...
 Probleme besprechen erzeugt Probleme, die man am besten bespricht: Wenn Ihr Partner nicht zärtlich ist, dann
„thematisieren“ Sie dies, und sie werden sehen, wie krampfhaft seine Zärtlichkeit ist ...
Diese letzten Beispiele führen uns zu einem Spezialfall von Problemkonstruktion:
Die selbsterfüllende Prophezeiung (self-fulfilling-prophecy)
 Alles beginnt (wie üblich) damit, dass eine Person A etwas zu wissen oder wahrzunehmen glaubt, was bei einer
anderen Person B (nach ihrer Ansicht) „nicht stimmt“ („Die mag mich nicht“ - „Der ist doch gestört“ - „Die
Klasse ist aber passiv“ - „Er vernachlässigt mich“- „Er ist gar nicht zärtlich“).
 Und schon beginnt die Person A mit ihren Gegenmaßnahmen: Sie ist misstrauisch, weil sie ja „nicht gemocht“
werden wird - sie nimmt sich in Acht, weil der andere schließlich „gestört“ ist.
 Und die andere Person B bemerkt natürlich dieses unerklärlich unfreundliche Verhalten von A und trifft nun
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ihrerseits Gegenmaßnahmen gegen diese Gegenmaßnahmen: Bei jemandem, der schon so misstrauisch auf einen
zu kommt, obwohl man sich doch noch gar nicht kennt - da sollte man schon aufpassen ....
Und so geht dann endlich in Erfüllung, was Person A prophezeit hat: B ist misstrauisch und gestört!! (und natürlich:
die Klasse ist tatsächlich passiv, der Ehemann kümmert sich nicht, der Partner ist nicht zärtlich) Und dies alles ist
nur eingetreten, weil A dies prophezeit hat.
Systemtheoretische Lösungen
Der erste systemtheoretische Grundsatz für Veränderungen
Wenn es in einem System ein Problem gibt, so handelt es sich dabei, wie oben gesehen, um eine hartnäckig „festgefahrene“ Interaktion innerhalb dieses Systems. Konstituierende Faktoren sind dabei die stereotypen Wirklichkeitsmodelle der Mitglieder.
Nun ändert ein System sein Verhalten grundlegend, wenn auch nur ein Mitglied sich grundlegend anders verhält.
(Der Lehrer könnte z.B. am Anfang zu dem gedankenverlorenen Max - natürlich ohne Ironie - sagen: „Ich freue
mich, dass du so intensiv über das Problem nachdenkst!“) Dies wird auch das Verhalten der anderen Mitglieder
verändern und das gesamte Systemgefüge „mitziehen“. So gilt der
Erste systemtheoretische Grundsatz für Veränderungen:
Wenn du in einem System, zu dem du gehörst, etwas ändern willst, dann fange bei dir selber an. Die anderen
werden nicht umhin kommen, sich mit zu verändern.
Veränderung von Wirklichkeitsmodellen und Perspektiven
Nun muss man aber erst einmal wissen, wo und wie man sein Verhalten ändern kann. Hier stehen dann häufig stereotype Wirklichkeitsmodelle im Weg. Sie hindern uns daran, alternative Lösungen überhaupt nur in Erwägung zu
ziehen.
Perspektivbeschränkungen
Drei Tendenzen sind es, die uns bei hartnäckigen Problemen in unserer Perspektive einschränken:
1. Die Tendenz zur „eingeschränkten Perspektive“
Wir sehen die Problemzusammenhänge ausschließlich aus unsere Perspektive: Wir sehen die anderen als Verursacher und uns selbst als (zu Recht) Reagierende. Sie subjektive Perspektive der anderen Konfliktbeteiligten (z.B. die
von Max) bleibt häufig unberücksichtigt.
2. Die Tendenz zur „Zentrierung auf das Problematische“
Ein schweres Problem (wie Max) nimmt unsere Aufmerksamkeit völlig in Beschlag. Wir konzentrieren uns ausschließlich nur noch auf das „Problematische“, auf das, was nicht klappt. Alle positiven Ansätze (der Situation und
seines Verhaltens) geraten völlig aus dem Blick.
3. Die Tendenz zum „gesunden Menschenverstand“
Dieser sagt uns nämlich:
- Wenn ein Mensch ein schweres Problem hat, dann der hat davon nur Nachteile - Nur Zyniker behaupten das
Gegenteil.
- Kein Mensch denkt darüber nach, wie er sich absichtlich Probleme machen könnte. Wer es dennoch tut, muss
krank sein.
