Wahrnehmen ist Interpretieren. 1. Jegliche Wahrnehmung ist Interpretieren bzw. das Ergebnis von Interpretieren. („Wahrnehmung ist Interpretation, ist Bedeutungszuweisung.“ Gerhard Roth1). Die peripheren Nervenzellen, die Sinneszellen in den Sinnesorganen, werden gereizt, diese Reizungen lösen elektro-chemische Reaktionen im Nervensystem aus. Diese Reaktionen sind neutral, d.h. sie haben nichts mehr mit den ursprünglichen Auslösern zu tun, sie sind Ereignisse innerhalb des Nervensystems. So entstehen Daten. Diese werden an das zentrale Nervensystem – das Gehirn – weitergeleitet und dort interpretiert. Ziel der Interpretation ist, ein „Bild“ davon zu gewinnen, was die Reize und damit die Daten ausgelöst hat. Sowohl das Interpretieren wie dessen Ergebnis nennen wir Wahrnehmung. 2. Über die peripheren Nervenzellen ist das zentrale Nervensystem an die Umwelt gekoppelt. Die Komplexität dieser Kopplung wird durch den Bau und die „Kalibrierung“ der Sinnesorgane reduziert. Nur ein begrenztes Spektrum von Umweltereignissen wird zu „Daten“ im zentralen Nervensystem.2 Das Verhältnis von Datenverarbeitung zu Datengewinnung ist je nach Sinnesorgan unterschiedlich. Auf eine Retinaganglienzelle im Auge kommen 100.000 zentrale Neuronen, die mit der Interpretation eines Reizes beschäftigt sein können; beim Gehör wird angenommen, dass einer Haarzelle im Ohr bis zu sechzehn Millionen interne Nervenzellen gegenüberstehen.3 3. Ziel der Wahrnehmung ist es nicht, ein möglichst umfassendes und vollständiges Modell der Welt zu konstruieren, das wäre zu aufwändig. Es genügt ein Modell, das ein angemessenes Verhalten ermöglicht. Was nicht ausschließt, dass die Modelle genauer sein können als nötig, quasi eine strukturelle Redundanz aufweisen.4 4. Die Wahrnehmungsmöglichkeiten sind eine wichtige Voraussetzung dafür, dass ein Organismus in der jeweiligen Umwelt zurechtkommt und überlebt. 5. Die beschränkte Datenlage, die die Sinnesorgane liefert, wird einer komplexen Interpretation unterzogen. Die einzelnen Daten werden als Teile größerer Einheiten gedeutet und zu Gestalten zusammengefasst, Figur vom Grund getrennt. Diese „Gestalten“ werden nach der Kategorie „mehr oder weniger relevant“ geordnet. 6. Das Konstruieren der Gestalten und deren Bewerten erleichtern uns Schemata, die wir durch Erfahrung und Lernen bilden. „Gelernt“ wird in drei zeitlichen Dimensionen, im Laufe der Evolution (Phylogenese), der kulturellen Entwicklung und der individuellen Biografie (Ontogenese). Die Bedingungen für die Wahrnehmung werden vererbt und selbst erworben. Dabei ist zu bedenken, dass die Kultur bestimmte Wahrnehmungsmuster für das Individuum bereithält und dieses diese im Rahmen der Sozialisation mehr oder weniger übernimmt. Entsprechend den drei Dimensionen, in denen sich die Bedingungen und Voraussetzungen der Wahrnehmung herausbilden, ist die Stabilität der Schemata oder Konstruktionsroutinen. Die biologischen Voraussetzungen können wir für unsere Fragestellung als konstant betrachten, die kulturellen Bedingungen sind stabiler als die des einzelnen. 7. Beim Menschen beeinflussen die im Laufe des Lebens gemachten Erfahrungen die Wahrnehmung wesentlich. Diese Erfahrungen finden fast zur Gänze in vom Menschen Gerhard Roth, „Das reale Gehirn und seine Wirklichkeit“ in Gerhard Pasternak (Hrsg.), Verstehen, Erklären, Begründen. Bremen 1985 Univ. Verlag, S.8(?) zit. bei S.J. Schmidt: Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus, Frankfurt am Main 1987, S. 15) 2 Das wissen wir im Bereich des Sichtbaren spätestens seit der Entdeckung des ultravioletten und infraroten Lichts. 3 Gerhard Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 1997, S.124 4 Evolutionstheoretisch richtiger müssten wir sagen, die Wahrnehmungsmöglichkeiten bestimmen die Umwelt, in der ein Organismus leben kann. 1 geformten Umgebungen statt, sie sind von der jeweiligen Kultur vorgeprägt und bereitgestellt. 