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Klar Nr. 4, Winter 2013
Das Schweizer Magazin zum Thema Sehbehinderung.
Mit einem Dossier zum Thema "Wahrnehmung"
Legende Cover: Objektiv gesehen ist nichts so subjektiv wie die Wahrnehmung.
Besonders bewusst wird uns dies, wenn wir es mit Verliebten zu tun haben. In
Wirklichkeit schauen wir aber alle immer durch die rosarote Brille. Illustration von Gian
Gisiger
Mit einem dicken Stift comicartig gezeichnete John Lennon-Brille.
Die Gläser sind pink. Der Lichtreflex auf dem Glas ist gleichzeitig
eine Art Auge, so dass Auge und Brille vereint sind. Die Brille wirft
einen schwarzen Schatten.
Legende Backcover: Ein Kilogramm echter weisser Trüffeln kann bis zu 15000 Euro
einbringen. Für Fälscher sind solche Preise eine grosse Verlockung, weshalb die
Universität von Turin an einem DNA-Test gearbeitet haben soll. Der spezifische Duft
des Trüffels entstammt dem gleichen Stoff wie der Sexualduftstoff des Ebers. Deshalb
sucht die geschlechtsreife Sau instinktiv nach dem Pilz. Da die Trüffelschweine die
Pilze aber gerne selber fressen, treten sie vor allem für Touristen in Aktion. Fotografiert
von Christophe Boisvieux/CORBIS
Eine bereits etwas ältere Bäuerin führt ein Schwein an der Leine.
Das Schwein beschnüffelt den Boden.
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Editorial ......................................................................................... 3
Liebe Leserin, lieber Leser ........................................................ 3
Dossier .......................................................................................... 4
Musik aus dem Gedächtnis - Bevor sie ein Implantat erhielt,
war Ines Diener taub. Ihr Mann Rudolf ist blind. Ein Gespräch
mit dem Ehepaar. ...................................................................... 4
Mit den Ohren sehen - Viele blinde Menschen wenden die
Echooortung instinktiv an. ......................................................... 8
Die Taschenlampe im Kopf - Wahrnehmung ist das, worauf wir
unsere Aufmerksamkeit richten. Ein Gespräch mit der
Psychologin Annette Rutsch. ................................................... 13
Fokus .......................................................................................... 17
Selbstmedikation - Sich selbst mit rezeptfreien Medikamenten
zu behandeln, kann gefährlich sein. ........................................ 17
Leben mit einer Sehbehinderung ................................................ 21
“Es hat ja keine Sehbehinderten!” - Neulich im O&M Training Kolumne des Orientierunges- und Mobilitätslehrers Charly
Meyer ....................................................................................... 21
Mit MyWay sicher ans Ziel - Eine Navigations-App speziell für
blinde Menschen ..................................................................... 23
Blindenführhunde - Ein Merkblatt von Égalité Handicap ......... 26
Stimmen zum Assistenzbeitrag - Der Gleichstellunstag von
Agile ......................................................................................... 27
News ........................................................................................... 28
E-Voting ................................................................................... 28
Norm für Leserlichkeit .............................................................. 29
Verletzte Menschenrechte von Albinos.................................... 29
Hinweise .................................................................................. 29
Pinwand ................................................................................... 31
Impressum .................................................................................. 33
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Editorial
Liebe Leserin, lieber Leser
Die Entwicklung unserer Wahrnehmung beginnt im Mutterleib und
ist während unseres ganzen Lebens nie abgeschlossen. Jeder
Reiz unserer Sinnesorgane prägt sich in unser Hirn ein, verändert
es ein kleines Stückchen und beeinflusst dadurch unsere
weiteren Wahrnehmungen. So werden wir zu der Person, die wir
sind.
Wahrnehmung ist überlebenswichtig. Mit unseren Sinnesorganen
machen wir uns eine Vorstellung von der Welt, in der wir uns
bewegen. Unser Wahrnehmungssystem ist äusserst komplex.
Aber es ist zum Glück auch flexibel. Noch wenn ein Sinnesorgan
ausfällt, können wir die Welt wahrnehmen und uns sinnvoll in ihr
bewegen. Unser Hirn und unsere verbleibenden Sinne
kompensieren das ausgefallene Organ. So gibt es Menschen, die
gelernt haben, sich aufgrund von Schall und Echo so gut zu
orientieren, dass sie auch als Blinde allein in fremde Länder
reisen oder gar Fahrrad fahren, wie etwa der als
Fledermausmann bekannte Amerikaner Daniel Kish.
Wahrnehmung hat auch viel mit Aufmerksamkeit zu tun, wie wir
von der Psychologin Annette Rutsch erfahren. Wir nehmen das
wahr, worauf wir unsern Fokus richten. Deshalb wollen wir an
dieser Stelle die Gelegenheit ergreifen, uns bei unsern
Leserinnen und Lesern, insbesondere bei unseren
sehbehinderten Lesenden, zu bedanken. Indem wir für Sie
schreiben, richten wir unsere Aufmerksamkeit auf die
Sehbehinderung und das Sehen. Dadurch wird unsere eigene
Wahrnehmung bereichert: Düfte werden intensiver; Klänge sind
differenzierter; die Welt ist detailreicher geworden.
Es ist uns ein Vergnügen den Reichtum der Sehbehinderung mit
Ihnen zusammen zu entdecken. Wir hoffen nun, dass es Ihnen
bei der Lektüre dieser Ausgabe von “Klar” zumindest teilweise so
geht, wie uns.
In diesem Sinne bedanken wir uns für Ihre Aufmerksamkeit und
hoffen, Ihnen noch einmal ein klares Lesevergnügen zu bieten.
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Von Naomi Jones, Chefredaktorin, und Jean-Marc Meyrat, stv.
Chefredaktor.
Legende: Naomi Jones und Jean-Marc Meyrat fotografiert von Christian Bühler.
Bild Seite 5: Mit dem Gleichgewichtssinn bestimmen wir normalerweise die Richtung
der Erdanziehungskraft und nehmen Beschleunigung wahr. In der Schwerelosigkeit des
Alls spielt der Sinn keine Rolle mehr.
Der erste Spaziergang im Weltall wurde am 3. Juni 1965 vom Astronauten Edward
H. White gemacht.
© NASA / Roger Ressmeyer / CORBIS
Ein im Weltraum schwebender Astronaut. Das Kabel, mit dem er
gesichert ist, wirkt wie eine Nabelschur.
Bild Seite 6/7: “In unserer Beziehung brauchten wir sehr viel Rücksicht und Verständnis
füreinander.” Ines Diener ertaubte ein paar Jahre nachdem ihr Mann Rudolf erblindet
war. Kommunikation auf Distanz war nicht möglich, bis Ines Diener ein Cochlea
Implantat erhielt.
Fotografiert von Naomi Jones
Das Ehepaar Diener in seiner Wohnung.
Dossier
Musik aus dem Gedächtnis
Das Ehepaar Diener wohnt in einer modernen
Mehrfamilienhaussiedlung nahe vom Bahnhof Uster. Die
Stockwerke sind im Lift mit Braille beschriftet. Die Wohnung
ist hell und gemütlich: Fotos und Geschenke von
Enkelkindern. Die Güezi stehen bereits einladend auf dem
Holztisch. Die Wohnung entspricht den Bedürfnissen des
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Paares perfekt. Denn Rudolf Diener ist blind; seine Frau,
Ines, ist hörbehindert und für sie ist Licht existenziell. Ein
Gespräch über Sinnesbehinderung und Wahrnehmung.
Von Naomi Jones
Klar: Wie haben sich Ihre verbleibenden Sinne verändert, als
einer ausfiel?
Rudolf Diener: Für mich sind das Gehör und der Tastsinn sehr
wichtig. Aber auch aus Gerüchen ziehe ich Informationen. Ich
ordne sie Dingen zu oder lokalisiere Dinge.
Ines Diener: Ich kompensiere mein fehlendes Gehör vor allem mit
dem Cochlea Implantat und den Augen. Andere sagen manchmal
ich hätte auch hinten Augen.
Rudolf Diener: In einer Gruppe Sehender entdeckt Ines Tiere oder
Strassenschilder immer viel schneller als alle andern. Sie schaut
schneller und genauer.
Ines Diener: Nebst dem Lippenlesen habe ich auch gelernt,
Körpersprache sehr gut zu interpretieren.