Schade, da entgehen uns einige Lösungsmöglichkeiten!
Der zweite systemtheoretische Grundsatz für Veränderungen
Wie aber wirken nun diese Systemischen Fragen aus kommunikationstheoretischer Sicht?
Natürlich bringen sie das ursprüngliche Wirklichkeitsmodell zum Einsturz. Sie ändern es von Grund auf und geben
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damit den Weg frei für grundlegend neues Denken und Handeln.
Darüber hinaus gilt aber: Wer einmal weiß, wie die Sache aus der Perspektive der anderen aussieht, wer erkannt hat,
wie er das Problem „absichtlich“ herbeiführen kann und wer seine eigenen „heimlichen Vorteile“ dabei erkannt hat,
der ist nun nicht mehr so ohne weiteres in der Lage, so weiter zu machen wie bisher. Er hat „vom Baum der Erkenntnis gegessen“ und kann sich nie mehr so naiv in die Problemsituation stürzen. So gilt der
Zweite systemtheoretische Grundsatz für Veränderungen:
Verändere die Wirklichkeitsmodelle in den Köpfen und du veränderst die Wirklichkeit.
2. Techniken der Systemischen Beratung
Eine kleine Anleitungen zum Scheitern in Beratungsgesprächen
1. Ergreife Partei (insbesondere für Schwache)! Sei spontan bereit, dich auf die Seite dessen zu stellen, der dir zuerst
über das Problem berichtet. Teile seine Empörung, zeige Verständnis und Mitleid und überlege zusammen mit ihm
Gegenmaßnahmen. Sage z.B.: „Du solltest dir das nicht gefallen lassen; beim nächsten Mal mach doch einfach folgendes ... .“
2. Erforsche die eigentlichen Ursachen! Konzentriere dich im Beratungsgespräch vor allem auf die Ursachen des
Problems. Ohne diese zu erkennen, ist das Problem schließlich nicht zu lösen. Besonders wichtig ist es zu überlegen,
ob nicht eine der folgenden Ursachen in Frage kommt:
- schwierige Sozialisationserfahrungen und traumatische Kindheitserlebnisse
- Persönlichkeitsstörungen und Charakterfehler
- ein aktuell problematisches häusliches Umfeld
- negative Einflüsse der Medien und der Gesellschaft insgesamt
- das Schulsystem oder
- der immer negativer sich auswirkende Zeitgeist.
3. Erforsche, wie es wirklich war! Überprüfe stets sorgfältig, ob im Zusammenhang mit dem Problem verzerrte oder
objektive Perspektiven, gerechtes oder ungerechtes Verhalten, richtige oder falsche Erkenntnisse, Wahrheit oder Lüge eine Rolle spielen. Sage z.B.: „ ... da scheint mir X aber nicht ganz die Wahrheit zu sagen.“ Oder: „Weißt du, ich
glaube in Wirklichkeit ist das so: ...“
4. Sondere das Wichtige vom Unwichtigen! Konzentriere dich im Beratungsgespräch stets auf die wichtigen Aspekte
des Problems. Sorge dafür, dass die unwichtigen nicht zuviel Raum einnehmen; das wäre Zeitverschwendung. Sage
z.B.: „Ich glaube, das ist hier nicht so das Entscheidende; wir sollten eher überlegen, ob nicht ... .“ Oder: „Lasst uns
mal wieder zum Kern des Problems kommen ... .“
5. Zeige, dass du die Lösung kennst! Da du schließlich der neutrale und erfahrene Berater bist, kannst du davon
ausgehen, dass deine Sicht der Dinge auch die objektivere und zutreffendere ist. Entsprechend bereite dich darauf
vor, gute Rat-Schläge zu erteilen. Sage z.B.: „Mir ist schon klar, warum das zwischen euch nicht klappt ... .“ Oder: „Ich an deiner Stelle würde ... .“ Oder: „Warum gehst du nicht so vor: ... .“
Aufgabe (Vorbereitung in Dreiergruppen):
Versuchen Sie das von Lehrer B im Fallbeispiel (s.o. „Probleme mit dem Schüler Max“ )geschilderte Problem aus
verschiedenen Perspektiven verschiedener Problembeteiligter zu „sehen“. Versetzen Sie sich konsequent in die jeweilige Person und formulieren Sie aus ihrer subjektiven Perspektive in der Ich-Form.
Problemperspektiven:
1. Schüler Max
2. ein anderer Schüler der Klasse
3. der Klassenlehrer der 8a (der es mit der Klasse „gut kann“!)