8. Sehen, Hören, Fühlen &c. laufen weitgehend unwillkürlich ab, wir können in der Regel nicht willentlich entscheiden, ob wir etwas wahrnehmen wollen oder nicht.5 Dass es sich bei der sinnlichen Wahrnehmung um Interpretation handelt, wird uns erst bewusst, wenn wir Opfer sogenannter Sinnestäuschungen werden. Diese bemerken wir, wenn sich Vorannahmen als falsch herausstellen. Eine frühere Interpretation wird durch eine spätere berichtigt, dabei werden die zugrundeliegenden Daten als identisch angesehen. Nur so kann uns bewusst werden, dass Wahrnehmung die Folge von Deutung ist, wir haben ein und die selbe Tatsache und zwei Wahrnehmungen, wobei diese nicht nebeneinander, sondern hintereinander auftreten.6 9. Wahrgenommene Gegenstände können nun zum Gegenstand einer bewussten und absichtlichen Interpretation werden. Dabei unterstellen wir ihnen, dass sie eine Bedeutung haben. Dies muss an sich nicht im Zusammenhang mit einer Kommunikationssituation geschehen. Dennoch dient diese das Beispiel, wenn wir verschiedene natürliche Erscheinungen als Zeichen deuten. Bewusst ist uns diese Interpretation, weil wir uns Alternativen vorstellen oder vorstellen können und wir uns zwischen diesen entscheiden (müssen). Willkürliche und unwillkürliche Interpretation lassen sich nicht immer eindeutig auseinanderhalten. 10. Bewusste Interpretation bedeutet, dass wir aus verschiedenen Alternativen eine Deutung auswählen. Da geht es um die Entscheidung mehr oder weniger relevant. Nur das Nebeneinander von Alternativen kann uns das Interpretieren bewusst machen. 040215bewusste-wahrnehmung.doc 11. Zunächst bewusste Wahrnehmungsvorgänge können durch Wiederholung zur Routine werden, Alternativen werden immer weniger in Erwägung gezogen, die Interpretation folgt immer mehr dem gleichen Muster. Die Wahrnehmung läuft letzten Endes automatisch und unwillkürlich ab. Wer einmal routiniert lesen gelernt hat, muss die Schlagzeilen von Boulevardblättern lesen, er hat keine Wahl. Der Vorteil: weniger Aufmerksamkeit und schnellere Ergebnisse. Diese automatisierten Interpretationen werden uns bewusst, wenn wir uns täuschen, die Mechanismen der Bewusstwerdung unterscheiden sich strukturell nicht von denen bei einer Sinnestäuschung. Ein und die selbe Datenlage hat uns zu einer Deutung geleitet, die sich dann als falsch herausgestellt hat.7 12. Schemata und Muster beschleunigen die Wahrnehmung. Sie bringen einen ökonomischen Vorteil, weil sie Ressourcen der Aufmerksamkeit und der Entscheidungsfindung schonen und so Zeit sparen. Das kann dann gefährlich werden, wenn sich die Welt ändert und die Schemata die selben bleiben. In einer sich verändernden Welt müssen sich die Schemata anpassungsfähig bleiben können. 13. Schemabildung können wir als Wahrnehmungskomplexitätsreduktion8 verstehen. 14. Zwischenbilanz: die Sinnesorgane liefern aus dem möglichen Wahrnehmungsangebot eine reduzierte Menge und Qualität von Daten, diese werden im zentralen Nervensystem einer aufwändigen Interpretation unterzogen. Diese internen Interpretationen werden mit Hilfe 5 Desensibilisierung ist in der Regel die Folge von Abstumpfung, d.h. Lernen, dass die Reize keinen neuen Informationswert besitzen, so bald sich die Monotonie ändert, werden wir wieder hellwach. 6 Selbst die zwei Seiten des Neckerschen Würfels können wir nicht gleichzeitig sehen, sondern immer nur abwechselnd. Bei der Wahrnehmung können wir zwei mögliche Deutungen nicht nebeneinander halten. 7 Wenn uns das passiert, lernen wir in der Regel was Neues: Entweder eine neue Interpretation, die sich besser bewährt und die durch Wiederholung wieder langsam aber sicher zur unbewussten Routine führt, oder dass wir im Zweifelsfalle jeweils aufpassen müssen; etwa auf der Hut sein müssen, fortwährend Täuschungen (= Fehlinterpretationen) aufzusitzen. 8 Dabei hat dieses Wort 33 Buchstaben. von Schemata beschleunigt, es kommt im Laufe der Zeit zu einer weitgehend automatischen Wahrnehmung, was wiederum als eine Reduktion der Komplexität der Wahrnehmung auf der nächst höheren Stufe verstanden werden kann. 15. Wir können tendenziell zwei Modi bei der Wahrnehmung unterscheiden. Der eine ist auf schnelle schematische Wahrnehmung eben die Reduktion von Komplexität ausgerichtet, der andere auf Ausweitung der Wahrnehmung und Dekonstruktion der Schemata. Die Aufgabe dieses Modus könnte es sein, die Wahrnehmung bzw. die ihr zugrunde liegenden Interpretationsmuster und die auf ihrer Grundlage getroffenen Deutungen formbar zu halten. 16. Der Begriff Modus unterstellt ein Entweder-so-oder-so, dies ergibt ein falsches Bild, Wahrnehmung kommt in der Regel nicht rein im einen oder anderen Modus vor. Sie spielt sich zwischen den beiden Polen Steigerung und Reduktion ab. Vielleicht wäre es besser von einer Einstellung zur Wahrnehmung zu sprechen. 