Klar: Wie kommunizieren Sie miteinander?
Rudolf Diener: Heute hat Ines ein Cochlea Implantat und ich kann
sie rufen, wenn sie zum Beispiel in einem andern Zimmer ist.
Vorher musste ich immer zu ihr hin gehen, wenn ich etwas sagen
wollte und sie anfassen. Das war manchmal mühsam. Wenn sie
beispielsweise am Lesen war und keine Geräusche machte,
musste ich sie in der ganzen Wohnung suchen.
Ines Diener: Wenn wir unterwegs sind, habe ich immer eine
Taschenlampe dabei. Im Dunkeln konnte ich nicht Lippen lesen.
Wenn ich kein Licht habe, wäre ich sehr hilflos, sollte das CIGerät ausfallen. Die Taschenlampe und die Batterien für das CI
habe ich heute immer dabei.
Klar: Sie haben mir erzählt, dass Sie gerne gemeinsam ins
Konzert gehen und dies auch taten, als Frau Diener noch taub
war. Wie war das?
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Ines Diener: Man sagt, dass es für Hörbehinderte gut sei, ins
Konzert zu gehen. Man sieht die Musik. Man spürt die Vibration
und je nach dem hört man auch noch ein wenig. Wir wählen im
Konzert immer die besten Plätze, damit ich möglichst viel
beobachten kann.
Rudolf Diener: Ines hat die Musiker immer sehr genau
beobachtet. Wir haben allerdings immer Stücke gehört, die sie
schon kannte. Sie hat die Musik also auch mit dem Gedächtnis
gehört. Dies ist heute noch so. Mit dem Implantat hört sie die
Musik wieder viel besser. Die neue klassische Musik kann sie
aber wenig begeistern. Sie kennt die Tonfarben nicht. Wo das
Gedächtnis nicht hilft, wird Musik schwierig.
Klar: Mussten Sie das Hören wieder lernen, nachdem Sie das
Cochlea Implantat erhalten haben?
Ines Diener: Ja, ich musste zur Audiagogin. Vor allem musste ich
lernen, Geräusche zuzuordnen. Z.B. wie es tönt, wenn man ein
Blatt Papier zerknüllt. Wie klingen die Vokale und die
Konsonanten? Da ich einmal gehört habe, kamen die Töne aber
sehr rasch zurück. Sie waren in meinem Kopf. Heute verlasse ich
mich wieder weitgehend auf das Gehör. Das Lippenlesen sollte
ich etwas üben. Dies verlernt man rasch, wenn man es nicht
anwendet.
Klar: Besuchen Sie auch Ausstellungen gemeinsam oder machen
Sie andere Aktivitäten, die primär visuellen Genuss bieten?
Ines Diener: Nein, da kommt Ruedi nicht mit. Von Ausstellungen
hat er nichts, wenn er die Kunstwerke nicht betasten kann. Ins
Kino kommt er auch nicht mit.
Rudolf Diener: Wenn wir bald mit unsern drei Enkelkindern nach
Paris gehen, dann erzählt und beschreibt mir Ines viel und ich
versuche mir ein Bild zu machen. Aber Bilder, insbesondere
abstrakte Kunst, kann ich mir nicht immer vorstellen. Da enthalte
ich mich eines Urteils. Hingegen schätze ich es sehr, wenn ich
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Skulpturen abtasten kann. Es gibt durchaus Museen, wo das
möglich ist.
Klar: Sehen Sie gemeinsam fern?
Ines Diener: Ruedi schaut gerne Politsendungen, wo viel
gesprochen und debattiert wird. Für mich sind diese schwierig,
wenn es keine Untertitel hat. Lippenlesen kann ich nur, wenn die
sprechende Person direkt in die Kamera schaut.
Rudolf Diener: Ines, du verstehst heute das Meiste und bist nur
selten unsicher. Die Untertitel brauchst du eher zur Bestätigung,
dass du es richtig gehört hast. Ines schaut gerne Gotthelf-Filme.
Ich sehe selten fern. Radio ist eher mein Medium.
Sportsendungen sind im Fernsehen viel schlechter kommentiert
als im Radio.
Klar: Sie sind oft unterwegs. Was sind die spezifischen
Hindernisse für blinde und hörbehinderte Menschen in der
Gesellschaft?
Ines Diener: Es hat sich viel verbessert. Heute sind die Bahnhöfe
gut beschriftet und in vielen Zügen hat es Displays, die über die
Stationen informieren. Früher war es oft schwierig, die
Durchsagen zu verstehen. Es kam etwa bei einer Panne vor,
dass alle Passagiere aus einem Zug ausgestiegen sind und ich
nicht wusste warum. Da musste ich halt jemanden fragen.
Rudolf Diener: Für Sehbehinderte sind die Durchsagen in den
Zügen enorm wichtig. Es gibt dazu eine Anekdote: Ich war
zusammen mit Benedikt Weibel, dem damaligen Chef der SBB,
an einem Podiumsgespräch. Er stöhnte über die Kosten die eine
barrierefreie SBB mit sich bringen würden. Noch am Gespräch
wies ich darauf hin, dass es die SBB nur wenig kosten würde,
wenn das Personal vor Abfahrt des Zuges die Richtung ansagen
würde. Die Lautsprecher waren nämlich vorhanden. Da Weibel
selbst erst kurz vorher in einem falschen Zug war und dies erst
gemerkt hatte, als der Zug in die falsche Richtung fuhr, erkannte
er den Nutzen dieser Massnahme für alle Passagiere und führte
sie bereits zwei Wochen nach dem Podium ein.
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Klar: Sie haben sich privat sehr für sehbehinderte Menschen im
öffentlichen Verkehr engagiert. Waren Sie durch die
Hörbehinderung Ihrer Frau auch für die Bedürfnisse von andern
Behinderten sensibilisiert?
Rudolf Diener: Sicher. Ich war ja auch Geschäftsführer des
Vereins zur Förderung geistig Behinderter Zürcher Oberland
(Verein GBZO), heute “insieme”. In Uster setzte ich mich zum
Beispiel für Leitlinien für Sehbehinderte ein. Aber auch für
Mobilitätsbehinderte verlangte ich hindernisfreie
Fussgängerübergänge. Ich weiss, dass dies in Fachkreisen des
Sehbehindertenwesens umstritten ist. Aber das Trottoir wurde mit
einem Streifen breiter Randsteine und einer verbreiterten
Wasserrinne markiert. Ausserdem ist es zur Strasse hin
abschüssig. Blinde Personen können Strasse und Trottoir gut
lokalisieren. Rollstuhlfahrer und alte Leute mit einem Rollator
haben keine Mühe, aufs Trottoir zu gelangen.
Mit den Ohren sehen
Unter menschlicher Echoortung versteht man die Fähigkeit
mancher Menschen, Gegenstände in ihrer Umgebung mit
Hilfe von Echos zu orten.
Von Jean-Marc Meyrat
Mit Hilfe dieser Technik orientieren sich manche blinde Personen,
wenn sie sich in ihrer Umgebung bewegen, manchmal ohne es
selbst zu merken. Sie geben Geräusche ab, indem sie etwa mit
dem Blindenstock auf den Boden klopfen, mit dem Fuss
stampfen, mit den Fingern schnippen oder mit der Zunge
schnalzen. So, wie Gegenstände sichtbar werden, wenn sie Licht
reflektieren, werden sie durch den Widerhall von Geräuschen
hörbar.
Die menschliche Echoortung funktioniert so ähnlich wie das
Echolot eines U-Boots oder die Sonarortung, mit der bestimmte
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Tierarten wie Fledermäuse oder Delphine Hindernisse und
Beutetiere erkennen. Bei der Fledermaus ersetzt dieses System
das sehr schwache oder fehlende Sehvermögen, beim Delphin
ergänzt es das Sehen.
Durch Deuten der Geräusche, die von den umgebenden
Gegenständen widerhallen, kann eine geschulte Person sehr
präzise die räumliche Position und oft auch die Grösse von
Objekten in der Nähe erkennen und diese Informationen nutzen,
um Hindernisse zu meiden. Wundern Sie sich deshalb nicht,
wenn ein Blinder die Lücke zwischen zwei geparkten Autos
passiert, ohne diese zu berühren, oder um eine Gebäudeecke
herummarschiert, ohne seine Schritte zu zählen oder auch nur
die Wände mit der Stockspitze zu betasten. Nein, es handelt sich
nicht um einen “Simulanten”, sondern schlicht um jemanden, der
sein Gehör optimal zu nutzen versteht.