4. Schulleiter/in
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3. Leitfaden zum systemischen Fragen
Systemische Berater sollen Situationen schaffen, in denen die Klienten die Dinge selber neu sehen können. Sie sollen
Lernanlässe schaffen, in denen neue Perspektiven des Problemzusammenhangs deutlich werden können. Deshalb sind
seine wichtigsten Instrumente nicht Ratschläge oder Erklärungen, sondern `ungewöhnliche FragenA; solche nämlich, die
es unmöglich machen, die bisherige Sichtweise vom Problem beizubehalten.
Die folgende Zusammenstellung ist angelehnt an SCHLIPPE & SCHWEITZER (1996):
1. Fragen zur „Wirklichkeitskonstruktion“ des/der Ratsuchenden
 Das Problemverhalten
- Wer ist der Symptomträger, das „Problemkind“?
- Aus welchen Verhaltensweisen besteht das Problem?
- Wann und wo wird dieses Problemverhalten gezeigt, wo nicht?
 Die systemischen Zusammenhänge
- Wer ist am Problem direkt beteiligt? Wer sind die „Kontrahenten“?
- Was tun die anderen Anwesenden wenn das Problemverhalten der „Kontrahenten“ auftritt?
- Wer außerhalb des Systems ist indirekt betroffen? Wer erwartet was? Wer könnte sich wie einmischen?
 Die Erklärungen des/der Ratsuchenden
- Wie kommt das Problem zustande, welche Ursachen hat es?
- Worin besteht das „Ausweglose“? Warum ist das Problem so hartnäckig?
- Was wäre die Ideallösung? Woran würde man erkennen, dass sie eingetreten ist?
2. Fragen zur Verflüssigung des Problems
 Verflüssigung der Perspektive – „Zirkuläre Fragen“
- Wie würde X das Problem aus seiner Sicht darstellen? Worin sieht er die Ursachen? Wem würde er die Schuld
geben? Warum?
- Was würde Y zu deiner Problemdarstellung und Erklärung sagen, wenn er sie gehört hätte?
- Was denkt Z über dich/euch?
- Wer stimmt mit deiner Darstellung des Problems überein, wer nicht?
- Was würden andere (eure Eltern, die anderen Lehrer, Geschwister, Freunde zu Hause ...) sagen, wenn sie jetzt hier
wären?
 Verbesserungsfragen
Fragen nach Ausnahmen vom Problem
- Wie oft (wie lange, wann) ist das Problem nicht aufgetreten?
- Wo tritt das Problem nicht auf?
- Bei wem / mit wem tritt das Problem nicht auf?
Fragen nach Ressourcen der Beteiligten
- Was sollte bei wem bleiben, wie es ist?
- Was machen die andern / was machst du gut?
- Was müsstest du / müssten die anderen tun, um mehr davon zu machen?
Die Wunderfrage
Wenn das Problem plötzlich weg wäre:
- Wer wäre am meisten überrascht davon?
- Was würdest du am meisten vermissen?
3. Paradoxe lösungsorientierte Fragen
 Verschlimmerungsfragen
- Was müsstest du tun, um das Problem zu behalten oder zu verewigen oder zu verschlimmern?
- Wie könnten die anderen dich dabei unterstützen?
Dr. Günter Sämmer
Konstruktivistische Ansätze in der Sozialpsychologie - Seite 21 -
April 2002
 Fragen nach dem Nutzen des Problems
- Wo liegen die Vorteile des Problems? Für dich? Für X? Für die Anderen?
- Wer hat am meisten davon, wenn das Problem bleibt, wie es ist?
- Was würde schlechter, wenn das Problem weg wäre?
 Fragen nach einem „bewussten Rückfall“
- Wenn das Problem beseitigt wäre, was müsstest du selber tun, um es wieder herbeizuholen?
- Wer sonst könnte das Problem wie wieder herbeiholen?
Aufgabe (Fortsetzung) (Dreiergruppen, Fortsetzung der Beratungsaufgabe 1)
Formulieren Sie mögliche systemische Fragen, die der beratende Kollege dem Lehrer B stellen könnte.
Überlegen Sie insbesondere „Fragen zur Verflüssigung des Problems“ und „Paradoxe, lösungsorientierte Fragen“. Erörtern Sie jeweils, was für B daran möglicherweise „neu“ ist.