17. Der sogenannte Alltag ist tendenziell von Wahrnehmungskomplexitätsreduktion bestimmt, wir gehen hier unseren Geschäften nach und dies meist in eingefahrenen Routinen. Das Schema gibt Sicherheit und erleichtert Entscheidungen. 18. Die Komplexitätssteigerung der Wahrnehmung ist ein zentrales Anliegen von Freizeitaktivitäten, früher nannten wir dies Muse. 19. Wahrnehmung kann durch Verdichtung (Quantität), durch Differenzierung (Qualität) oder durch Interpretation des Wahrnehmungsangebots (Imagination, Produktion) gesteigert werden. 20. Langeweile stellt sich ein, wenn wir bemerken, dass Wahrnehmung nichts Neues mehr bietet. Langeweile ist ein unangenehm empfundenes Gefühl, das uns zum Wahrnehmen von Neuem und damit zum Lernen drängt. Ist dies nicht möglich, so fängt das Gehirn an, Wahrnehmungen vorzutäuschen.9 21. Steigerung der Wahrnehmung durch Quantität muss nicht unbedingt zum Aufweichen der Schemata führen, sie kann dazu dienen, diese immer mehr zu verbessern.10 22. Konzentration erfordert bewusste Reduktion der Wahrnehmung, Abwehr von sog. Ablenkung. Ziel von Konzentration ist es, Wahrnehmung auf eine bestimmte Aufgabe zu lenken, unwillkürliche Wahrnehmung soll möglichst verhindert werden. 23. Wir haben für die Komplexitätssteigerung der Wahrnehmung eigens ausgewiesene Orte und Zeiten: das Museum, den Konzertsaal, das Theater, den Themenpark, den Erlebnispark, den Feierabend, die Ferien, den Urlaub.... 24. Innovatives Lernen, neue Deutungen und Wahrnehmungen entwickeln, kann geschehen durch neue Interpretationsweisen, diese können ausgelöst werden durch intensives Nachdenken und Konzentration, also ein internes Umbauen der Interpretationsweisen, oder es kann provoziert werden durch eine hohe Datenfülle mit mehr oder weniger großem Fremdheitsfaktor, diese Datenfülle provoziert (automatisch oder spielerisch) eine Umstrukturierung der Deutungsmodi. 25. Unter Wahrnehmung verstehen wir in der Regel, die unwillkürliche Interpretation der Sinnesdaten, unter Interpretation verstehen wir die bewusste Deutung von Wahrnehmungen. 9 Dies lässt sich sehr leicht testen: man nimmt ein beliebiges am besten dreisilbiges Wort, vervielfältigt es und montiert es aneinander, nachdem man es etwa 20mal gehört hat, hört man plötzlich etwas anderes... um nach einiger Zeit zum ursprünglichen Hören zurückzukehren und es wieder zu verlassen... 10 Flow aus der Sicht der Wahrnehmung betrachtet, stellt sich ein, wenn die Wahrnehmung und die adäquate Reaktion des Organismus das Bewusstsein voll auslasten. Bei einer rasanten Filmsequenz kann sich Flow einstellen, weil hier der Organismus voll und ganz mit der Wahrnehmung beschäftigt ist, und zwar weitgehend automatisch. 26. Erscheinungen, die sich nicht einfach und eindeutig mit Hilfe von Schemata einordnen lassen, provozieren das Bewusstwerden des Interpretierens. Kunstwerke sind Gegenstände, denen wir unterstellen, dass sie Schemata brechen. Sie provozieren Interpretation und eine innovative Deutung. Diese Art der Interpretation/Wahrnehmung legen viele Leute dem Begriff ästhetisch zugrunde. 27. Ästhetik als Erkenntnistheorie ist nicht an den Schemata interessiert, sondern am Außergewöhnlichen und an der Dekonstruktion des Schemas. Sie übersieht damit die Bedeutung der Schemata für unser Leben und missversteht Lernen einseitig als den Erwerb neuen Wissens. 28. Ästhetische Wahrnehmung wäre also der Versuch, die Welt mit möglichst neuen und ungewöhnlichen Interpretationsmustern wahrzunehmen, um so zu neuen Deutungen und zu Erkenntnis zu kommen. Dies ist nicht selbstverständlich und nicht angeboren. Es muss gelernt werden. 29. Ästhetische Bildung sollte sich allerdings nicht nur mit dem Außergewöhnlichen beschäftigen, sondern vor allem auch mit dem Normalen, mit dem Schema, denn dieses bestimmt unsere Kultur und unser Leben wesentlich nachhaltiger und es ist wegen seiner Routine sehr schwer sichtbar. 30. Die verschiedenen Verwendungen des Begriffs Ästhetik lassen sich als verschiedene Modi bewusster und unbewusster/unwillkürlicher Interpretation verstehen und integrieren. 31. Schade, dass wir für diese unterschiedlichen Aspekte keine unterschiedlichen sprachlichen Ausdrücke zur Verfügung haben.