Die Erforschung der menschlichen Echoortung
Dass Blinde ihr Gehör auf besondere Weise einsetzen, beschrieb
schon Denis Diderot 1749 in seinem Brief über die Blinden für
den Gebrauch der Sehenden. Mit den Ohren zu sehen ist ein
uraltes Talent. Seeleute feuerten bei Nebel Kanonen ab und
erkannten am Echo, ob sie in Küstennähe waren. Seltsamerweise
dauerte es geraume Zeit, bis Forscher dieses Phänomen
anerkannten.
Die ersten wissenschaftlichen Experimente erfolgten erst 1944:
Michael Supa und sein Team bestätigten, dass geschulte blinde
Personen tatsächlich anhand des Echos der von ihnen
abgegebenen Geräusche ihren Abstand zu bestimmten
Hindernissen ermitteln.
2011 beschäftigte sich ein kanadisches Forscherteam unter
Leitung von Melvyn A. Goodale (University of Western Ontario)
mit der menschlichen Echoortung bei Blinden, die durch Zungenschnalzen und die dadurch ausgelösten Echos Objekte auf drei
Meter genau lokalisierten.
Mehrere Forschergruppen untersuchten das eigenartige
Phänomen, das so manche blinde Person wie Superman wirken
lässt. An derselben kanadischen Hochschule beobachtete Lore
Thaler mittels CT die Gehirnaktivität bei zwei Blinden, die eine
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ausgeprägte Begabung für die Echoortung zeigten, und konnte
damit nachweisen, welche Hirnregionen dabei aktiv sind. Die
Wahl gerade dieser beiden Versuchspersonen beruhte in erster
Linie darauf, dass sie in der Lage waren, trotz des Lärms des CTGeräts ihr Zungenschnalzen und das Echo darauf zu erfassen.
Eines der überraschendsten Ergebnisse dieses Experiments war
der Nachweis, dass dabei nicht etwa die für das Hören
zuständigen Hirnregionen vermehrt aktiv sind, sondern die
visuellen Regionen.
Bei unseren beiden kanadischen Freunden wurde also die
Sehrinde aktiviert, wenn sie auf ihr Zungenschnalzen und dessen
Widerhall lauschten. Betrachtete man nur die Schnalzlaute, blieb
diese erhöhte Aktivität aus. Wie das Experiment beweist, ist
jedenfalls aufgrund der Hirntätigkeit davon auszugehen, dass die
menschliche Echoortung offenbar ähnlich wie bei Fledermäusen
ein räumliches visuelles Abbild der Umgebung liefert. Lore Thaler
sprach sogar von einer latenten Fähigkeit.
Auf jeden Fall sind die Leistungen der beiden blinden Kanadier
erstaunlich. Sie sind in der Lage, Gegenstände wahrzunehmen
und zu identifizieren und sogar ihre Bewegungen mit Hilfe der
Echoortung zu “sehen”, letzteres vermutlich aufgrund des
Doppler-Effekts. Als Doppler-Effekt bezeichnet man die Änderung
der Wellenlänge von Schallwellen zwischen Entstehungs- und
Wahrnehmungsort, wenn sich der Abstand zwischen Sender und
Empfänger im Zeitverlauf verändert. Diesen Effekt erklärte als
Erster der österreichische Mathematiker und Physiker Christian
Andreas Doppler 1842 in seinem Aufsatz “Über das farbige Licht
der Doppelsterne und einiger anderer Gestirne des Himmels”.
Der kalifornische Batman
Der Kalifornier Daniel Kish ist im Alter von zwei Jahren erblindet.
Er hat die Echoortung als Methode für Sehbehinderte weiter
entwickelt, trainiert Blinde und bietet über seine Organisation
“World Access for the Blind” Unterricht in dieser Technik an, die er
“perzeptuelle Mobilität” nennt. Kish ortet eine nur daumendicke
Stange auf einen Meter genau, einen Hydranten in drei und ein
Auto in fünf Metern Abstand. Grosse Gebäude erkennt er aus 100
Metern Entfernung, indem er je nach Umgebungslärm in die
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Hände klatscht oder mit den Fingern schnippt. Dazu benötigt er
keine übernatürliche Gabe, sondern lediglich den Mut, Geräusche
zu machen, ein gutes Gehör und die Fähigkeit, das Gehörte
richtig zu deuten.
Ohne Training geht es allerdings nicht, doch geschulte Personen
“sehen” mit einem exakten auditiven Abbild ihrer Umwelt viel
weiter als mit dem Blindenstock. Dennoch lässt auch Daniel Kish
seinen weissen Stock niemals zu Hause, denn er braucht ihn, um
Unebenheiten im Boden zu erkunden, die er mit dem Ohr nicht
wahrnehmen kann.
Man kann es lernen
Die Echoortung kann die Autonomie blinder oder stark
sehbehinderter Menschen im Alltag erheblich vergrössern.
Berücksichtigt man, dass die Methode durch Training
weiterentwickelt werden kann, bieten sich interessante
Perspektiven.
Das Verfahren wird schon seit mehreren Jahren erforscht. Dass
es tatsächlich erlernbar ist, konnte 2009 erneut nachgewiesen
werden. Antonio Martinez Rojas und sein Team zeigten nämlich,
dass unabhängig vom Sehvermögen jeder fähig ist, sich die
Echoortung zumindest teilweise anzueignen. Schon nach zwei
Wochen mit je zwei Stunden Training pro Tag kann man einfache
Aufgaben bewältigen, etwa mit Echoortung herausfinden, ob man
vor einem grösseren Hindernis steht oder der Weg frei ist.
Auch Leerräume sind wichtig
Das Gespür für Masse kann man nach und nach erlernen. Eine
Ausnahme bilden Menschen, die von Geburt an blind sind, weil
ihr Gehirn sich in gewissem Umfang anpasst.
Die Wahrnehmung von Massen beruht darauf, wie Geräusche
von den Wänden eines Körpers widerhallen. Für eine sinnvolle
räumliche Orientierung muss man alles Vorhandene nutzen, auch
die Leere, denn sie kann z.B. einen Eingang zum Gebäude, eine
offene Zimmertür oder eine Strasseneinmündung anzeigen.
Echoortung in der Praxis
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Viele von Geburt an blinde oder früh erblindete Personen
praktizieren die Echoortung, ohne sie formal gelernt zu haben.
Das gilt etwa für den 69-jährigen Daniel Baud, der blind zur Welt
kam. Ohne je einen Mobilitätskurs absolviert zu haben, orientiert
er sich allein am Geräusch seines Blindenstocks, etwa ob auf
dem Gehweg ein Lastwagen parkt. Das Geräusch seiner Schritte
auf glattem Boden zeigt ihm an, dass er Teppichboden verlassen
hat und ein Treppenhaus betritt. Die Deutung dieser
Informationen über die eigentliche Nutzung des weissen Stocks
hinaus erfordert natürlich eine enorme Konzentration. Pascal
Monnard ist Mobilitätstrainer. Er versucht, seine Schüler
systematisch für das Thema Echoortung zu sensibilisieren. Einem
14-jährigen Schützling brachte er bei, von Zeit zu Zeit ein paarmal
mit dem Blindenstock auf den Boden zu klopfen, um sein
Buswartehäuschen oder den Flur seines Wohngebäudes genau
zu orten – ein vielversprechender Anfang, der den Einsatz der
Echoortung auch in anderen Situationen sinnvoll wirken lässt.
Auch die 35-jährige Christine Cloux ist von Geburt an blind. Bei
ihren alltäglichen Besorgungen greift sie ständig auf die
Echoortung zurück. Unglaublich, aber wahr: Allein anhand des
Luftdrucks auf ihren Trommelfellen macht sie sich ein räumliches
Bild von einem Zimmer samt Möblierung!
Abschliessend ist natürlich anzumerken, dass nicht jeder
sehbehinderte Mensch mit einem so ausgeprägten
Wahrnehmungsvermögen und der gleichen Deutungsfähigkeit
ausgestattet ist. Doch ganz gleich, in welchem Umfang die
Echoortung oder die Erkennung von Körpern in den Alltag
integriert werden kann, gewinnen blinde oder sehbehinderte
Menschen dadurch unterwegs immer ein deutliches Plus an
Autonomie und Mobilität.