Gruppenübung in Gruppen zu 4 Tn (45-60 Min)
Teilen Sie sich zunächst in die folgenden Rollen: Ratsuchende/r (Rs ), Berater/in (Br), Beobachter/in (Bo)
Ratsuchende/r: Schildert eine kurze, echte, nicht allzu schwerwiegende problematische Situation aus der Berufspraxis, in die sie/er selbst verwickelt war. Es sollte hierbei sich nicht um ein schwerwiegendes oder
lang andauerndes Problem handeln, sondern um eines „geringerer Reichweite“, also eher um eine „akute Schwierigkeit“. Das Problem sollte nicht zu komplex sein, so dass man es in ein bis
zwei Minuten schildern kann.
Berater/in: Geht schrittweise nach dem „Leitfaden zum Systemischen Fragen“ vor.
Beobachter/in: Kontrolliert die Einhaltung der Regeln und der Zeit und interveniert ggf. sofort.
1. Maximale Gesamtzeit für das Gespräch: 15 Minuten
2. Danach kurze Aussprache (5 Minuten)
Gegebenenfalls: Rollenwechsel.
Literatur:
Konstruktivismus
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Wirklichkeit: Beiträge zum Konstruktivismus (S. 39-60). München: Piper.
GLASERSFELD, E. (1990). Einführung in den radikalen Konstruktivismus. In P. WATZLAWICK (Hrsg.), Die
erfundene Wirklichkeit: Beiträge zum Konstruktivismus (S. 16-38). München: Piper.
GLASERSFELD, E.V. (1985). Einführung in den radikalen Konstruktivismus. In P. WATZLAWICK (Hrsg.).
Die erfundene Wirklichkeit: Beiträge zum Konstruktivismus (6. Aufl.) (S.16-38). München: Piper.
WATZLAWICK, P. BEAVIN, J.H. & JACKSON. D.D. (1969). Menschliche Kommunikation. Bern: Huber.
WATZLAWICK, P. (1990). Selbsterfüllende Prophezeiungen. In P. WATZLAWICK (Hrsg.), Die erfundene
Wirklichkeit: Beiträge zum Konstruktivismus (6. Aufl.) (S. 91-110). München: Piper.
WATZLAWICK, P. (Hrsg.) (1990). Die erfundene Wirklichkeit: Beiträge zum Konstruktivismus (6. Aufl.).
München: Piper.
Dr. Günter Sämmer
Konstruktivistische Ansätze in der Sozialpsychologie - Seite 22 -
April 2002
Systemische Familientherapie
WATZLAWICK, P., WEAKLAND, J.H. & FISCH, R. (1974). Lösungen: Zur Theorie und Praxis menschlichen
Wandels. Bern: Huber.
WATZLAWICK, P. (1975). Lösungen. Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels. 1. Nachdruck, Bern:
Huber.
WATZLAWICK, P. (1983). Anleitung zum Unglücklichsein. München: Piper.
Systemische Beratung in der Schule
ANDERSON, T. (Hrsg.). (1996). Das Reflektierende Team. Dialoge und Dialoge über die Dialoge. (4. Aufl.)
Dortmund: Modernes Lernen
KUBESCH, B., BURG, C.G. & CONNEMANN, R. (1990). Die Methode des Reflektierenden Systems in der Supervision und bei Fallbesprechungen. In: GREWE, N. (Hrsg.). (1990). Beratungslehrer - eine neue Rolle im
System. Neuwied/Frankfurt: Luchterhand, S. 343-345.
PALMOWSKI, W. (1996). Anders handeln. Lehrerverhalten in Konfliktsituationen. Dortmund: Borgmann.
PALMOWSKI, W. (1996). Der Anstoß des Steines. Systemische Beratungstechniken im schulischen Kontext.
(2. Aufl.) Dortmund: Borgmann.
REICH, K. (1996). Konstruktivistische Pädagogik. Einführung in die Grundlagen systemischkonstruktivistischer Pädagogik. Berlin: Luchterhand.
SCHLIPPE, A.V. & SCHWEITZER, J. (1996). Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung. Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht.
Internet-Adressen:
www.psychologielehrer.de
Homepage des Verbandes der Psychologielehrer in Deutschland: Unterrichtsmaterial und Experimente
Unter „Landesverbände“ / „Bayern“ gibt es diesen Text und die Powerpoint-Präsentation zum Downloaden!
www.saemmer.de
Unterrichtsmaterial, Didaktik und Methodik des Psychologieunterrichts, Überblick über die Paradigmen der
Psychologie, hier: „Ganzheitspsychologie“
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