Bild Seite12/13: Daniel Kish macht sich ähnlich einer Fledermaus aufgrund von Echos
ein Bild über seine Umgebung. Dies tun viele blinde Menschen instinktiv. Kish hat seine
Methode sosehr verfeinert, dass er allein Fahrrad fahren kann. Er unterrichtet blinde
Kinder auf der ganzen Welt in der Echoortung.
Fotografiert in Island von Baldur Gylfason /World Access for the Blind
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Die Taschenlampe im Kopf
Annette Rutsch hat Wahrnehmungs-psychologie studiert. Als
Museumspädagogin vermittelt sie die Ausstellungsobjekte
auch sinnesbehinderten Menschen. Ein Gespräch darüber,
wie wir uns der Welt annähern.
Von Naomi Jones
Klar: Die Naturwissenschaften, die Psychologie und die
Philosophie haben unterschiedliche Konzepte von Wahrnehmung.
Wie unterscheiden sich diese?
Annette Rutsch: Sie unterscheiden sich vor allem in der Methode
der Erforschung. Die verschiedenen Disziplinen bereichern sich
jedoch gegenseitig und manchmal belegt die Naturwissenschaft
Modelle, die vorher theoretisch von der Psychologie oder
Philosophie aufgestellt worden sind. Die Naturwissenschaften
gehen empirisch vor und vermessen alles, was möglich ist. Sie
zerlegen das Hirn. Die Psychologie stützt sich auf die Resultate
dieser Forschung, wo sie nicht selbst experimentiert. Zur
Wahrnehmung gehören Emotionen, Bewertungen, das Denken
und der Lernprozess. Sie sind voneinander abhängig und
beeinflussen sich gegenseitig. Schon vor der Geburt beginnt der
Mensch mit dem Aufbau seines Wahrnehmungsapparats. Die
Sinnesorgane werden entwickelt. Dann beginnt ein
kontinuierlicher Lernprozess. Im Hirn werden Nervenbahnen
geknüpft. Alles, was ein Baby oder Kleinkind wahrnimmt, dient
dem Aufbau der Wahrnehmung und beeinflusst jede spätere
Wahrnehmung. Alles was wir gelernt haben, dient dem Einordnen
von weiteren Wahrnehmungen.
Das Baby beginnt seine Wahrnehmungsentwicklung mit Tasten
und Bewegen. Dann gibt es eine Phase, wo das Kind zur
Reizerforschung alles in den Mund nimmt. Mit der Zeit lernt es,
die Wahrnehmungskanäle zu kombinieren und zu verknüpfen bis
es mit etwa eineinhalb Jahren beginnt, die Sinneseindrücke auch
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auf einer abstrakteren Ebene einzuordnen, zu benennen und zu
organisieren.
Klar: Gibt es also eine Art Hierarchie der Sinne? Ist ein Sinn
wichtiger als andere? Oder grundlegender?
Annette Rutsch: Vielleicht im Hinblick auf die Informationsmenge.
Beim Sehen muss das Sinnessystem vermutlich am meisten
leisten. Es gibt dem Mensch wahnsinnig viele Inputs. Wir nehmen
mit dem Auge permanent mehrere Millionen von
Informationseinheiten auf. Viel mehr als mit dem Gehör oder mit
dem Geruch. Rein von der “Hardware” her, ist der Mensch ein
visuelles Wesen. Wir haben verschiedene Sorten von Rezeptoren
eigens für Farbe, Raum, Bewegung und Kontraste. Im Hirn haben
wir verschiedene Areale für die Sehverarbeitung. Das Sehen
unterliegt allerdings unterschiedlichen Arten von optischer
Täuschung. Denn die Flut an Information zu verarbeiten, ist
anspruchsvoll. Die optischen Täuschungen gründen meist auf
falschen Annahmen des Systems gegenüber den Reizen. Andere
sind physischer Natur z.B. wenn gewisse Nervenzellen ermüden,
etwa bei den Nachbildern auf der Netzhaut. Manchmal ereignen
sich beim Transfer unserer dreidimensionalen Welt in das
zweidimensionale Abbild auf der Netzhaut Interpretationsfehler im
Hirn.
Beim Kippbild können wir den gleichen Reiz auf zwei
verschiedene Arten interpretieren: Etwa wenn wir eine Vertiefung
als Erhebung sehen. Oder die Aufmerksamkeit wird gezielt auf
etwas Bestimmtes gelenkt, um von anderem abzulenken. Denn
für die bewusste Wahrnehmung ist die Aufmerksamkeit zentral.
Sie ist wie eine Taschenlampe. Wir bemerken bzw. verarbeiten
das, worauf wir den Spot richten. Das andere blenden wir aus.
Klar: Der Philosoph Gilbert Ryle definierte “wahrnehmen” als
“exploratorischen Erfolg”. Wir finden dadurch etwas heraus.
Wahrnehmung ist ein bewusster Akt. Aber können wir nicht auch
unbewusst wahrnehmen?
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Annette Rutsch: Ja, wir nehmen viel auch unbewusst wahr. In
einer gewissen Zeitspanne können wir dies durch eine
nachträgliche Richtung der Aufmerksamkeit sogar noch abrufen.
Denn unsere Sinne nehmen alle möglichen, scheinbar
nebensächlichen Reizinformationen auf, obwohl unser Fokus nur
auf einen Teil gerichtet ist, der eingeordnet und verarbeitet wird.
In Zeugenbefragungen wird die Aufmerksamkeit zum Teil mit
gezielten Fragen nachträglich auf Details gelenkt. Dies ist
allerdings heikel, da man Dinge auch herbeireden kann.
Klar: Bei Menschen mit einer Sinnesbehinderung funktionieren oft
die verbleibenden Sinne überdurchschnittlich gut. Kann man die
Sinne trainieren?
Annette Rutsch: Die Sinnesorgane selbst kann man nicht
trainieren. Ein Auge oder ein Ohr hat eine bestimmte Anzahl
Rezeptoren, die die Reize aufnehmen. Aber die Verarbeitung im
Gehirn kann man schulen. Das System kann wachsamer werden.
Das Hirn hat eine gewisse Elastizität. Man kann Bahnen und
Verbindungen des Hirns trainieren. Musiker zum Beispiel lernen,
bestimmte Tonsprünge zu hören. Je mehr eine Spur im Hirn
vertieft ist, desto schneller geht das Einordnen von ähnlichen
Wahrnehmungen. Dieses Lernen und Trainieren hat viel mit
Aufmerksamkeit zu tun. Wenn Blinde “besser hören”, verdanken
sie dies einem Fokus auf die anderen Sinne, den sie jedoch erst
lernen müssen. Die Aufmerksamkeit und Sensibilität der
verbleibenden Sinne wird geschult, wenn einer ausfällt.
Klar: Welchen Einfluss hat eine Sinnesbehinderung auf die
Wahrnehmung? Oder ist eine Sinnesbehinderung auch eine
Wahrnehmungsbehinderung?
Annette Rutsch: Oder ist eine Sinnesbehinderung vielmehr eine
Wahrnehmungsbereicherung? Wenn ein Sinn ausfällt ist die
Wahrnehmung als solche, nämlich als Repräsentation der Welt
noch nicht behindert. Nur der Sinn ist eingeschränkt. Aber er wird
kompensiert. Das Wahrnehmen der Welt wird durch andere
Inputs ersetzt. Die Repräsentation der Welt einer
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sinnesbehinderten Person setzt sich demzufolge anders
zusammen als die von Nichtbehinderten. Aber andererseits ist
auch die Wahrnehmung von Nichtbehinderten unterschiedlich und
somit im eigentlichen Sinne des Wortes individuell. Nein, die
Wahrnehmung ist nicht behindert. Eher ist sie bereichert, da die
Wahrnehmung neue Facetten gewinnen kann, die die
Augenmenschen nicht wahrnehmen.
Klar: Welche Rolle spielt das Gedächtnis in dem Ganzen?
Annette Rutsch: Man muss erst lernen, die Dinge wahrzunehmen,
ihnen eine Bedeutung zuzuschreiben und eine Konsequenz für
das Handeln zu haben. Es gab auf einer Insel einen Stamm von
Ureinwohnern, die vorher noch nie mit der westlichen Zivilisation
in Kontakt gewesen waren. Als man den Menschen dort das Bild
eines Schiffes am Horizont zeigte, sahen sie lange nichts. Denn
sie hatten die Erfahrung, dass ein Schiff am Horizont auftaucht
und dann immer grösser wird, vorher nicht gemacht.
Das Gedächtnis hat einen grossen Einfluss auf die Wahrnehmung
insofern als es aus gespeicherten Erfahrungen besteht. Wir
erfahren wie sich Reize der Welt verhalten, und wir lernen, wie wir
sie interpretieren sollen. Wir machen Zusammenhänge. Was wir
erleben, prägt wiederum unsere weitere Wahrnehmung. Dies
führt dazu, dass wir die Welt bis hin zu den Farben und Tönen
alle ein wenig anders wahrnehmen. Unsere individuellen
Erfahrungen machen einen Teil von uns aus und prägen unsere
Hirnstruktur. Wir unterscheiden uns dadurch. In diesem Sinn ist
Wahrnehmung sehr subjektiv und individuell.
Klar: Dies würde Ryles These insofern bestätigen, als er sagt,
weil Wahrnehmung allein in unserem Bewusstsein (wir zählen
hier das Unterbewusstsein dazu) stattfinde, sei sie im Experiment
nicht fassbar.
Annette Rutsch: Es gibt natürlich einen objektiven Teil. Ein
äusserer Reiz trifft auf ein Sinnesorgan. Dieser Reiz ist
physikalisch messbar. Von den Rezeptoren im Organ, deren
Reaktion ebenfalls messbar ist, wird der Reiz ins Hirn geleitet und
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dort verarbeitet. Die Bewertung der Reize und die Hirnstruktur,
worauf sie treffen, sind allerdings in höchstem Mass individuell.
Denn jeder Reiz verändert die Hirnstruktur erneut. Zum Glück
haben wir gelernt, uns unserer unterschiedlichen Wahrnehmung
zum Trotz zu verständigen. Sonst wäre das Zusammenleben
unmöglich. Diese Farbe des Türkis ist doch hellblau. Oder ist sie
eher hellgrün?
Legende: Annette Rutsch fotografiert von Naomi Jones
Bild Seite 20: Man liebt sie oder nicht: Lakritze. Grundstoff der würzigen Süssigkeit ist
ein Extrakt aus Süssholzwurzel, Anis, Fenchelöl und Zuckersirup. Liebhaber sollen je
nach Herkunftsort der Pflanzen Geschmacksunterschiede schmecken können.
Fotografiert von Willibald Wagner
Lakritz-Schnecke
Fokus
Selbstmedikation
Wenn jemand ohne ärztliche Verordnung Heilmittel einnimmt
oder anwendet, ist dies Selbstmedikation. Sie ist für
Menschen, die an einer Retinadegeneration leiden oft eine
verlockende Alternative.
Von Céline Moret
Selbstmedikation ist ein so verbreitetes Phänomen, dass es
kürzlich in einem Aufsatz als “stille Epidemie” bezeichnet worden
ist. Theoretisch müsste sich die Selbstmedikation auf rezeptfreie
Medikamente beschränken. In der Praxis werden oft
Restbestände verschreibungspflichtiger Medikamente aus der
Hausapotheke verwendet oder gar Bekannten weitergegeben. In
Frankreich nehmen 28% der Frauen und 15% der Männer
regelmässig Nahrungsergänzungsmittel ein. Nur 10% der
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befragten Personen gaben an, Nahrungsergänzungsmittel zu
kaufen, um Ernährungsmängel auszugleichen; die übrigen
nahmen sie gegen Erschöpfung, um gesund zu bleiben oder um
Beschwerden zu lindern. Für die Schweiz gibt es noch keine
vergleichbare Statistik, doch scheint der Trend in die gleiche
Richtung zu gehen.
Nur kurzfristig
Obwohl generell vor der Selbstmedikation gewarnt wird, gibt es
Situationen, in denen sie dennoch empfohlen wird: etwa bei
kurzfristigen, banalen Gesundheitsstörungen wie Schnupfen,
Halsschmerzen, Husten, bei der Versorgung geringfügiger
Wunden und Verbrennungen, bei Fieber, Schmerzen nach
alltäglichen Verletzungen, bei vorübergehenden
Verdauungsstörungen und bei Reiseübelkeit. Wichtig dabei ist,
dass es sich nur um eine kurzfristige Therapie handelt.
Risiken
Bei jedem Medikament besteht die Gefahr von Nebenwirkungen.
So paradox es klingt, können etwa Kopfschmerzen durch die
häufige Einnahme von Schmerzmitteln verschlimmert werden.
Ausser bei den oben genannten Indikationen darf die
Selbstmedikation den Gang zum Arzt nicht ersetzen. Denn oft
sind weitere Untersuchungen nötig, um die richtige Behandlung
zu finden.
Informationen genau prüfen
Viele Menschen nutzen das Internet, um Rat zu finden.
Angesichts der unterschiedlichen Informationsquellen – Blogger,
Foren, Werbung und recherchierte Artikel von Zeitungen –, ist es
schwierig, die Spreu vom Weizen zu trennen. Webseiten von
offiziellen Organisationen wie der Weltgesundheitsorganisation
(WHO), der Swissmedic, des Bundesamts für Gesundheit (BAG)
und der Food and Drug Administration (FDA) oder von
schweizerischen Fachorganisationen sind grundsätzlich
vertrauenswürdige Quellen.
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Um die Seriosität weiterer Websites zu beurteilen, sollte man
folgende Fragen beantworten können:
1. Wer ist für die Webseite verantwortlich und kann ich die
Organisation oder Person kontaktieren?
2. Sind die publizierten Angaben vollständig, aktuell und gehen
sie auch auf mögliche Risiken ein?
3. An wen richtet sich die Website und entsprechen die
Informationen wirklich meinen Bedürfnissen?
Besondere Vorsicht ist in folgenden Fällen angezeigt:
 Man garantiert schnelle oder sensationelle Erfolge, meist mit
persönlichen Erfahrungsberichten untermauert.
 Die Medikamente sind weder in der Schweiz noch in der EU
oder den USA zugelassen.
 Es wird auf ausgefallene Theorien, neuartige
Therapieprinzipien oder auf geheime Rezepturen verwiesen.
 Es heisst, ein Medikament sei harmlos, weil es “natürlichen
Ursprungs” sei. Auch diese Produkte enthalten oft
chemische Wirkstoffe.
 Es wird behauptet, eine Behandlung beinhalte keinerlei
Risiken oder es seien keinerlei Nebenwirkungen bekannt.
 Es wird behauptet, das Medikament sei für jeden Patienten
geeignet.
 Es wird behauptet, nur dieses eine Medikament könne eine
Krankheit heilen.
 Die Webseite ist ohne vollständige Adresse des Betreibers,
z.B. nur eine E-Mail-Adresse.
 Aggressives kommerzielles Vorgehen.
Eine grosse Verlockung bei Netzhautdegenerationen
Erbliche Formen der Netzhautdegeneration bilden eine Gruppe
genetisch bedingter Krankheiten, deren typisches Merkmal der
allmähliche Verlust des Sehvermögens ist. Der Grund dafür ist
das Absterben der Fotorezeptoren.
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Noch kann man diese Krankheiten nicht heilen, doch macht die
medizinische Forschung Fortschritte. Bei der Gentherapie
schleust man unbeschädigte Kopien des defekten Gens in die
Fotorezeptoren ein. Andere Therapieansätze versuchen, die noch
vorhandenen Fotorezeptoren mit nervenschützenden Faktoren
am Leben zu erhalten. Bei totalem Ausfall der Fotorezeptoren
bleiben nur noch das computergestützte Sehen und die
Stammzelltherapie. All diese Forschungsansätze lassen hoffen,
doch werden die meisten Patienten von ihrem Arzt mit der
bitteren Realität konfrontiert, dass derzeit keine Therapie existiert.
Aus Schreck über die Diagnose oder aus Angst vor einer weiteren
Verschlechterung ihres Sehvermögens schauen sich die
Betroffenen vielfach auf eigene Faust nach alternativen Therapien
um. Der Wunsch, aktiv etwas für den Erhalt der eigenen
Gesundheit zu tun, ist natürlich völlig legitim. Um jedoch mögliche
gravierende Komplikationen zu verhüten, sind einige Vorbehalte
angezeigt.
Finger weg vom Medikamentenkauf im Internet!
Medikamente sind entgegen der landläufigen Meinung im Internet
oft sogar noch teurer als in der Apotheke. Ausserdem sind
zahllose gefälschte, minderwertige und wirkungslose Präparate
im Umlauf. Der WHO zufolge handelt es sich bei über 50% der
illegal im Internet vertriebenen Medikamente um Fälschungen.
Packungsbeilagen mit Hinweisen auf Nebenwirkungen fehlen oft
und für rezeptpflichtige Medikamente wird kein Rezept verlangt.
Netzhautdegeneration und Vitamin A
In einer 1993 publizierten Studie fand man heraus, dass Vitamin A
das Fortschreiten gängiger Formen der Retinitis pigmentosa (RP)
leicht verzögern kann. Heute weiss man aber, dass Vitamin A bei
Morbus Stargardt-Patienten ganz anders wirkt als bei RPPatienten und die Krankheit sogar verschlimmern kann. StargardtPatienten wird deshalb empfohlen, keine Vitamin A-Präparate zu
nehmen und überdies ihre Augen vor Sonne zu schützen, da
auch das Licht den Verlust des Sehvermögens beschleunigen
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kann. Selbst wenn kein Morbus Stargardt vorliegt, ist bei der
Einnahme von Vitamin A grosse Vorsicht geboten.
Informationen immer kritisch prüfen
Zusammenfassend kann man sagen, dass das Internet
Menschen, die an einer Netzhautdegeneration oder einer andern
Krankheit leiden, Zugriff auf eine Masse von Informationen über
ihre Erkrankung und Therapieansätze bietet. Das stellt natürlich
einen erheblichen Fortschritt dar, erfordert jedoch kritisches
Denken seitens der Betroffenen. Die Versuchung ist nämlich
gross, mittels Selbstmedikation zu versuchen, das Fortschreiten
der Sehverschlechterung aufzuhalten. Bevor man aber irgendein
Mittel einnimmt, sollte man sich unbedingt bei seriösen Quellen
genauestens über die Gegenanzeigen informieren, damit nicht
etwa gravierendere Komplikationen die Sehstörung noch
verschlimmern. Mit fortschreitender Forschung können sich die
Indikationen und Kontraindikationen einer Behandlung aufgrund
neuer Erkenntnisse nämlich schnell ändern.
Zum Abschluss noch der augenzwinkernde Hinweis auf eine
Therapie, die in unbeschränkter Menge ohne jede Nebenwirkung
gerade in Selbstmedikation schon von Voltaire wärmstens
empfohlen wurde:
“Da dies sehr förderlich für die Gesundheit ist, habe ich
beschlossen, glücklich zu sein!”
Legende: In Frankreich nehmen 28% der Frauen und 15% der Männer regelmässig
Nahrungsergänzungsmittel ein. Sie sind aber nach neueren Erkenntnissen längst nicht
so harmlos, wie uns die Werbung glauben macht.
Fotografiert von Annina Mettler.
Pillen und Kapseln.
Leben mit einer Sehbehinderung
“Es hat ja keine Sehbehinderten!” - Neulich im O&M Training
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Nur wer sichtbar ist, darf erwarten, dass er gesehen wird.
Von Charly Meyer
Baustellenbesichtigung: Der Verantwortliche des kantonalen
Tiefbauamtes und ein Architekt erklären mir welche baulichen
Veränderungen für die Kreuzung hinter dem Bahnhof Freiburg
geplant sind. Der Strassenbelag wird neu verlegt und das Trottoir
neu gestaltet. Ich weise den Beamten darauf hin, dass das
Trottoir und die Mittelinsel mindestens drei Zentimeter höher als
der Strassenbelag sein müssten. So steht es in der SIA-Norm
500. Das Interesse an meinen Ausführungen weist
Verbesserungspotenzial auf. Deshalb demonstriere ich mithilfe
des weissen Langstockes den Sinn der Norm. Der Beamte schaut
mir geduldig zu, nickt ab und zu mit dem Kopf und meint dann
lapidar: “Das ist ja alles schön und gut. Aber wissen Sie, wir
haben hier in der Stadt ja nur ganz wenige Sehbehinderte und
Blinde. Wie viele weisse Stöcke sehen Sie, wenn Sie durch die
Strassen gehen?”
Zwei Tage später: Eine sehbehinderte junge Frau möchte den
Weg vom Bahnhof zum Einkaufszentrum üben. Meine obligate
Frage nach dem weissen Stock beantwortet sie mit einem
spitzbübischen Lächeln. Der sei fast immer im Rucksack. Sie sei
noch sehr selbständig und überhaupt sei das mit dem weissen
Stock auch in ihrer Sektion des Blindenverbands sehr umstritten.
Den Stock, so die Meinung, solle man so wenig wie möglich
brauchen und öffentlich zeigen.
“Nun gut”, denke ich, “und wie steht es mit all den Forderungen,
die die resolute junge Frau fast im gleichen Atemzug an die
Gesellschaft stellt?” Grössere Hilfsbereitschaft des
Verkaufspersonals, Busfahrer, die einer sehbehinderten Person
automatisch die Türe öffnen sollen und Politiker, die sich besser
für sehbehinderte Menschen einsetzen sollten, sind nur ein paar
Punkte auf ihrer Wunschliste.
Mein Traum
80% der Klienten unserer Beratungsstelle benutzen keinen
weissen Stock. Dies obwohl sie gemessen an ihren
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Schwierigkeiten in der Mobilität längst einen bräuchten. Ich habe
grösstes Verständnis für Personen, die es (noch) nicht schaffen,
ihre Behinderung öffentlich zu zeigen. Wie soll jemand der
ganzen Welt etwas zeigen, das er selber nicht als solches
anerkennt? Dennoch sollten blinde und sehbehinderte Menschen
auch im Kontext einer effizienten Interessenvertretung denken.
Denn sichtbare Präsenz erhöht die Chance, dass die Gesellschaft
bereit ist, auf sehbehinderte Menschen Rücksicht zu nehmen. So
träume ich manchmal davon, dass alle rund 1000 Klientinnen und
Klienten unserer Beratungsstelle mit einem weissen Stock auf
den Strassen Freiburgs unterwegs wären, und ich daraufhin einen
Anruf des Gemeinderates erhielte:
“Herr Meyer, es hat in unserer Stadt so viele Menschen mit einer
Sehbehinderung. Was können wir für sie tun?”
Information:
Charly Meyer ist Lehrer für Orientierung und Mobilität auf der
Beratungsstelle für sehbehinderte und blinde Menschen des
Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverbandes in
Freiburg.
Legende: Mit einer Ampel, die ein akustisches Signal abgibt, ist die Kreuzung für
Menschen mit einer Sehbehinderung am sichersten.
Charly Meyer unterwegs mit Erika von Gunten fotografiert von Pierre-André Fragnière.
Mit MyWay sicher ans Ziel
Navigations-App fürs iPhone im Praxistest
Von Urs Kaiser
Die Navigationsbedürfnisse blinder Personen
In zwei Lebensbereichen wirkt sich die Blindheit besonders
einschränkend aus: Beim Informationszugang und in der
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Mobilität. Es ist deshalb kaum verwunderlich, dass der Wunsch
nach einer zuverlässigen Mobilitätshilfe bei blinden Personen
gross ist. Im Vordergrund stehen die Fragen: “Wo bin ich?” und
“Wie gelange ich ans Ziel?” Dass sich blinde Menschen in der
heutigen Verkehrssituation überhaupt selbständig von A nach B
bewegen können, grenzt schon fast an ein Wunder. Natürlich
haben wir im Mobilitätsunterricht gelernt, die
Umgebungsgeräusche zu interpretieren, den Weg mit dem
Langstock nach Wegmarken abzutasten, topographische
Veränderungen mit unsern Füssen wahrzunehmen und nach
einem auswendig gelernten Plan voranzuschreiten. Wie schön
wäre es, wenn wir ein Gerät hätten, das uns zuverlässig ans Ziel
führte. Doch dazu sind die aktuellen Navigationshilfen noch nicht
in der Lage. Die GPS-Navigation wie wir sie vom Autofahren
kennen, eignet sich nur bedingt für blinde Leute im
Fussgängerbereich. Wir bräuchten präzisere Informationen zum
Nahbereich.
Meine virtuellen Marksteine
Meinen Wünschen bereits ziemlich nah kommt jedoch die vom
Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverband (SBV)
entwickelte App “MyWay”. Zum einen kann ich damit Wege, die
ich regelmässig gehe, mit Orientierungspunkten versehen. Zum
andern kann ich am PC Routen erstellen und in die App
importieren, so dass ich den Weg mit Hilfe des iPhones finde.
Ein Beispiel: Als meine Mutter im vergangenen Winter im Sterben
lag, wurde ich plötzlich mitten in der Nacht wach. Mir war, als
würde mich meine Mutter rufen. Also schlich ich aus dem Haus,
ohne meine Familie zu wecken. Doch draussen tobte ein
Schneesturm und ich wusste nicht mehr, wo ich war. Mit MyWay
hatte ich mir jedoch den Weg ins Pflegeheim markiert. So konnte
ich nun die Ortung aufnehmen und mich von Punkt zu Punkt zum
rettenden Eingang des Pflegeheims lotsen lassen. Die Richtung
von einer Wegmarke zur nächsten wurde mir dabei durch
Vibrieren des Geräts angezeigt, sobald ich das iPhone in die
richtige Richtung hielt. Ich brauchte mich bloss mit dem iPhone in
der Hand langsam zu drehen und fand so die Richtung, in die ich
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gehen musste. Ich wusste auch jeweils, wie weit ich noch von der
nächsten Wegmarke entfernt war.
Meine Route
Nun hat der SBV die App um eine weitere Funktion ergänzt. Das
Zusatzprogramm zur App heisst “Route4MyWay”. Mit diesem
kann man eine Route bereits am PC planen und in die App laden.
Auch dazu ein Beispiel: Als ich neulich für einen Kurs nach Brig
reiste, war die Person, die mich dort am Bahnhof abholen sollte,
verhindert. Was tun? Ich sass bereits im Zug und konnte in Brig
niemanden erreichen, der mich abholen konnte. Da suchte ich mit
dem iPhone die Adresse des Kursorts und erstellte auf meinem
Notebook mittels “Route4MyWay”
die Fussgängerroute vom Bahnhof zum Kursort. Diese kopierte
ich in die App MyWay. In Brig angekommen, brauchte ich bloss
MyWay zu starten und fand so problemlos den Weg.
Google Maps
Seit Mitte Juli gibt es die kostenlose App “Google Maps”. Auch sie
kann benutzt werden, um sich an einen bestimmten Ort
navigieren zu lassen. Da auch “Route4MyWay” auf das
Kartenmaterial von Google zurückgreift, sind die Anweisungen
vergleichbar. Allerdings gibt MyWay durch Vibrieren des Geräts
die Richtung und mit regelmässigen sprachlichen Hinweisen die
Distanz zum nächsten Punkt an. Diese Informationen schätze ich
sehr, denn sie bestätigen mir, dass ich auf dem richtigen Weg bin.
Information
Urs Kaiser ist blind und geübter Anwender des iPhone. Er ist
Gründer der Apfelschule, wo sich blinde und sehbehinderte
iPhone-User gegenseitig Wissen im Umgang mit ihren AppleGeräten vermitteln.
www.apfelschule.ch
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Blindenführhunde
Dank der Intervention eines engagierten Mannes dürfen nun
auch blinde Personen mit Führhund in den Schweizer
Jugendherbergen übernachten.
Von Naomi Jones
Im Juni 2013 sucht der Fotograf und Wanderbuchautor Heinz
Staffelbach eine schöne und günstige Feriengelegenheit für eine
Freundin, die sich ratsuchend an ihn wendet. Die Frau möchte
sich mit ihrem zehnjährigen Sohn eine kurze Auszeit gönnen. Die
alleinerziehende Mutter ist stark sehbehindert und deshalb auf
ihren Führhund angewiesen. Heinz Staffelbach wendet sich per
Mail an die Schweizer Jugendherbergen und bittet um eine
Empfehlung. Er erhält eine kurze, klare Antwort: Hunde seien in
den Jugendherbergen nicht erlaubt. Zum Glück lässt Staffelbach
diese Antwort nicht auf sich beruhen und äussert seinen Unmut.
Die Jugendherbergen lenken ein und lassen Staffelbach wissen:
“Sie haben bei uns intern das Gespräch über Blindenhunde bei
den Jugendherbergen neu entfacht. Neu nehmen wir in allen
Herbergen mit Doppelzimmer, auch Blindenhunde auf.”
Was Kurt Schemp, Bereichsleiter Projekte &
Entwicklung / Koordination der Schweizer Jugendherbergen,
offenbar nicht weiss: Seit 2004 ist das
Behindertengleichstellungsgesetz in Kraft. Und dieses gilt auch
für die Dienstleistungen von Privaten: Restaurants, Kinos,
Museen, Hotels, Geschäfte und Taxis.
Die Hygieneverordnung des EDI vom 23. November 2005 (HyV
Art. 15a) nimmt Blindenführhund sogar ausdrücklich vom
Tierverbot in Räumen mit Lebensmitteln aus:
“In Räumen, in denen mit Lebensmitteln umgegangen wird,
dürfen Tiere weder gehalten noch mitgeführt werden.
Ausgenommen sind: (…) Hunde, die eine behinderte Person
führen oder begleiten.”
Die Fachstelle Égalité Handicap publizierte im März dieses
Jahres das Merkblatt “Begleitung von Menschen mit Behinderung
durch Assistenz- oder Blindenführhunde” Die Fachstelle bietet
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Rechtsberatung zum Behindertengleichstellungsrecht an.
Menschen, die sich aufgrund ihrer Behinderung diskriminiert
fühlen, können sich an die Fachstelle wenden: www.egalitehandicap.ch
Stimmen zum Assistenzbeitrag
Seit bald zwei Jahren gibt es den Assistenzbeitrag der
Invalidenversicherung. Am Gleichstellungstag von Agile
wurde eine Zwischenbilanz gezogen. Es kamen verschiedene
Stimmen zu Wort.
Von Christoph Landtwing
Mit dem Assistenzbeitrag der Invalidenversicherung (IV) können
Personen mit einer Behinderung persönliche Assistenzpersonen
anstellen. So soll ihnen ein selbstbestimmtes Leben in den
eigenen vier Wänden sowie die gesellschaftliche Teilhabe möglich
werden.
Gemäss Peter Eberhard vom BSV beziehen in der Schweiz
derzeit ca. 1000 Personen Assistenzleistungen der
Invalidenversicherung. Durchschnittlich werden rund 3000
Franken pro Monat für die Assistenz einer Person mit
Behinderung aufgewendet.
An der Tagung von Agile kristallisierten sich einige Kritikpunkte an
der Umsetzung des Assistenzbeitrags heraus:
 Dass die assistierte Person Arbeitgeber ist, ist sehr
anspruchsvoll und bewirkt einen hohen administrativen
Aufwand. Ausserdem ist die Suche nach geeignetem
Personal oft schwierig.
 Angehörige können nicht als Assistenzpersonen eingesetzt
werden. Der selbst betroffene CVP-Nationalrat Christian
Lohr hat eine parlamentarische Initiative eingereicht, um die
Assistenzleistungen von Familienmitgliedern oder
angehörigen wenigstens teilweise entschädigen zu können.
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 Der anerkannte Hilfebedarf und damit die Anzahl
Assistenzstunden ist begrenzt. Häufig sind zusätzliche
Finanzierungsquellen (z.B. Ergänzungsleistungen) für eine
persönliche Assistenz nötig, um wirklich autonom leben zu
können.
 Während der langen Abklärungsdauer (mehrere Monate) von
der Selbstdeklaration bis zur Verfügung kann sich der
Assistenzbedarf gesundheitsbedingt verändern.
Das Bundesamt für Sozialversicherungen lässt den
Assistenzbeitrag in den nächsten Jahren laufend evaluieren.
Gesetzliche und praktische Anpassungen sind zu erwarten.
Information
Christoph Landtwing ist Mitarbeiter der Interessenvertretung des
Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverbandes (SBV).
www.sbv-fsa.ch
Agile ist die Dachorganisation der Behindertenselbsthilfe:
www.agile.ch
News
E-Voting
Barrierefreies E-Voting würde Personen mit einer
Sehbehinderung eine autonome Stimmabgabe bei Abstimmungen
oder Wahlen ermöglichen. In einigen Kantonen und Gemeinden
laufen bereits erste Versuche mit einer elektronischen
Stimmabgabe per Heimcomputer. Bisher kamen jedoch
ausschliesslich stimmberechtigte Auslandschweizerinnen und
Auslandschweizer zum Zuge. Dies obwohl der Bund Personen
mit einer (Seh-) Behinderung von Beginn weg als priorisierte
Zielgruppe bestimmt hat. Bei der Weiterentwicklung der E-Voting
Systeme der zweiten Generation sollen nun die Bedürfnisse von
Stimmberechtigten mit einer (Seh-) Behinderung besser
berücksichtigt werden. Um Accessibility zu erreichen, werden
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derzeit die rechtlichen Grundlagen und technischen
Anforderungen an die E-Voting Systeme angepasst. So müssen
die Richtlinien für barrierefreies Webdesign sowie die
Zugänglichkeit der Stimmrechtsausweise mit den Zugangscodes
bei kantonalen Testläufen eingehalten werden, um von der
Bundeskanzlei genehmigt zu werden. CL
Norm für Leserlichkeit
Im April dieses Jahres veröffentliche das Deutsche Institut für
Normung die DIN 1450 Leserlichkeit. Darin beschreibt das
Institut, was eine Schrift auch unter schlechten Bedingungen wie
Nebel oder mit einer Sehbehinderung so leserlich als möglich
macht. Zusammen mit dem Schriftendesigner Akira Kobayashi
hat der Grandseigneur der Typografie Adrian Frutiger eine neue
Schrift entworfen, die den Empfehlungen der DIN-Norm folgt, die
Neue Frutiger 1450. Sie ihres Zeichens die erste Schrift nach der
neuen Norm. NJ
Verletzte Menschenrechte von Albinos
Am 13. Juni hat der UN-Menschenrechtsrat in Genf eine
Resolution verabschiedet, welche die Diskriminierung und die
Attacken auf Menschen mit Albinismus in vielen Ländern
verurteilt. Zahlreiche von Albinismus Betroffene sind seit 2006 in
Tansania ermordet oder verstümmelt worden, weil ihren
Körperteilen magische Kräfte zugeschrieben werden. Die UNResolution anerkennt zum ersten Mal, dass Menschen mit
Albinismus oft schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt
sind. Dies ebnete den Weg zu Interventionen auf internationaler
Ebene. NJ
Hinweise
Ausstellung und Verkauf
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Am Samstag, 23. November öffnet das Bildungs- und
Begegnungszentrum des Schweizerischen Blinden- und
Sehbehindertenverbandes in Lausanne seine Türen.
Von 10 h bis 16 h können die Produkte der blinden und
sehbehinderten Aussteller gekauft werden.
Centre de formation et de rencontre
Rue de Genève 88b
1004 Lausanne
www.sbv-fsa.ch
“In der Nacht fliegt die Seele weiter”
Die blinde Basler Künstlerin Pina Dolce malt, stellt Videos her,
fotografiert. Sie lässt sich auch gerne fotografieren und schreibt
Gedichte. Pina Dolce sagt: Blind sein bedeutet nicht, nichts zu
sehen. Ihre Bilder erzählen von einer sinnlichen Wahrnehmung
der Welt, die auch Sehende ihren Blick hinterfragen lässt.
Der Dokumentarfilm “In der Nacht fliegt die Seele weiter” von
Peter Jäggi über die blinde Malerin wird am 15. Dezember im
Schweizer Fernsehen in der Sendung Sternstunde Kunst um 11 h
55 ausgestrahlt. Für den Film gibt es eine Audiodeskription.
www.insertfilm.ch
“Altgold für Augenlicht”
SSO-Zahnärzte und das Schweizerische Rote Kreuz engagieren
sich gegen Armutsblindheit. Wird einem Patienten Zahngold
entnommen, weist der Zahnarzt den Patienten darauf hin, dass
das Gold gespendet werden kann. Der Zahnarzt schickt das
gespendete Gold dem Roten Kreuz.
Dank dem Projekt “Altgold für Augenlicht” können jedes Jahr
tausende Kinder und Erwachsene auf Augenkrankheiten hin
untersucht und behandelt werden. Die Operation des grauen
Stars kostet in Entwicklungsländern für ein Auge 50 Franken.
www.redcross.ch / altgold
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Blinde Fliege
Ähnlich dem Restaurant “blinde kuh” in Zürich und Basel gibt es
jetzt auch im Tessin die Möglichkeit, ein Menü im Dunkeln zu
geniessen. “mosca cieca” ist ein Angebot der Unitas, der Tessiner
Sektion des Schweizerischen Blinden- und
Sehbehindertenverbands. Die “mosca cieca” findet jeweils
Freitag- und Samstagabends statt. Eine Anmeldung ist nötig. Ein
Menü kostet inklusive Getränke rund CHF 60.- pro Person.
www.moscacieca.ch
Anmeldung:
[email protected]
091 735 69 00
Internationales Computer-Camp für Jugendliche mit einer Sehbehinderung
Vom 3. bis 12. August 2014 findet in Riga das 20. International
Camp on Computer & Communication (ICC) statt. Es richtet sich
an sehbehinderte und blinde Jugendliche im Alter von 16 bis 21
Jahren und fördert die Vernetzung und vermittelt für
sehbehinderte Menschen spezifisches Wissen für den
Berufseinstieg. An sieben Tagen stehen Computer und
Kommunikationsworkshops auf dem Programm. Einmal wird ein
Ausflug gemacht. Gute Englischkenntnisse sind Voraussetzung.
Das Lager kostet 400 Euro. In der Schweiz gibt Marja Kämpfer
vom Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverband
(SBV) Auskunft und nimmt Anmeldungen entgegen.
[email protected]
www.icc-camp.info
Pinwand
Will die Dame tanzen?
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Möchten Sie tanzen, es fehlt Ihnen jedoch ein Tanzpartner? Oder
möchten Sie einfach etwas Neues ausprobieren?
Ich wohne im Raum
Zürich und tanze seit zehn Jahren Standardtänze und Latin, wann
immer es möglich ist. Ich begleite Sie gerne an den Tanzanlass
oder an den Tanzkurs Ihrer Wahl.
Eine meiner Tanzpartnerinnen war sehbehindert, somit habe ich
keine Berührungsängste.
Ich bin 40 Jahre alt, 175cm gross, sportlich und Nichtraucher.
Kontakt:
Dani Christener
office.christener@
gmail.com
076 335 07 80
Occasions-Lesegerät
Meine Mutter besitzt ein Lesegerät das sie nicht mehr benötigt
und möchte es gerne verkaufen.
Kontakt: [email protected]
Minidisc-Recorder gesucht
Herr Bruno Cattin sucht einen Occasion Minidisc-Recorder.
Bruno Cattin
rue du Doubs 135
2300 La Chaux-de-Fonds
032 913 49 12
[email protected].
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Impressum
“Klar”, das Schweizer Magazin zum Thema Sehbehinderung Nr 4
Winter 2013 1. Jahrgang.
Die Zeitschrift erscheint viermal im Jahr in Grossdruck (ISSN
2296-1976), Braille Vollschrift (ISSN 2296-1968), Braille
Kurzschrift (ISSN 2296-2034), als DAISY-CD (2296-195X) und
unter dem Titel “Clin d’oeil” auf Französisch.
Redaktion: Naomi Jones, Chefredaktorin Jean-Marc Meyrat, stv.
Chefredaktor
Autoren: Céline Moret, Charly Meyer, Urs Kaiser, Christoph
Landtwing
Musik: Jean-Yves Poupin, Epicycle und Eole (zum Thema)
Gestaltungskonzept und Bildredaktion: Mettler Mettler + Mettler
Kontakt: [email protected]
031 390 88 00
Herausgeber:
Schweizerischer Blinden- und Sehbehindertenverband
Gutenbergstrasse 40 b / Postfach 8222
3001 Bern
www.sbv-fsa.ch
Leiter Informationsdienst: Jean-Marc Meyrat
Projektleitung “Klar / Clin d’oeil”: Naomi Jones
Übersetzungen: USG Übersetzungs-Service AG
Druck: Ediprim AG, Biel / Bienne, Druck auf umweltfreundliches
FSC-Papier
Brailleumwandlung und -druck: Simone Rentsch, Anton
Niffenegger
Audio: Markus Amrein und Sylvia Garatti
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